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Auszug aus Grimms literarischem Briefwechsel

Herrn de la Harpes Nonne hat mein seit zehn Jahren schlummerndes Gewissen aufgeweckt und mich an eine entsetzliche Verschwörung erinnert, deren Seele ich war, zusammen mit Diderot und zwei oder drei andern ähnlichen Konsorten. Es ist nicht zu früh, daß ich diese Beichte ablege und in dieser heiligen Fastenzeit Absolution dafür zusammen mit meinen anderen Sünden zu erlangen und alles in den tiefen Brunnen der göttlichen Gnade zu versenken versuche.

Das Jahr 1760 ist in den Annalen der Pariser Pflastertreter durch zwei Umstände wichtig, einmal durch den plötzlichen Ruhm, zu dem Ramponeau gelangte, dann durch die Komödie »Die Philosophen«, die, höherem Befehl zufolge, im Theater der Comedie Française aufgeführt wurde. Von dieser Begebenheit ist heute nichts weiter übrig als ein verachtungsvolles Gedenken an Palissot, den Verfasser dieser schönen Rhapsodie, eine Verachtung, die keiner mit ihm teilen mochte; die größten Persönlichkeiten, die im geheimen sein Unternehmen begünstigten, glaubten sich genötigt, öffentlich das in Abrede zu stellen, wie etwas Unehrenhaftes. Während dieser Skandal ganz Paris beschäftigte, war Diderot, den dieser französische Aristophanes zu seinem Sokrates gewählt hatte, der einzige, der sich gar nicht um die Sache kümmerte. Was aber taten wir? Wollte Gott, wir hätten uns auf unschuldige Weise belustigt! Die zärtlichste Freundschaft verband uns seit langer Zeit mit dem Marquis von Croismare, einem früheren Offizier der Garde, der sich vom Dienst zurückgezogen hatte und einer der liebenswürdigsten Menschen dieses Landes ist. Er ist fast so alt wie Voltaire und hat sich wie dieser unsterbliche Mann Jugend des Geistes, gesellschaftliche Gewandtheit und alle möglichen Vorzüge bewahrt, deren Zauber auf mich seinen Reiz nie verloren hat. Man kann sagen, daß er einer von den liebenswürdigen Menschen ist, wie man sie so nur in Frankreich hat, obwohl Liebenswürdigkeit und auch ihr Gegenteil sich in allen Ländern der Welt finden. Es handelt sich hier nicht um Eigenschaften des Herzens, um eine Erhabenheit der Gesinnungen, um die unbedingte und taktvolle Rechtschaffenheit, die Herrn Croismare seinen Freunden ebenso achtungswürdig wie lieb machen; es ist hier nur von seinem Geist die Rede. Eine lebhafte und heitere Einbildungskraft, originelle Einfälle, Ansichten, die er bald sich zu eigen macht, bald verwirft, Forschheit, immer durch Wesensanmut gemildert, eine unglaubliche Aktivität der Seele, in Gemeinschaft mit einem müßigen Leben, wobei er zugleich über die einflußreichsten Beziehungen in Paris verfügt, reißen ihn zu den verschiedensten und sonderbarsten Beschäftigungen hin, lassen ihn Bedürfnisse ersinnen, auf die niemand vor ihm gekommen ist; auch findet er ebenso sonderbare Mittel, sie zu befriedigen und hat infolgedessen unendlich viele Genüsse, die einander jagen: aus diesen Grundzügen setzt sich das Wesen des Marquis von Croismare zusammen, der von seinen Freunden der entzückende Marquis genannt wird, wie der Abbé Galiani für sie der entzückende Abbé war. Diderot pflegte zu sagen: »Ihr Witz ist wie eine Weingeistflamme, sanft und leicht fährt sie über ein Gewebe hin, ohne es aber zu versengen.«

Dieser entzückende Marquis hatte uns zu Beginn des Jahres 1759 verlassen, um sich auf seine Besitzungen in der Normandie, in der Nähe von Caen zu begeben. Er hatte uns versprochen, nur so lange dort zu bleiben, wie nötig war, um seine Angelegenheiten zu regeln; aber sein Aufenthalt zog sich sehr in die Länge; er hatte seine Kinder dort um sich versammelt; er liebte seinen Pfarrer sehr, er gab sich mit Leidenschaft der Gartenkultur hin, und da eine so lebhafte Einbildungskraft wie die seine wirkliche oder imaginäre Gegenstände der Zuneigung haben mußte, so hatte er sich plötzlich in die größte Frömmigkeit gestürzt. Trotzdem liebte er uns noch immer zärtlich; aber wahrscheinlich würden wir ihn in Paris nicht wiedergesehen haben, wenn er nicht nacheinander seine beiden Söhne verloren hätte. Dies Ereignis hat ihn uns vor etwa vier Jahren wiedergegeben, nach einer Abwesenheit von mehr als acht Jahren; seine Frömmigkeit hat sich verflüchtigt, wie alles sich in Paris verflüchtigt, und er ist heute liebenswürdiger als je.

Da sein Verlust uns unendlich schmerzte, berieten wir im Jahre 1760, nachdem wir ihn mehr als fünfzehn Monate entbehrt hatten, auf welche Weise wir ihn nach Paris locken könnten. Der Verfasser der vorstehenden Aufzeichnungen erinnerte sich, daß man einige Zeit vor seiner Abreise mit großem Interesse von einer jungen Nonne aus Longchamps gesprochen hatte, die vor Gericht gegen ihr Gelübde Einspruch erhob, weil sie durch ihre Eltern zur Ablegung des Eides gezwungen worden war. Diese arme Klausnerin interessierte unsern Marquis so stark, daß er, ohne sie gesehen zu haben, ohne ihren Namen zu kennen, ohne sich überhaupt von der Wahrheit ihrer Angaben zu überzeugen, sich bei allen Parlamentsräten für sie verwendete. Trotz dieser großmütigen Fürsprache, ich weiß nicht durch welches Mißgeschick, verlor Susanne Simonin ihren Prozeß, und ihr Gelübde wurde für gültig erklärt. Diderot entschloß sich, diesen Vorfall zu unsern Gunsten wieder aufleben zu lassen. Er nahm an, daß die betreffende Nonne das Glück gehabt habe, sich aus ihrem Kloster zu retten, und schrieb in ihrem Namen an Herrn von Croismare, um ihn um Hilfe und Unterstützung zu bitten. Wir zweifelten gar nicht daran, daß wir ihn in aller Eile seiner Nonne zu Hilfe eilen sehen würden; und sollte er unsere Gottlosigkeit auf den ersten Blick durchschauen und unser Plan mißlingen, so waren wir überzeugt, daß uns wenigstens viel Stoff zum Lachen bleiben würde. Dieser kleine Schwank nahm indes eine ganz andere Wendung, wie Sie aus der Korrespondenz zwischen Diderot oder der angeblichen Nonne und dem großzügigen und entzückenden Marquis von Croismare ersehen, der mit keinem Gedanken an einen Streich unserseits dachte; dieser Streich hat lange unser Gewissen belastet. Damals lasen wir beim Abendbrot unter schallendem Gelächter die Briefe, die unsern guten Marquis zum Weinen bringen sollten; und wir lasen mit gleichem Gelächter die ehrenhaften Antworten dieses großherzigen und ehrenwerten Freundes. Als wir aber merkten, daß das Schicksal unserer Unglücklichen ihren zartfühlenden Wohltäter zu sehr zu interessieren begann, faßte Diderot den Entschluß, sie sterben zu lassen, weil er lieber dem Marquis einen Schmerz zufügen wollte, als ihn vielleicht grausamer zu quälen, indem er sie noch länger am Leben ließ. Als er nach Paris zurückkehrte, haben wir ihm die ganze Verschwörung gebeichtet, und er hat sehr darüber gelacht, wie Sie sich wohl denken können, und das Unglück der armen Nonne hat das Freundschaftsband zwischen denen, die sie überlebt haben, nur noch enger geknüpft. Aber er hat nie mit Diderot darüber gesprochen. Am sonderbarsten ist, daß, während diese Mystifikation den Kopf unseres Freundes in der Normandie erhitzte, auch Diderot seinerseits in Feuer geriet. Er war überzeugt, daß der Marquis in sein Haus ein junges Mädchen nicht aufnehmen würde, ohne sie zu kennen, deshalb schrieb er in allen Einzelheiten die Geschichte unserer Nonne.

