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Die Nonne

Die Antwort des Marquis von Croismare, wenn er eine gibt, wird mir die ersten Zeilen meiner Erzählung an die Hand geben. Bevor ich ihm schreibe, möchte ich ihn kennen. Er ist ein Mann von Welt, hat sich im Dienst ausgezeichnet, ist bei Jahren, war verheiratet, hat eine Tochter und zwei Söhne, die er liebt und die ihn zärtlich verehren. Er ist von vornehmer Herkunft, klug, geistvoll, heiter, liebt die schönen Künste und ist ein Original. Überall rühmt man seine Gutherzigkeit, seine Rechtlichkeit und Ehrenhaftigkeit; und ich habe aus allem, was man mir von ihm gesagt hat, und an dem lebhaften Interesse, das er meiner Sache entgegenbringt, gesehen, daß ich keinen Mißgriff tat, als ich mich an ihn wandte: Aber es ist nicht anzunehmen, daß er sich entschließt, in mein Schicksal einzugreifen, wenn er nicht weiß, wer ich bin, und aus diesem Grunde muß ich meine Eigenliebe und meine Abneigung gegen solche Dinge überwinden und meine Erinnerungen aufzeichnen, in denen ich, ohne Begabung und ganz kunstlos, mit der Natürlichkeit eines Mädchens meines Alters und der ganzen Offenheit meines Charakters einen Teil meines Unglücks schildern will. Da mein Beschützer es vielleicht verlangen wird, oder die Lust, diese Aufzeichnungen zu vollenden, mich zu einer Zeit überkommen könnte, da die entfernten Tatsachen meinem Gedächtnis nicht mehr gegenwärtig sind, so denke ich, daß der kurze Abriß an ihrem Schluß und der tiefe Eindruck, der mir für mein ganzes Leben bleiben wird, hinreichen, sie mir stets in allen Einzelheiten wieder vor Augen zu stellen.

Mein Vater war Advokat. Er hatte meine Mutter in recht vorgerücktem Alter geheiratet und hatte drei Töchter mit ihr. Er hatte mehr Vermögen, als nötig gewesen wäre, sie alle drei gut auszustatten; aber dazu hätte seine Liebe gleichmäßig verteilt sein müssen, und leider kann ich ihm dieses Lob nicht erteilen. Gewiß war ich besser bedacht als meine Schwestern durch die Vorzüge des Geistes und des Aussehens, des Charakters und der Talente, und das schien meine Eltern zu betrüben. Da das, was ich durch Natur und Fleiß vor ihnen voraus hatte, für mich eine Quelle steten Kummers wurde, wünschte ich seit meinen frühesten Jahren nichts sehnlicher, als ihnen zu gleichen, um auch geliebt, verwöhnt, gefeiert, entschuldigt zu werden, wie es bei ihnen der Fall war. Wenn einmal jemand zu meiner Mutter sagte: »Sie haben entzückende Kinder,« … so durfte sich das nie auf mich beziehen. Bisweilen wurde ich allerdings für diese Ungerechtigkeit entschädigt, aber die empfangenen Lobsprüche kamen mir so teuer zu stehen, wenn wir allein waren, daß ich lieber Gleichgültigkeit oder sogar Schmähworte hingenommen hätte; je mehr Auszeichnung die Fremden mir zuteil werden ließen, um so schlechter war die Stimmung mir gegenüber, sobald sie fort waren. Oh, wie oft habe ich geweint, weil ich nicht häßlich, dumm, einfältig, hochmütig war, kurz nicht alle Untugenden besaß, die meine Schwestern bei unsern Eltern so hoch in Gunst stehen ließen. Ich habe mich oft gefragt, worauf dies seltsame Verhalten eines sonst so ehrenwerten, gerechten Vaters, einer so frommen Mutter zurückzuführen sein mochte. Soll ich Ihnen meine Ansicht sagen, mein Herr? Einige meinem Vater, der sehr jähzornig war, in der Wut entschlüpfte Worte, kleine Ereignisse, die ich hier und da beobachtete, Reden der Nachbarn, der Bedienten, ließen mich einen Grund ahnen, der sie ein wenig entschuldigen würde. Vielleicht war mein Vater in Ungewißheit hinsichtlich meiner Geburt, vielleicht erinnerte ich meine Mutter an einen Fehltritt, den sie begangen, an die Undankbarkeit eines Mannes, dem sie zu gefügig gewesen war; was weiß ich? Aber selbst wenn diese Vermutungen schlecht begründet wären, laufe ich ja keine Gefahr, wenn ich sie Ihnen anvertraue. Sie werden diese Schrift verbrennen, und ich verspreche Ihnen, Ihre Antworten ebenfalls zu verbrennen.

Da wir in geringen Zwischenräumen zur Welt gekommen waren, waren wir alle zu gleicher Zeit erwachsen. Bewerber stellten sich ein. Meine älteste Schwester wurde von einem liebenswürdigen jungen Manne umworben, bald aber merkte ich, daß er mich auszeichnete, und ahnte, daß sie bald nur noch als Vorwand für seine Aufmerksamkeiten werde dienen müssen. Ich sah voraus, daß diese Bevorzugung schweren Kummer über mich bringen werde, und setzte meine Mutter in Kenntnis. Das ist vielleicht das einzige Mal, daß ich ihr in meinem Leben etwas zu Dank gemacht habe, aber nun hören Sie, wie ich belohnt wurde. Vier Tage später, oder doch nach wenigen Tagen, sagte man mir, man habe mir einen Platz in einem Kloster verschafft, und schon am andern Tage wurde ich dorthin gebracht. Ich hatte es zu Hause so schlecht gehabt, daß dies Ereignis mich gar nicht betrübte, und ich kam sehr vergnügt nach Sankt Marien, meinem ersten Kloster. Als der Verehrer meiner Schwester mich nicht mehr sah, vergaß er mich und wurde ihr Gatte. Er heißt M. K., ist Notar und wohnt in Corbeil, wo er in sehr schlechter Ehe mit ihr lebt. Meine zweite Schwester wurde mit einem Herrn Bauchon, einem Pariser Seidenwarenhändler aus der Rue Quincampoix verheiratet und lebt in recht glücklicher Ehe.

Als meine beiden Schwestern unter die Haube gebracht waren, glaubte ich, man werde jetzt an mich denken und mich unverzüglich aus dem Kloster holen. Ich war damals sechzehneinhalb Jahre alt. Meine Schwestern hatten eine recht ansehnliche Mitgift bekommen, und ich erhoffte das gleiche; mit solchen verführerischen Plänen war mein Kopf erfüllt, als ich eines Tages ans Sprechgitter gerufen wurde. Der Beichtvater meiner Mutter, Pater Seraphin, wollte mich sprechen; er war auch mein Beichtiger gewesen und konnte mir also ohne große Umstände den Grund seines Besuches auseinandersetzen; es handelte sich darum, mich zu überreden, Nonne zu werden. Ich widersetzte mich diesem sonderbaren Vorschlag und erklärte ihm rundheraus, daß ich keine Neigung zum Klosterleben habe. »Das ist sehr schlimm,« sagte er zu mir, »denn Ihre Eltern sind von Ihren Schwestern ausgeplündert worden, und ich weiß nicht, was sie in den beschränkten Verhältnissen, in denen sie jetzt leben, für Sie tun könnten. Überlegen Sie sich das, liebes Fräulein; Sie müssen endgültig in dies Kloster eintreten oder aber sich in irgendein Kloster in der Provinz begeben, das Sie gegen ein mäßiges Jahrgeld aufnehmen wird und das Sie erst nach dem Tode Ihrer Eltern verlassen können, und das kann noch lange dauern …« Ich beklagte mich bitter und vergoß Ströme von Tränen. Die Oberin war benachrichtigt, sie erwartete mich nach der Unterredung. Ich war in einer unbeschreiblichen Erregung. Sie sagte: »Aber was hast du denn, liebes Kind?« (Sie wußte besser als ich, was ich hatte.) »Wie siehst du nur aus! Solch eine Verzweiflung habe ich noch nie gesehen, du erschreckst mich. Hast du deinen Vater oder deine Mutter verloren?« Ich warf mich ihr in die Arme und hätte am liebsten gesagt: »Wollte Gott, es wäre das!«, aber ich begnügte mich, zu rufen: »Ach, ich habe nicht Vater und nicht Mutter; ich bin ein elendes Geschöpf, das alle verabscheuen und das hier lebendig begraben werden soll.« Sie ließ den Sturm vorbeigehen und wartete, bis ich ruhiger wurde. Ich erklärte ihr deutlicher, was man mir mitgeteilt hatte. Sie schien Mitleid mit mir zu haben und bedauerte mich, sie bestärkte mich darin, keinen Weg einzuschlagen, für den ich keine Neigung hätte, sie versprach mir, für mich zu bitten und Fürsprache einzulegen. Oh, wie listig sind die Oberinnen der Klöster! Davon machen Sie sich keine Vorstellung. Sie schrieb wirklich. Sie wußte recht gut, was für eine Antwort sie bekommen würde und teilte sie mir mit. Erst nach sehr langer Zeit kamen mir Zweifel an ihrer Ehrlichkeit. Unterdes lief die Frist, die man mir gesetzt hatte, ab, und sie unterrichtete mich mit gutgespielter Traurigkeit von dieser Tatsache. Zuerst verharrte sie ohne zu sprechen, dann warf sie einige mitleidige Worte hin, aus denen ich das übrige entnehmen konnte. Wieder gab es eine Szene der Verzweiflung, und etwas anderes habe ich Ihnen kaum zu schildern. Selbstbeherrschung ist ihre große Kunst. Endlich sagte sie zu mir, und ich glaube wirklich, sie weinte: »Also jetzt wirst du uns verlassen, mein Kind! Liebes Kind, wir werden dich nicht wiedersehen! …« Und sie sagte noch manches, was ich nicht hörte. Ich war auf einen Stuhl hingesunken; bald schwieg ich, bald schluchzte ich, bald verharrte ich unbeweglich, bald sprang ich auf, bald lehnte ich mich gegen die Wand, bald weinte ich meinen Schmerz an ihrem Busen aus. Als das vorüber war sagte sie: »Aber warum tust du eins nicht? Höre zu, aber sage nie, daß ich dir diesen Rat gegeben habe; ich rechne auf unverbrüchliches Schweigen deinerseits: denn ich möchte um alles in der Welt nicht, daß man mir dies zum Vorwurf machen könnte. Was verlangt man von dir? Daß du den Schleier nimmst. Ja, wozu verpflichtet dich das? Zu nichts anderem, als noch zwei Jahre bei uns zu bleiben. Man kann nicht wissen, wer dann noch am Leben ist; zwei Jahre sind eine lange Zeit, in zwei Jahren kann viel geschehen …« Diesen hinterlistigen Reden fügte sie so viele Liebkosungen, soviel Freundschaftsbeteuerungen, so viele süße Lügen hinzu: »Ich wüßte doch, wo ich sei, könne aber nicht wissen, wo man mich hinbringen werde«, daß ich mich überreden ließ. Sie schrieb also an meinen Vater; ihr Brief war vortrefflich, er konnte gar nicht besser sein: sie verhehlte nicht, wie schmerzbewegt, wie betrübt ich sei; ich versichere Ihnen, auch eine Klügere als ich hätte sich täuschen lassen; der Brief schloß mit den Worten, daß ich meine Einwilligung gebe. Mit welcher Geschwindigkeit wurde nun alles vorbereitet! Der Tag wurde festgesetzt, meine Gewänder hergerichtet, und der Augenblick der Zeremonie war gekommen, ohne daß ich heute nur den geringsten Zwischenraum zwischen diesen Dingen zu bemerken meine.

Ich vergaß, Ihnen zu erzählen, daß ich inzwischen meine Eltern gesehen und nichts unterlassen hatte, sie umzustimmen; sie waren aber unerbittlich. Ein Abbé Blin, Doktor der Sorbonne, bereitete mich vor, und der Bischof von Alep kleidete mich ein. Diese Zeremonie ist schon an sich nicht heiter, an jenem Tage aber war sie so traurig wie nur möglich. Obwohl die Nonnen sich um mich scharten, um mich zu stützen, fühlte ich zwanzigmal meine Knie versagen und sah mich schon auf den Stufen des Altars zusammenbrechen. Ich hörte nichts, ich sah nichts, ich war stumpfsinnig; man führte mich und ich ging, man fragte mich und andere antworteten für mich. Aber diese entsetzliche Zeremonie nahm endlich doch ein Ende; alle zogen sich zurück und ich blieb inmitten der Herde stehen, mit der man mich vereinigt hatte. Meine Gefährtinnen umringen mich, sie umarmen mich und sagen untereinander: »Aber sieh doch nur, Schwester, wie schön sie ist! Wie der schwarze Schleier die Weiße ihrer Haut hebt, wie gut ihr die Binde steht! wie sie das Gesicht rundet und die Wangen voller macht, wie gut das Gewand ihren Wuchs und ihre Arme zur Geltung bringt! …« Ich hörte sie kaum; ich war verzweifelt; aber ich muß gestehen, als ich allein in meiner Zelle war, erinnerte ich mich ihrer Schmeicheleien und konnte nicht umhin, sie vor meinem kleinen Spiegel auf ihre Wahrheit zu prüfen; wirklich erschienen sie mir nicht völlig unangebracht. Mit diesem Tage sind gewisse Ehrenrechte verbunden, die man für mich noch erweiterte, aber ich war nur wenig empfänglich dafür; man tat jedoch, als glaube man das Gegenteil und sagte mir das auch, aber es war wirklich nicht so. Abends nach der Betstunde kam die Äbtissin in meine Zelle. »Wirklich,« sagte sie, nachdem sie mich eine Weile betrachtet hatte, »ich weiß nicht, warum du eine solche Abneigung gegen dieses Gewand hast; es steht dir entzückend, und du bist reizend; Schwester Susanne ist eine sehr hübsche Nonne, und man wird dich deshalb um so mehr lieben. Laß doch sehen, geh etwas auf und ab. Du hältst dich nicht gerade genug; du darfst nicht so krumm gehen …« Sie rückte mir den Kopf, die Füße, die Hände, den Oberkörper, die Arme zurecht; es war fast wie eine Lektion in klösterlicher Grazie bei dem berühmten Marcel: denn jeder Stand hat seine eigene Grazie. Endlich setzte sie sich und sagte zu mir: »So ist es gut; aber jetzt wollen wir ernsthaft miteinander reden. Nun sind zwei Jahre gewonnen; deine Eltern können ihren Entschluß ändern, du selbst willst vielleicht hier bleiben, wenn sie dich fortnehmen wollen, das ist durchaus nicht unmöglich.« – »Glauben Sie das nicht, Frau Äbtissin.« – »Du bist lange genug bei uns gewesen, aber du kennst unser Leben noch nicht; zweifelsohne hat es seine Plage, aber es hat auch seine guten Seiten …« Sie können sich wohl vorstellen, was sie mir alles über Welt und Kloster sagte, das findet man in allen Büchern und überall steht das gleiche; denn man hat mich Gott sei Dank den ganzen Wortschwall lesen lassen, den die Klosterbrüder über ihren Stand ausposaunen, über diesen Stand, den sie gut kennen und verabscheuen, und gegen die Welt, die sie lieben, die sie herunterreißen und nicht kennen.

Ich will Sie mit den Einzelheiten meines Noviziats verschonen; wenn man dabei schon die ganze Strenge beobachtete, würde keine Schwester im Kloster bleiben; infolgedessen ist es die angenehmste Zeit des Klosterlebens. Eine Novizenmutter ist die nachsichtigste Schwester, die man sich denken kann. Sie sinnt nur darauf, dem Stande alle Dornen zu nehmen; man ist von einer sehr geschickten und gut angewandten Verführung umgeben. Sie macht die Unwissenheit, die uns umschwebt, immer dichter, sie wiegt uns, sie singt uns in Schlaf, sie gaukelt uns süße Bilder vor, sie bezaubert uns; und unsere Novizenmutter verwandte besondere Sorgfalt auf mich. Keine junge und unerfahrene Seele könnte den Schlingen dieser verderblichen Kunst entschlüpfen. Die Welt hat ihre Abgründe, aber ich glaube nicht, daß man auf so sanften Hängen hinuntergleitet. Wenn ich zweimal hintereinander geniest hatte, war ich von meinem Dienst befreit, brauchte keine Arbeit zu tun und nicht zur Betstunde zu kommen; ich ging dann früher zu Bett und stand später auf; alle Regeln waren für mich aufgehoben. Stellen Sie sich vor, daß es Tage gab, an denen ich mich nach dem Augenblick meiner Klosterweihe sehnte. Es trägt sich keine traurige Geschichte in der Welt zu, die einem nicht erzählt wird; man entstellt die wahren und erfindet falsche, und daran schließen sich endlose Lobsprüche und Danksagungen für Gott, der uns vor solchen demütigenden Abenteuern schützt. So kam die Zeit heran, die ich bisweilen herbeigesehnt hatte. Da wurde ich nachdenklich und fühlte, daß meine Abneigung wieder erwachte und sich vergrößerte. Ich vertraute mich der Äbtissin, unserer Novizenmutter, an. Diese Frauen rächen sich aber gründlich für die Quälereien, die man ihnen bereitet, denn man muß nicht glauben, daß ihnen die Heuchlerrolle, die sie spielen, und die Albernheiten, die sie einem wieder und immer wieder vorreden müssen, Spaß machen; das alles ist ihnen zuletzt sehr widerwärtig und verhaßt; sie tun es jedoch wegen der paar tausend Taler, die dadurch ihrem Kloster zufließen. Um dieser hochwichtigen Sache willen lügen sie ihr ganzes Leben lang und bereiten jungen, unschuldigen Menschenkindern fünfzigjährige Verzweiflung und vielleicht das ewige Verderben, denn es ist ganz sicher, mein Herr, daß von hundert Nonnen, die vor fünfzig Jahren sterben, hundert sehr zu Recht verdammt werden, ganz abgesehen von denen, die inzwischen wahnsinnig werden oder verblöden.

Eines Tages brach eine von den wahnsinnig gewordenen Nonnen aus der Zelle aus, in der sie eingeschlossen war. Ich sah sie. Und nun begann die Zeit meines Glücks oder meines Unglücks, je nachdem Sie, Herr, mit mir verfahren werden. Etwas so Entsetzliches hatte ich noch nie gesehen. Ihre Haare waren gelöst und sie war fast unbekleidet; ihre eisernen Ketten klirrten hinter ihr her; ihre Augen waren stier; sie raufte sich die Haare, schlug sich mit den Fäusten gegen die Brust, rannte, heulte; sie stieß gegen sich selbst und gegen die andern die furchtbarsten Lästerungen aus; sie suchte ein Fenster, um sich hinauszustürzen. Mich erfaßte Entsetzen, ich zitterte an allen Gliedern, ich sah mein Los in dieser Unglücklichen, und in diesem Augenblick war es in meinem Herzen beschlossen, daß ich tausendmal lieber sterben würde, als mich dem aussetzen. Man ahnte, welche Wirkung dies Ereignis auf meinen Geist haben werde und glaubte, dem vorbeugen zu müssen. Man erzählte mir von dieser Nonne allerlei lächerliche Lügengeschichten, die sich widersprachen: sie sei schon geistesgestört gewesen, als sie hier Aufnahme gefunden habe; sie habe in einer kritischen Zeit einmal einen großen Schreck bekommen; sie habe Visionen; sie glaube mit den Engeln in Verbindung zu stehen; sie habe schädliche Bücher gelesen, die ihr den Geist verwirrt hätten; die Neuerer hätten ihr eine so auf die Spitze getriebene Moral gepredigt, daß sie das Gericht Gottes fürchte und ihr schwacher Geist völlig in Verwirrung geraten sei; sie sehe nur noch Dämonen, Hölle und Feuerflammen; die Nonnen seien sehr unglücklich, denn es sei etwas ganz Unerhörtes, daß so ein Geschöpf in einem Kloster lebe; und was noch alles. Aber das verfing bei mir nicht. Ich mußte immerfort an die wahnsinnige Nonne denken, und ich erneuerte meinen Schwur, kein Gelübde abzulegen.

