Russische Volksmärchen
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Vorwort.

Echte, der lebendigen Ueberlieferung des Volks angehörige Kindermärchen haben in unserer Zeit aus einem doppelten Grund Beifall gefunden. Jener faden und nüchtern ersonnenen Erzählungen, welche dem einfältigen Kindersinn in leeren, keine Wurzel schlagenden Bildern nichts als einen verdünnten Absud dürftiger Moral anboten, endlich müde, freute man sich, die verarmte Jugend in ihr Eigenthum wieder einzusetzen und an dem noch unversiegten Quell der alten Phantasie zu laben. Zugleich aber wurde klar, daß die Poesie des Mittelalters, der man eben größere Aufmerksamkeit zuzuwenden begonnen hatte, selbst mit diesen Märchen zusammenhänge und die wechselseitige Aufklärung beider durch einander nicht vernachlässigt werden dürfte. Indem also die unerwartete Fortdauer einzelner Züge und Richtungen der alten Dichtung in den Kindermärchen nachgewiesen wurde, gewann die Betrachtung dieser letzteren, wie die des mündlich lebenden Volksliedes, einen wissenschaftlichen Reiz, und der Gesichtspunkt der Sammlungen mußte voll nun an erweitert werden. Es kam darauf an, sich nicht nur der vollständig erhaltenen und für den Gebrauch der Jugend ausreichenden Märchen zu versichern, sondern auch aller Bruchstücke und örtlichen Abweichungen, so viel man ihrer habhaft werden konnte, zu bemächtigen. Und wenn in dieser Hinsicht bis jetzt der Sammlung noch kein Genüge geschehen ist, sondern es lange fortgesetzter Mühe und Anstrengung bedürfen wird; so scheint es doch, daß die vielfach angeknüpften Untersuchungen bereits sattsamen Grund und Boden gewonnen haben, und auf die bleibende Theilnahme des Publikums rechnen dürfen.

Unter diesen Umständen ist es vorzüglich wünschenswerth, auch die Kindermärchen der übrigen Völker kennen zu lernen. Man weiß, daß bei Franzosen und Italienern fast die nämlichen im Gange gewesen sind, die bei uns Deutschen fortleben, weniger bekannt geworden ist, was die Spanier besitzen. Und doch hat keins dieser Völker in der Regel das seinige unmittelbar aus dem Eigenthum des andern entlehnt, meistentheils erscheint, neben der Einstimmung im Ganzen, ein eigenthümliches nationales Gepräge, das an den einzelnen Erzählungen grade gefällt, und über ihrer Verbreitung schwebt ein Dunkel, wie bei der Sprache und alten Dichtung insgemein. Sie dürfen eben darum auf ein sehr hohes Alter Anspruch machen, dessen Stufen sich nur durch die vielseitigste Vergleichung aller untereinander ermitteln lassen werden.

Vielleicht erwacht auch unter den slavischen Stämmen die Lust zu sammeln und aufzuzeichnen, was im Munde ihres Volks umgeht. Serben, Böhmen, Polen und Russen sind reich an Kindermärchen, deren treue und einfache Auffassung die Geschichte der europäischen Volksdichtung auf das erwünschteste fördern würde. Von den serbischen sind einige Proben, die nach weiterer Mittheilung begierig machen, durch den trefflichen Sammler der Volkslieder bekannt geworden. Der Herausgeber des vorliegenden Buchs lernte in Moskau gedruckte Volksblätter kennen, welche russische Kindermärchen enthalten, worüber er in seiner eignen Vorrede das nähere melden wird. Die Erzählung ist einfach und schmucklos, wenn schon nicht lebendig und frisch, wie sie sonst aus mündlichem Ueberliefern hervorzugehen pflegt; es scheint, daß die Bestimmung für den Druck unter der Hand ungeübter Aufzeichner ihnen geschadet habe. Doch fehlt es nicht an wiederkehrenden Formeln, die sich gewiß auf treue Beibehaltung gründen und dem Ganzen eigenthümliche Färbung verleihen, zum Beispiel das Reiten durch sieben und zwanzig Länder in das dreißigste (S. 21. 22. 34.), das Wachsen nicht nach Tagen, sondern nach Stunden (S. 1. 70. 144.), die Beschreibung, wie das gefeite Roß zwischen Himmel und Erde zieht (S. 18. 20. 43.), der Zuruf an die Hütte: wende dich hinten zum Wald und vornen zu mir! (S. 21.). Ja zuweilen geht, wie in deutschen Märchen, die Formel in ständige Reime über (S. 47. 125.), deren Anführung mit den Worten des Originals in einer Anmerkung willkommen wäre, da sich in solchen Fällen die Uebersetzung schwer zu helfen weiß. Auch besondere Vergleichungen, wie des Wachsens gleich dem aufschwellenden Teig (S. 144), des zu Boden fallens gleich der Habergarbe (S. 228.) und andere mehr gehören dem echtrussischen Märchenstil an. In einigen Erzählungen möchte man, nach ihrem ganzen Gang zu schließen, die Grundlage eines epischen Volksliedes, im Stil und Metrum der serbischen, vermuthen, namentlich in Nr. 17. von Jeruslan und in Nr. 6 von Ilija und dem auf Eichen hausenden, seine Feinde todtpfeifenden Räuber Nachtigall, welches zu den vorzüglichsten Stücken der Sammlung gezählt werden kann und auch wirklich seinem Inhalt nach in den altrussischen Heldenliedern, welche Hofrath von Busse verdeutscht hat (Leipzig bei Brockhaus 1819.), angetroffen wird.