Eines Tages, als er ganz in seine Arbeit vertieft war, kam einer unserer gemeinsamen Freunde, ein Herr von Alainville zu ihm und fand ihn von Kummer überwältigt, das Gesicht in Tränen gebadet. »Was haben Sie denn?« sagte Alainville; »wie sehen Sie aus?« – »Was ich habe?« erwiderte Diderot, »ich bin betrübt über eine Erzählung, die ich schreibe.« Wenn er diese Erzählung vollendet hätte, so wäre einer der wahrsten, der interessantesten und der pathetischsten Romane daraus geworden, die wir haben. Man konnte keine Seite lesen, ohne Tränen zu vergießen; und doch kam keine Liebe darin vor. Ein geniales Werk, überall in stärkstem Maße von der Phantasie des Verfassers geprägt; ein Werk von öffentlichem und allgemeinem Wert; denn es war die grausamste Satire, die je über die Klöster geschrieben war. Seine junge Nonne war von engelhafter Frömmigkeit und bewahrte in ihrem einfältigen und zärtlichen Herzen die größte Ehrerbietung vor allem, was man sie achten gelehrt hatte. Aber dieser Roman hat immer nur als Fragment existiert, und das ist er geblieben: er ist verloren gegangen, wie unendlich viele andere Werke eines seltenen Mannes, der sich durch zwanzig Meisterwerke hätte unsterblich machen können, wenn er mit seiner Zeit hauszuhalten verstanden und sie nicht mit tausend Schwätzern vergeudet hätte, die vor Gott und vor den Menschen den Schaden zu verantworten haben.

Dieser Briefwechsel und unsere Reue ist alles, was von der armen Nonne übrig geblieben ist. Dabei ist zu beachten, daß alle Briefe, auch die der Nonne, von uns Kindern Belials fabriziert wurden, und daß alle Briefe ihres großmütigen Beschützers echt sind und in gutem Glauben geschrieben wurden.

 

Brief der Nonne an den Grafen von Croismar, Leiter der königlichen Militärschule.

Eine unglückliche Frau, für die der Marquis von Croismar sich vor drei Jahren interessiert hat, als er noch neben der Musikakademie wohnte, hat erfahren, daß er jetzt in der Militärschule seinen Wohnsitz hat. Sie möchte wissen, ob sie noch auf seine Güte rechnen kann, jetzt, da sie beklagenswerter ist als je.

Um ein Wort der Erwiderung wird gebeten; ihre Lage ist bedrängt; und es ist wichtig, daß der Bote, der dies Briefchen überbringt, keinen Argwohn schöpfe.

Die Antwort:

Sie sind im Irrtum; Herr von Croismare ist gegenwärtig in Caen.

 

Dies Briefchen war von der Hand eines jungen Mädchens geschrieben, deren wir uns für den ganzen Briefwechsel bedienten. Ein Straßenjunge trug den Brief nach der Militärschule und kam mit der mündlichen Antwort zurück. Diderot hielt diesen ersten Schritt aus verschiedenen Gründen für nötig. Die Nonne mußte anscheinend die beiden Vettern verwechseln und die wahre Schreibweise der Namen nicht kennen. Auf diese Weise erfuhr sie auf ganz natürliche Art, daß ihr Beschützer sich in Caen aufhalte. Es konnte sein, daß der Leiter der Militärschule seinen Vetter gelegentlich mit diesem Brief neckte und ihn ihm schickte, und das hätte unserer armen Abenteuerin ein sehr echtes Aussehen gegeben. Der liebenswürdige Gouverneur war ebenso schmerzlich betroffen von der Abwesenheit seines Vetters wie wir, und wir hofften, ihn in die Verschwörung hineinziehen zu können. Nachdem seine Antwort bei uns eingetroffen war, schrieb die Nonne nach Caen.

 

Brief der Nonne an den Marquis von Croismare in Caen.

Mein Herr, ich weiß nicht, wem ich schreibe; aber in meinem Elend wende ich mich an Sie, wer Sie auch sein mögen. Wenn ich in der Militärschule keine falsche Antwort erhalten habe und Sie wirklich der großmütige Marquis sind, den ich suche, will ich Gott segnen; wenn nicht, weiß ich nicht, was ich tun soll. Aber mich beruhigt der Name, den Sie tragen; ich hoffe, Sie werden einer Unglücklichen beistehen, die Sie, mein Herr, oder ein anderer Herr von Croismare bei einem Versuch unterstützt haben, den sie vor zwei Jahren unternahm, einem ewigen Gefängnis zu entrinnen, zu dem die Härte ihrer Eltern sie verurteilt hatte. Die Verzweiflung hat mich jetzt zu einem zweiten Schritt getrieben, von dem Sie wohl schon gehört haben; ich bin aus meinem Kloster entflohen. Ich konnte die Qualen nicht mehr ertragen; und ich hatte, wollte ich nicht eine noch größere Sünde begehen, nur diese eine Möglichkeit, mir die Freiheit zu verschaffen, die ich von der Gerechtigkeit des Gesetzes erhofft hatte.

Mein Herr, wenn Sie ehedem mein Beschützer gewesen sind, muß meine gegenwärtige Lage Sie rühren und Ihrem Herzen ein Gefühl des Mitleids einflößen! Vielleicht finden Sie es zudringlich, daß ich mich in solchen Verhältnissen an einen Unbekannten wende. Oh, Herr, wenn Sie wüßten, wie verlassen ich bin; wenn Sie sich vorstellen könnten, wie unmenschlich in den Klöstern jeder Skandal bestraft wird, würden Sie mich entschuldigen. Aber Sie haben eine empfindsame Seele und scheuen sich gewiß davor, sich eines Tages eines unschuldigen Wesens erinnern zu müssen, das für den Rest seines Lebens in einem Verlies schmachtet. Helfen Sie mir, helfen Sie mir! Ich will Ihnen sagen, welchen Dienst ich von Ihnen zu erhoffen wage, den Sie mir in der Provinz noch leichter leisten können als in Paris. Ich bitte Sie, mir in Caen oder anderswo eine Stellung als Kammerfrau oder Haushälterin oder auch als einfaches Dienstmädchen zu verschaffen. Vorausgesetzt, daß ich unbekannt bin und daß ich zu anständigen Leuten komme, die zurückgezogen leben, spielt der Lohn keine Rolle. Wenn ich nur Wasser und Brot habe und vor Nachforschungen geschützt bin; seien Sie überzeugt, daß man mit meinen Leistungen zufrieden sein wird. Ich habe im Hause meines Vaters arbeiten und im Kloster gehorchen gelernt. Ich bin jung und habe einen sanften Charakter und eine recht gute Gesundheit. Wenn meine Kräfte wiedergekehrt sind, werden sie für alle Arten häuslicher Beschäftigung ausreichen. Ich kann sticken, nähen und waschen; als ich noch in der Welt lebte, besserte ich meine Spitzen selbst aus, und das werde ich bald wieder können. Ich bin nicht ungeschickt und weiß mich in alles zu fügen. Wenn ich frisieren können müßte, so würde ich es rasch lernen, es fehlt mir nicht an Geschmack. Eine erträgliche Stellung, wenn es sein kann, irgendeine Stellung, weiter erbitte ich nichts. Für meinen Lebenswandel können Sie einstehen: trotz allem Anschein bin ich fromm. In dem Kloster, das ich verlassen habe, befand sich ein Brunnen, den ich oft angesehen habe; alle meine Leiden wären zu Ende gewesen, wenn nicht Gott mich zurückgehalten hätte. Mein Herr, lassen Sie mich nicht in dies düstere Haus zurückkehren! Leisten Sie mir den Dienst, den ich von Ihnen erbitte; es ist ein gutes Werk, dessen Sie sich, solange Sie leben, mit Befriedigung erinnern werden, und das Gott in dieser oder in jener Welt lohnen wird. Bedenken Sie, mein Herr, daß ich in einer ewigen Unruhe lebe und die Augenblicke zähle. Meine Verwandten können nicht daran zweifeln, daß ich in Paris bin, sie stellen sicher alle möglichen Nachforschungen an, um mich aufzufinden; lassen Sie ihnen nicht Zeit, mich zu entdecken. Ich habe meine geringen Habseligkeiten mit mir genommen. Ich lebe von meiner Arbeit und der Unterstützung einer würdigen Frau, die meine Freundin war, und an die Sie Ihre Antwort richten können. Sie heißt Frau Madin und wohnt in Versailles. Diese gute Freundin wird mir alles liefern, was ich für meine Reise nötig habe, und wenn ich eine Stellung habe, brauche ich nichts mehr und werde ihr nicht mehr zur Last sein. Mein Herr, mein Betragen wird den Schutz rechtfertigen, den Sie mir angedeihen lassen: wie auch Ihre Antwort ausfallen mag, ich werde mich nicht über mein Schicksal beklagen.

Die Adresse von Frau Madin ist: Pavillon de Bourgogne, Rue d'Anjou, Versailles.

Haben Sie die Güte, zwei Briefumschläge zu nehmen, mit ihrer Adresse auf dem äußeren und einem Kreuz auf dem inneren.

O wie sehne ich Ihre Antwort herbei. Ich bin in ständiger Erregung.