Jetzt war der Augenblick gekommen, an dem ich zeigen mußte, ob ich mir Wort halten konnte. Eines Morgens nach dem Gottesdienst sah ich die Äbtissin bei mir eintreten. Sie hielt einen Brief in der Hand. Ihre Miene war traurig und niedergeschlagen, ihre Arme hingen schlaff herab; es machte den Eindruck, als habe die Hand nicht die Kraft, diesen Brief zu halten; sie sah mich an; Tränen schienen in ihren Augen zu schwimmen; sie schwieg, ich schwieg ebenfalls; sie wartete, ich solle zuerst sprechen; ich fühlte mich versucht, das zu tun, hielt aber inne. Sie fragte mich, wie es mir gehe. Der Gottesdienst habe heute sehr lange gedauert, ich hätte etwas gehustet und scheine mich nicht gut zu befinden. Auf das alles antwortete ich: »Nein, Frau Äbtissin.« Sie hielt noch immer den Brief in der Hand; mitten in ihren Fragen legte sie ihn mir auf den Schoß, und ihre Hand verbarg ihn teilweise. Nachdem sie noch allerlei Fragen in bezug auf meine Eltern an mich gerichtet hatte und sah, daß ich nicht neugierig auf den Inhalt dieses Schreibens war, sagte sie: »Ich habe einen Brief für dich …«

Bei diesen Worten fühlte ich mein Herz klopfen und sagte mit abgebrochener Stimme und zitternden Lippen: »Von meiner Mutter?«

»Ja, nimm, lies ihn! …«

Ich beruhigte mich etwas, nahm den Brief und las ihn zuerst mit Selbstbeherrschung; aber als ich in der Lektüre fortschritt und Angst, Empörung, Zorn, Verachtung, allerlei Leidenschaften mich überwältigten, wechselte meine Stimme den Ton, veränderten sich meine Mienen und machte ich verschiedene Bewegungen. Bisweilen konnte ich nur mit Mühe den Brief halten, hielt ihn, als wollte ich ihn zerreißen, oder faßte ihn, als wollte ich ihn zerknittern und weit wegschleudern.

»Nun, mein Kind, was wollen wir darauf antworten?«

»Sie wissen es ja, Frau Äbtissin.«

»Nein, ich weiß es nicht. Die Zeit ist traurig, deine Familie hat schwere Verluste erlitten, deine Schwestern leben in schlechten Verhältnissen, beide haben viele Kinder, deine Eltern haben sich verausgabt, als sie sie verheirateten; sie ruinieren sich jetzt mit der Unterstützung. Man kann dir kein sicheres Los bieten; du hast den Schleier genommen; man hat sich deinetwegen Kosten gemacht; durch diesen Schritt hast du Hoffnungen in ihnen erweckt, die Kunde von deinem künftigen Beruf hat sich in der Welt verbreitet. Übrigens kannst du immer auf meinen Beistand rechnen. Ich habe niemals jemanden zum Klosterleben gezwungen, das ist ein Stand, zu dem man durch Gott berufen wird, und es ist sehr gefährlich, die eigene Stimme mit Gottes Stimme zu vermischen. Ich werde nichts tun, um zu deinem Herzen zu sprechen, wenn die göttliche Gnade dir nichts sagt; bis heute habe ich mir das Unglück keines Menschen zum Vorwurf zu machen; sollte ich mit dir den Anfang machen, mein Kind, wo du mir so teuer bist? Ich habe nicht vergessen, daß du auf meine Vorstellungen hin den ersten Schritt getan hast; und ich werde nicht dulden, daß man ihn mißbraucht, um dich gegen deinen Willen für dein Leben zu binden. Wir wollen also zusammen überlegen, was zu tun ist. Willst du das Gelübde ablegen?«

»Nein, Frau Äbtissin.«

»Du fühlst also keine Neigung für das klösterliche Leben?«

»Nein, Frau Äbtissin.«

»Du wirst deinen Eltern nicht gehorchen?«

»Nein, Frau Äbtissin.«

»Was möchtest du denn werden?«

»Alles, nur nicht Nonne. Ich will nicht Nonne werden und werde es auch nicht.«

»Gut, du wirst es nicht. Also wollen wir eine Antwort an deine Mutter aufsetzen …«

Wir besprachen uns untereinander. Sie schrieb und zeigte mir ihren Brief, den ich wieder sehr gut fand. Nun aber schickte man mir den Beichtiger des Klosters; dann den Doktor, der bei meiner Einkleidung gepredigt hatte; man empfahl mich der Novizenmutter, ich sah den Bischof von Alep; ich mußte manche Lanze mit frommen Frauen brechen, die sich in meine Angelegenheiten mischten, ohne daß ich sie gekannt hätte; dauernd fanden zwischen den Mönchen und den Priestern Unterredungen statt; mein Vater kam, meine Schwestern schrieben mir, zuletzt erschien auch meine Mutter; ich hielt allem stand. Inzwischen wurde der Tag angesetzt, an dem ich mein Gelübde ablegen sollte; man ließ nichts unversucht, meine Einwilligung zu erlangen; aber als man sah, daß alles Bitten vergeblich war, beschloß man, ohne sie vorzugehen.

Von diesem Augenblick an wurde ich in meiner Zelle eingeschlossen; man gebot mir Schweigen; ich wurde von aller Welt getrennt und mir selbst überlassen, und ich sah, daß man entschlossen war, ohne mich über mich zu verfügen. Ich wollte aber das Gelübde nicht ablegen, das war beschlossene Sache, und alle falschen oder wahren Schrecken, die man mir ohne Unterlaß vorspiegelte, vermochten mich nicht wankend zu machen. Doch ich war in einem bejammernswerten Zustand. Ich wußte nicht, wie lange er dauern konnte, und sollte er aufhören, so wußte ich noch weniger, was mit mir werden würde. Mitten in dieser Ungewißheit faßte ich einen Entschluß, über den Sie urteilen mögen, wie Sie wollen; ich sah keinen Menschen mehr, weder die Äbtissin, noch die Novizenmutter, noch meine Gefährtinnen; ich ließ der Äbtissin sagen, ich wolle mich dem Willen meiner Eltern fügen; aber meine Absicht war, diese Verfolgung mit einem Skandal zu beenden und öffentlich dagegen zu protestieren, daß man mir Gewalt antun wollte: ich sagte ihr also, man sei ja Herr über mein Schicksal, man könne über mich verfügen, wie man wolle; wenn man verlange, daß ich das Gelübde ablegte, so würde ich es tun. Da herrschte Freude im ganzen Hause, wieder wurde ich mit Liebkosungen, mit Schmeicheleien und allen möglichen Verführungskünsten überschüttet. Gott habe zu meinem Herzen gesprochen, sagte man, niemand sei so geeignet für diesen Stand der Vollkommenheit wie ich. Es sei unmöglich, daß ich andere Wege gehen könne, und man habe dies immer erwartet. Man könne seine Pflichten nicht mit soviel Ernst und Hingebung erfüllen, wenn man nicht wahrhaft berufen sei. Die Novizenmutter sagte, sie habe noch nie bei einer Schülerin deutlicher empfunden, daß sie für diesen Stand berufen sei, sie sei vollkommen überrascht gewesen, als ich plötzlich so störrisch geworden sei, aber sie habe immer zu der Oberin gesagt, man solle nur abwarten, es werde schon vorübergehen; die besten Nonnen hätten solche Augenblicke gehabt; das seien Einflüsterungen des bösen Geistes, der seine Anstrengungen verdoppele, wenn er die Gefahr vor sich sehe, seiner Beute verlustig zu gehen; ich würde ihm jetzt entrinnen; mein Weg würde jetzt nur noch mit Rosen bestreut sein, die Pflichten des Klosterlebens würden mir jetzt viel erträglicher erscheinen, da ich sie mir stark übertrieben hätte; diese Selbsterschwerung meines Jochs sei eine Gnade des Himmels gewesen, der sich dieses Mittels bediene, um die Last zu erleichtern … Es erschien mir sehr sonderbar, daß die gleiche Sache von Gott und vom Teufel kommen konnte, je nachdem man es ansah. Solcher Dinge gibt es viele in der Religion, und manche, die mich trösteten, sagten mir über meine Gedanken, es seien Einflüsterungen des Satans, während andere göttliche Eingebungen darin sahen. Das gleiche Übel kommt entweder von Gott, der uns prüfen oder vom Teufel, der uns versuchen will.

Ich war sehr vorsichtig und glaubte für mich einstehen zu können. Ich erhielt den Besuch meines Vaters, der kühl mit mir sprach; meine Mutter besuchte mich und umarmte mich; ich bekam Glückwunschschreiben von meinen Schwestern und vielen anderen Leuten. Ich wußte, daß der Vikar von Saint Roch, ein gewisser Sornin, die Predigt halten und der Kanzler der Universität, ein gewisser Thierry, mein Gelübde abnehmen würde. Alles ging gut bis zum Vorabend des großen Tages, aber als ich erfuhr, daß die Zeremonie in aller Stille stattfinden solle und daß die Kirchentür nur den Eltern geöffnet würde, lud ich durch die Laienschwester alle Nachbarn und meine Freunde und Freundinnen ein; ich hatte die Erlaubnis, an einige Bekannte zu schreiben. Es gab einen großen Zulauf, auf den man nicht gefaßt gewesen war; man mußte alle eintreten lassen und die Versammlung war ganz so, wie sie für meinen Plan sein mußte. O Herr, war das eine Nacht, die diesem Tage voranging! Ich legte mich nicht nieder, ich saß auf meinem Bett und flehte zu Gott um Beistand; ich hob meine Hände zum Himmel und nahm ihn zum Zeugen der Gewalttat, die man an mir verüben wollte; ich repetierte die Rolle, die ich am Fuße des Altars spielen wollte: ein junges Mädchen, das mit lauter Stimme gegen die Handlung protestiert, zu der sie anscheinend ihre Zustimmung gegeben hat, großer Skandal unter den Anwesenden, Verzweiflung der Nonnen, die Wut meiner Eltern. »O Gott, was wird aus mir werden? …« Als ich diese Worte aussprach, befiel mich eine allgemeine Erschöpfung, und ich brach ohnmächtig auf meinem Kissen zusammen; Fieberschauer, in denen meine Knie aneinanderschlugen und meine Zähne laut klapperten, folgten dieser Ohnmacht; nach diesem Frostschauer kam entsetzliche Glut: mein Geist verwirrte sich. Ich erinnere mich nicht, mich ausgekleidet und meine Zelle verlassen zu haben, aber man fand mich nackt, im Hemd, vor der Tür der Äbtissin, regungslos und fast ohne Leben. Diese Dinge habe ich später gehört. Am Morgen fand ich mich in meiner Zelle; die Äbtissin, die Novizenmutter und die Hilfsschwestern umstanden mein Bett. Ich war sehr erschöpft; man stellte einige Fragen an mich und merkte aus meinen Antworten, daß ich nicht mehr wußte, was geschehen war; da sprach man nicht mehr darüber. Man fragte mich, wie es mir gehe, ob ich bei meinem heiligen Entschluß bleibe und ob ich mich kräftig genug fühle, die Anstrengungen des Tages zu ertragen. Ich sagte ja; und gegen ihre Erwartung wurde nichts verschoben.

Man hatte schon am Abend vorher alle Vorkehrungen getroffen. Die Glocken läuteten, um aller Welt zu verkünden, daß heute ein junges Menschenkind unglücklich gemacht wurde. Mein Herz schlug heftig. Man kam, um mich zu schmücken, es ist ein Tag des Putzes; wenn ich heute an diese Zeremonie zurückdenke, so scheint es mir, daß sie für ein junges unschuldiges Wesen, das keinen Hang zu andern Dingen empfindet, etwas sehr Feierliches und Rührendes haben muß. Man führte mich in die Kirche und beging die heilige Messe: der gute Vikar, der eine Resignation in mir vermutete, die ich nicht hatte, hielt mir eine lange Rede, in der kein Wort war, das sich nicht selbst widersprochen hätte. Alles, was er mir über mein Glück, über die göttliche Gnade, über meinen Mut, meinen Eifer, meine Inbrunst und alle möglichen schönen Gefühle, die er mir zuschrieb, sagte, war sehr lächerlich. Der Gegensatz zwischen seiner Lobrede und dem Schritt, den ich tun wollte, verwirrte mich ein wenig, ich hatte Augenblicke der Ungewißheit, aber sie hielten nicht lange an. Ich empfand nur um so deutlicher, was mir alles fehlte, um eine gute Nonne zu werden. Endlich kam der furchtbare Augenblick. Als ich den Ort betreten sollte, an dem ich das Gelübde abzulegen hatte, fühlte ich meine Beine nicht mehr; zwei meiner Gefährtinnen faßten mich unter den Arm; ich hatte den Kopf auf die Schulter der einen gelehnt und ließ mich mitziehen. Ich weiß nicht, was in der Seele der Anwesenden vorging, aber sie sahen ein junges Schlachtopfer, das dem Tode nahe war und zum Altar geschleppt wurde, und von allen Seiten ertönten Seufzer und Schluchzen, doch ich bin überzeugt, daß die Stimme meiner Eltern nicht dabei zu hören war. Alle standen; junge Mädchen waren auf die Stühle gestiegen, andere hielten sich an den Eisenstangen des Gitters fest. Es herrschte tiefes Schweigen, als der Geistliche, der meine Einsegnung vornehmen wollte, zu mir sagte: »Marie Susanne Simonin, gelobst du, die Wahrheit zu sagen?«

»Ich gelobe es.«

»Stehst du an diesem Ort aus freiem Willen und voller Überzeugung?«

Ich sagte: »Nein,« aber meine Begleiterinnen antworteten für mich: »Ja.«

»Marie Susanne Simonin, gelobst du Gott Keuschheit, Armut und Gehorsam?«.

Ich zögerte einen Augenblick; der Geistliche wartete, und ich antwortete:

»Nein.«

Er wiederholte:

»Marie Susanne Simonin, gelobst du Gott Keuschheit, Armut und Gehorsam?«

Ich antwortete mit festerer Stimme:

»Nein, Herr Bischof, nein!«

Er hielt inne und sagte dann: »Mein Kind, fasse dich und höre mich an.«

»Hochwürden,« sagte ich, »Sie fragen mich, ob ich Gott Keuschheit, Armut und Gehorsam gelobe; ich habe es wohl gehört und ich antworte: nein!«

Dann wandte ich mich zu den Anwesenden, unter denen sich ein lautes Gemurmel erhoben hatte, und machte ihnen ein Zeichen, daß ich sprechen wolle. Das Gemurmel hörte auf, und ich sagte:

»Meine Herren, und besonders ihr, meine Eltern, ich nehme Sie zum Zeugen …«

Als ich das sagte, ließ eine der Schwestern den Vorhang vor das Gitter fallen, und ich sah ein, daß es vergeblich sei, weiter zu sprechen. Die Nonnen umringten mich und überhäuften mich mit Vorwürfen. Ich hörte sie an, ohne ein Wort zu erwidern. Man führte mich in meine Zelle, wo man mich einschloß.

Als ich hier allein und meinen Gedanken überlassen war, begann sich meine Seele zu beruhigen; ich überdachte meinen Schritt noch einmal und fühlte keine Reue. Ich erkannte, daß es nach dem Skandal, den ich verschuldet hatte, unmöglich sei, daß ich länger hier bleibe, und daß man vielleicht nicht wagen würde, mich wieder ins Kloster zu stecken. Ich wußte nicht, was man mit mir machen würde, aber ich konnte mir nichts Schlimmeres vorstellen, als gegen den eigenen Willen Nonne werden zu müssen. Ich hörte lange Zeit nichts darüber, was nun werden würde. Die mir zu essen brachten, traten ein, stellten mein Essen auf die Erde und gingen schweigend wieder fort. Nach einem Monat brachte man mir weltliche Kleider, ich legte die Klostergewandung ab, die Äbtissin kam und hieß mich ihr folgen. Ich folgte ihr bis zur Tür des Klosters; hier stieg ich in einen Wagen, in dem meine Mutter mich erwartete; ich setzte mich auf den Rücksitz, und der Wagen fuhr ab. Wir saßen uns einige Zeit gegenüber, ohne ein Wort zu sprechen; ich hatte die Augen niedergeschlagen und wagte sie nicht anzusehen. Ich weiß nicht, was in meiner Seele vorging, aber plötzlich warf ich mich ihr zu Füßen und legte meinen Kopf in ihren Schoß; ich sprach nicht, aber ich schluchzte und würgte. Sie stieß mich hart zurück. Ich stand nicht auf; das Blut quoll mir aus der Nase; ich ergriff eine ihrer widerstrebenden Hände, netzte sie mit meinen Tränen und meinem rinnenden Blut, preßte meinen Mund auf diese Hand, küßte sie und sagte: »Du bist ja doch meine Mutter und ich bin dein Kind …« Sie aber antwortete (indem sie mich noch heftiger zurückstieß und ihre Hand den meinen entriß): »Steh auf, du Unglückliche, steh auf!« Ich gehorchte ihr, ich setzte mich und zog meine Haube über das Gesicht. Sie hatte soviel Autorität und Energie in den Ton ihrer Stimme gelegt, daß ich mich ihren Augen entziehen zu müssen glaubte. Meine Tränen und das Blut, das mir aus der Nase lief, vermischten sich und liefen mir die Arme entlang, und ich war ganz bedeckt davon, ohne daß ich es bemerkt hätte. Aus einigen Worten, die sie sagte, entnahm ich, daß ihr Kleid und ihre Manschetten davon befleckt waren und daß sie ungehalten darüber war. Wir kamen zu Hause an, und sie führte mich sofort in ein kleines Zimmer, das für mich instand gesetzt worden war. Auf der Treppe warf ich mich noch einmal ihr zu Füßen und klammerte mich an ihr Kleid, aber alles was ich erreichte, war, daß sie mir den Kopf zuwandte und mich voll Unwillen ansah, der sich in der Bewegung des Kopfes, in Mund und Augen ausdrückte. Sie werden sich das besser vorstellen können, als ich es Ihnen zu beschreiben vermag.

Ich betrat mein neues Gefängnis, in dem ich sechs Monate verbrachte und täglich vergeblich um die Wohltat bat, mit ihr sprechen, meinen Vater sehen oder meinen Eltern schreiben zu dürfen. Man brachte mir zu essen, man bediente mich; eine Dienerin begleitete mich an den Festtagen zur Messe und schloß mich dann wieder ein: Ich las, ich arbeitete, ich weinte, zuweilen sang ich auch; und so vergingen meine Tage. Ein geheimes Gefühl hielt mich aufrecht, nämlich der Gedanke, frei zu sein; mein Schicksal, so hart es war, konnte sich ändern. Aber es stand geschrieben, daß ich Nonne werden sollte, und ich wurde es.

Diese Unmenschlichkeit, diese Hartnäckigkeit seitens meiner Eltern haben mir vollends bestätigt, was ich hinsichtlich meiner Geburt vermutete: eine andere Möglichkeit, sie zu entschuldigen, habe ich nicht gefunden. Meine Mutter fürchtete anscheinend, ich könne eines Tages auf die Teilung des Vermögens zurückkommen, ich möchte mein rechtmäßiges Erbe verlangen und mich, das natürliche Kind, den legitimen Kindern gleichstellen. Aber was nur eine Mutmaßung war, sollte Gewißheit werden.

Während ich im Hause eingeschlossen war, lag ich nur selten Religionsübungen ob; aber man schickte mich am Vorabend der hohen Feste zur Beichte. Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich den gleichen Beichtvater hatte wie meine Mutter; ich sprach mit ihm, ich stellte ihm vor, wie hart man mich seit etwa drei Jahren behandelt habe. Er wußte es. Ich beklagte mich besonders über meine Mutter voll Bitterkeit und Groll. Dieser Mann war erst in späten Jahren zum geistlichen Stande übergetreten, er war menschlich und hörte mich ruhig an; dann sagte er zu mir:

»Liebes Kind, beklage deine Mutter, beklage sie, statt sie zu tadeln. Sie hat ein gutes Herz; sei überzeugt, daß sie gegen ihren Willen jetzt so handelt.«

»Gegen ihren Willen? Und wer kann sie zwingen? Hat sie mich nicht zur Welt gebracht? Und welcher Unterschied ist zwischen meinen Schwestern und mir?«

»Ein sehr großer.«

»Ein sehr großer? Ich verstehe diese Antwort nicht …«

Ich wollte zwischen meinen Schwestern und mir einen Vergleich ziehen, als er mich unterbrach und zu mir sagte:

»Nein, unmenschlich sind deine Eltern nicht; versuche dein Schicksal in Geduld zu tragen und dir wenigstens Gott gegenüber ein Verdienst daraus zu machen. Ich werde deine Mutter aufsuchen, und du kannst überzeugt sein, daß ich allen meinen Einfluß aufbieten werde, um dir zu helfen.«

Dies Wort »ein sehr großer«, das er gesagt hatte, war für mich ein Lichtstrahl; ich zweifelte nicht mehr an der Wahrheit meiner Mutmaßungen hinsichtlich meiner Geburt.