Echtslavische Züge, die wenigstens in deutschen Märchen nicht begegnen, scheinen das Graben des Rosses aus dem Erdboden (S. 43. 133.); die drei grünen Eichen (S. 25. 133); das Kriechen durch das Ohr des Rosses (S. 47. 135); das Halten auf den verbotnen königlichen Wiesen (S. 11. 74. 78. 85); die Personification des Kummers (S. 125). Auch der slavischen Sitte des Verbrüderns geschieht Erwähnung (S. 106. 219).

Die einzelnen Märchen selbst sind ungleichen Gehalts. Nr. 9. von der Ente mit dem Goldei, Nr. 1. von dem Wolf, Nr. 3. von den sieben Simeonen, erinnern ganz an deutsche Kindermärchen und gehören zu den bessern der Sammlung. Ebenso Nr. 13. von dem Narren Emeljan, der geradezu Pervonto im neapolitanischen Pentamerone, aber daher unentlehnt und sehr eigenthümlich gefaßt ist. Merkwürdig scheinen die Mutter der vier Winde in Nr. 8. und der Geist Prituitschkin in Nr. 12. Unbedeutend ist Nr. 16., und Nr. 15. hätte, als unmittelbar, aber sehr mager, aus dem bekannten Volksbuch von der schönen Magellona hervorgegangen, füglich wegbleiben können. Nr. 7. von Bowa, und Nr. 17. von Jeruslan, die ausgedehntesten und nicht eben die unterhaltendsten Erzählungen des Buchs, scheinen gleichwohl der Aufnahme werth, da sich Jeruslan, wie vorhin schon gesagt ist, aus einem Gedicht aufgelöst haben mag, und Bowa ohne Zweifel einer romanischen Quelle seinen Ursprung verdankt.

Nämlich Bowa ist nichts als der in dem Sagenweise von Carl dem Großen bekannte Roman Buovo d'Antona (französisch Beuves de Hantone), der in mehrern Sprachen handschriftlich und gedruckt gefunden wird, und auch im vierten Buch der Reali di Francia gelesen werden kann. Wie und wann diese Fabel in die Hände eines russischen Märchenschreibers gerathen ist, der sie noch durch wunderbare Zusätze veränderte, wird sich schwer ermitteln lassen, aber die Umarbeitung hat ihr besonderes Interesse. Bowa ist Buovo, Druschnewna Drusiana, Simbalda Sinibaldo, Polkan Pulicano, die Stadt Anton Antona der ursprünglichen Sage.

Aus dem gesagten geht hervor, daß der Herausgeber durch Uebersetzung dieser russischen Märchen sich ein Verdienst um die Geschichte der deutschen Kindermärchen und der romantischen Poesie überhaupt erworben hat. Es ist von ihm vielleicht nicht das beste von dem, was er uns zu geben hatte, mitgetheilt worden; er beabsichtigt, andere Märchen an andern Orten oder in einer Fortsetzung der Sammlung nachzubringen; wir hätten gern gesehen, daß hier alles auf einmal bekannt gemacht worden wäre. Die Uebertragung schließt sich einfach an das Original, wie es sich gebührte, ohne durch Zusätze oder Auslassungen zu verschönern. Der deutschen Schreibart hätte hin und wieder nachgeholfen werden sollen, denn es ist z. B. fehlerhaft, wenn der Uebersetzer in den Imperativen schreibt: lasse, trage, gehe, komme, bleibe u. s. w., statt laß, trag, geh, komm, bleib.

Jacob Grimm.


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