Ihre sehr ergebene und gehorsame Dienerin
Susanne Simonin.

 

Wir bedurften einer Adresse für die Antworten und wählten eine gewisse Frau Madin, die Frau eines ehemaligen Infanterieoffiziers, die wirklich in Versailles lebte. Sie wußte nichts von unserm Streich und auch nichts von den Briefen, die wir sie selbst später schreiben ließen und für die wir uns der Schrift eines jungen Mädchens bedienten. Frau Madin wußte nur, daß sie alle Briefe aus Caen annehmen und mir zustellen mußte. Der Zufall wollte, daß Herr von Croismare nach seiner Rückkehr nach Paris, ungefähr acht Jahre nach unserm Streich, Frau Madin bei einer unserer Freundinnen traf, die in die Verschwörung eingeweiht gewesen war. Es war eine wahre Komödie; Herr von Croismare schickte sich an, tausend Erkundigungen über eine Unglückliche einzuziehen, für die er sich so sehr interessiert hatte und von der Frau Madin kein Wort wußte. Dies war auch der Augenblick unserer Beichte und der Vergebung.

 

Antwort des Marquis von Croismare.

Mein Fräulein, Ihr Brief ist in die Hände des Mannes gekommen, an den Sie sich wenden wollten. Sie haben sich über seine Gefühle nicht getäuscht; Sie können sofort nach Caen abreisen, wenn eine Stellung bei einer jungen Dame Ihnen genügt.

Ihre Frau Freundin soll mir schreiben, sie schicke mir eine Kammerfrau, wie ich sie wünsche, und soll Ihre Eigenschaften loben, ohne sich auf Einzelheiten einzulassen. Sie soll mir auch den Namen angeben, den Sie gewählt haben, soll mir mitteilen, mit welcher Post Sie fahren und an welchem Tage Sie ankommen werden. Wenn Sie die Landkutsche nach Caen nehmen, so geht sie am Montag früh von Paris ab und kommt am Freitag hier an; Sie finden sie in Paris in der Rue Saint Denis im Großen Hirsch. Wenn in Caen niemand zu Ihrem Empfang sein sollte, so melden Sie sich in meinem Auftrag bei Herrn Gassion, vis-à-vis vom Königsplatz. Da das Inkognito beiderseits sehr wichtig ist, so bitte ich, daß Ihre Frau Freundin mir diesen Brief zurückschickt, auf den Sie sich, obwohl er nicht unterzeichnet ist, durchaus verlassen können. Bewahren Sie nur das Siegel auf, das Ihnen in Caen bei dem Herrn, an den Sie sich wenden, als Legitimation dienen wird.

Befolgen Sie nur genau, was dieser Brief Ihnen vorschreibt, und wenn Sie klug handeln wollen, so versehen Sie sich nicht mit Papieren oder Briefen oder irgendwelchen Dingen, an denen man Sie erkennen könnte: Sie können sie ja zu anderer Zeit leicht nachschicken lassen. Rechnen Sie in völligem Vertrauen auf die guten Absichten Ihres Dieners.

A...... bei Caen, Mittwoch, 6. Februar 1760.

 

Dieser Brief war an Frau Madin adressiert. Auf dem inneren Umschlag war der Verabredung gemäß ein Kreuz. Das Siegel stellte einen Amor dar, der in der Hand eine Fackel hielt und in der andern zwei Herzen mit einer Inschrift, die man nicht lesen konnte, weil das Siegel bei Eröffnung des Briefes gelitten hatte. Es war natürlich, daß eine junge Nonne, die Amor nicht kannte, ihn für das Bild ihres Schutzengels hielt.

 

Antwort der Nonne an den Marquis von Croismare.

Mein Herr, ich habe Ihren Brief empfangen. Ich glaube, ich bin sehr krank gewesen, sehr krank. Ich bin so schwach. Wenn Gott mich zu sich nimmt, werde ich ohne Unterlaß für Ihr Seelenheil beten; wenn ich mich erhole, will ich alles tun, was Sie mir auftragen. Mein lieber Herr, ich werde Ihre Güte nie vergessen.

Meine würdige Freundin wird von Versailles herkommen; sie wird Ihnen alles sagen.

Am heiligen Sonntag im Februar.

Ich werde das Siegel sorgfältig aufbewahren. Ich finde einen heiligen Engel darauf; das sind Sie, mein Schutzengel.

Da Diderot an der Versammlung der Bösewichte nicht hatte teilnehmen können, wurde diese Antwort ohne seine Zustimmung abgeschickt. Er fand sie nicht gut und behauptete, sie würde den ganzen Streich aufdecken. Er täuschte sich, und ich glaube, es war falsch von ihm, diese Antwort nicht gut zu finden. Um ihn aber zu befriedigen, nahm man in das Protokoll über unsern Schelmenstreich die folgende Antwort auf, die nicht abgeschickt wurde. Die Krankheit war jedenfalls unerläßlich, um ihre Abreise nach Caen aufzuschieben.

 

Auszug aus dem Protokoll.

Hier folgt der Brief, den Schwester Susanne statt des wirklich abgeschickten hätte schreiben müssen:

 

Mein Herr, ich danke Ihnen für Ihre Güte; ich darf an nichts mehr denken; alles ist für mich zu Ende. In einem Augenblick werde ich vor dem barmherzigen Gott stehen. Es wird noch beraten, ob man mich ein drittes Mal zur Ader lassen will; mögen sie anordnen, was ihnen beliebt. Leben Sie wohl, teurer Herr. Ich hoffe, in jener Welt glücklicher zu sein; dort werden wir uns treffen.

 

Brief Frau Madins an den Marquis von Croismare.

Ich sitze neben ihrem Bett und sie bittet mich, Ihnen zu schreiben. Es hat sehr schlecht mit ihr gestanden, und mein Beruf, der mich in Versailles festhält, hat mir nicht erlaubt, früher zu ihr zu eilen. Ich wußte, daß sie sehr krank und von aller Welt verlassen war, konnte aber nicht von Hause weg. Sie werden sich denken können, mein Herr, daß sie sehr gelitten hat. Sie hatte einen Fall getan, den sie verheimlichte. Plötzlich wurde sie von heftigem Fieber ergriffen, das man nur durch Aderlässe dämpfen konnte. Ich glaube, jetzt ist sie außer Gefahr. Ich befürchte nur, daß ihre Genesung lange Zeit in Anspruch nehmen wird und daß sie nicht vor vier oder sechs Wochen abreisen kann. Sie ist so schwach und das wird sich noch steigern. Versuchen Sie also bitte, Zeit zu gewinnen; wir wollen uns gemeinsam bemühen, dies unglücklichste und interessanteste Geschöpf, das es auf der Welt gibt, zu retten. Ich kann Ihnen nicht schildern, welchen Eindruck Ihr Brief auf sie gemacht hat; sie hat viel geweint, sie hat die Adresse Herrn Gassions hinter eine heilige Susanne in ihrem Gebetbuch geschrieben und wollte trotz ihrer Schwäche antworten. Sie hatte eben eine Krise überstanden, ich weiß nicht, was sie Ihnen gesagt haben mag, denn ihr armer Kopf war ganz wirr. Verzeihen Sie, mein Herr, wenn ich Ihnen dies in aller Eile schreibe. Sie flößt mir Mitleid ein; ich möchte sie nicht verlassen, aber es ist mir unmöglich, mehrere Tage hintereinander hier zu bleiben. Ich lege den Brief wieder bei, den Sie ihr geschrieben haben, und füge auch einen andern hinzu, wie Sie ihn von mir zu haben wünschten. Ich spreche darin nicht von ihren schönen Talenten, sie sind dem Stande, dem sie angehören wird, nicht gemäß, und sie muß, glaube ich, völlig darauf verzichten, wenn sie unerkannt bleiben will. Übrigens ist alles, was ich darin von ihr sage, wahr. Wirklich, mein Herr, jede Mutter müßte glücklich sein, sie zum Kinde zu haben. Meine erste Sorge war, wie Sie sich denken können, auf ihre Sicherheit bedacht zu sein, und das ist mir gelungen. Ich kann mich nicht entschließen, sie früher fortzulassen, als bis ihre Gesundheit völlig wiederhergestellt ist; das kann aber erst in vier bis sechs Wochen der Fall sein, wie ich mir bereits zu sagen erlaubte, – vorausgesetzt, daß nichts Unvorhergesehenes eintritt. Sie hat das Siegel Ihres Briefes aufbewahrt; es liegt in ihrem Gebetbuch unter ihrem Kopfkissen. Ich habe ihr nicht zu sagen gewagt, daß es nicht Ihr Siegel sei; als ich Ihre Antwort aufmachte, hatte ich es zerbrochen und durch das meine ersetzt: in dem schlimmen Zustand, in dem sie war, durfte ich nicht wagen, ihr Ihren Brief zu schicken, ohne ihn zu lesen. Ich wage, Sie um ein Wort zu bitten, das ihr ihre Hoffnungen erhält; sie sind das einzige, was sie hat, und ich stehe nicht für ihr Leben, wenn ihr auch diese Hoffnung genommen würde. Wenn Sie die Güte hätten, mir einige Angaben über das Haus zu machen, in das sie eintreten soll, würde das dazu beitragen, sie zu beruhigen. Fürchten Sie nichts für Ihre Briefe. Sie werden Ihnen ebenso sorgfältig stets wieder zugestellt wie der erste; verlassen Sie sich auf das Interesse, das ich selber daran habe, nichts Unüberlegtes zu tun. Wir fügen uns Ihnen in allem, sofern Sie nicht selbst Ihre Anordnungen ändern. Leben Sie wohl, mein Herr. Unsere liebe Unglückliche betet für Sie zu Gott, sooft ihr Kopf es ihr erlaubt.