 

Am nächsten Sonnabend gegen einhalb sechs Uhr abends, als der Tag sich neigte, kam die Dienerin, die für mich sorgte, zu mir und sagte: »Ihre Frau Mutter wünscht, daß Sie sich ankleiden …« Eine Stunde später kam sie wieder: »Ihre Frau Mutter wünscht, daß Sie mit mir hinuntergehen …« Ich fand vor der Tür einen Wagen, den ich mit der Dienerin bestieg, und ich erfuhr, daß wir zu den Barfußmönchen, zu Pater Seraphin, fuhren. Er erwartete uns; er war allein. Die Dienerin entfernte sich, und ich trat in das Sprechzimmer. Ich setzte mich unruhig und gespannt, was er mir zu sagen haben werde, und er äußerte folgendes:

»Mein Fräulein, ich will Ihnen jetzt das Rätsel enthüllen, warum Ihre Eltern so streng gegen Sie sind; Ihre Frau Mutter hat mir die Erlaubnis dazu gegeben. Sie sind klug, Sie haben Geist und Energie; Sie sind in einem Alter, wo man Ihnen ein Geheimnis anvertrauen könnte, auch wenn es Sie nichts anginge. Schon vor geraumer Zeit habe ich Ihrer Frau Mutter nahegelegt, Ihnen alles zu enthüllen, was Sie jetzt erfahren sollen; sie hat sich nicht dazu entschließen können: es ist hart für eine Mutter, ihrem Kinde einen schweren Fehltritt gestehen zu müssen; Sie kennen ihren Charakter, er kann die Demütigung eines solchen Geständnisses kaum ertragen. Sie hat auch ohne diesen Schritt Sie für ihre Absichten gewinnen zu können geglaubt, aber sie hat sich getäuscht und ist erzürnt darüber; jetzt kommt sie auf meinen Rat zurück und hat mich beauftragt, Ihnen zu sagen, daß Sie nicht Herrn Simonins Tochter sind.«

Ich antwortete ihm sofort: »Das habe ich geahnt.«

»Und jetzt überlegen Sie, mein Fräulein, bedenken und erwägen Sie genau, ob Ihre Frau Mutter ohne Einwilligung – ja sogar mit Einwilligung – Ihres Herrn Vaters Sie den Kindern gleichstellen kann, deren Schwester Sie nicht sind; ob sie Ihrem Herrn Vater eine Tatsache gestehen kann, die er schon lange argwöhnt.«

»Aber, Pater, wer ist mein Vater?«

»Das, mein Fräulein, hat man mir nicht anvertraut. Es ist nur zu sicher,« fügte er hinzu, »daß man Ihre Schwestern sehr begünstigt und alle nur erdenklichen Maßnahmen getroffen hat, durch Heiratsverträge, durch Nebenbestimmungen, durch Fideikommisse und andere Mittel, Ihr legitimes Erbe auf ein Nichts zu reduzieren, für den Fall, daß Sie sich eines Tages an die Gerichte wenden sollten, um es zu beanspruchen. Wenn Sie Ihre Eltern verlieren, wird Ihnen wenig bleiben; jetzt lehnen Sie das Kloster ab, vielleicht werden Sie es noch bedauern, nicht hineingegangen zu sein.«

»Das ist nicht möglich, Pater, ich verlange nichts.«

»Sie wissen nicht, was Mühe, Arbeit, Not heißt.«

»Ich kenne wenigstens den Wert der Freiheit und die Bürde eines Standes, zu dem man nicht berufen ist.«

»Ich habe Ihnen gesagt, was ich Ihnen zu sagen hatte; jetzt müssen Sie alles überlegen …«

Damit stand er auf.

»Aber gestatten Sie noch eine Frage, Pater.«

»Fragen Sie, soviel Sie wollen.«

»Wissen meine Schwestern das, was Sie mir mitgeteilt haben?«

»Nein, mein Fräulein.«

»Wie haben sie sich dann entschließen können, ihre Schwester zu berauben? Denn sie halten mich doch für ihre Schwester?«

»Ja, liebes Fräulein, der Eigennutz! Sie hätten sonst die guten Partien nicht gemacht, die sie gemacht haben. Jeder denkt in dieser Welt zuerst an sich; und ich rate Ihnen, sich nicht auf Ihre Schwestern zu verlassen, wenn Sie Ihre Eltern verlieren; seien Sie überzeugt, man wird Ihnen bis auf den letzten Heller die kleine Erbschaft streitig machen, die Sie mit Ihnen zu teilen haben. Sie haben viele Kinder; dieser Vorwand ist so ehrenhaft, daß er Sie wohl an den Bettelstab bringen kann. Und dann können Ihre Schwestern nichts mehr tun, die Ehemänner machen alles. Wenn sie wirklich Mitleid mit Ihnen hätten, würde die Hilfe, die sie Ihnen ohne Wissen ihrer Ehegatten angedeihen lassen, eine Quelle häuslicher Zwistigkeiten sein. Ich sehe solche Dinge täglich: bald verlassene Kinder, bisweilen sogar rechtmäßige, die auf Kosten des häuslichen Friedens unterstützt werden. Und dann ist das so empfangene Brot sehr bitter, liebes Fräulein. Wenn Sie auf mich hören, söhnen Sie sich mit Ihren Eltern aus und tun, was Ihre Mutter von Ihnen erwartet; Sie gehen ins Kloster, und man setzt Ihnen ein kleines Jahrgeld aus, mit dem Sie, wenn auch nicht glücklich, so doch erträglich leben können. Übrigens will ich Ihnen nicht verhehlen, daß die anscheinende Härte Ihrer Mutter, als sie Sie unentwegt eingeschlossen hielt, sowie einige andere Umstände, die mir entfallen sind, die ich aber seinerzeit gekannt habe, auf Ihren Vater ganz die gleiche Wirkung gehabt haben wie auf Sie: Ihre Geburt war ihm verdächtig, sie ist es ihm heute in weit höherem Grade, und ohne ins Vertrauen gezogen worden zu sein, zweifelt er nicht im geringsten mehr daran, daß Sie nicht sein Kind sind, außer nach dem Gesetz, das die Kinder dem Manne zuschreibt, der der Ehemann ist. Also mein liebes Fräulein, seien Sie gut und klug und denken Sie über das nach, was ich Ihnen gesagt habe.«

Ich stand auf und brach in Tränen aus. Ich sah, daß er auch gerührt war; er schlug sanft die Augen zum Himmel auf und führte mich hinaus. Ich traf die Dienerin wieder, die mich begleitet hatte; wir stiegen wieder in den Wagen und kehrten nach Hause zurück.

Es war schon spät. Ich dachte die halbe Nacht über das nach, was man mir soeben enthüllt hatte, ich dachte auch am andern Morgen daran. Ich hatte keinen Vater, die Gewissensbisse hatten mir meine Mutter genommen. Es waren alle Maßnahmen getroffen, daß ich keinen Anspruch auf die Rechte meiner legitimen Geburt erheben konnte; eine sehr strenge häusliche Gefangenschaft, keine Hoffnung, keine Hilfe. Vielleicht hätte sich, wenn man sich früher, nach der Verheiratung meiner Schwestern, mit mir ausgesprochen hätte, und ich im Hause geblieben wäre, in dem viele Menschen verkehrten, doch jemand gefunden, dem mein Charakter, mein Geist, meine Gestalt und meine Talente ausreichende Mitgift gewesen wären; aber der Skandal, den ich im Kloster verursacht hatte, machte das schwieriger; man begriff nicht recht, wie ein Mädchen von siebzehn oder achtzehn Jahren sich zu einem solchen Schritt hinreißen lassen konnte, wenn sie nicht eine außerordentliche Energie besaß; und diese Eigenschaft preisen die Männer sehr, aber ich glaube, daß sie recht gern ihrer bei den Mädchen entraten, die sie zu ihren Gattinnen machen wollen. Dies war jedoch ein Ausweg, den man versuchen konnte, bevor man sich zu etwas anderem entschloß; ich nahm mir also vor, mich meiner Mutter zu eröffnen, und ließ sie um eine Unterredung bitten, die mir gewährt wurde.

Es war im Winter. Sie saß in einem Sessel vorm Kaminfeuer; ihr Gesicht war streng, ihr Blick starr und ihre Züge unbeweglich. Ich näherte mich ihr, warf mich ihr zu Füßen und bat sie, mir mein Unrecht zu verzeihen.

»Meine Verzeihung kannst du dir nur durch das, was du mir sagst, verdienen. Steh auf; dein Vater ist nicht hier, du hast also Zeit, dich auszusprechen. Du hast den Pater Seraphin gesehen, du weißt jetzt, wer du bist und was du von mir zu erwarten hast, wenn du nicht die Absicht hast, mich mein ganzes Lebenlang für einen Fehltritt zu strafen, der mir schon Kummer genug bereitet hat. Also, was willst du von mir? Was hast du beschlossen?«

»Mama, sagte ich, »ich weiß, daß ich nichts besitze und auf nichts Anspruch erheben kann. Ich bin weit entfernt, deinen Kummer, welcher Art er auch sei, zu vergrößern; vielleicht hättest du mich deinen Wünschen geneigter gefunden, wenn du mich früher über gewisse Umstände unterrichtet hättest, die ich nicht vermuten konnte; aber nun weiß ich alles, ich kenne mich, und mir bleibt nur, mich meiner Lage entsprechend zu verhalten. Ich bin nicht mehr überrascht über den Unterschied, der zwischen meinen Schwestern und mir gemacht wurde, ich erkenne an, daß es gerecht war und unterwerfe mich; aber ich bin doch immerhin dein Kind, du hast mich unter deinem Herzen getragen, und ich hoffe, das wirst du nicht vergessen.

»Wehe mir,« erwiderte sie lebhaft, »wenn ich mich nicht, soviel in meiner Macht steht, zu dir bekennen würde.«

»Oh, Mama,« sagte ich, »dann wende mir deine Güte wieder zu; beglücke mich mit deiner Gegenwart; verschaffe mir die Zärtlichkeit des Mannes wieder, der sich für meinen Vater hält.«

»Es fehlt nicht viel,« sagte sie, »und er ist über deine Geburt ebenso im Klaren wie du und ich. Ich sehe dich nie neben ihm, ohne seine Vorwürfe zu hören; er macht sie mir durch die Härte, mit der er dich behandelt; erhoffe von ihm nicht die Gefühle eines zärtlichen Vaters. Und dann muß ich dir gestehen: du erinnerst mich so sehr an den Verrat, an die widerwärtige Undankbarkeit eines andern, daß ich diese Vorstellung nicht ertragen kann. Dieser Mensch drängt sich unaufhörlich zwischen dich und mich, er stößt mich ab, und der Haß, den ich für ihn empfinde, überträgt sich auf dich.«

»Wie,« rief ich, »kann ich nicht hoffen, daß du und Herr Simonin mich wie eine Fremde behandelt, wie eine Unbekannte, die ihr aus Menschlichkeit aufgenommen habt?«

»Wir können weder das eine, noch das andere. Liebe Tochter, vergifte mein Leben nicht länger. Wenn du keine Schwestern hättest, wüßte ich, was ich zu tun hätte, aber du hast zwei Schwestern; und beide haben eine zahlreiche Familie. Schon lange ist die Leidenschaft, die mich beherrschte, erloschen, und das Gewissen hat seine Stimme erschallen lassen.«

»Aber der Mann, dem ich das Leben verdanke …«

»Er ist nicht mehr; er ist gestorben, ohne sich deiner zu erinnern, und das ist die kleinste seiner Untaten …«

Hier veränderte sich ihr Gesicht, ihre Augen flammten auf, Entrüstung spiegelte sich in ihren Mienen; sie wollte sprechen, aber sie brachte nur einzelne Töne heraus, das Zittern ihrer Lippen hinderte sie. Sie saß und hatte den Kopf in die Hände gestützt, um mich die heftige Bewegung, die in ihr vorging, nicht sehen zu lassen. In dieser Stellung verharrte sie eine Zeitlang, dann stand sie auf, ging ein paarmal im Zimmer auf und ab, ohne ein Wort zu sagen, hielt mühsam die Tränen zurück und sagte:

»Der Elende! Es hing an einem Haar, so hätte er dich in meinem Schoße getötet durch all den Kummer, den er mir verursacht hat; aber Gott hat uns beide erhalten, damit das Kind die Schuld der Mutter sühnen könne. Meine Tochter, du besitzest nichts, und du wirst niemals irgend etwas haben. Das wenige, was ich für dich tun kann, muß ich deinen Schwestern entziehen; das sind die Folgen meiner Schwäche. Aber ich hoffe, mir auf meinem Sterbebette keine Vorwürfe machen zu brauchen, deine Ausstattung werde ich durch meine Sparsamkeit zusammenbringen. Ich mißbrauche die Gefälligkeit meines Gatten nicht, aber ich lege täglich beiseite, was von Zeit zu Zeit seine Freigebigkeit mir zuwendet. Ich habe alles verkauft, was ich an Kostbarkeiten besaß, und er hat mir erlaubt, nach meinem Belieben über den Erlös zu verfügen. Ich liebte das Spiel und ich spiele nicht mehr, ich liebte die Schaustellungen, und ich habe darauf verzichtet; ich liebte ein geselliges Leben, und ich habe mich ganz zurückgezogen, ich liebte das Wohlleben und habe ihm entsagt. Wenn du in ein Kloster eintrittst, wie es mein und Herrn Simonins Wille ist, wird deine Ausstattung von dem bestritten werden, was ich mir täglich am Munde abspare.«

»Aber, Mama,« sagte ich zu ihr, »bei euch verkehren doch vermögende Leute; vielleicht findet sich unter ihnen einer, der, zufrieden mit meiner Person, nicht einmal die Ersparnisse verlangt, die du für meine Ausstattung bestimmt hattest.«

»Daran kannst du nicht mehr denken, der Skandal hat dich unmöglich gemacht.«

»Ist das Unglück nicht wieder gutzumachen?«

»Nicht wieder gutzumachen.«

»Aber ist es notwendig, wenn ich keinen Gatten finde, mich in ein Kloster einzusperren?«

»Wenn du nicht meinen Schmerz und meine Gewissensbisse wach erhalten willst, bis ich die Augen schließe. Sterben muß ich doch; deine Schwestern werden in diesem furchtbaren Augenblick um mich sein; sage selbst, wenn ich dich bei ihnen sehen muß, wie das in meinen letzten Augenblicken auf mich wirken müßte! Meine Tochter, denn das bist du, gegen meinen Willen, deine Schwestern haben vom Gesetz einen Namen erhalten, den du sträflicherweise trägst; betrübe eine Mutter nicht in ihrer letzten Stunde, laß sie in Frieden in ihr Grab gehen: wenn sie vor den großen Richter treten muß, soll sie sich selber sagen können, daß sie ihre Schuld nach besten Kräften gutgemacht hat; sie muß sich der Hoffnung hingeben können, daß du nach ihrem Tode keine Störung in dem Hause hervorrufst und nicht auf Rechte pochst, die dir nicht zustehen.«

»Mama,« sagte ich, »in dieser Beziehung kannst du ruhig sein; laß einen Advokaten kommen, er soll eine Verzichtsurkunde aufsetzen und ich werde alles unterschreiben, was du verlangst.«

»Das ist nicht möglich: ein Kind kann sich nicht selbst enterben; das ist die Strafe eines Vaters oder einer Mutter, wenn sie tief gekränkt sind. Wenn es Gott gefiele, mich morgen abzurufen, müßte ich morgen diesen äußersten Schritt tun, ich müßte mich meinem Gatten eröffnen, um gemeinsam mit ihm die nötigen Maßnahmen zu treffen. Setze mich nicht der Notwendigkeit aus, ihm ein solches Geständnis abzulegen, das mich ihm verhaßt machen müßte und Folgen haben könnte, die dich entehren. Wenn du mich überlebst, hast du keinen Namen, kein Vermögen, keine Stellung; du Unglückliche, sage mir, was aus dir werden soll; welche Gedanken soll ich mir im Sterben machen? Ich soll also deinem Vater sagen … was soll ich ihm sagen? Daß du nicht sein Kind bist! … Mein Kind, wenn man dir nur zu Füßen zu fallen brauchte, um dich dahin zu bringen … Aber du hast kein Gefühl, du hast die unbeugsame Seele deines Vaters …«

In diesem Augenblick trat Herr Simonin ein; er sah die Erregung seiner Frau, er liebte sie, er war jähzornig; er blieb auf dem Fleck stehen, sah mich mit furchtbaren Blicken an und sagte:

»Geh hinaus!«

Wenn er mein Vater gewesen wäre, hätte ich ihm nicht gehorcht, aber er war es nicht.

Er fügte, zu der Dienerin, die mir hinaus leuchtete, gewandt, hinzu:

»Sage ihr, daß sie sich nicht wieder vor mir sehen läßt.«

Ich schloß mich in meinem kleinen Gefängnis ein. Ich dachte an das, was meine Mutter mir gesagt hatte; ich fiel auf die Knie und betete zu Gott, mir den rechten Weg zu weisen; ich betete lange und verharrte in meiner Stellung, das Gesicht auf die Erde gepreßt; man ruft die Entscheidung des Himmels nur dann an, wenn man nicht weiß, wozu man sich entschließen, soll, und dann rät sie selten zu etwas anderm als zum Gehorsam. Und diesen Entschluß faßte auch ich. »Man wünscht, daß ich Nonne werde; vielleicht ist es auch Gottes Wille. Gut, so werde ich Nonne, da ich ja doch unglücklich sein muß, wo ich mich auch aufhalte! …« Ich bat meine Dienerin, mir zu melden, wenn mein Vater ausgegangen sei. Schon am nächsten Morgen bat ich meine Mutter um eine Unterredung; sie ließ mir sagen, sie habe Herrn Simonin das Gegenteil versprochen, aber ich könne ihr mit einem Bleistift schreiben, den sie mir mitschickte. Ich schrieb also auf einen Zettel (dieser verhängnisvolle Zettel hat sich wiedergefunden, und man hat sich seiner nur zu sehr gegen mich bedient):

»Liebe Mama, ich bin betrübt, daß ich euch soviel Kummer gemacht habe; ich bitte um Verzeihung, denn ich habe die Absicht, dem ein Ende zu machen. Befiehl mir, was du willst. Wenn es dein Wille ist, daß ich ins Kloster gehe, so hoffe ich, daß es auch Gottes Wille ist …«

Die Dienerin nahm dies Schreiben und brachte es meiner Mutter. Kurz darauf kam sie wieder und sagte voll Entzücken zu mir:

»Liebes Fräulein, warum haben Sie so lange gezögert? Es bedurfte doch nur eines Wortes von Ihnen, um Ihre Eltern glücklich zu machen. Der gnädige Herr und die gnädige Frau machen ein Gesicht, wie ich es, seit ich hier bin, noch nicht an ihnen gesehen habe; sie haben sich unausgesetzt Ihretwegen gezankt. Gott sei Dank brauche ich das nicht mehr mit anzusehen …«

Während sie das sagte, dachte ich bei mir, jetzt hätte ich mein Todesurteil unterzeichnet, und diese Ahnung wird sich bestätigen, wenn Sie, mein Herr, mich verlassen.