Ich erwarte Ihre Antwort, mein Herr, die Sie stets nach dem Pavillon de Bourgogne, Rue d'Anjou, Versailles, richten wollen.

16. Februar 1760.

 

Formeller Brief Frau Madins, wie der Marquis von Croismare ihn gewünscht hatte.

Mein Herr, das Mädchen, das ich Ihnen empfehle, heißt Susanne Simonin. Ich liebe sie wie meine eigene Tochter, aber Sie können sich auf meinen Brief verlassen, denn jede Übertreibung liegt meinem Wesen fern. Sie ist Vollwaise, von guter Herkunft und sorgfältiger Erziehung. Sie versteht alle Handfertigkeiten, die man lernt, wenn man geschickt ist und sich gern beschäftigt; sie spricht wenig, aber gut und hat einen natürlichen guten Stil. Wenn die Dame, für die Sie sie bestimmt haben, es wünscht, ist sie eine gute Vorleserin. Sie ist weder groß, noch klein, und ist sehr gut gewachsen. Was ihr Gesicht betrifft, so habe ich kaum je ein interessanteres gesehen. Vielleicht erscheint sie Ihnen etwas jung, denn sie ist, glaube ich, kaum neunzehn Jahre alt, aber wenn die Erfahrung des Alters ihr fehlt, so wird das durch die Erfahrung des Unglücks ersetzt. Sie ist sehr zurückhaltend und hat eine nicht gewöhnliche Urteilsfähigkeit. Ich verbürge mich für ihren guten Lebenswandel. Sie ist fromm, aber keineswegs bigott. Sie hat einen natürlichen Witz, eine sanfte Heiterkeit und ist nie verstimmt. Ich habe zwei Kinder; wenn die besonderen Umstände Fräulein Simonin nicht verhinderten, in Paris zu bleiben, so würde ich ihnen keine andere Erzieherin geben; eine so gute werde ich nirgends finden. Ich kenne sie seit ihrer Kindheit, und sie hat immer unter meinen Augen gelebt. Sie wird von hier gut ausgerüstet abreisen. Ich trage die Kosten ihrer Reise und auch ihrer Rückreise, wenn sie zurückgeschickt werden sollte: das ist das wenigste, was ich für sie tun kann. Sie war nie von Paris fort und weiß nicht, wohin sie gehen soll, sie hält sich für verloren; ich habe viel Mühe, sie zu beruhigen. Ein Wort von Ihnen, mein Herr, über die Dame, zu der sie gehen soll, über das Haus, in dem sie wohnen wird, und über die Pflichten, die sie zu erfüllen hat, wird mehr bei ihr vermögen als alle meine Reden. Heißt das nicht Ihre Güte zu sehr in Anspruch nehmen? Ihre ganze Furcht ist, sie könne nicht gefallen: das arme Kind kennt sich selbst so wenig.

Ich habe die Ehre, mit schuldigem Respekt zu verbleiben Ihre sehr ergebene und gehorsame Dienerin

Moreau-Madin.

Paris, 16. Februar 1760.

 

Brief des Marquis von Croismare an Frau Madin.

Gnädige Frau, vor zwei Tagen erhielt ich eine kurze Nachricht über die Krankheit Fräulein Simonins. Ihr unglückliches Los geht mir sehr nahe; ihr Gesundheitszustand beunruhigt mich. Darf ich Sie um die Freundlichkeit bitten, mich über ihren Zustand zu unterrichten und über die Entschlüsse, die sie faßt, kurz um die Beantwortung des Briefes, den ich ihr geschrieben habe. Ich wage von Ihrem Mitgefühl und dem Interesse, das Sie an ihr nehmen, alles zu hoffen.

Ihr sehr ergebener und gehorsamer Diener.

Caen, 17. Februar 1760.

 

Zweiter Brief des Marquis von Croismare an Frau Madin.

Ich war sehr beunruhigt, gnädige Frau, aber glücklicherweise hat Ihr Brief mich etwas über Fräulein Simonins Zustand beruhigt, denn Sie versichern mir, daß sie außer Gefahr und vor Nachforschungen gesichert ist. Ich schreibe ihr, und Sie können sie über die Beständigkeit meiner Gefühle beruhigen. Ihr Brief hatte Eindruck auf mich gemacht, und in der schlimmen Lage, in der ich sie sah, glaubte ich nichts besseres tun zu können, als sie bei meiner Tochter anzustellen, die leider Gottes keine Mutter mehr hat. Nun wissen Sie, gnädige Frau, für welches Haus ich sie bestimmt hatte. Ich bin meiner selbst sicher und kann ihr Leiden mildern, ohne je ihren Geheimnissen zu nahe zu treten, und das wäre in anderen Händen vielleicht schwierig. Ihr Zustand geht mir sehr nah, und ich beklage, daß meine Vermögensverhältnisse mir nicht erlauben, soviel für sie zu tun, wie ich möchte; aber was soll man machen, wenn man den Gesetzen der Notwendigkeit unterworfen ist? Ich wohne zehn Meilen von der Stadt, auf einem recht angenehmen Landsitz, wo ich mit meiner Tochter und meinem ältesten Sohn, einem frommen und gefühlvollen Knaben, den ich gleichwohl über alles in Ungewißheit lasse, sehr zurückgezogen lebe. Die Bedienten sind sämtlich Leute, die schon lange bei mir sind, so daß alles sehr ruhig und friedlich zugeht. Ich möchte noch hinzufügen, daß ich ihr diese Stelle nur als Notbehelf vorschlage: wenn sie etwas Besseres findet, will ich sie nicht durch irgendeine Verpflichtung hindern; aber sie soll gewiß sein, daß sie bei mir stets eine sichere Zuflucht findet. Ich erwarte sie, und es wird mich freuen, wenn ich oft Nachricht von ihr bekomme.

Ich habe die Ehre, gnädige Frau, zu verbleiben Ihr sehr ergebener und gehorsamer Diener.

Caen, 21. Februar 1760.

 

Brief des Marquis von Croismare an Schwester Susanne. (Auf dem Umschlag war ein Kreuz.)

Niemand, liebes Fräulein, kann mehr Mitgefühl mit Ihrer Lage haben als ich. Ich kann nicht umhin, immer mehr darauf zu sinnen, wie ich Ihnen in dem unglücklichen Schicksal, das Sie verfolgt, irgendeinen Trost geben kann. Beruhigen Sie sich, gewinnen Sie Ihre Kräfte wieder und rechnen Sie immer mit vollem Vertrauen auf meine Gefühle. Nichts darf Sie jetzt beschäftigen als die Wiederherstellung Ihrer Gesundheit und die Sorge, unerkannt zu bleiben. Wenn es mir möglich ist, Ihr Schicksal freundlicher zu gestalten, werde ich es tun; aber Ihre besondere Lage legt mir Zwang auf und ich kann über diese harte Notwendigkeit nur seufzen. Das Mädchen, für das ich Sie bestimmt hatte, ist mir das Liebste auf der Welt, und mir selbst würden Sie verantwortlich sein. Soviel es mir möglich ist, werde ich Ihnen die kleinen Pflichten erleichtern, die von Ihrer Stellung untrennbar sind. Sie schulden mir Ihr Vertrauen, und ich werde mich ganz auf Ihre Pflichttreue verlassen; diese Versicherung muß Sie beruhigen und Ihnen zeigen, wie ich denke, während ich mit aufrichtiger Ergebung verbleibe Ihr sehr ergebener und sehr gehorsamer Diener.

Caen, den 21. Februar 1760.

Ich schreibe gleichzeitig an Frau Madin, die Ihnen weiteres mitteilen wird.

 

Brief Frau Madins an den Marquis von Croismare.

Mein Herr, die Genesung unserer teuren Patientin ist gesichert; sie hat kein Fieber und keinen Kopfschmerz mehr, alles spricht für die völlige Genesung und die beste Gesundheit. Die Lippen sind noch etwas blaß, aber die Augen bekommen schon wieder Glanz. Die Farbe beginnt in ihre Wangen zurückzukehren, das Fleisch ist frischer und bekommt seine Festigkeit wieder; alles geht gut, seit ihre Seele sich beruhigt hat. Jetzt empfindet sie den Wert Ihres Wohlwollens ganz, und nichts ist rührender als die Art, wie sie sich ausdrückt. Ich möchte Ihnen schildern können, was zwischen ihr und mir vorging, als ich ihr den letzten Brief von Ihnen brachte. Sie nahm ihn, ihre Hände zitterten, sie atmete mühsam beim Lesen; bei jeder Zeile hielt sie inne, und als sie zu Ende gelesen hatte, sagte sie zu mir, indem sie mir um den Hals fiel und heiße Tränen weinte: »Frau Madin, Gott hat mich also nicht verlassen; ich soll also doch noch glücklich werden. Ja, Gott hatte es mir eingegeben, mich an den guten Herrn zu wenden; welcher andere Mensch in der Welt hätte Mitleid mit mir gehabt? Wir wollen dem Himmel für diese erste Gnade danken, damit er uns neue gewährt.« Und dann richtete sie sich in ihrem Bett auf und begann zu beten; sie kam darauf noch auf einige Stellen Ihres Briefes zurück und sagte: »Seine Tochter will er mir anvertrauen: Oh, liebe Freundin, sie wird ihm ähnlich sein; sie wird sanft, gutherzig und empfindsam sein wie er.« Dann fuhr sie betrübt fort: »Sie hat keine Mutter mehr! Es tut mir leid, daß ich nicht die nötige Erfahrung habe. Ich weiß nichts, aber ich werde mir die größte Mühe geben; ich werde morgens und abends daran denken, was ich ihrem Vater verdanke: die Dankbarkeit kann manchen Mangel ersetzen. Werde ich noch lange krank sein? Wann wird man mir erlauben, zu essen? Ich fühle von meinem Sturz nichts mehr, gar nichts.« Ich erzähle Ihnen dies alles, mein Herr, weil ich hoffe, es wird Ihnen Freude machen. In ihren Reden, in ihrem ganzen Tun lag soviel Unschuld und Eifer, daß ich ganz außer mir war. Ich weiß nicht, was ich darum gegeben hätte, wenn Sie sie hätten sehen und hören können. Nein, mein Herr, entweder habe ich gar keine Menschenkenntnis, oder aber Sie bekommen ein Geschöpf, das Ihrem Hause Segen bringen wird. Was Sie mir von sich, von Ihrem Fräulein Tochter und von Ihrem Sohn erzählt haben und von Ihrer ganzen Lage, stimmt vollkommen mit ihren Wünschen überein. Sie bleibt bei ihren ersten Vorschlägen, die sie Ihnen gemacht hat. Sie will nur Nahrung und Kleidung, und Sie können sie beim Wort nehmen, wenn Sie wollen: obwohl ich nicht reich bin, soll das übrige meine Sorge sein. Ich liebe dies Kind und nenne es in meinem Herzen meine eigene Tochter; das wenige, was ich bei meinen Lebzeiten für sie tun kann, soll auch nach meinem Tode fortgesetzt werden. Ich will Ihnen nicht verhehlen, daß Ihre Worte: es solle nur ein Notbehelf sein und sie habe volle Freiheit, etwas Besseres anzunehmen, wenn sich ihr die Gelegenheit biete, ihr Kummer bereitet haben, es hat mich gefreut, dies Zartgefühl in ihr zu finden. Ich werde nicht verfehlen, Sie von den Fortschritten ihrer Genesung zu unterrichten; aber ich habe einen großen Plan und hoffe auf sein Gelingen, wenn sie wieder gesund wird und Sie mich an einen Ihrer Freunde empfehlen könnten: Sie müssen doch sehr viele Freunde in Paris haben. Es müßte ein kluger, verschwiegener, geschickter, nicht zu hochstehender Mann sein, der durch sich selbst oder durch seine Freunde sich mit einigen Großen in Verbindung setzen könnte, die ich ihm nennen würde, und der Zutritt zum Hofe hätte, ohne direkt dazu zu gehören. Wie ich mir die Sache ausgedacht habe, würde er nicht ins Vertrauen gezogen werden und müßte uns dienen, ohne zu wissen, worin: wenn unser Versuch nicht gelingen sollte, so hätten wir wenigstens den Vorteil, daß wir die Meinung verbreitet hätten, sie sei im Ausland. Wenn Sie mich an jemanden empfehlen könnten, bitte ich Sie, mir ihn zu nennen und mir seine Wohnung anzugeben; dann müßten Sie ihm schreiben, daß Frau Madin, die Sie seit langer Zeit kennen, zu ihm kommen werde, um einen Dienst von ihm zu erbitten und daß Sie ihn bäten, sich für sie zu interessieren, wenn es irgend angängig sei. Wenn Sie niemanden wissen, müssen wir darauf verzichten; aber denken Sie einmal nach, Herr Marquis, Übrigens bitte ich Sie, auf das Interesse zu zählen, das ich an unserer Unglücklichen nehme, und auf die Klugheit, die ich einiger Erfahrung verdanke. Die Freude, die Ihr letzter Brief bei ihr vorgerufen hat, hat ihren Puls etwas gesteigert; aber es wird nichts auf sich haben.

Ich habe die Ehre, mit den Gefühlen der höchsten Achtung zu verbleiben Ihre sehr ergebene und gehorsame Dienerin

Moreau-Madin.

Paris, 3. März 1760.

 

Der Gedanke Frau Madins, sich an einen Freund des großherzigen Beschützers der Schwester Susanne empfehlen zu lassen, war eine Eingebung des Satans; wir hofften durch dieses Mittel den Freund in der Normandie zu veranlassen, sich an mich zu wenden und mich in dieser ganzen Angelegenheit ins Vertrauen zu ziehen. Und das gelang, wie Sie aus der weiteren Korrespondenz ersehen werden.

 

Brief der Schwester Susanne an den Marquis von Croismare.

Mein Herr, Frau Madin hat mir die beiden Antworten eingehändigt, mit denen Sie mich beehrt haben, und hat mich auch den Brief lesen lassen, den Sie Ihr geschrieben. Ich nehme an, ich nehme an. Das ist hundertmal mehr als ich verdiene. Ja, hundert-, tausendmal mehr. Ich habe so wenig Weltkenntnis, so wenig Erfahrung und weiß so gut, was mir alles fehlt, um Ihres Vertrauens ganz würdig zu sein; aber ich erhoffe alles von Ihrer Nachsicht, von meinem Eifer und meiner Dankbarkeit. Meine Stellung wird mich bilden, und Frau Madin sagt, das sei besser, als wenn ich für meine Stellung schon gebildet wäre. Mein Gott, wie gern wäre ich recht schnell gesund, um mich meinem Wohltäter zu Füssen zu werfen und ihm bei seiner lieben Tochter in allem zu dienen, was in meinen Kräften steht. Man hat mir gesagt, daß es noch einen Monat mindestens dauern wird. Ein Monat, das ist eine lange Zeit! Mein lieber Herr, bewahren Sie mir Ihr Wohlwollen. Ich bin außer mir vor Freude; aber sie wollen nicht, daß ich schreibe, sie hindern mich zu lesen, sie verbannen mich ins Bett, man ertränkt mich in Arzneien, sie lassen mich Hungers sterben, und doch alles nur zu meinem Besten. Gott sei gelobt! Aber ich gehorche ihnen doch sehr ungern.

Mit dankbarem Herzen für Ihre Güte bin ich Ihre sehr ergebene und getreue Dienerin

Susanne Simonin.

Paris, 3. März 1760.

 

Brief des Marquis von Croismare an Frau Madin.

Eine kleine Unpäßlichkeit hat mich verhindert, Ihnen, gnädige Frau, früher zu antworten, um Ihnen zu sagen, wie erfreut ich bin, von Fräulein Simonins Genesung zu hören. Ich wage zu hoffen, daß Sie bald die Güte haben werden, mich von ihrer völligen Wiederherstellung zu unterrichten, die ich inbrünstig herbeiwünsche. Aber es tut mir sehr leid, daß ich in keiner Weise zu der Ausführung des Plans beitragen kann, den Sie zu ihren Gunsten ersonnen haben; ohne ihn zu kennen, muß ich ihn sehr gut finden, weil ich von der Klugheit, mit der Sie zu Werk gehen, und von Ihrem Interesse für unsern Schützling überzeugt bin. Ich habe in Paris nur sehr wenig Verkehr gehabt, und zwar meistens mit Leuten, die ebenso wenig Bekanntschaften hatten wie ich: und Bekanntschaften, wie Sie meinen, sind nicht leicht zu finden. Ich bitte Sie aber, mir weitere Nachrichten über Fräulein Simonin zu geben, deren Angelegenheiten mich stets interessieren.