Einige Tage vergingen, ohne daß ich irgend etwas Besonderes hörte, aber eines Morgens um neun Uhr wurde meine Tür hastig geöffnet; Herr Simonin trat ein in Schlafrock und Nachtmütze. Seit ich wußte, daß er nicht mein Vater war, wirkte seine Anwesenheit nur beängstigend auf mich. Ich stand auf und machte meinen Knicks. Mir war es, als hätte ich zwei Herzen: ich konnte an meine Mutter nicht denken, ohne gerührt zu werden, ohne Tränen in mir aufsteigen zu fühlen; Herrn Simonin gegenüber war das anders. Ein Vater flößt Empfindungen ein, wie man sie für keinen Menschen sonst hat: man erfährt das erst, wenn man wie ich einem Manne gegenübergestanden hat, der diesen ehrwürdigen Namen lange getragen hat und ihn jetzt verliert; alle andern werden diese Empfindungen nie kennen lernen. Wenn ich nach einem Zusammensein mit ihm zu meiner Mutter kam, hatte ich das Gefühl, ein ganz anderer Mensch zu sein. Er sagte:

»Susanne, kennst du diesen Zettel?«

»Gewiß.«

»Hast du ihn freiwillig geschrieben?«

»Dazu kann ich nicht gut ja sagen.«

»Bist du wenigstens entschlossen, auszuführen, was er verspricht?«

»Das bin ich.«

»Hast du eine Vorliebe für ein bestimmtes Kloster?«

»Nein, mir sind alle gleichgültig.«

»Das genügt.«

Das waren meine Antworten, aber unglücklicherweise wurden sie nicht niedergeschrieben. Etwa vierzehn Tage lang, in denen ich nichts von dem hörte, was geschah, wandte man sich an verschiedene Klöster, aber der Skandal, den ich damals verursacht hatte, war meiner Aufnahme hinderlich. In Longchamps war man weniger bedenklich und zwar wohl deshalb, weil man betont hatte, ich sei musikalisch und hätte Stimme. Man übertrieb mir gegenüber die Schwierigkeiten, die man gehabt hatte, erheblich und pries die Gnade, die mir durch die Aufnahme in dies Kloster zuteil werde: man veranlaßte mich sogar, an die Äbtissin zu schreiben. Ich bedachte die Folgen dieses Schriftstückes nicht, das ich aufsetzen sollte: man fürchtete augenscheinlich, daß ich eines Tages mein Gelübde widerrufen könne, man wollte eine Bestätigung von meiner eigenen Hand haben, daß ich freiwillig das Gelübde abgelegt hatte. Wie sollte sonst dieser Brief, der in den Händen der Äbtissin hätte bleiben müssen, in die Hände meiner Schwäger kommen können? Aber drücken wir hier die Augen zu, denn sonst erscheint mir Herr Simonin in einer Gestalt, wie ich ihn nicht sehen will: und er ist nicht mehr.

 

Ich wurde von meiner Mutter nach Longchamps gebracht. Ich bat nicht darum, mich von Herrn Simonin verabschieden zu dürfen; ich gestehe, daß ich erst unterwegs daran dachte. Man erwartete mich, man wußte von meiner Geschichte und meinen Talenten: man sagte von meiner Geschichte nichts, war aber sehr begierig zu sehen, ob die Akquisition die Mühe lohne. Nachdem man sich über allerlei gleichgültige Dinge unterhalten hatte – denn Sie werden sich vorstellen können, daß man nach dem, was ich getan hatte, mit mir weder von Gott, noch von meinem Beruf, noch von den Gefahren der Welt, noch von den Reizen des Klosterlebens sprach, und daß man auch sonst keine dieser albernen Redensarten anbrachte, mit denen man für gewöhnlich diese ersten Augenblicke ausfüllt – sagte die Äbtissin: »Mein Fräulein, Sie sind musikalisch, Sie singen; wir haben einen Flügel, wenn es Ihnen recht ist, gehen wir in unser Sprechzimmer …« Mir war das Herz beklommen, aber dies war nicht der Augenblick, irgendwelche Abneigung zu zeigen; meine Mutter ging voran, ich folgte ihr, die Äbtissin beschloß den Zug mit einigen Nonnen, die aus Neugier hergekommen waren. Es war am Abend; man brachte mir Kerzen; ich setzte mich an den Flügel, präludierte lange und suchte in meinem Kopf, der sonst voll davon ist, nach einem Liede und fand keins; aber die Äbtissin drang in mich und ich sang, ohne mir etwas Besonderes dabei zu denken, weil das Lied mir lieb war: »Trübe Werke, bleiche Fackeln, Tag so finster wie die Nacht …« Ich weiß nicht, welche Wirkung mein Gesang hatte, aber man hörte mir nicht lange zu: man unterbrach mich mit Schmeicheleien, und ich war sehr überrascht, mir so rasch und mit so wenig Mühe ein Lob verdient zu haben. Meine Mutter befahl mich der Äbtissin an, reichte mir die Hand zum Kuß und entfernte sich.

Nun war ich also in einem anderen Kloster, allem Anschein nach als freiwillige Postulantin. Aber was ist Ihre Ansicht darüber, mein Herr, da Sie doch alles wissen, was bisher geschehen ist? Die meisten dieser Umstände wurden nicht angeführt, als ich gegen mein Gelübde protestierte, teils weil keine Beweise dafür vorhanden waren, teils weil sie mich verhaßt gemacht hätten, ohne mir nützlich zu sein; man hätte in mir nur ein entartetes Kind gesehen, das das Andenken seiner Eltern herabsetzte, um seine Freiheit zu erlangen. Man hatte Beweise für alles, was gegen mich sprach; was für mich sprach, ließ sich weder anführen, noch beweisen. Ich wollte nicht einmal, daß man den Richtern von den Zweifeln hinsichtlich meiner Geburt Mitteilung machte; einige Leute, die mit Gesetzen nicht bekannt waren, rieten mir, meinen Beichtvater und den meiner Mutter in den Prozeß hineinzuziehen; das war nicht angängig, und auch, wenn es möglich gewesen wäre, hätte ich es nicht geduldet. Bei dieser Gelegenheit aber – denn ich fürchte, ich könnte es sonst vergessen, und Ihr Wunsch, mir zu helfen, könnte Sie diesen Umstand übersehen lassen – möchte ich sagen, daß ich es für besser halte, zu verschweigen, daß ich musikalisch bin und Klavier spiele: mehr wäre nicht nötig, mich zu verraten; die Hervorkehrung dieser Talente paßt nicht zu der Dunkelheit und der Sicherheit, die ich suche; Mädchen aus meinem Stande können solche Dinge nicht, und ich muß sie auch vergessen. Wenn ich gezwungen bin, außer Landes zu gehen, so sollen sie meine Erwerbsquelle bilden. Außer Landes gehen! Können Sie mir sagen, warum dieser Gedanke mich erschreckt? Weil ich nicht weiß, wohin ich gehen soll; weil ich jung und ohne Erfahrung bin; weil ich das Elend, die Menschen und das Laster fürchte; weil ich immer eingeschlossen gelebt habe und weil ich, wenn ich außerhalb von Paris wäre, mich in der Welt verloren glauben würde. Das alles trifft vielleicht nicht zu, aber ich empfinde es so. Mein Herr, ob ich nicht wissen werde, wohin ich gehe und was aus mir wird, das hängt von Ihnen ab.

Die Äbtissinnen von Longchamps wechseln alle drei Jahre, wie in den meisten Klöstern. Als ich in das Haus eingeführt wurde, war eine Frau von Moni die Vorsteherin. Ich kann Ihnen nicht zuviel Gutes von ihr erzählen, und doch hat ihre Güte mich unglücklich gemacht. Sie war eine kluge Frau, die das menschliche Herz kannte. Sie besaß große Nachsicht, obwohl niemand deren weniger bedurfte als sie; wir alle waren ihre Kinder. Sie sah nur die Fehler, die sie gar nicht übersehen konnte, oder die so schwerwiegend waren, daß sie kein Auge zudrücken durfte. Ich sage dies ohne eigennützige Gedanken, denn ich habe meine Pflichten getreulich erfüllt; und sie würde mir die Gerechtigkeit widerfahren lassen, zu erklären, daß ich keinen Fehler begangen habe, um dessentwillen sie mich hätte strafen oder den sie mir hätte verzeihen müssen. Wenn sie eine der Nonnen bevorzugte, hatte diese es verdient; aber nun weiß ich nicht, ob es mir ziemt, Ihnen zu sagen, daß sie mich zärtlich liebte, und daß ich unter ihren Lieblingen nicht an letzter Stelle stand. Ich weiß, ich sage mir damit eine große Schmeichelei, eine größere, als Sie sich vorstellen können, da Sie sie nicht gekannt haben. Lieblinge werden in den Klöstern die von der Äbtissin bevorzugten Nonnen von den andern aus Neid genannt. Wenn ich Frau von Moni irgend etwas vorzuwerfen habe, so ist es das, daß ihre Liebe zur Tugend, zur Frömmigkeit, zur Offenheit, zur Sanftmut, zur Begabung, zur Ehrenhaftigkeit, sie allzu offenkundig hinriß, und daß sie nicht bedachte, daß alle, die auf diese Tugenden keinen Anspruch erheben konnten, dadurch nur um so tiefer gedemütigt wurden. Sie hatte auch die in den Klöstern vielleicht häufiger als in der Welt zu findende Gabe großer Menschenkenntnis. Es kam selten vor, daß eine Nonne, wenn sie ihr nicht gleich auf den ersten Blick gefiel, ihr überhaupt jemals gefiel. Schnell hatte sie auch für mich eine Vorliebe gefaßt, und ich hatte von Anfang an das größte Vertrauen zu ihr. Und wehe allen, die sie nicht mühelos eroberte. Das mußten rettungslos verlorene Geschöpfe sein, die sich ihrer Verderbtheit bewußt waren. Sie sprach mit mir über mein Erlebnis in Sankt Marien. Ich erzählte ihr alles unverhohlen wie Ihnen, ich sagte ihr alles, was ich Ihnen geschrieben habe; ich vergaß nichts, auch nicht die näheren Umstände meiner Geburt und aller meiner Leiden. Sie bedauerte mich, tröstete mich und ermutigte mich, auf eine bessere Zukunft zu hoffen.

Aber die Zeit des Postulats verging; es kam der Augenblick der Einkleidung näher, und ich nahm den Schleier. Ich absolvierte mein Noviziat ohne Widerwillen; ich übergehe diese beiden Jahre schnell, weil sie nichts Trauriges für mich hatten außer dem geheimen Gefühl, daß ich mich Schritt für Schritt dem Eintritt in einen Stand näherte, für den ich nicht geschaffen war. Bisweilen wurde meine Angst ungeheuer groß; aber wenn ich dann zu meiner guten Äbtissin eilte, umarmte sie mich, erklärte mir meine Seele, legte mir alle Gründe dar und sagte schließlich stets: »Haben die andern Lebenswege nicht auch ihre Dornen? Man fühlt nur die des eigenen. Komm, mein Kind, wir wollen niederknien und beten …«

Damit warf sie sich zu Boden und betete laut, aber mit soviel Salbung, soviel Beredsamkeit, Sanftmut, Andacht und Kraft, daß man das Gefühl hatte, der Geist Gottes sei in ihr. Ihre Gedanken, ihre Ausdrücke und Bilder drangen bis auf den Grund des Herzens; zuerst hörte man nur zu, dann wurde man mitgerissen und vereinigte sich mit ihr; die Seele bebte und man teilte ihre Verzückung. Sie hatte nicht die Absicht, zu verführen; aber doch tat sie es: man verließ sie mit glühendem Herzen, Freude und Begeisterung malten sich auf den Gesichtern, man vergoß süße Tränen! es war ein Eindruck, der lange anhielt. Ich spreche hier nicht nur von meiner eigenen Erfahrung, sondern von der aller Nonnen. Einige haben mir gesagt, sie fühlten das Bedürfnis, getröstet zu werden, wie das Verlangen nach einem großen Genuß, und ich glaube, mir hat nur etwas Gewohnheit gefehlt, um auch dahin zu kommen.

Ich wurde aber, als die Zeit herankam, da ich mein Gelübde ablegen sollte, von so tiefer Traurigkeit erfüllt, daß meine gute Äbtissin schlimmen Prüfungen ausgesetzt war; ihr Talent ließ sie im Stich, das gestand sie selbst ein. »Ich weiß nicht,« sagte sie zu mir, »was in mir vorgeht; ich habe, wenn du kommst, das Gefühl, daß Gott sich zurückzieht und sein Geist schweigt; es ist ganz vergeblich, daß ich mich aufrüttele, daß ich nach Gedanken suche, daß ich meine Seele erregen will; ich empfinde mich als eine ganz gewöhnliche und beschränkte Frau und fürchte mich davor, zu sprechen …« »O teure Mutter,« sagte ich zu ihr, »welch bange Ahnung beschleicht mich! Wenn Gott es wäre, der Sie stumm macht.« …

Eines Tages, als ich mich noch unsicherer und niedergeschlagener fühlte als gewöhnlich, ging ich in ihre Zelle; meine Gegenwart störte sie anfangs: sie las anscheinend in meinen Augen, in meinem ganzen Wesen, daß das tiefe Gefühl, das mich beseelte, ihre Kräfte überstieg, und sie mochte nicht kämpfen, ohne die Gewißheit des Sieges zu haben. Aber sie unterhielt sich mit mir und erhitzte sich allmählich; in dem Maße, wie mein Kummer nachließ, steigerte sich ihr Enthusiasmus, plötzlich warf sie sich auf die Knie und ich tat desgleichen. Ich glaubte, ihre Verzückung teilen zu können, ich wünschte es aus ganzer Seele; sie sagte einige Worte, dann plötzlich schwieg sie. Ich wartete vergeblich: sie sprach nicht mehr, sie erhob sich, zerfloß in Tränen, nahm mich bei der Hand und schloß mich in ihre Arme: »O teures Kind,« sagte sie zu mir, »was für eine furchtbare Wirkung hast du auf mich ausgeübt! Es ist nicht zu leugnen: der Geist hat sich zurückgezogen: geh, Gott muß selbst zu dir sprechen, da es nicht sein gnädiger Wille ist, sich durch meinen Mund hören zu lassen …«

Ich weiß nicht, was in ihr vorgegangen war; vielleicht hatte ich ihr ein Mißtrauen in ihre Kräfte eingeflößt, das sich nicht wieder zerstreute, vielleicht hatte ich sie ängstlich gemacht oder hatte wirklich ihre Gemeinschaft mit dem Himmel unterbrochen; aber das Talent, zu trösten, fand sie nicht wieder. Am Abend vor meiner Einsegnung suchte ich sie auf; sie war ebenso melancholisch wie ich. Ich begann zu weinen, und auch sie weinte; ich warf mich ihr zu Füßen, sie segnete mich, hob mich auf, umarmte mich und schickte mich fort, indem sie zu mir sagte: »Ich bin des Lebens müde, ich möchte sterben, ich habe Gott gebeten, diesen Tag nicht erleben zu brauchen, aber das war nicht sein Wille. Geh, ich werde mit deiner Mutter sprechen, ich werde die Nacht im Gebet verbringen, bete auch du; aber lege dich schlafen, das befehle ich dir.«

»Erlauben Sie, daß ich mit Ihnen bete.«

»Du darfst von neun bis elf Uhr bei mir bleiben, nicht länger. Um einhalb zehn Uhr beginne ich zu beten, und du ebenfalls; von elf Uhr ab aber wirst du mich allein beten lassen und dich ausruhen. Geh, teures Kind, ich will vor Gott die übrige Nacht durchwachen.«

Sie wollte beten, aber sie konnte es nicht. Ich schlief; und währenddes ging die heilige Frau durch alle Gänge des Klosters, klopfte an alle Türen, weckte die Nonnen und ließ sie leise in die Kirche gehen. Alle begaben sich hinunter, und als sie alle versammelt waren, bat sie sie, für mich zu Gott zu beten. Dies Gebet wurde anfangs leise gesprochen; dann ließ sie die Lichter auslöschen und alle sagten zusammen das Miserere her, außer der Äbtissin, die, vor dem Altar kniend, sich grausam kasteite und rief: »O mein Gott, wenn du dich von mir gewandt hast, weil ich einen Fehler begangen habe, so schenke mir Verzeihung. Ich flehe dich nicht an, mir die Gabe zurückzugeben, die du mir genommen hast, sondern dich dieser Unschuldigen zuzuwenden, die schläft, während ich dich anrufe. Mein Gott, sprich zu ihr, sprich zu ihren Eltern und vergib mir!«

Am nächsten Morgen trat sie früh in meine Zelle; ich hörte sie nicht, denn ich war noch nicht aufgewacht. Sie setzte sich neben mein Bett, legte leicht eine Hand auf meine Stirn und sah mich an; Unruhe, Verwirrung und Kummer spiegelten sich auf ihrem Gesicht, und so sah ich sie vor mir, als ich die Augen aufschlug. Sie sprach nicht über das, was in der Nacht geschehen war, sie fragte mich nur, ob ich früh zu Bett gegangen sei; ich antwortete ihr:

»Zu der Stunde, die Sie mir angegeben hatten.«

Ob ich geschlafen habe.

»Tief.«

»Das dachte ich mir. Und wie fühlst du dich?«

»Sehr gut. Und Sie, teure Mutter?«

»Ach,« sagte sie, »ich habe noch nie ohne Sorge einen Menschen ins Kloster eintreten sehen, aber um keine habe ich mich so erregt wie um dich. Ich wünschte so sehr, daß du glücklich würdest.«

»Wenn Sie mich immer lieben, bin ich glücklich.«

»Ach, wenn es nur daran läge! Hast du in der Nacht an nichts gedacht?«

»Nein.«

»Du hast keinen Traum gehabt?«

»Keinen.«

»Was geht jetzt in deiner Seele vor?«

»Ich bin abgestumpft; ich füge mich in mein Schicksal ohne Widerwillen und ohne Sympathie; ich fühle, daß die Notwendigkeit mich zwingt, und ich lasse es geschehen. O teure Mutter, ich empfinde nichts von der süßen Wonne, von dem Beben, von der Melancholie und der holden Unruhe, die ich bisweilen bei den Frauen bemerkt habe, die sich in gleicher Lage befanden. Ich bin ganz stumpf und kann nicht einmal weinen. Man will es, es muß sein, das ist mein einziger Gedanke … Aber Sie sagen mir gar nichts?«

»Ich bin nicht hergekommen, um mit dir zu sprechen, sondern um dich zu sehen und zu hören. Ich erwarte deine Mutter; versuche nicht, mich zu bewegen; laß die Gefühle sich in meiner Seele anhäufen; wenn sie ganz davon voll ist, verlasse ich dich. Ich muß schweigen: ich kenne mich; bei mir flammt es nur einmal auf, dann aber heftig, und diese Flamme darf sich nicht gegen dich richten. Ruhe dich noch einen Augenblick aus und laß dich ansehn; sage mir nur ein paar Worte und laß mich hier finden, was ich suchte. Ich werde gehen und Gott wird das übrige tun …«

Ich schwieg, ich legte mich auf mein Kopfkissen und streckte ihr eine meiner Hände hin, die sie ergriff. Sie schien nachzudenken, und zwar tief nachzudenken. Sie hatte die Augen fest geschlossen; bisweilen schlug sie sie auf, richtete sie nach oben und blickte dann wieder auf mich. Sie war in gewaltsamer Erregung, ihre Seele war in Aufruhr, beruhigte sich und wallte dann wieder auf. Wahrlich, diese Frau war zur Prophetin geschaffen, sie hatte ganz das Gesicht und den Charakter. Sie war schön gewesen, aber das Alter hatte, indem es die Züge runzelte und tiefe Falten hineinzeichnete, ihrem Gesicht Würde gegeben. Sie hatte kleine Augen, aber sie schienen bald in sich selbst hineinzuschauen, bald nahe Dinge zu durchbohren, bald in Vergangenheit und Zukunft umherzuspähen. Sie drückte mir wiederholt mit aller Kraft die Hand. Dann fragte sie mich plötzlich, wie spät es sei.

»Es ist bald sechs Uhr.«

»Lebwohl, ich gehe fort. Man wird kommen, dich anzukleiden, ich kann nicht dabei sein, das würde mich ablenken. Ich habe nur noch eine Sorge, nämlich im ersten Augenblick die rechte Mäßigung zu bewahren.«

Kaum war sie hinausgegangen, als die Novizenmutter und meine Gefährtinnen eintraten; man nahm mir die klösterlichen Kleider ab und legte mir weltliche Gewänder an; diesen Brauch kennen Sie. Ich hörte nichts von dem, was um mich her gesprochen wurde; ich war fast zu einem Automaten geworden; ich sah nichts und mich durchliefen nur in Zwischenräumen krampfhafte Zuckungen. Man sagte mir, was ich zu tun hätte; man mußte mir das oft wiederholen, denn ich hörte es nicht gleich beim erstenmal, und ich tat es. Nicht daß ich an etwas anderes gedacht hätte, aber mir war der Kopf müde, als wenn man von tiefem Nachdenken erschöpft ist. Unterdes sprach die Äbtissin mit meiner Mutter. Ich habe nie erfahren, was bei dieser sehr langen Zusammenkunft vorgegangen ist; man hat mir nur erzählt, meine Mutter sei, als sie sich trennten, so verwirrt gewesen, daß sie die Tür, durch die sie hereingekommen sei, nicht habe wiederfinden können, und die Oberin sei herausgekommen, die gefalteten Hände gegen die Stirn gepreßt.