Ich habe die Ehre, gnädige Frau, zu verbleiben Ihr sehr ergebener und gehorsamer Diener.

13. März 1760.

 

Antwort Frau Madins an den Marquis von Croismare.

Mein Herr, ich habe vielleicht den Fehler gemacht, mich nicht deutlich über meinen Plan ausgesprochen zu haben, aber ich wollte alles so gern beschleunigen. Nun will ich Ihnen sagen, was mir durch den Kopf gegangen war. Sie müssen wissen, daß der Kardinal T. die Familie meiner jungen Freundin protegierte. Sie verloren alle viel, als er starb, besonders meine Susanne, die ihm in ihrer frühesten Jugend vorgestellt worden war. Der alte Kardinal liebte hübsche Kinder; die Anmut dieses Mädchens entzückte ihn und er interessierte sich für ihr Schicksal. Aber als er nicht mehr war, bestimmte man über ihr Leben in der Ihnen bekannten Weise, und die Vormünder glaubten alles getan zu haben, wenn sie die älteren Schwestern an zwei ihrer Kreaturen verheirateten. Der eine von diesen Vormündern hat ein hohes Amt in Alby, der andere bei der Steuereinnahme in Castries, drei Meilen von Montpellier. Es sind harte Leute, aber ihr Amt ist völlig abhängig von denen, die sie eingesetzt haben. Ich habe also gedacht, wenn man zu der Marquise von T. Zutritt erlangte, die ein gutes Herz haben soll und sich für den Prozeß meines Schützlings verwandt hat, und wenn man ihr die traurige Lage schildert, in der ein junges Mädchen sich befindet, sobald es, in einem fremden, fernen Lande, jedem Elend ausgesetzt ist, so könnte man vielleicht durch dies Mittel von ihren beiden Schwägern, die alles Vermögen an sich gerafft haben und nicht daran denken, uns beizustehen, ein kleines Jahrgeld erlangen. Wirklich, mein Herr, es lohnt wirklich die Mühe, darüber nachzudenken. Mit diesem kleinen Jahrgeld, mit dem, was ich ihr zudenke, und mit dem, was sie Ihrer Güte verdanken wird, hat sie es für die Gegenwart ganz gut und auch in der Zukunft nicht schlecht, und ich kann sie mit weniger Bedauern abreisen sehen. Aber ich kenne weder die Marquise von T., noch den Sekretär des verstorbenen Kardinals, noch irgend jemanden, der mich ihnen vorstellen könnte; und das liebe Kind hat mich auf den Einfall gebracht, mich an Sie zu wenden. Übrigens kann ich nicht sagen, daß ihre Genesung solche Fortschritte macht, wie ich es wohl wünschte. Sie hat sich bei ihrem Sturz eine innere Verletzung zugezogen, wie ich Ihnen wohl schon gesagt habe; der Schmerz, der schon vorbeigegangen war, macht sich jetzt wieder bemerkbar; er geht und kommt. Damit sind innere Frostschauer verbunden, aber Fieber hat sie nicht; der Arzt schüttelt den Kopf und macht ein Gesicht, das mir nicht gefällt. Am nächsten Sonntag will sie unbedingt zur Messe gehen, und ich habe ihr schon eine große Pelerine geschickt, in die sie sich bis an die Nasenspitze einhüllen und auf diese Weise, glaube ich, eine halbe Stunde ohne Gefahr in einer kleinen abgelegenen Kirche zubringen kann. Sie sehnt den Augenblick ihrer Abreise herbei, und ich bin überzeugt, daß sie nichts inbrünstiger von Gott erbitten wird, als ihre Heilung zu beschleunigen und ihr die Güte ihres Wohltäters zu erhalten. Wenn sie sich so befinden sollte, daß sie zwischen Ostern und Quasimodo abfahren kann, so werde ich nicht verfehlen, Sie zu benachrichtigen. Übrigens wird ihre Abwesenheit mich nicht hindern, zu handeln, wenn ich unter meinen Bekannten irgendeinen finden sollte, der bei Frau von T. und dem Doktor A., der sehr viel Einfluß auf sie hat, etwas ausrichten kann.

Ich bin in grenzenloser Dankbarkeit Ihre sehr ergebene und gehorsame Dienerin

Moreau-Madin.

Versailles, 25. März 1760.

 

P. S. Ich habe ihr verboten, Ihnen zu schreiben, aus Furcht, Ihnen lästig zu fallen; nur dies Bedenken kann sie zurückhalten.

 

Brief des Marquis von Croismare an Frau Madin.

Gnädige Frau, Ihr Plan betreffs Fräulein Simonins erscheint mir sehr löblich und gefällt mir um so mehr, als ich den lebhaften Wunsch habe, ihr in ihrem Unglück die Beruhigung einer Besserung ihrer Lage zu verschaffen. Ich hoffe, irgendeinen Freund zu finden, der bei Frau v. T. und dem Doktor A. oder dem Sekretär des verstorbenen Kardinals etwas tun kann, aber das erfordert Zeit und große Vorsicht, sowohl um das Geheimnis gut zu wahren, als auch mich der Diskretion der Persönlichkeiten zu versichern, an die ich mich wenden könnte. Ich werde das nicht aus dem Auge verlieren: inzwischen kann das Fräulein Simonin nicht hindern, abzureisen, wenn ihre Gefühle noch die gleichen sind und ihre Gesundheit einigermaßen wiederhergestellt ist; sie wird mich immer in der gleichen Stimmung finden, stets geneigt, wenn es irgend möglich ist, ihr die Bitterkeit ihres Schicksals zu versüßen. Meine Vermögenslage und die teure Zeit nötigen mich, sehr zurückgezogen mit meinen Kindern auf dem Lande zu leben, aus Sparsamkeitsgründen; deshalb leben wir hier sehr einfach. Aus diesem Grunde ist Fräulein Simonin jeder Ausgabe für ihre Kleidung überhoben, die nur sauber, nicht kostspielig zu sein braucht; hier auf dem Lande genügt das Alltägliche. Auf diesem Landsitz und in diesem einfachen und gleichförmigen Leben wird sie mich finden, und ich hoffe, sie wird hier manche Annehmlichkeit, manches Vergnügen haben können, trotz aller lästigen Vorsicht, die ich mit Rücksicht auf sie beobachten muß. Sie werden die Güte haben, gnädige Frau, mich über Ihre Abreise zu unterrichten; falls sie die Adresse verlegt haben sollte, die ich ihr sandte: sie sollte sich bei Herrn Gassion melden, gegenüber dem Königsplatz in Caen. Wenn ich jedoch über den Tag ihrer Ankunft unterrichtet bin, wird sie jemanden vorfinden, der sie unverzüglich hierherbringt.

Ich habe die Ehre, gnädige Frau, zu verbleiben Ihr sehr ergebener und gehorsamer Diener.

3. April 1760.

 

Brief Frau Madins an den Marquis von Croismare.

Ob sie noch die gleichen Gefühle hat, mein Herr? Können Sie daran zweifeln? Was könnte sie besseres wünschen, als glückliche und ruhige Tage bei einem rechtschaffenen Manne in einer ehrenhaften Familie verbringen zu dürfen? Ist sie nicht überaus glücklich, daß Sie sich ihrer angenommen haben? Und wo sollte sie ihr Haupt hinlegen, wenn sie das Obdach nicht hätte, das Sie ihr großmütig angeboten haben? Das sind ihre eigenen Worte, mein Herr, und ich kann nur wiederholen, was sie sagt. Sie wollte Ostern durchaus zur Messe gehen; es war gegen meinen Willen, und es ist ihr sehr schlecht bekommen. Sie kam mit Fieber wieder nach Hause; und seit diesem Unglückstage befindet sie sich nicht gut. Ich kann sie Ihnen erst schicken, wenn sie vollständig gesund ist. Sie fühlte jetzt eine Hitze oberhalb der Hüfte, an der Stelle, wo sie sich beim Fall verletzt hatte; ich habe sie untersucht, sehe aber nichts. Der Arzt aber sagte mir vorgestern, als wir zusammen hinuntergingen, er fürchte, es bilde sich hier eine Geschwulst; man müsse abwarten, was daraus werden würde. Sie hat aber guten Appetit, schläft und fällt nicht ab. Ich finde nur bisweilen etwas mehr Farbe in den Wangen und etwas mehr Lebhaftigkeit in den Augen, als natürlich zu sein scheint. Und ihre Ungeduld bringt mich zur Verzweiflung. Sie steht auf, versucht zu gehen, wenn sie sich aber auf die verletzte Seite neigt, stößt sie einen gellenden Schrei aus, der einem durch Mark und Bein geht. Trotzdem hoffe ich, und ich habe die Zeit benutzt, um ihre kleine Aussteuer zu beschaffen.