Jetzt läuteten die Glocken und ich begab mich hinunter. Die Versammlung war wenig zahlreich. Ob die Predigt gut oder schlecht war, habe ich nicht gehört; man tat mit mir, was man wollte, an diesem Morgen, der in meinem Leben nicht vorhanden ist, denn ich weiß nicht, wie lange alles gedauert hat; ich weiß nicht, was ich getan und was ich gesagt habe. Man hat mich sicher gefragt, und ich habe geantwortet; ich habe ein Gelübde abgelegt, aber ich habe keine Erinnerung daran, und ich bin ebenso unschuldig Nonne geworden, wie ich Christin wurde. Ich habe von der ganzen Zeremonie meiner Einsegnung auch nicht mehr begriffen als von meiner Taufe, mit dem einzigen Unterschied, daß die eine uns die Gnade übermittelt, die andere sie voraussetzt. Glauben Sie, weil ich in Longchamps nicht protestiert habe, wie ich es in Sankt Marien tat, ich sei deshalb stärker gebunden? Ich appelliere an Ihr Urteil, ich appelliere an Gottes Richterspruch. Ich war in einem Zustande so tiefer Niedergeschlagenheit, daß ich noch nach einigen Tagen, als man mir mitteilte, ich sei in den Chor aufgenommen, nicht wußte, was man damit sagen wollte. Ich fragte, ob es wahr sei, daß ich mein Gelübde abgelegt hätte; ich verlangte mit eigenen Augen meine Unterschrift zu sehen; dieser Beweis genügte mir nicht, ich forderte alle Insassinnen des Klosters auf, alle Fremden, die der Zeremonie beigewohnt hatten, es zu bezeugen. Ich wandte mich mehrmals an die Äbtissin und sagte zu ihr: »Es ist also wirklich wahr?« und erwartete immer, sie werde antworten: »Nein, mein Kind, man hintergeht dich …« Ihre wiederholte Versicherung überzeugte mich nicht, da ich nicht fassen konnte, daß ich mich aus den Einzelheiten eines aufregenden, bunten Tags nicht eines einzigen sonderbaren und auffallenden Umstandes erinnern sollte, nicht einmal der Gesichter der Klosterfrauen, die mich angekleidet hatten, nicht einmal des Geistlichen, der die Predigt gehalten, und jenes andern, dem ich mein Gelübde abgelegt hatte; die Vertauschung der Klosterkleidung mit einem weltlichen Gewande ist das einzige, was mir im Gedächtnis geblieben ist; seit diesem Augenblick war ich körperlich außer mir, wie man es nennt. Es dauerte Monate, bis ich diesen Zustand überwand, und auf die lange Dauer meiner Wiederherstellung führe ich es zurück, daß ich das Geschehene so völlig vergessen konnte: es ist, als wenn jemand lange krank gewesen ist, irre geredet, die Sakramente empfangen hat und dann, dem Leben wiedergeschenkt, sich an nichts erinnern kann. Solcher Beispiele habe ich mehrere in dem Kloster gesehen, und ich habe mir selbst gesagt: »So ist es mir wahrscheinlich ergangen an dem Tage, als ich mein Gelübde ablegte.« Aber hier erhebt sich die Frage: sind solche Handlungen wirklich Handlungen des Menschen und ist er dabei anwesend, wenn er da zu sein scheint?

Ich erlitt in diesem Jahre drei Verluste, die mich nah angingen: den meines Vaters, oder vielmehr des Mannes, der für meinen Vater galt; er war alt, hatte viel gearbeitet und erlosch wie ein Licht; den meiner Äbtissin und den meiner Mutter.

Die würdige Nonne fühlte ihre Stunde nahen, sie verurteilte sich zum Schweigen und ließ sich ihren Sarg in ihr Zimmer setzen; sie hatte den Schlaf verloren und verbrachte Tage und Nächte schreibend und denkend: sie hat fünfzehn Betrachtungen hinterlassen, die ich wunderbar schön finde; ich besitze eine Abschrift davon. Wenn Sie einmal Verlangen haben sollten, die Gedanken kennen zu lernen, die ein solcher Augenblick einflößt, will ich sie Ihnen übermitteln. Sie tragen den Titel: »Die letzten Augenblicke der Schwester Moni.«

Als der Tod nahte, ließ sie sich ankleiden und streckte sich auf ihrem Lager aus; man reichte ihr die Sakramente und sie hielt ein Christusbild in den Armen. Es war Nacht; Kerzenlicht beleuchtete diese traurige Szene. Wir scharten uns um sie, zerflossen in Tränen, ihre Zelle hallte von unserm Schluchzen wider, plötzlich aber blitzten aller Augen auf: sie richtete sich rasch auf, sie sprach; ihre Stimme war fast so kräftig wie in ihren gesunden Tagen; die Gabe, die ihr verloren gegangen war, kam ihr wieder; sie warf uns vor, daß wir weinten und sie um das ewige Glück zu beneiden schienen. »Meine Kinder, euer Schmerz führt euch irre. Dort, dort,« sagte sie und deutete zum Himmel empor, »werde ich euch dienen; meine Augen werden ohne Unterlaß auf diesem Hause ruhen, ich werde eure Fürsprecherin sein und werde Erhörung finden. Kommt alle näher heran, damit ich euch umarme, empfangt meinen Segen und meinen letzten Gruß …« Indem sie diese letzten Worte aussprach, verschied diese seltene Frau, an die alle mit unendlichem Bedauern denken werden.

Meine Mutter starb bei der Rückkehr von einer kleinen Reise, die sie Ende des Herbstes zu einer ihrer Töchter gemacht hatte. Sie hatte Kummer, und ihre Gesundheit war sehr geschwächt. Ich habe den Namen meines Vaters und die Geschichte meiner Geburt nie erfahren. Ihr Beichtvater, der auch der meine gewesen war, brachte mir von ihr ein Päckchen, das fünfzig Louisdor enthielt und ein Briefchen, das in einem Stück Leinwand eingenäht war. In diesem Briefchen stand:

»Mein Kind, es ist wenig, aber mein Gewissen erlaubt mir nicht, über eine größere Summe zu verfügen; dies ist der Rest dessen, was ich von den kleinen Geschenken meines Mannes ersparen konnte. Führe ein frommes Leben, das ist das beste, auch für dein Glück in dieser Welt. Bete für mich; deine Geburt ist die einzige große Sünde, die ich begangen habe; hilf mir sie zu sühnen; und möge Gott mir verzeihen, daß ich dich zur Welt gebracht habe, in Ansehung der guten Werke, die du tust. Vor allem: bringe keine Störung in die Familie, und wenn auch die Wahl des Wegs, den du beschritten hast, nicht so aus freiem Willen geschehen ist, wie ich gewünscht hätte, bitte ich dich doch, dabei zu beharren. Warum bin ich nicht mein Leben lang in einem Kloster eingeschlossen gewesen! Ich würde nicht so geängstigt von dem Gedanken sein, in einem Augenblick vor das furchtbare göttliche Gericht treten zu müssen. Bedenke, mein Kind, daß das Schicksal deiner Mutter in jener Welt viel von deinem Verhalten in dieser abhängt: Gott, der alles sieht, wird mir in seiner Gerechtigkeit alles Gute und alles Böse, das du tust, anrechnen. Lebwohl, Susanne; stelle keine Forderungen an deine Schwestern, sie sind nicht in der Lage, dir helfen zu können; erhoffe nichts von deinem Vater, er ist mir vorangegangen, er hat den großen Tag schon erlebt, er erwartet mich; meine Gegenwart wird für ihn weniger schrecklich sein, als die seine für mich. Noch einmal: Leb wohl! O ich unglückliche Mutter! O du mein unglückliches Kind! Deine Schwestern sind angekommen, aber ich bin nicht zufrieden mit ihnen: sie raffen alles an sich und tragen es weg und geraten schon unter den Augen einer sterbenden Mutter in eigennützige Zänkereien, die mich traurig machen. Wenn sie an mein Bett treten, drehe ich mich auf die andere Seite: was würde ich auch in ihnen sehen? Zwei Geschöpfe, in denen die Dürftigkeit das natürliche Gefühl ausgelöscht hat. Sie sind voll Gier nach dem wenigen, das ich hinterlasse; sie stellen an den Arzt und die Wärterin Fragen, die deutlich beweisen, wie ungeduldig sie den Augenblick meines Hinscheidens herbeisehnen, der ihnen erlaubt, alles zu nehmen, was mich umgibt. Sie haben, ich weiß nicht wie, den Argwohn geschöpft, ich könne Geld in meiner Matratze versteckt haben; sie haben nichts unversucht gelassen, um mich zum Aufstehen zu bewegen, und endlich ist es ihnen gelungen; aber glücklicherweise war mein Bote am Abend vorher gekommen und ich hatte ihm dies kleine Päckchen gegeben mit diesem Brief, den ich ihm diktiert habe. Verbrenne den Brief, und wenn du erfährst, daß ich nicht mehr bin, was bald eintreten wird, so laß eine Messe für mich lesen und erneuere dabei deine Gelübde; denn ich habe noch immer den Wunsch, daß du im Kloster bleibst: der Gedanke, daß du ohne Hilfe, ohne Anhalt, so jung, in der Welt ständest, würde meine letzten Augenblicke noch mehr trüben.«

Mein Vater starb am 5. Januar, meine Äbtissin am Ende des gleichen Monats, meine Mutter am zweiten Weihnachtstage.

Schwester Sainte-Christine war die Nachfolgerin der Mutter Moni. War das ein Unterschied zwischen den beiden! Ich habe Ihnen geschildert, was für eine Frau die erste war. Die andere hatte einen kleinlichen Charakter, einen beschränkten Verstand und war sehr abergläubisch; sie war von den neuen Meinungen angesteckt, sie hielt Beratungen mit den Sulpizianern und den Jesuiten ab. Sie hatte eine Aversion gegen alle Lieblinge ihrer Vorgängerin: in einem Augenblick war das Kloster mit Unruhe, Haß, Klatsch, Anklagen, Verleumdungen und Verfolgungen angefüllt: wir mußten uns über theologische Fragen äußern, von denen wir nichts verstanden, wir mußten Formeln unterschreiben und uns in sonderbare Bräuche fügen. Die Mutter Moni billigte körperliche Bußübungen nicht; sie hat sich nur zweimal in ihrem Leben kasteit, das eine Mal am Abend vor ihrer Einsegnung, das andere Mal in einem ähnlichen Falle. Sie sagte von diesen Bußübungen, sie machten keinen Fehler wieder gut und machten nur hochmütig. Sie verlangte, ihre Nonnen sollten sich gut führen, damit ihr Körper gesund und ihr Geist heiter bleibe. Das erste, als sie ihr Amt übernahm, war, sich alle härenen Hemden und alle Geißeln bringen zu lassen und ein Verbot zu erlassen, Asche unter die Nahrungsmittel zu mengen, auf dem Fußboden zu schlafen und irgendwelche Instrumente zur Kasteiung zu behalten. Die andere aber schickte jeder Nonne ihr härenes Gewand und ihre Geißel zurück und ließ das Alte und das Neue Testament wieder einfordern. Die Günstlinge des früheren Regimes sind niemals auch die Günstlinge des folgenden. Ich war, um nichts Schlimmeres zu sagen, der neuen Äbtissin gleichgültig, weil die frühere mich geliebt hatte; aber ich verschlimmerte mein Schicksal bald durch Handlungen, die Sie entweder als Unklugheit oder als Standhaftigkeit bezeichnen werden, je nach dem Gesichtspunkt, wie Sie die Dinge ansehen.

Zunächst überließ ich mich ganz dem Schmerz, den ich über den Verlust unserer ersten Äbtissin empfand; ich sang bei jeder Gelegenheit ihr Lob; ich zog Vergleiche zwischen ihr und unserer jetzigen Beherrscherin, die für diese nicht günstig waren. Ich sprach über die Verhältnisse im Kloster in den vergangenen Jahren und rief den Frieden, der um uns gewesen war, allen in die Erinnerung, sprach von der Nachsicht, die uns dargebracht worden war, von der leiblichen wie geistigen Nahrung, die man uns dargereicht, und pries die Lebensgewohnheiten, die Gefühle, den Charakter der Schwester Moni. Dann aber warf ich das härene Gewand ins Feuer und vernichtete meine Geißel, sprach mit meinen Freundinnen darüber und stiftete einige an, meinem Beispiel zu folgen. Drittens verschaffte ich mir ein Neues und ein Altes Testament; viertens lehnte ich es ab, mich irgendeiner Partei anzuschließen und erklärte, mich nur als Christin zu fühlen; ich wolle keine Jansenistin oder Molinistin sein; fünftens hielt ich mich streng an die Regeln des Klosters und ließ mich auf mehr und auf weniger nicht ein; infolgedessen ließ ich mich darüber hinaus zu keinem guten Werke veranlassen, da mir die, zu denen ich verpflichtet war, schon hart genug vorkamen; ich ging nur noch an den Festtagen nach der Orgel hinauf, sang nur, wenn ich zum Chor gehörte; duldete nicht mehr, daß man meine Gefälligkeit und meine Talente ausnutzte und mich für alles und alle gebrauchte. Ich las die Verfassung immer wieder, bis ich sie auswendig wußte; wenn mir etwas befohlen wurde, was nicht klar darin ausgedrückt war oder fehlte oder was mir widersprechend zu sein schien, so weigerte ich mich mit aller Entschiedenheit; ich nahm das Buch und sagte: »Diese Verpflichtungen bin ich eingegangen, weitere habe ich nicht übernommen.«

Meine Reden feuerten andere zur Nachahmung an. Die Macht der Oberinnen war sehr begrenzt, sie konnten nicht mehr wie Sklavinnen über uns verfügen. Es verging fast kein Tag ohne irgendeinen Zusammenprall. In ungewissen Fällen fragten meine Gefährtinnen mich um Rat, und ich war stets für die Regel gegen den Despotismus. Bald stand ich in dem Ruf, eine Unruhstifterin zu sein, und war es vielleicht auch wirklich. Die Großvikarien des Herrn Erzbischofs mußten alle Tage angerufen werden; er erschien, ich verteidigte mich und verteidigte meine Gefährtinnen; und nicht ein einziges Mal bin ich verurteilt worden, so sehr war ich darauf bedacht, das Recht auf meiner Seite zu haben; es war unmöglich, mich in bezug auf meine Pflichten anzugreifen, denn ich erfüllte sie gewissenhaft. Was die kleinen Gunstbezeugungen betrifft, die eine Äbtissin immer gewähren oder verweigern kann, so machte ich darauf keinen Anspruch. Ich ging nie ins Sprechzimmer und Besuche empfing ich nicht, da ich niemanden kannte. Aber ich hatte mein härenes Gewand verbrannt und meine Geißel ins Feuer geworfen; ich hatte andern geraten, das gleiche zu tun; ich wollte nichts von Jansenismus, nichts von Molinismus, weder im Guten, noch im Bösen, hören. Wenn man mich fragte, ob ich mich der Konstitution unterwürfe, antwortete ich, ich unterwürfe mich der Kirche; ob ich die Bulle annähme: ich nähme das Evangelium an. Man durchsuchte meine Zelle und fand darin das Alte und das Neue Testament. Ich hatte mir unvorsichtige Reden über die verdächtige Freundschaft einiger der neuen Lieblinge entschlüpfen lassen; die Äbtissin hatte lange und häufige Zusammenkünfte mit einer jungen Nonne und ich hatte ihren Grund und den Vorwand entdeckt. Ich unterließ nichts, was mich gefürchtet und verhaßt machen und mich ins Verderben stürzen konnte; und es gelang mir. Man beklagte sich nicht mehr über mich bei den vorgesetzten Behörden, aber man legte es darauf an, mir das Leben schwer zu machen. Man verbot den anderen Nonnen, mit mir zusammenzukommen, und bald sah ich mich allein; ich hatte einige wenige Freundinnen: man vermutete, daß sie sich im geheimen für den auferlegten Zwang entschädigen und mich, da sie sich tags nicht mit mir unterhalten konnten, nachts oder zu verbotenen Stunden besuchen würden; man belauschte uns und überraschte mich bald mit der einen, bald mit einer andern; man legte diese Unvorsichtigkeit nach eigenem Gutdünken aus und strafte mich auf ganz unmenschliche Art; man verurteilte mich, wochenlang dem Gottesdienst auf den Knien beizuwohnen, von den übrigen getrennt, mitten im Chor; von Wasser und Brot zu leben, mich in meiner Zelle eingeschlossen zu halten, die niedrigsten Arbeiten im Hause zu verrichten. Die als meine Mitschuldigen galten, wurden kaum besser behandelt. Wenn man kein Vergehen feststellen konnte, dichtete man mir allerlei Verbrechen an; man gab mir Befehle, die gleichzeitig nicht ausgeführt werden konnten und bestrafte mich, wenn ich sie verabsäumt hatte; man setzte für Gottesdienst und Mahlzeiten eine frühere Stunde an, man warf ohne mein Wissen die ganze alte Klosterordnung über den Haufen, und ich beging, bei größter Aufmerksamkeit, täglich irgendwelche Verstöße und wurde täglich bestraft. Ich hatte Mut; aber gegen Verlassenheit, Einsamkeit und Verfolgung hält auch der größte Mut nicht stand. Die Dinge wurden so auf die Spitze getrieben, daß man sich einen Spaß daraus machte, mich zu quälen; fünfzig Menschen taten sich zu dieser Belustigung zusammen. Es ist mir unmöglich, diese Bosheiten in allen Einzelheiten zu schildern; man hinderte mich am Schlafen, am Wachen, am Beten. Eines Tages stahl man mir einige Kleidungsstücke, ein andermal meine Schlüssel oder mein Brevier, mein Schloß war in Unordnung; man hinderte mich, das, was ich zu tun hatte, gut zu machen, oder man verdarb die Dinge, die ich gut gemacht hatte. Man verdächtigte mich, allerlei Reden geführt und alle möglichen Dinge getan zu haben; man machte mich für alles verantwortlich, und mein Leben war eine Kette von wirklichen oder angeblichen Vergehen und Strafen.

Meine Gesundheit hielt so langen und so schweren Prüfungen nicht stand; ich versank in Ermattung, Gram und Schwermut. Anfangs suchte ich Kraft und Ergebung zu den Füßen des Altars und fand bisweilen auch Trost. Ich schwamm zwischen Ergebung und Verzweiflung, unterwarf mich bald der ganzen Grausamkeit meines Schicksals und dachte dann wieder daran, mich gewaltsam zu befreien. Hinten im Garten befand sich ein tiefer Brunnen; wie oft bin ich dorthin gegangen, wie oft habe ich ihn betrachtet! Neben dem Brunnen stand eine steinerne Bank; wie oft habe ich darauf gesessen, den Kopf auf den Brunnenrand gelehnt. Wie oft bin ich in dem Aufruhr meiner Gedanken rasch aufgesprungen, entschlossen, meinem Elend ein Ende zu machen. Was hat mich zurückgehalten; warum zog ich es vor, zu weinen, zu schreien, meinen Schleier zu zerreißen, mir die Haare zu zerraufen und mir das Gesicht mit den Nägeln zu zerkratzen? Wenn Gott mich hinderte, mir das Leben zu nehmen, warum hinderte er nicht auch diese andern Gefühle?

Ich will Ihnen eines sagen, was Ihnen vielleicht sehr sonderbar erscheinen wird und was doch wahr ist: ich hege nicht den geringsten Zweifel daran, daß meine häufigen Gänge zu dem Brunnen nicht unbemerkt blieben und daß meine grausamen Feindinnen sich der Hoffnung hingaben, ich werde eines Tages die Absicht ausführen, die auf dem Grunde meines Herzens gärte. Wenn ich nach dieser Richtung ging, entfernte man sich geflissentlich und sah anderswo hin. Oft fand ich die Gartentür zu Stunden geöffnet, wo sie hätte geschlossen sein müssen, zumal an Tagen, an denen man mir besonders viel Kummer zugefügt hatte; man hatte die Leidenschaftlichkeit meines Charakters aufs äußerste gereizt und nahm an, daß mein Geist verwirrt sei. Aber sobald ich erraten zu haben glaubte, daß dies Mittel, dem Leben zu entfliehen, meiner Verzweiflung sozusagen dargereicht wurde, daß man mich bei der Hand zu diesem Brunnen führte und ich ihn immer bereit fand, mich aufzunehmen, lag mir nichts mehr daran; mein Geist wandte sich andern Dingen zu; ich hielt mich viel auf den Gängen auf und maß die Höhe der Fenster; abends, wenn ich mich auskleidete, prüfte ich die Kraft meiner Strumpfbänder; dann wieder verweigerte ich jede Nahrung; ich ging ins Refektorium und verharrte, den Rücken gegen die Mauer gelehnt, die Hände zu den Seiten herabhängend, die Augen geschlossen, und rührte die Speisen nicht an, die man vor mich hinstellte; ich vergaß mich in diesem Zustand so vollständig, daß ich noch da blieb, wenn alle Nonnen schon hinausgegangen waren. Man bemühte sich, sich geräuschlos zurückzuziehen, und ließ mich stehen; dann aber bestrafte man mich, wenn ich bei den Andachten fehlte. Was soll ich Ihnen weiter sagen? Man machte mir fast alle Mittel, mir das Leben zu nehmen, verhaßt, weil ich den Eindruck hatte, daß man, statt sich zu widersetzen, sie mir darreichte. Wir wollen anscheinend nicht aus dieser Welt hinausgestoßen werden, und vielleicht wäre ich nicht mehr am Leben, wenn sie sich den Anschein gegeben hätten, mich zurückhalten zu wollen. Wenn man sich das Leben nimmt, will man vielleicht die andern zur Verzweiflung bringen, und man bleibt am Leben, wenn man ihnen mit dem Tode eine Genugtuung zu bereiten glaubt; diese Regungen gehen in uns vor. Wenn es möglich ist, daß ich mich wirklich genau an meinen Zustand erinnere, so ist mir, als hätte ich innerlich, wenn ich am Brunnen saß und diese Unglücklichen sich entfernten, um mein Vorhaben zu begünstigen, geschrien: »Kommt doch einen Schritt auf mich zu, zeigt mir den geringsten Wunsch, mich zu retten, eilt herbei, mich zurückzuhalten, und seid überzeugt, daß ihr zu spät kommt.« Ich lebte wirklich nur, weil sie meinen Tod wünschten. Die Gier, andern zu schaden, andere zu quälen, stumpft sich in der Welt bald ab, im Kloster aber erlischt sie nie.

In diesem Zustande war ich, als ich, über mein vergangenes Leben nachdenkend, endlich auf den Einfall kam, die Aufhebung meines Gelübdes zu beantragen. Anfangs spielte ich nur mit diesem Gedanken. Wie sollte mir, die ich verlassen und ohne jeden Anhalt war, ein Plan gelingen, der auch, wenn man die Hilfe hatte, die mir fehlte, schwierig war? Aber dieser Gedanke beruhigte mich, mein Geist kam zur Entspannung, ich wurde wieder mehr ich selbst; ich ging den Kümmernissen aus dem Wege und ertrug die Leiden, die von außen über mich kamen, geduldiger. Man bemerkte diese Veränderung und war verwundert darüber; die Bosheit hörte plötzlich auf, wie ein feiger Feind, der einen verfolgt, stillsteht, wenn man ihm unerwartet das Gesicht zuwendet. Eine Frage möchte ich an Sie stellen, mein Herr: warum kommt einer verzweifelten Nonne unter all den finsteren Gedanken, die ihr durch den Kopf gehen, nicht auch der Gedanke, das Haus in Brand zu stecken? Ich habe diesen Gedanken nicht gehabt, und andere auch nicht, obgleich dieser Plan sehr einfach auszuführen wäre: man brauchte nur bei starkem Sturm ein Licht in eine Bodenkammer, in ein Holzgelaß, auf einen Gang zu bringen. Noch niemals ist ein Kloster in Brand gesteckt worden, und doch würden sich bei diesem Ereignis die Türen öffnen und jeder sich zu retten suchen. Liegt es wohl daran, daß man für sich und alle, die man liebt, die Gefahr fürchtet, und eine Hilfe verschmäht, die man mit denen, die man haßt, gemeinsam hätte? Dieser Gedanke ist aber wohl zu spitzfindig, um zutreffend zu sein.

Wenn man sich eifrig mit einer Sache beschäftigt, empfindet man ihre Gerechtigkeit und auch ihre Möglichkeit: man fühlt sich sehr stark, wenn man soweit gelangt ist. Das war für mich eine Sache von vierzehn Tagen; mein Geist arbeitete schnell. Um was handelte es sich? Ich mußte eine Bittschrift aufsetzen und sie einreichen; beides war nicht ungefährlich. Seit in meinem Kopf eine Umwälzung vor sich gegangen war, beobachtete man mich aufmerksamer als je; man folgte mir mit den Augen; ich tat keinen Schritt, der nicht besprochen wurde, ich sagte kein Wort, das man nicht auf die Wagschale legte. Man näherte sich mir und versuchte mich auszuforschen; man fragte mich aus, man heuchelte Mitleid und Freundschaft; man sprach von meinem früheren Leben; man tadelte mich milde und entschuldigte mich; man sprach die Hoffnung aus, ich werde mich jetzt besser führen, man stellte mir eine bessere Zukunft in Aussicht; aber man drang fortwährend in meine Zelle ein, tags und nachts unter allen möglichen Vorwänden; plötzlich, schleichend, zog man meine Vorhänge auf und begab sich wieder weg. Ich hatte die Angewohnheit angenommen, mich in Kleidern schlafen zu legen; dann aber hatte ich begonnen, meine Beichte aufzuschreiben. An den festgesetzten Tagen erbat ich Tinte und Papier von der Äbtissin, die es mir nicht verweigerte. Ich wartete also auf den Tag der Beichte und entwarf unterdes in meinem Kopf das, was ich sagen wollte; es war in kurzem Abriß all das, was ich Ihnen hier gesagt habe; nur trug ich meine Geschichte unter falschem Namen vor. Aber ich beging drei Versehen: erstens sagte ich der Äbtissin, ich hätte vieles aufzuschreiben und bat sie unter diesem Vorwand um mehr Papier, als für gewöhnlich gegeben wird; zweitens beschäftigte ich mich mit meiner Bittschrift und ließ meine Beichte Beichte sein; drittens blieb ich, da ich diesen Akt gar nicht vorbereitet hatte, nur einen Augenblick im Beichtstuhl. Das alles wurde bemerkt, und man schloß daraus, daß das erbetene Papier von mir zu andern Zwecken verwandt worden war. Aber wenn ich, wie unverkennbar war, es nicht zu meiner Beichte benutzt hatte, welchen Gebrauch hatte ich dann davon gemacht?

Ohne zu ahnen, daß man diesen Argwohn schöpfen könne, war ich mir bewußt, daß man ein so wichtiges Schriftstück nicht bei mir finden dürfe. Zuerst dachte ich daran, es in mein Kopfkissen oder meine Matratze einzunähen, dann es in meinen Kleidern zu verstecken, es im Garten einzugraben, es ins Feuer zu werfen. Sie können nicht glauben, wie eilig ich es hatte, zu schreiben, und wie bedrängt ich war, als alles niedergeschrieben war. Zuerst versiegelte ich es, dann verbarg ich es an meiner Brust und begab mich zum Gottesdienst. Ich war in einer Unruhe, die sich in meinen Bewegungen verriet. Ich saß neben einer jungen Nonne, die mich liebte; bisweilen sah ich, daß sie mich mitleidig ansah und Tränen vergoß; sie sprach nicht, aber unverkennbar litt sie. Auf die Gefahr alles dessen, was daraus entspringen könnte, entschloß ich mich, ihr mein Schriftstück anzuvertrauen. In einem Augenblick des Gebets, als alle Nonnen auf die Knie fielen und in ihren Kirchenstühlen gleichsam untertauchten, zog ich leise das Schriftstück aus meinem Busen und reichte es ihr hinter meinem Rücken; sie nahm es und steckte es in den Busen. Dies war der größte Dienst, den sie mir geleistet hat; aber ich danke ihr noch vieles andere: sie hatte sich monatelang bemüht, ohne sich zu verraten, alle die kleinen Hindernisse zu beseitigen, die man meinen Pflichten entgegensetzte, um ein Recht zu haben, mich zu züchtigen; sie klopfte an meine Tür, wenn es Zeit war, hinauszukommen; sie brachte alles wieder in Ordnung, was die andern zerstörten; sie läutete oder antwortete, wenn es nötig war; sie war überall, wo ich hätte sein müssen. Ich wußte das alles nicht.

Es war ein Glück, daß ich diesen Entschluß gefaßt hatte. Als wir das Chor verließen, sagte die Äbtissin zu mir: »Schwester Susanne, folgen Sie mir …« Ich folgte ihr; dann blieb sie in dem Gang vor einer andern Tür stehen und sagte: »Dies ist jetzt Ihre Zelle; Schwester Saint-Jerome bekommt Ihre frühere …« Ich trat ein, und sie begleitete mich. Wir setzten uns beide, ohne zu sprechen, als eine Nonne mit Kleidern kam, die sie auf einen Stuhl legte, und die Äbtissin sagte zu mir: »Schwester Susanne, entkleiden Sie sich, ziehen Sie diese Kleider an …« Ich gehorchte und zog mich in ihrer Gegenwart um, sie aber achtete genau auf alle meine Bewegungen. Die Schwester, die meine Kleider gebracht hatte, stand vor der Tür; jetzt kam sie wieder herein, nahm die Kleider mit, die ich abgelegt hatte, und ging hinaus; die Äbtissin folgte ihr. Man sagte mir nicht, was für einen Grund diese Maßnahme habe, und ich fragte nicht danach. Unterdes hatte man meine Zelle genau durchsucht; man hatte das Kopfkissen und die Matratze aufgetrennt, hatte alles von der Stelle gerückt, was sich irgend bewegen ließ, war meinen Spuren nachgegangen; man ging in den Beichtstuhl, in die Kirche, in den Garten, zum Brunnen, nach der steinernen Bank; ich sah diese Nachforschungen zum Teil, das übrige ahnte ich. Man fand nichts; aber man war doch immer noch überzeugt, daß irgend etwas existieren müsse. Man fuhr tagelang fort, mich zu belauern: man ging mir allerorts nach, man suchte überall, aber vergeblich. Endlich kam die Äbtissin zu der Überzeugung, daß sie nur von mir selbst die Wahrheit erfahren könne. Sie betrat eines Tages meine Zelle und sagte zu mir: »Schwester Susanne, Sie haben viele Fehler, aber den einen Fehler, zu lügen, haben Sie nicht. Sagen Sie mir also die Wahrheit: Was haben Sie mit all dem Papier gemacht, das ich Ihnen gegeben habe?«

»Frau Äbtissin, das habe ich Ihnen gesagt.«

»Das kann nicht sein, denn Sie hatten mich um sehr viel Papier gebeten und sich doch nur einen Augenblick im Beichtstuhl aufgehalten.«

»Das ist richtig.«

»Was haben Sie also damit gemacht?«

»Was ich Ihnen gesagt habe.«

»Gut, also schwören Sie mir, bei dem heiligen Gehorsam, den Sie gelobt haben, daß dies Wahrheit ist; und ich will Ihnen glauben, obwohl der Schein gegen Sie spricht.«

»Frau Äbtissin, es ist Ihnen nicht gestattet, wegen einer so geringfügigen Sache einen Schwur zu verlangen, und mir ist es nicht gestattet, ihn abzulegen. Ich kann nicht schwören.«

»Sie hintergehen mich, Schwester Susanne, aber Sie wissen nicht, welchen Dingen Sie sich aussetzen. Was haben Sie mit dem Papier gemacht, das ich Ihnen gab?«

»Ich habe es Ihnen gesagt.«

»Wo ist es?«

»Ich habe es nicht mehr.«

»Was haben Sie damit gemacht?«

»Was man mit solchen Schriftstücken macht, die überflüssig sind, wenn man sich ihrer bedient hat.«

»Schwören Sie mir, bei dem heiligen Gehorsam, daß es vollständig dazu verwandt worden ist, Ihre Beichte aufzunehmen, und daß Sie es nicht mehr haben.«

»Frau Äbtissin, ich wiederhole: ich kann nicht schwören, da auch diese Angelegenheit nicht wichtiger ist als die erste.«

»Schwören Sie,« sagte sie zu mir, »oder …«

»Ich werde nicht schwören.«

»Sie werden nicht schwören?«

»Nein, Frau Äbtissin.«

»Sie sind also schuldig?«

»Wessen sollte ich schuldig sein?«

»Aller möglichen Dinge; es gibt nichts, dessen Sie nicht schuldig wären. Sie haben es darauf angelegt, meine Vorgängerin zu loben, um mich herabzusetzen; stets haben Sie Verachtung geäußert gegen die Gebräuche und Gesetze, die, von ihr verdammt und abgeschafft, von mir wieder eingeführt wurden; Sie haben das ganze Kloster zum Aufruhr angestiftet; Sie haben die Klosterregeln verletzt, haben Uneinigkeit zwischen den Geistern hervorgerufen, haben alle Ihre Pflichten vernachlässigt und mich gezwungen, Sie zu strafen und mit Ihnen alle, die Sie verführt hatten, was mir sehr hart angekommen ist. Ich hätte mich der härtesten Mittel gegen Sie bedienen können, ich habe Sie geschont; ich glaubte, Sie würden Ihr Unrecht einsehen, den Geist Ihres Standes wieder annehmen und zu mir zurückkehren; das haben Sie nicht getan. In Ihrem Geist geht etwas vor, was nicht gut ist; Sie haben irgendwelche Pläne; das Interesse des Klosters verlangt, daß ich sie kenne; und ich werde sie erfahren, dafür verbürge ich mich. Schwester Susanne, sagen Sie mir die Wahrheit.«

»Ich habe sie Ihnen gesagt.«

»Ich gehe jetzt fort, aber fürchten Sie meine Rückkehr … Ich will mich setzen, ich will Ihnen noch einen Augenblick der Überlegung vergönnen … Das Papier, wenn es vorhanden ist …«

»Ich habe es nicht mehr.«

»Schwören Sie, daß nichts anderes als Ihre Beichte darauf gestanden hat.«

»Diesen Schwur kann ich nicht leisten …«

Sie verharrte einen Augenblick in Stillschweigen, dann ging sie hinaus und kehrte mit vier ihrer Lieblingsnonnen zurück, die alle wütende und wilde Mienen aufgesetzt hatten. Ich warf mich ihr zu Füßen und flehte ihre Barmherzigkeit an. Alle aber riefen: »Keine Gnade! Lassen Sie sich nicht rühren; sie soll ihre Papiere herausgeben oder sie kommt in den Karzer.« Ich umklammerte abwechselnd ihre Knie und sagte, indem ich sie bei ihren Namen rief: »Schwester Agnes, Schwester Julie, was habe ich Ihnen getan? Warum hetzen Sie meine Äbtissin gegen mich auf? Habe ich auch so gehandelt? Wie oft habe ich nicht für Sie gebeten? Aber daran erinnern Sie sich wohl nicht mehr? Sie waren damals schuldig, ich aber bin es nicht.«

Die Äbtissin blieb vollkommen unbeweglich und sagte zu mir: »Gib deine Papiere heraus, du Unselige, oder offenbare uns, was sie enthielten.«

»Frau Äbtissin,« sagten sie zu ihr, »fragen Sie nicht mehr, Sie sind zu gut; Sie kennen sie nicht; sie ist eine halsstarrige Seele, bei der man die äußersten Mittel anwenden muß; sie selber bringt Sie dazu, um so schlimmer für sie.«

»Teure Mutter,« sagte ich, »ich habe nichts getan, was Gott oder die Menschen beleidigen kann, das schwöre ich Ihnen.«

»Diesen Schwur habe ich nicht verlangt.«

»Sie wird gegen uns, gegen Sie irgendeine Schrift an den Erzbischof aufgesetzt haben; Gott weiß, wie sie die Zustände im Kloster darstellt, alles Schlechte wird so leicht geglaubt. Frau Äbtissin, Sie müssen dieses Geschöpf in Ihre Gewalt bekommen, wenn sie nicht über uns Herr werden soll.«

Die Äbtissin setzte hinzu: »Schwester Susanne, bedenken Sie …«

Ich stand rasch auf und sagte: »Frau Äbtissin, ich habe alles bedacht; ich fühle, daß man mich zugrunde richten will, aber ob das einen Augenblick früher oder später geschieht, lohnt nicht, darüber nachzudenken. Machen Sie mit mir, was Sie wollen, gehorchen Sie Ihrer Wut, befriedigen Sie Ihre Ungerechtigkeit …«

Und damit streckte ich ihr den Arm hin. Ihre Begleiterinnen ergriffen ihn; man riß mir den Schleier ab, man entkleidete mich schamlos. An meinem Busen fand man ein kleines Bild meiner früheren Äbtissin und nahm es mir fort; ich bat, es noch einmal küssen zu dürfen, aber man verweigerte mir das. Man warf mir ein Hemd über, nahm mir meine Strümpfe weg, bekleidete mich mit einem Sack und führte mich mit nacktem Kopf und Füßen durch die Gänge. Ich schrie und rief um Hilfe, aber man hatte die Glocke geläutet, um anzusagen, daß niemand erscheinen solle. Ich flehte zum Himmel, ich warf mich zu Boden und man schleifte mich weiter. Als ich die Treppe hinunter war, hatte ich blutende Füße und blaugeschlagene Glieder. Ich war in einem Zustand, der ein Herz von Stein hätte rühren müssen. Aber man öffnete mit großen Schlüsseln die Tür eines kleinen, dunklen, unterirdischen Verlieses, in dem man mich auf eine halbverfaulte Binsenmatte warf. Hier fand ich ein Stück Schwarzbrot und einen Krug Wasser nebst einigen notwendigen Gefäßen. Die an einem Ende aufgerollte Matte bildete das Kopfkissen; auf einem Steinblock mit einem hölzernen Kruzifix stand ein Totenkopf. Meine erste Regung war, mir das Leben zu nehmen; ich legte meine Hände um meinen Hals; ich zerriß meine Kleider mit den Zähnen, ich stieß entsetzliche Schreie aus, ich heulte wie ein wildes Tier; ich schlug mit dem Kopf gegen die Mauer, daß ich mich blutig schlug; ich suchte mich umzubringen, bis meine Kräfte versagten, was sehr bald der Fall war. Drei Tage habe ich dort zugebracht, glaubte aber, für mein ganzes Leben hier eingesperrt zu sein. Jeden Morgen kam eine meiner Peinigerinnen zu mir und sagte zu mir:

»Gehorchen Sie unserer Äbtissin, und Sie dürfen fort von hier.«

»Ich habe nichts getan, ich weiß nicht, was von mir verlangt wird. O Schwester Saint-Clement, es gibt einen Gott …«

Am dritten Tage gegen neun Uhr abends öffnete man die Tür. Es waren die gleichen Nonnen, die mich hierhergebracht hatten. Nachdem sie die Güte unserer Äbtissin gepriesen hatten, kündigten sie mir an, man wolle mich begnadigen und mich wieder in Freiheit setzen.

»Es ist zu spät,« sagte ich zu ihnen, »lassen Sie mich hier, ich will hier sterben.«

Aber sie hoben mich auf und schleppten mich weg; man brachte mich wieder in meine Zelle, wo ich die Äbtissin fand.

»Ich habe mit Gott über Ihr Schicksal Rat gehalten; er hat mein Herz gerührt; er will, daß ich Mitleid mit Ihnen habe und ich gehorche ihm. Knien Sie nieder und bitten Sie ihn um Vergebung.«

Ich kniete nieder und sagte:

»Mein Gott, ich bitte dich um Vergebung der Sünden, die ich begangen habe, wie du sie am Kreuze für mich erbatest.«

»Wie hochmütig sie ist,« riefen die Nonnen, »sie vergleicht sich mit Jesus Christus, und uns vergleicht sie mit den Juden, die ihn gekreuzigt haben.«

»Betrachten Sie nicht mich,« sagte ich zu ihnen, »sondern betrachten Sie sich und urteilen Sie dann.«

»Das ist nicht alles,« sagte die Äbtissin, »schwören Sie mir bei dem heiligen Gehorsam, daß Sie niemals über das Vorgefallene sprechen werden.«

»Was Sie getan haben, muß wohl sehr schlimm sein, da ich schwören soll, Schweigen darüber zu bewahren. Niemand soll je davon wissen als Ihr Gewissen, das schwöre ich Ihnen.«

»Sie schwören es?«

»Jawohl, ich schwöre es Ihnen.«

Als das geschehen war, nahmen sie mir die Kleider, die sie mir gegeben hatten und ließen mich wieder meine eigenen anziehen.