Zunächst einen Rock aus englischem Kalmank, den sie bis zum Ende der heißen Sommertage tragen kann, um im Winter einen blauen Baumwollrock darunterzuziehen, den sie auch jetzt trägt.

Mehrere weiße Unterröcke aus Barchent, mit Musselin garniert.

Zwei einfache Unterröcke, die ich für meine jüngste Tochter hatte machen lassen und die ihr glänzend passen. Das ist ihre Sommerbekleidung.

Fünfzehn Hemden, teils aus Batist, teils aus Musselin. Mitte Juni werde ich ihr Stoff zu sechs anderen senden, von einem Stück Leinwand, das jetzt in Senlis für mich gebleicht wird.

Einige Leibchen, Schürzen und Halstücher.

Zwei Dutzend Taschentücher.

Mehrere Nachthäubchen.

Sechs Morgenhauben und acht Paar Handkrausen mit einfachen und drei Paar doppelten Spitzen.

Sechs Paar feine Baumwollstrümpfe.

Das ist alles, was ich für sie tun konnte. Ich brachte ihr das am Tage nach dem Fest und kann Ihnen nicht schildern, mit welchen Gefühlen sie es angenommen hat. Sie betrachtete ein Stück, nahm ein anderes, faßte meine Hände und küßte sie. Aber sie kann ihre Tränen nie zurückhalten, wenn sie die Kleidungsstücke meiner Tochter ansah. »Aber warum weinst du?« sagte ich zu ihr. »Bist du nicht immer mein Kind gewesen?« »Das ist wahr,« sagte sie; dann fügte sie hinzu: »Jetzt, da ich glücklich zu werden hoffe, würde mir das Sterben schwer fallen. Liebe Freundin, wird diese Glut in der Hüfte nicht vorübergehen? Kann man nicht einen Umschlag machen?« Ich bin froh, mein Herr, daß Sie meinen Plan nicht mißbilligen und daß Sie eine Möglichkeit sehen, ihn zu verwirklichen. Ich überlasse alles Ihrer Klugheit; aber ich glaube Ihnen mitteilen zu müssen, daß die Marquise von T. jetzt aufs Land reist, daß der Doktor unzugänglich und verschlossen ist und daß der Sekretär, der stolz auf seinen Titel als Akademiker ist, den er nach zwanzigjährigen Bemühungen erhalten hat, nach der Bretagne geht, und daß wir in drei oder vier Monaten vergessen sein werden. Alle Interessen bei uns zulande verfliegen so schnell; man spricht kaum noch von uns, bald wird man überhaupt nicht mehr von uns sprechen.

Fürchten Sie nicht, daß sie die Adresse vergißt, die Sie ihr gegeben haben. Sie schlägt niemals ihr Gebetbuch auf, ohne den Zettel anzusehen; sie würde eher ihren Namen Simonin als den Namen Gassion vergessen. Ich fragte sie, ob sie Ihnen nicht schreiben wolle, da sagte sie mir, daß sie einen langen Brief begonnen habe, der alles enthalte, was sie Ihnen doch sagen müsse, wenn Gott ihr die Gnade schenke, gesund zu werden und Sie kennen zu lernen; sie habe aber die Ahnung, daß sie Sie nie sehen werde. »Es dauert zu lange, teure Freundin,« fügte sie hinzu, »ich werde mich weder Ihrer Güte noch der seinen erfreuen können; entweder wird der Herr Marquis seine Gesinnung ändern, oder ich werde nicht wieder gesund werden.« »Welche Torheit,« sagte ich, »wissen Sie wohl, daß, wenn Sie sich mit so traurigen Gedanken beschäftigen, das Gefürchtete Ihnen begegnen wird?« Da sagte sie: »Gottes Wille geschehe.« Ich bat sie, mir zu zeigen, was sie Ihnen geschrieben hatte; ich war bestürzt, es war ein ganzes Buch. »Damit mordest du dich,« sagte ich zornig. Sie entgegnete: »Was soll ich denn tun? Entweder bin ich traurig, oder ich langweile mich?« – »Wann hast du nur dies alles geschrieben?« »Heute etwas, morgen etwas. Ob ich am Leben bleibe, oder ob ich sterbe, man soll wissen, was ich gelitten habe …« Ich verbot ihr, weiterzuschreiben. Ihr Arzt tat das gleiche. Ich bitte Sie, mein Herr, Ihren Einfluß mit unsern Bitten zu vereinen; sie betrachtet Sie als ihren Herrn, und sicher wird sie Ihnen gehorchen. Da ich aber begreife, wie lang ihr die Zeit wird, und daß sie sich beschäftigen muß, habe ich ihr, um zu verhindern, daß sie weiter schreibt, grübelt und sich traurig macht, eine Stickerei besorgt und ihr vorgeschlagen, eine Weste für Sie zu sticken. Das macht ihr viel Freude, und sie hat sich sofort an die Arbeit gemacht. Wollte Gott, daß sie nicht mehr Zeit hat, sie hier zu vollenden. Jetzt bitte ich um ein Wort von Ihnen, das ihr verbietet zu schreiben und zuviel zu arbeiten. Ich hatte beschlossen, heute abend nach Versailles zurückzukehren, aber ich bin in Unruhe: die auftretende Geschwulst macht mir Sorge, und ich will morgen bei ihr sein, wenn der Arzt wiederkommt. Ich glaube unglücklicherweise etwas an die Ahnungen der Kranken; sie haben ein sicheres Gefühl. Als ich meinen Mann verlor, versicherten mir alle Ärzte, er werde wieder gesund werden; er selbst sagte, er werde sterben; und der arme Mann sagte nur zu sehr die Wahrheit. Ich werde hier bleiben und werde mir erlauben, Ihnen zu schreiben, ich glaube, wenn ich sie verlieren sollte, würde ich mich nie darüber trösten. Sie wären dann glücklich, mein Herr, daß Sie sie nie gesehen haben. Jetzt werden die Elenden, die sie zur Flucht getrieben haben, sie entbehren, aber es ist zu spät.

Ich habe die Ehre, mit dem Ausdruck meines Respekts und meiner Dankbarkeit zu verbleiben Ihre sehr ergebene und gehorsame Dienerin

Moreau-Madin.

Paris, 13. April 1760.

 

Antwort des Marquis von Croismare an Frau Madin.

Gnädige Frau, ich teile mit wahrem Mitgefühl Ihre Sorge um Fräulein Simonins Krankheit. Ihre unglückliche Lage hatte mich tief ergriffen, aber die Einzelheiten, die Sie mir über ihre Eigenschaften und ihre Gefühle mitgeteilt haben, nimmt mich so für sie ein, daß es mir unmöglich sein würde, ihr nicht das lebhafteste Interesse entgegenzubringen: ich bin also weit davon entfernt, die Gefühle, die ich für sie hege, zu verändern und bitte Sie vielmehr, ihr zu wiederholen, was ich in meinen Briefen gesagt habe und was ich unverändert aufrechterhalte. Ich glaube, es ist klüger, ihr nicht zu schreiben, um ihr die Gelegenheit zu nehmen, mir antworten zu müssen, denn es ist nicht zweifelhaft, daß jede Beschäftigung in ihrem zarten Zustand ihr nachteilig ist. Und wenn ich einigen Einfluß auf sie habe, so will ich ihn benutzen, es ihr zu untersagen. Ich wende mich am besten an Sie, gnädige Frau, um ihr zu sagen, was ich in diesem Punkte denke. Nicht daß ich nicht erfreut wäre, von ihr selbst eine Nachricht zu bekommen, aber ich will nicht, daß sie aus purem Anstand etwas tut, was ihre Genesung hinausschieben könnte. Das Interesse, das Sie an ihr nehmen, gnädige Frau, macht es unnötig, daß ich Sie nochmals bitte, in diesem Punkte ihr Einhalt zu tun. Seien Sie stets von meiner aufrichtigen Sympathie für sie überzeugt und von der besonderen Achtung und wahren Wertschätzung, mit der ich verbleibe Ihr sehr ergebener und gehorsamer Diener.

25. April 1760.

 

PS. Gleichzeitig schreibe ich an einen meiner Freunde, an den Sie sich wegen Frau von T. wenden können. Er heißt Grimm, ist Sekretär in Diensten des Herzogs von Orleans, und wohnt in der Rue Neuve de Luxembourg, in der Nähe der Rue Saint Honore in Paris. Ich werde ihn benachrichtigen, daß Sie ihn aufsuchen werden, und teile ihm dabei mit, daß ich Ihnen in hohem Grade verpflichtet bin und nichts sehnlicher wünsche, als Ihnen meine Dankbarkeit beweisen zu können. Er speist meistens nicht zu Hause.