Ich hatte mich in der feuchten Zelle erkältet und war in einer kritischen Verfassung; mein ganzer Körper war braun und blau geschlagen und seit mehreren Tagen hatte ich nur ein paar Tropfen Wasser und ein wenig Brot zu mir genommen. Ich glaubte, diese Verfolgung sei die letzte gewesen, die ich auszustehen hatte, aber infolge der unmittelbaren Wirkung der heftigen Erschütterung, die beweist, wie stark die Natur in jungen Menschen wirkt, erholte ich mich in sehr kurzer Zeit; und ich fand, als ich wieder auftauchte, das ganze Kloster überzeugt, daß ich krank gewesen sei. Ich nahm die häuslichen Arbeiten und mein Amt in der Kirche wieder auf. Ich hatte mein Schriftstück und die junge Schwester, der ich es anvertraut hatte, nicht vergessen; ich war überzeugt, daß sie keinen Mißbrauch mit dem anvertrauten Gut getrieben, aber es nicht ohne Sorge aufbewahrt hatte. Einige Tage, nachdem ich aus dem Gefängnis gekommen war und mich im Chor befand, fühlte ich in demselben Augenblick, in welchem ich ihr das Papier gegeben hatte, das heißt als wir niederknieten und in unsern Kirchenstühlen verschwanden, daß eine Hand leise an meinem Kleide zupfte. Ich streckte die Hand hin, und sie gab mir einen Zettel, der nur diese Worte enthielt: »Was für Sorge hast du mir gemacht! Und was soll ich mit diesem bösen Schriftstück machen?« … Nachdem ich dies gelesen hatte, rollte ich den Zettel in meinen Händen zusammen und schluckte ihn hinunter. Das alles trug sich zu Beginn der Fastenzeit zu. Nun kam die Zeit, da das Verlangen, Musik zu hören, die gute und die schlechte Gesellschaft von Paris nach Longchamps lockt. Ich hatte eine sehr schöne Stimme, obwohl sie etwas verloren hatte. In den Klöstern ist man auf die kleinsten Vorteile bedacht; man schonte mich also ein wenig, und ich genoß etwas mehr Freiheit; die Schwestern, denen ich Gesangstunde gab, konnten sich mir ungehindert nähern; die Schwester, der ich meine Schrift anvertraut hatte, war auch unter ihnen. In den Erholungsstunden, die wir im Garten verbrachten, nahm ich sie beiseite und ließ sie singen; und während sie sang, sagte ich zu ihr:

»Du kennst viele Menschen, ich kenne niemanden. Ich möchte nicht, daß du dich irgendwie in Gefahr begibst; ich möchte lieber hier auf dem Fleck sterben, als daß ich dich dem Verdacht aussetzte, mir einen Dienst geleistet zu haben; liebe Freundin, du würdest verloren sein, das weiß ich, und mich würde es nicht retten; und auch wenn dein Verderben mich retten könnte, möchte ich meine Rettung nicht um diesen Preis erkaufen.«

»Lassen wir das,« sagte sie zu mir, »um was handelt es sich?«

»Es handelt sich darum, diese Schrift sicher in die Hände eines geschickten Advokaten gelangen zu lassen, ohne daß er weiß, aus welchem Kloster sie kommt, und von ihm eine Antwort zu erbitten, die du mir in der Kirche oder anderswo zusteckst.«

»Übrigens,« sagte sie zu mir, »was hast du mit meinem Zettelchen gemacht?«

»Sei unbesorgt, ich habe es hinuntergeschluckt.«

»Sei auch du unbesorgt, ich werde über deine Lage nachdenken.«

Sie müssen bedenken, mein Herr, daß ich sang, während sie sprach, und daß sie sang, während ich ihr antwortete, und daß unsere Unterhaltung von Singen unterbrochen wurde. Diese junge Schwester, mein Herr, ist noch in dem Kloster; ihr Glück ist in Ihrer Hand; wenn man entdeckte, was sie für mich getan hat, gäbe es keine Folter, der sie nicht ausgesetzt würde. Ich möchte ihr nicht die Tür des Klosters auftun, lieber würde ich selbst dahin zurückkehren. Verbrennen Sie also diesen Brief, mein Herr; abgesehen von dem Interesse, das Sie an meinem Schicksal nehmen, enthält er nichts, was die Mühe, ihn aufzuheben, lohnte.

Das sagte ich Ihnen damals, aber jetzt ist sie nicht mehr, und ich bleibe allein …

Sie hielt Wort und benachrichtigte mich auf die gewohnte Art. Die heilige Woche kam; es gab einen großen Zulauf zu unsern Chorgebeten. Ich sang so gut, daß ich das Geräusch dieses ärgerlichen Beifallklatschens hervorrief, das den Schauspielern in den Theatern gespendet wird, das man aber in den Tempeln des Herrn nicht hören dürfte, besonders nicht an den hohen und ernsten Feiertagen, an denen man das Gedächtnis des für die Sünden der Menschheit ans Kreuz geschlagenen Sohnes feiert. Meine jungen Schülerinnen waren gut vorbereitet und einige hatten schöne Stimmen; fast alle sangen mit gutem Ausdruck und Hingebung. Ich hatte den Eindruck, daß die Zuhörer mit großer Freude lauschten und daß das Kloster mit dem Erfolg meiner Bemühungen zufrieden war.

Sie wissen, mein Herr, daß man am Donnerstag das Heilige Sakrament aus seinem Tabernakel an einen besonderen Ort bringt, wo es bis zum Freitag morgen bleibt. Dieser Zwischenraum wird durch Anbetungen der Nonnen ausgefüllt, die sich eine nach der andern oder zu zweien an den jetzigen Aufbewahrungsort des Sakraments begeben. Auf einer Tafel wird jeder die Stunde, da sie anbeten soll, bezeichnet, und zu meiner Freude las ich auf dieser Tafel: »Schwester Sainte-Suzanne und Schwester Sainte-Ursula von zwei bis drei Uhr morgens!« Ich begab mich zur bezeichneten Stunde an den heiligen Ort, meine Gefährtin war schon da. Wir knieten nebeneinander auf den Stufen des Altars nieder und beteten eine halbe Stunde lang zusammen. Dann streckte meine junge Freundin mir die Hand hin, drückte die meine und sagte:

»Wir haben vielleicht nie wieder die Gelegenheit, uns so lange und so ungestört zu unterhalten. Gott kennt den Zwang, in dem wir leben, und er wird uns verzeihen, wenn wir die Zeit abkürzen, die ihm gehören sollte. Ich habe deine Schrift nicht gelesen, doch es ist nicht schwierig zu erraten, was sie enthält; ich werde sehr bald eine Antwort haben. Aber wenn diese Antwort dich ermächtigt, deine Gelübde für ungültig erklären zu lassen, so wirst du doch wohl mit Gesetzeskundigen dich beraten müssen.«

»Das ist richtig.«

»Dazu brauchst du eine gewisse Freiheit.«

»Ganz recht.«

»Wenn du klug bist, nutzest du die gegenwärtige Stimmung, dir solche Freiheit zu verschaffen.«

»Daran habe ich auch schon gedacht.«

»Noch etwas anderes: wenn diese Sache eingeleitet wird, so wirst du hier der ganzen Wut der Schwesternschaft ausgesetzt sein. Hast du bedacht, was für Verfolgungen du ausgesetzt sein wirst?«

»Sie können nicht größer sein als die, die ich schon erlitten habe.«

»Davon weiß ich nichts.«

»Um Vergebung. Aber erstens wird man nicht wagen, mich meiner Freiheit zu berauben.«

»Und warum nicht?«

»Weil ich dann unter dem Schutz des Gesetzes stehe; ich hätte dann die Möglichkeit zu reden, ich würde sozusagen zwischen der Welt und dem Kloster stehen; man wird sich hüten, sich ins Unrecht zu setzen. Ich kann frei heraus reden, habe die Möglichkeit, mich zu beklagen; ich kann euch alle zu Zeugen anrufen; man wird mir kein Leid zufügen, über das ich mich beklagen könnte. Ich könnte mir nichts Besseres wünschen, als daß man mich schlecht behandelte, aber man wird es nicht tun: sei überzeugt, daß man ein völlig entgegengesetztes Verfahren anwenden wird. Man wird mich mit Bitten bestürmen, wird mir vorhalten, welches Unrecht ich mir selbst und dem Kloster antun wolle; du kannst dich darauf verlassen: zu Drohungen wird man erst schreiten, wenn man sieht, daß Sanftmut und Verführung nichts ausrichten. Gewaltsame Mittel aber wird man nicht anwenden.«

»Es ist unglaublich, daß du eine solche Abneigung gegen einen Stand hast, dessen Pflichten du so gewissenhaft und treu erfüllst.«

»Ich fühle diese Abneigung, ich brachte sie mit auf die Welt und sie wird nie von mir weichen; ich würde schließlich eine schlechte Nonne werden und dem muß man vorbeugen.«

»Aber wenn es dir unglücklicherweise nicht gelänge?«

»Wenn ich keinen Erfolg habe, werde ich den Antrag stellen, das Kloster wechseln zu dürfen, oder werde in diesem sterben.«

»Man leidet lange, bevor man stirbt. Oh, liebe Freundin, ich zittere vor diesem Schritt, den du tun willst: ich zittere davor, daß du von deinem Gelübde nie und nimmer entbunden wirst. Und wenn du befreit würdest, was sollte aus dir werden? Du hast ein schönes Gesicht, hast Geist und Talente, aber man sagt, daß das nicht zur Tugend führt; und ich weiß, daß du die Tugend nicht so leicht fahren lassen wirst.«

»Du läßt mir Gerechtigkeit widerfahren, aber nicht der Tugend; auf die Tugend allein verlasse ich mich; je seltener sie unter den Menschen ist, um so höher muß sie geschätzt werden.«

»Man predigt sie, tut aber nichts für sie.«

»Sie ermutigt mich und bestärkt mich in meinem Vorhaben. Obwohl man viele Einwendungen gegen meinen Schritt machen wird, muß man doch meinen Lebenswandel ehren. Man kann wenigstens von mir nicht sagen wie von den meisten andern: daß ich durch eine unerlaubte Leidenschaft meinem Stande untreu geworden bin: ich sehe keinen Menschen, kenne niemanden. Ich will frei sein, weil das Opfer meiner Freiheit nicht freiwillig gebracht ist. Hast du meine Schrift gelesen?«

»Nein. Ich habe das Paket geöffnet, das du mir gegeben hattest, weil es ohne Adresse war und ich denken mußte, es sei für mich bestimmt; aber die ersten Zeilen klärten mich auf, und ich habe nicht weiter gelesen. Wie gut war es, daß du mir die Schrift gegeben hattest. Einen Augenblick später hätte man sie bei dir gefunden … Aber die Stunde unserer Andacht geht zu Ende, wir wollen niederknien, damit unsere Nachfolgerinnen uns in der Stellung finden, die wir einnehmen müssen. Bete zu Gott, daß er dich erleuchte und dich führe; ich will meine Gebete und meine Seufzer mit den deinen vereinen.«

Meine Seele war etwas getröstet. Meine Gefährtin betete, ich aber warf mich nieder, preßte die Stirn auf die unterste Stufe des Altars und legte die Arme auf die oberen Stufen. Ich glaube, ich habe mich nie so inbrünstig an Gott gewandt; mein Herz schlug heftig, und ich vergaß einen Augenblick alles, was mich umgab. Ich weiß nicht, wie lange ich in dieser Stellung blieb oder wie lange ich noch darin geblieben wäre, aber es muß ein sehr rührendes Bild für meine Gefährtin und für die beiden Nonnen, die uns ablösten, gewesen sein. Als ich mich erhob, glaubte ich allein zu sein; das war ein Irrtum; alle drei standen hinter mir und zerflossen in Tränen: sie hatten nicht gewagt, mich zu unterbrechen; sie warteten, bis ich aus dem Zustande der Verzückung wieder zu mir käme. Als ich mich ihnen zuwandte, muß mein Gesicht einen sehr erschütternden Ausdruck gehabt haben, nach der Wirkung zu urteilen, die es auf sie ausübte, und da sie riefen, ich sei jetzt unserer früheren Äbtissin ähnlich, wenn sie uns tröstete, und mein Anblick habe sie gleichermaßen in Zittern versetzt. Wenn ich einen Hang zu Heuchelei und Fanatismus gehabt und eine Rolle im Kloster hätte spielen wollen, glaube ich sicher, daß es mir gelungen wäre. Meine Seele ist leicht zu begeistern, leicht zu entflammen und zu rühren; und die gute Äbtissin hat mir hundertmal unter Umarmungen gesagt: Niemand könne Gott so lieben wie ich; ich hätte ein fleischernes Herz, die andern aber ein steinernes. Sicher ist, daß ich äußerst leicht dazu neigte, ihre Verzückungen zu teilen, und daß, wenn sie laut zu Gott betete, ich bisweilen das Wort ergriff, ihrem Gedankengang folgte und wie inspiriert einen Teil dessen sagte, was sie selbst gesagt haben würde. Die andern hörten schweigend zu, ich aber unterbrach sie, eilte ihr voran oder sprach mit ihr zusammen. Ich vermochte einen einmal gewonnenen Eindruck lange zu bewahren, und allem Anschein nach strahlte etwas davon auf sie zurück; denn man merkte es den andern an, wenn sie mit ihr gesprochen hatten, ihr aber, wenn sie mit mir zusammengewesen war. Aber was bedeutet es, wenn der Beruf nicht da ist? … Als unsere Stunde vorbei war, überließen wir den Platz unseren Nachfolgerinnen; wir, meine junge Gefährtin und ich, umarmten uns sehr zärtlich, bevor wir uns trennten.

Die Szene an dem heiligen Ort wurde im Kloster bekannt; hinzu kam der Erfolg, den ich am Karfreitag mit unserm Chor erzielt hatte: ich sang, ich spielte die Orgel und erntete Beifall. O diese närrischen Nonnen; ich brauchte fast nichts zu tun, um mich mit der ganzen Schwesternschaft wieder auszusöhnen; man behandelte mich jetzt mit großer Zuvorkommenheit, allen voran die Äbtissin. Einige Leute aus der großen Welt suchten mich kennen zu lernen; das paßte zu gut zu meinem Plan, als daß ich mich gesträubt hätte. Ich empfing den ersten Präsidenten, Frau von Soubise, und eine Menge feiner Leute, Geistliche, Mönche, Offiziere, Beamte, fromme Frauen, weltliche Damen; darunter waren auch allerlei Windbeutel, denen ich bald den Laufpaß gab. Ich pflegte nur solche Bekanntschaften, aus denen man mir keinen Vorwurf machen konnte; das andere überließ ich den Nonnen, die nicht so bedenklich waren.

Ich vergaß Ihnen zu sagen, daß das erste Zeichen von Güte, das man mir gab, darin bestand, mich wieder in meine Zelle einzusetzen. Ich hatte den Mut, das kleine Bild unserer früheren Äbtissin zurückzuerbitten, und man wagte es mir nicht vorzuenthalten; es hat den Platz auf meinem Herzen wiederbekommen und soll da liegen, solange ich lebe. Jeden Morgen ist mein erstes, meine Seele zu Gott zu erheben, mein zweites, dies Bild zu küssen; wenn ich beten will und meine Seele kalt ist, löse ich es von meinem Halse, lege es vor mich hin und sehe es an, und es inspiriert mich. Es ist sehr schade, daß wir die heiligen Persönlichkeiten nicht gekannt haben, deren Bildnisse unserer Verehrung empfohlen werden; sie würden dann einen ganz andern Eindruck auf uns machen; sie würden uns nicht so kalt lassen, wie wir es jetzt bleiben.

Ich hatte die Antwort auf meine Denkschrift bekommen; sie stammte von einem Herrn Manouri und war weder günstig, noch ungünstig. Bevor er sein Urteil abgeben konnte, verlangte er viele Auskünfte, die schwer zu geben waren, wenn man sich nicht sah; ich nannte also meinen Namen und bat Herrn Manouri, nach Longchamps zu kommen. Diese Herren gehen nicht gern aus ihrem Hause, aber er kam. Wir unterhielten uns lange und verabredeten eine Korrespondenz, durch die er mir mitteilen wollte, was er brauchte, während ich ihm so meine Antworten zukommen ließ. Ich meinerseits nutzte die Zeit, die er meiner Angelegenheit schenkte, ihn für mein Schicksal zu interessieren und mir seinen Schutz zu erwirken. Ich nannte meinen Namen, ich erzählte ihm von meinem Verhalten in dem ersten Kloster, in dem ich gewesen war, erzählte ihm, was ich in meinem Elternhause gelitten hatte, welche Qualen ich im Kloster ausgestanden, wie ich in Sankt Marien mich geweigert habe, das Gelübde abzulegen, sprach von meinem Aufenthalt in Longchamps und dem Tage meiner Einsegnung, und von der Grausamkeit, mit der ich behandelt worden war, nachdem ich mein Gelübde abgelegt hatte. Er bedauerte mich und bot mir seine Hilfe an; ich bat ihn, ohne mich genauer zu erklären, seinen guten Willen auf die Zeit zu verschieben, da ich seiner bedürfen werde. Im Kloster wurde von dem allen nichts ruchbar; ich erlangte aus Rom die Erlaubnis, gegen mein Gelübde Einspruch zu erheben; die Gerichtsverhandlung stand schon unmittelbar bevor, als man sich noch in tiefer Sicherheit wiegte. Sie können sich also vorstellen, wie groß das Erstaunen meiner Äbtissin war, als man ihr im Namen der Schwester Susanne Simonin einen Einspruch gegen das Gelübde überbrachte, mit der Bitte, das Klostergewand ablegen und das Kloster verlassen zu dürfen, um nach ihrem Belieben zu leben.

Ich hatte wohl vorausgesehen, daß sich viele Einwände erheben würden, von Seiten des Gesetzes, von Seiten des Klosters und von seiten meiner beunruhigten Schwestern und Schwäger: denn an sie war alles Familiengut gefallen, und ich hätte beträchtliche Rückforderungen an sie stellen können. Ich schrieb meinen Schwestern; ich flehte sie an, meinem Austritt aus dem Kloster keine Hindernisse in den Weg zu legen; ich appellierte an ihr Gewissen und sagte ihnen, wie wenig freiwillig ich mein Gelübde abgelegt habe, ich erbot mich, durch gültigen Verzicht allen Ansprüchen auf ein väterliches oder mütterliches Erbe zu entsagen; ich unterließ nichts, um sie zu überzeugen, daß es sich hier weder um einen Schritt des Eigennutzes noch der Leidenschaft handelte. Ich gab mich in bezug auf ihre Gesinnungen gar keinen Illusionen hin; der Verzichtsakt, den ich ihnen vorschlug, während ich noch im Kloster lebte, war seiner Natur nach ungültig, und es war ihnen zu ungewiß, daß ich ihn bestätigen werde, wenn ich in Freiheit kam. Und konnten sie meine Vorschläge annehmen? Konnten sie eine Schwester ohne Zuflucht und ohne Vermögen lassen? Konnten sie im Genuß ihres Vermögens bleiben? Was würde die Welt dazu sagen? Wenn sie uns um Brot bittet, können wir es ihr abschlagen? Wenn sie auf den Einfall kommt, zu heiraten … wer kann wissen, wie der Mann beschaffen sein wird? Und wenn sie Kinder hat? … Wir müssen diesem Versuch uns mit aller Kraft widersetzen … Das sagten und das taten sie.

 

Kaum hatte die Äbtissin von Gerichts wegen Kenntnis von meinem Wunsch erlangt, als sie in meine Zelle geeilt kam.