 

Brief Frau Madins an den Marquis von Croismare.

Mein Herr, wieviel habe ich gelitten, seit ich Ihnen nicht mehr geschrieben habe! Ich konnte es nicht verantworten, Sie an meinem Kummer teilnehmen zu lassen, und ich hoffe, Sie werden es mir Dank wissen, daß ich Ihre empfindsame Seele nicht auf eine so grausame Probe gestellt habe. Sie wissen, wie teuer sie mir war. Denken Sie sich, mein Herr, daß ich sie fast vierzehn Tage hintereinander von den heftigsten Schmerzen geplagt sehe. Endlich hat Gott, glaube ich, Mitleid mit ihr und mir. Die arme Unglückliche lebt noch, aber es kann nicht mehr lange dauern. Ihre Kräfte sind erschöpft, sie spricht fast gar nicht mehr, sie hat Mühe, die Augen aufzuschlagen. Es bleibt ihr nur ihre Geduld, die sie nicht verlassen hat. Wenn sie nicht selig wird, was soll dann aus uns werden? Die Hoffnung, die ich auf ihre Genesung hatte, verschwand plötzlich. In der Hüftgegend hatte sich ein Geschwür gebildet, das nach ihrem Fall sich unmerklich weiterentwickelte. Sie wollte nicht, daß man sie operierte, und als sie sich dazu entschloß, war es zu spät. Sie fühlt ihren letzten Augenblick nahen; sie schickt mich fort, und ich gestehe Ihnen, daß ich auch nicht imstande bin, dies Schauspiel mitanzusehen. Gestern zwischen zehn und elf Uhr abends hat sie die Sterbesakramente empfangen, sie selbst bat darum. Nach dieser traurigen Zeremonie blieb ich allein an ihrem Lager. Sie hörte mich seufzen, sie tastete nach meiner Hand, und ich gab sie ihr; sie erfaßte sie, drückte sie an die Lippen, zog mich an sich und sagte so leise, daß ich sie kaum verstehen konnte: »Liebe Freundin, noch eine Gefälligkeit.«

»Was für eine, mein Kind?«

»Segnen Sie mich und gehen Sie.«

Sie fügte hinzu: »Der Herr Marquis … versäumen Sie nicht, ihm zu danken.«

Das sind wohl ihre letzten Worte gewesen. Ich habe alle Anordnungen getroffen und habe mich zu einer Freundin begeben, wo ich von Minute zu Minute warte. Es ist ein Uhr nachts. Vielleicht haben wir jetzt im Himmel eine Freundin.

Ich bin in größter Hochachtung Ihre sehr ergebene und gehorsame Dienerin.

Moreau-Madin.

(Der vorstehende Brief ist vom 7. Mai, trägt aber kein Datum.)

 

Brief Frau Madins an den Marquis von Croismare.

Das liebe Kind ist nicht mehr; ihre Qualen sind vorüber, und die unseren werden vielleicht noch lange dauern. Sie ist am vorigen Mittwoch zwischen drei und vier Uhr morgens aus dieser Welt in jene andere hinübergegangen, in der wir alle erwartet werden. Da ihr Leben unschuldig war, waren auch ihre letzten Augenblicke ruhig, trotz allem, was geschah, sie zu stören. Erlauben Sie, daß ich Ihnen für Ihre herzliche Anteilnahme an ihrem Schicksal danke; das ist die einzige Pflicht, die ich noch für sie zu erfüllen hatte. Beiliegend alle Briefe, mit denen Sie uns beehrten. Einige davon hatte ich aufbewahrt, die andern fand ich unter den Papieren, die sie mir einige Tage vor ihrem Tode übergeben hat; sie enthalten, wie sie mir sagte, die Geschichte ihres Lebens in ihrem Elternhause und in den drei Klöstern, und ihre Erlebnisse nach ihrer Flucht. Ich glaube nicht, daß ich sie bald lesen kann, ich kann nichts ansehen, was ihr gehörte, nichts, was meine Freundschaft ihr bestimmt hatte, ohne tiefen Schmerz zu empfinden.

Wenn ich je so glücklich sein könnte, Ihnen, Herr Marquis, einen Dienst zu leisten, so würde es mir höchst schmeichelhaft sein, wenn Sie sich meiner erinnerten.

Ich bin in dem Gefühl größter Hochachtung und Dankbarkeit, wie man es einem barmherzigen und wohltätigen Manne schuldet, Ihre sehr ergebene und gehorsame Dienerin

Moreau-Madin.

10. Mai 1760.

 

Brief des Marquis von Croismare an Frau Madin.

Ich weiß, gnädige Frau, was es für ein empfindsames und gutes Herz bedeutet, den Gegenstand seiner Zuneigung zu verlieren und damit nicht mehr Gelegenheit zu haben, ihm Gefälligkeiten zu erweisen, wenn diese so wohlverdient sind wie durch das liebe Mädchen, der heute unsere Trauer gilt. Ich teile Ihren Schmerz mit innigstem Mitgefühl. Sie haben sie gekannt, das macht Ihnen die Trennung von ihr noch schwerer erträglich. Obwohl ich diesen Vorzug nicht gehabt habe, hat ihr Unglück mich lebhaft berührt, und ich genoß im Vorgefühl die Freude, ihren Tagen Sicherheit geben zu können. Wenn der Himmel es anders bestimmt hat und mich dieser Genugtuung beraubte, so muß ich seinem Willen mich fügen; aber ich kann es nicht ohne Schmerz. Sie haben wenigstens den Trost, mit aller Großmut und höchstem Edelmut alles für sie getan zu haben; ich habe Sie bewundert, und mein Ehrgeiz wäre gewesen, es Ihnen gleichzutun. So kann ich nur wünschen, bei Gelegenheit Ihre Bekanntschaft zu machen und Ihnen zu sagen, wie sehr mich Ihre seelische Größe bezaubert; unterdes verbleibe ich mit respektvoller Empfehlung Ihr sehr ergebener und gehorsamer Diener.

18. Mai 1760.

 

P. S. Alles, was an unsere unglückliche Tote erinnert, ist mir teuer geworden; wäre es für Sie kein zu großes Opfer, mir die Aufzeichnungen zu senden, die sie von ihrem Unglück gemacht hat? Ich bitte Sie um diese Gefälligkeit in um so größerem Vertrauen, als Sie mir sagten, daß ich mich an Sie wenden dürfe. Ich werde sie Ihnen wohlbehalten zurücksenden, ebenso wie Ihre Briefe, bei erster Gelegenheit, wenn Sie es für gut finden. Sie werden die Güte haben, mir alles mit der Landkutsche zu senden, die in der Rue Saint Denis in Paris, im Großen Hirsch, stationiert ist und jeden Montag abfährt.

 

So endigte die Geschichte der unglücklichen Schwester Susanne Saulier, in ihrer Geschichte und in diesem Briefwechsel Simonin genannt. Es ist sehr bedauerlich, daß die Aufzeichnungen ihres Lebens nicht vollendet sind; sie hätten eine sehr interessante Lektüre gebildet. Übrigens muß der Marquis von Croismare der Hinterlist seiner Freunde Dank wissen, denn sie boten ihm eine Gelegenheit, einer Unglücklichen mit einem Edelmut, einer Selbstverständlichkeit und einer Großmut beizustehen, die seiner würdig war: die Rolle, die er in diesem Briefwechsel spielt, ist nicht der am wenigsten rührende Teil des Romans.

Man wird uns vielleicht tadeln, daß wir das Ende der Schwester Susanne zu sehr beschleunigt haben, aber wir mußten uns dazu entschließen, weil wir aus Schloß Lasson hörten, daß man ein Zimmer für Fräulein von Croismare instand setzte, die ihr Vater aus dem Kloster nehmen wollte, wo sie seit dem Tode ihrer Mutter gewesen war. Wir hörten ferner, daß er aus Paris eine Kammerfrau erwarte, die zugleich Erzieherin bei dem jungen Mädchen sein solle, und daß Herr von Croismare sich bemühe, die Bonne, die bisher bei seiner Tochter gewesen war, anderweitig unterzubringen. Nach diesen Nachrichten mußten wir unverzüglich unsern Entschluß fassen; und weder die Jugend, noch die Schönheit, noch die Unschuld der Schwester Susanne, noch ihre sanfte, empfindsame und zärtliche Seele, die jedes Herz rühren mußte, auch wenn es nicht zum Mitleid neigte, konnten sie vor dem unvermeidlichen Tode bewahren. Aber da wir alle Frau Madins Interesse für das reizende Geschöpf teilten, war unsere Trauer über ihren Tod nicht minder lebhaft, als die ihres ehrenwerten Beschützers.

 


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