»Wie, Schwester Sainte-Susanne,« sagte sie zu mir, »Sie wollen uns verlassen?«

»Ja, Frau Äbtissin.«

»Und Sie wollen Ihr Gelübde anfechten?«

»Ja, Frau Äbtissin.«

»Haben Sie es nicht freiwillig abgelegt?«

»Nein, Frau Äbtissin.«

»Und wer hat Sie gezwungen?«

»Alles.«

»Ihr Herr Vater?«

»Mein Vater.«

»Ihre Frau Mutter?«

»Meine Mutter.«

»Und warum haben Sie nicht vor dem Altar Einspruch erhoben?«

»Ich war so wenig bei mir, daß ich mich nicht einmal erinnere, dabei gewesen zu sein.«

»Können Sie das wirklich sagen?«

»Ich sage die Wahrheit.«

»Wie, Sie haben nicht gehört, daß der Priester Sie fragte: Schwester Sainte-Susanne Simonin, gelobst du Gott Gehorsam, Keuschheit und Armut?«

»Ich weiß es nicht mehr.«

»Haben Sie darauf nicht ja gesagt?«

»Das weiß ich nicht mehr.«

»Und Sie bilden sich ein, daß ein Mensch Ihnen das glauben wird?«

»Ob man mir glaubt oder nicht, es ist darum nicht weniger wahr.«

»Liebes Kind, bedenken Sie, wenn solche Vorwände ausschlaggebend wären, welch ein Mißbrauch mit ihnen getrieben würde. Sie haben einen unüberlegten Schritt getan. Sie haben sich von einem Rachegelüst hinreißen lassen; Sie denken noch an die Züchtigungen, die wir Ihnen auferlegen mußten; Sie halten diese Züchtigungen für hinreichend, um Ihr Gelübde zu brechen. Sie täuschen sich, das ist weder vor Gott, noch vor den Menschen möglich. Bedenken Sie, daß Meineid das größte aller Verbrechen ist. In Ihrem Herzen haben Sie diese Sünde schon begangen und wollen sie vollenden.«

»Ich habe keinen Meineid geleistet, denn ich habe nichts geschworen.«

»Wenn man Ihnen ein Unrecht getan hat, ist es nicht wieder gut gemacht worden?«

»Nicht dieses Unrecht hat mich zu meinem Schritt bestimmt.«

»Was denn?«

»Ich fühle mich nicht berufen, ich war nicht frei bei Ablegung meines Gelübdes.«

»Wenn Sie sich nicht berufen fühlten, wenn Sie gezwungen wurden, – warum sagten Sie das alles nicht, als es Zeit war?«

»Und was hätte mir das genützt?«

»Warum zeigten Sie hier nicht die gleiche Festigkeit wie damals in Sankt Marien?«

»Hängt die Festigkeit von uns selbst ab? Beim erstenmal war ich fest, beim zweiten schwach.«

»Warum ließen Sie nicht einen Gesetzeskundigen kommen? Warum legten Sie nicht Berufung ein? Sie hatten vierundzwanzig Stunden Zeit, um alles zu widerrufen.«

»Kannte ich diese Formalitäten? Wenn ich sie gekannt hätte, wäre ich in der Lage gewesen, sie mir zunutze zu machen? Wenn ich sie hätte benutzen können, wäre ich dazu imstande gewesen? Ja, Frau Äbtissin, haben Sie nicht selbst meine Geistesverwirrung bemerkt? Wenn ich Sie zum Zeugen aufrufe, können Sie beschwören, daß ich ganz bei Sinnen war?«

»Das beschwöre ich.«

»Nun, Frau Äbtissin, dann werden Sie meineidig, nicht ich.«

»Mein Kind, Sie wollen ein unnötiges Aufsehen heraufbeschwören. Kommen Sie zu sich, ich bitte Sie in Ihrem eigenen Interesse, im Interesse des Klosters; solche Dinge gehen nicht ohne skandalöse Auseinandersetzungen ab.«

»Das ist dann nicht meine Schuld.«

»Die Leute der Welt sind böse; man wird sich in Mutmaßungen ergehen, die Ihrem Geist, Ihrem Herzen, Ihrem Lebenswandel höchst nachteilig sind; man wird glauben …«

»Mag man glauben, was man will.«

»Aber sprechen Sie offen mit mir; wenn Sie irgendwie unzufrieden sind, wird sich doch ein Heilmittel dafür finden.«

»Ich war immer mit meinem Stande unzufrieden, bin es noch heute und werde es mein ganzes Leben lang sein.«

»Sollte der Versucher, der uns unaufhörlich umgibt und uns zu verderben sucht, die zu große Freiheit, die Ihnen seit kurzer Zeit gewährt wurde, benutzt und Ihnen eine verhängnisvolle Neigung eingeflößt haben?«

»Nein, Frau Äbtissin; Sie wissen, daß ich nicht ohne zwingende Notwendigkeit schwöre; ich rufe Gott zum Zeugen an, daß mein Herz unschuldig ist und daß es nie eine schimpfliche Neigung empfunden hat.«

»Unbegreiflich.«

»Und doch ist nichts leichter zu begreifen, Frau Äbtissin. Jeder hat seinen Charakter, ich habe den meinen; Sie lieben das Klosterleben, ich hasse es; Sie haben von Gott die Gnade Ihres Standes empfangen, mir mangelt sie gänzlich; Sie würden in der Welt verloren sein und sehen hier Ihre Rettung; ich würde hier zugrunde gehen und hoffe, mich in der Welt zu retten. Ich bin eine schlechte Nonne und werde es immer bleiben.«

»Warum denn? Niemand erfüllt seine Pflichten besser als Sie.«

»Aber ich tue es widerwillig und unlustig.«

»Um so größer ist Ihr Verdienst.«

»Niemand kann besser wissen als ich, welches mein Verdienst ist: und ich muß mir selber eingestehen, daß ich, obwohl ich mich allem unterwerfe, doch gar kein Verdienst habe. Ich mag nicht länger heucheln; wenn ich tue, wodurch andere selig werden, verabscheue und verdamme ich mich. Mit einem Wort, Frau Äbtissin, wirkliche Nonnen sind doch nur die, die hier sind aus Liebe zur Zurückgezogenheit und die auch hier bleiben würden, wenn nicht Gitter und Mauern sie zurückhielten. Zu diesen gehöre ich nicht; mein Leib ist hier, aber mein Herz ist nicht hier, es ist draußen; und wenn ich zwischen dem Tode und der ewigen Klausur wählen müßte, würde ich nicht schwanken und den Tod wählen. Das sind meine Gefühle.«

»Wie, Sie würden ohne Gewissensbisse diesen Schleier und diese Kleider ablegen, die Sie Jesus Christus geweiht haben?«

»Ja, Frau Äbtissin, weil ich sie nicht freiwillig angelegt habe …«

Meine Antwort war sehr gemäßigt, sie gab nicht wieder, was mein Herz mir einflüsterte; mein Herz sagte: Oh, warum ist der Augenblick noch nicht da, daß ich sie zerreißen und von mir werfen kann …

Aber meine Antwort machte sie dennoch betroffen; sie erblaßte, sie wollte weitersprechen, aber ihre Lippen zitterten; sie wußte nicht, was sie mir noch sagen sollte. Ich ging mit großen Schritten in meiner Zelle hin und her, und sie rief:

»O mein Gott, was werden unsere Schwestern sagen? O Jesus, haben Sie Mitleid mit ihnen! Schwester Sainte-Susanne!«

»Frau Äbtissin!«

»Sie haben also Ihren Entschluß gefaßt? Sie wollen uns entehren, uns zum Gerede machen und selber dazu werden und sich ins Verderben stürzen.«

»Ich will fort von hier!«

»Aber wenn Ihnen nur dies Kloster nicht gefällt …«

»Mir mißfallen Stand, Kloster und Nonnenleben; ich will weder hier noch anderswo eingeschlossen sein.«

»Mein Kind, Sie sind vom Dämon besessen; er hat Sie erfaßt, er spricht aus Ihnen und reißt Sie hin; das ist ganz sicher: sehen Sie doch, in welchem Zustand Sie sind!«

Da richtete ich meine Blicke auf mich selbst und sah, daß mein Gewand in Unordnung war, daß mein Brustschleier sich nach hinten geschoben hatte und mein Kopfschleier mir auf die Schultern gefallen war. Ich war angewidert von den Reden dieser bösen Oberin und ihrem heuchlerischen und falschen Ton mir gegenüber, und sagte erbittert:

»Nein, Frau Äbtissin, nein, ich will dies Gewand nicht mehr, ich will es nicht mehr.«

Aber ich versuchte, meinen Schleier wieder in Ordnung zu bringen; meine Hände zitterten und je mehr ich mich bemühte, ihn zu ordnen, um so mehr zerstörte ich ihn; in meiner Ungeduld packte ich ihn, riß ihn herunter, warf ihn zu Boden und stand nun vor meiner Äbtissin, die Stirn mit der Binde umwunden, das Gesicht enthüllt. Sie aber, ungewiß, ob sie bleiben sollte, ging hin und her und sagte:

»O Herr Jesus, sie ist besessen, es muß wahr sein, sie ist besessen …«

Und die Heuchlerin bekreuzigte sich mit dem Kreuz ihres Rosenkranzes.

Bald kam ich wieder zu mir; ich empfand wohl die Unwürdigkeit meines Zustands und die Unvorsichtigkeit meiner Reden; ich setzte mich, so gut ich konnte, wieder instand, hob meinen Schleier auf und befestigte ihn wieder; dann wandte ich mich zu ihr und sagte:

»Frau Äbtissin, ich bin weder wahnsinnig, noch besessen; ich schäme mich meiner Heftigkeit und bitte Sie um Verzeihung; aber Sie können daraus ersehen, wie wenig der Stand einer Nonne für mich paßt und wie gerechtfertigt es ist, daß ich versuche, mich ihm zu entziehen.«

Sie aber hörte nicht auf mich und rief immer wieder: »Was wird die Welt sagen? Was werden unsere Schwestern sagen?

»Frau Äbtissin,« sagte ich zu ihr, »wollen Sie Aufsehen vermeiden? Dazu gibt es ein Mittel. Ich verlange nicht, daß mir meine Ausstattung zurückgegeben wird, ich will nur die Freiheit: ich bitte Sie nicht, mir die Türen zu öffnen, aber veranlassen Sie nur, daß sie heute, morgen und die nächsten Tage schlecht bewacht werden; und bemerken Sie meine Flucht, so spät Sie können …«

»Unselige, was wagen Sie mir vorzuschlagen?«

»Ich möchte Ihnen einen Rat geben, den eine gute und weise Oberin bei allen denen befolgen sollte, denen ihr Kloster als ein Gefängnis erscheint; und für mich ist das Kloster ein tausendmal schlimmeres Gefängnis als die Kerker, in denen die Verbrecher schmachten; ich muß hinaus oder ich gehe zugrunde. Frau Äbtissin,« sagte ich zu ihr mit festem Blick und schlug einen ernsten Ton an, »hören Sie mich an: Wenn die Gerichte, an die ich mich gewandt habe, meine Erwartung enttäuschen, und wenn eine Verzweiflung, die ich nur zu gut kenne, mich treibt, so haben Sie einen Brunnen … es sind Fenster in diesem Hause … überall sind Wände … man hat Kleider, die man in Stücke schneiden … Hände, die man brauchen kann …«

»Schweigen Sie, Unglückliche, mich schaudert's. Wie, Sie könnten …«

»Ich könnte, wenn mir alles fehlte, womit man rasch die Leiden des Lebens endet, die Nahrung zurückweisen; niemand kann einen zwingen, zu essen oder zu trinken … Wenn das schließlich geschähe, wovon ich spreche, wenn ich den Mut hätte … und Sie wissen, an Mut fehlt es mir nicht und man braucht bisweilen mehr Mut, zu leben, als zu sterben … so versetzen Sie sich vor Gottes Richterstuhl und sagen Sie mir: wer wird ihm schuldiger erscheinen, die Oberin oder die Nonne? … Frau Äbtissin, ich stelle keine Forderungen an das Kloster und werde es niemals tun: ersparen Sie mir eine Sünde, ersparen Sie mir lange Gewissensbisse: lassen Sie uns verabreden …«

»Können Sie wirklich daran denken, Schwester Sainte-Susanne? Ich sollte meine Pflichten vernachlässigen, ich sollte meine Hände zu einem Verbrechen hergeben, ich sollte mich eines Sakrilegs schuldig machen?«

»Das wahre Sakrileg, Frau Äbtissin, begehe ich täglich, indem ich das heilige Gewand, das ich trage, durch meine Verachtung entehre. Nehmen Sie mir es ab, ich bin seiner nicht würdig; lassen Sie mich in einem Dorfe Lumpen anlegen, wie die ärmste Bäuerin sie trägt, aber dies Gefängnis muß sich mir öffnen.«

»Und wohin wollen Sie gehen, um sich wohler zu fühlen?«

»Ich weiß nicht, wohin ich gehe; aber es geht einem nur da schlecht, wo Gott uns nicht haben will; und Gott will nicht, daß ich hier bin.«

»Sie haben kein Vermögen.«

»Das ist richtig, aber die Armut fürchte ich nicht am meisten.«

»Fürchten Sie aber die Unruhe, die sie mit sich bringt.«

»Die Vergangenheit bürgt mir für die Zukunft; wenn ich mich von der Sünde hätte verlocken lassen, wäre ich frei. Aber wenn ich aus diesem Hause herauskommen soll, muß es mit Ihrer Einwilligung oder durch die Macht des Gesetzes geschehen. Sie können wählen …«

Diese Unterredung hatte eine lange Zeit gedauert. Wenn ich jetzt daran denke, schäme ich mich der unvorsichtigen und lächerlichen Dinge, die ich dabei gesagt habe; aber es war zu spät. Die Äbtissin rief noch immer: »Was wird die Welt sagen? Was werden unsere Schwestern sagen?« als die Glocke, die uns zum Gottesdienst rief, uns trennte. Als sie mich verließ, sagte sie zu mir:

»Schwester Sainte-Susanne, Sie gehen jetzt in die Kirche; beten Sie zu Gott, daß er Ihnen den Geist Ihres Standes wiedergibt; befragen Sie Ihr Gewissen und glauben Sie, was es Ihnen sagt; es ist unmöglich, daß es Ihnen nicht Vorwürfe macht. Zu singen brauchen Sie heute nicht.«

Wir begaben uns zusammen hinunter. Der Gottesdienst ging zu Ende; am Schluß, als alle Schwestern im Begriff waren, auseinanderzugehen, schlug sie auf ihr Brevier und bat sie, zu bleiben.

»Meine Schwestern,« sagte sie zu ihnen, »ich bitte euch, euch vor dem Altar niederzuwerfen und die Gnade Gottes anzuflehen für eine Nonne, von der er sich abgewendet hat, die die Liebe zum Klosterleben verloren hat und im Begriff steht, sich zu einer in Gottes Augen lästerlichen, in den Augen der Menschen schimpflichen Handlung hinreißen zu lassen.«

Ich kann Ihnen die allgemeine Überraschung nicht schildern; mit einem Seitenblick hatte jede, ohne sich zu bewegen, das Gesicht ihrer Gefährtinnen durchforscht und an ihrer Verwirrung die Schuldige herauszufinden gesucht. Alle knieten nieder und beteten schweigend. Nach Verlauf einer recht beträchtlichen Zeit stimmte die Priorin mit leiser Stimme das Veni, Creator an und alle sangen mit leiser Stimme weiter; nach einer Pause schlug die Äbtissin auf ihr Pult, und alle gingen hinaus.

Ich überlasse es Ihnen, sich das Raunen und Flüstern vorzustellen, das sich unter den Schwestern erhob: »Wer ist es? Wer ist es nicht? Was hat sie getan? Was will sie tun?« … Sie brauchten nicht lange sich auf Mutmaßungen zu beschränken. Mein Gesuch begann draußen in der Welt Aufsehen zu machen; ich empfing Besuche ohne Ende; die einen machten mir Vorwürfe, die andern wollten mir Ratschläge erteilen; die einen billigten mein Vorgehen, die andern tadelten es. Ich hatte nur ein Mittel, mich in den Augen aller zu rechtfertigen, nämlich ihnen das Verhalten meiner Eltern zu schildern; und Sie werden begreifen, wieviel Rücksicht ich in diesem Punkte nehmen mußte. Nur wenige Menschen blieben mir treu ergeben, und Herrn Manouri, der sich meiner Sache angenommen hatte, konnte ich mich ganz anvertrauen. Da mich die Strafen, mit denen man mich bedrohte, schreckten, so stand das Verlies, in das ich schon einmal geschleppt worden war, in seiner ganzen Entsetzlichkeit vor meinen Augen; ich kannte die Wut der Nonnen. Ich teilte Herrn Manouri meine Befürchtungen mit, und er sagte zu mir: »Es ist unmöglich, Ihnen alle diese Beschwerden zu ersparen; Sie werden viel zu erdulden haben und mußten darauf gefaßt sein; Sie müssen sich mit Geduld wappnen und sich mit der Hoffnung trösten, daß diese Leiden ja doch ein Ende nehmen. Was das Verlies betrifft, so verspreche ich Ihnen, daß Sie dahin nicht wieder kommen; lassen Sie das meine Sache sein … Wirklich brachte er einige Tage darauf der Äbtissin einen Befehl, mich so oft vor Gericht erscheinen zu lassen, wie es nötig sein werde.

Am nächsten Morgen nach dem Gottesdienst wurde ich noch einmal der Fürbitte der Schwesternschaft empfohlen: alle beteten schweigend und sprachen dann mit leiser Stimme den gleichen Gesang wie am Abend vorher. Die gleiche Zeremonie fand am dritten Tage statt, mit dem einzigen Unterschiede, daß man mir befahl, mich in die Mitte des Chors zu stellen, und daß man die Gebete für die Sterbenden und die Litaneien der Heiligen mit dem Refrain: ora pro ea hersagte. Am vierten Tage vollzog sich eine Posse, die den sonderbaren Charakter der Äbtissin kennzeichnete. Am Schluß des Gottesdienstes legte man mich mitten im Chor in einen Sarg; zu beiden Seiten stellte man Kerzen auf nebst einem Weihrauchkessel; man bedeckte mich mit einem Schweißtuche und las die Totenmesse, worauf alle Nonnen im Hinausgehen mich mit Weihwasser besprengten und zu mir sagten: Requiescat in pace! Man muß die Klostersprache kennen, um zu wissen, welche Drohung in diesen letzten Worten enthalten war. Zwei Nonnen hoben das Schweißtuch auf, löschten die Kerzen und ließen mich liegen, bis auf die Haut durchnäßt von dem Weihwasser, mit dem sie mich boshafterweise besprengt hatten. Meine Kleider trockneten am Leibe; ich hatte keine andern, daß ich sie hätte wechseln können. Dieser Demütigung folgte eine andere. Die Nonnen versammelten sich, man sah mich als eine Verworfene an und mein Verhalten als einen Abfall; man verbot allen Nonnen bei Strafe, mit mir zu sprechen, mir zu helfen, sich mir zu nähern und sogar die Sachen zu berühren, die mir gehört hatten. Diese Befehle wurden streng durchgeführt. Unsere Gänge im Kloster sind eng; an manchen Stellen haben zwei Personen Mühe, ungehindert aneinander vorbeizukommen; wenn ich den Gang entlang ging und eine Nonne auf mich zukam, kehrte sie entweder um, oder aber sie drückte sich eng gegen die Wand und hielt ihren Schleier und ihr Kleid an sich, aus Furcht, mit mir in Berührung zu kommen. Hatte man etwas von mir zu bekommen, so legte ich es auf den Boden, von wo man es mit einem Tuch aufhob; wenn man mir etwas zu geben hatte, warf man es mir zu. Hatte man das Unglück gehabt, mich zu berühren, fühlte man sich besudelt, ging zur Beichte und ließ sich von der Äbtissin Absolution erteilen. Man sagt, Schmeichelei sei niedrig und gemein, aber sie ist auch grausam und sehr empfindsam, wenn es ihr einfällt, durch Kränkungen, die sie ersinnt, Beifall zu erringen. Wie oft muß ich an das Wort meiner göttlichen Äbtissin Moni denken: »Unter all diesen Geschöpfen, die du um mich siehst und die so gefügig, so unschuldig, so sanft sind, ist wirklich fast keine, aus der ich nicht eine Bestie machen könnte; eine seltsame Verwandlung, zu der die Nonnen sich um so besser eignen, je jünger sie ins Kloster eingetreten sind und je weniger sie das gesellschaftliche Leben kennen; diese Reden verwundern dich; Gott schütze dich davor, ihre Wahrheit zu erfahren. Schwester Susanne, eine gute Nonne ist jede, die ins Kloster eine große Sünde mitbringt, die sie sühnen will.«

Ich wurde aller meiner Ämter beraubt. In der Kirche ließ man um den Kirchenstuhl, in dem ich mich befand, zu allen Zeiten einen weiten Raum; man bediente mich nicht mehr; ich war genötigt, in die Küche zu gehen und mir mein Essen zu erbitten. Das erstemal rief die Küchenschwester mir zu: »Nicht eintreten, gehen Sie fort!«

Ich gehorchte ihr.

»Was wollen Sie?«

»Essen.«

»Essen! Sie verdienen nicht zu leben!«

Manchmal kehrte ich wieder um und verbrachte den Tag, ohne irgend etwas zu mir zu nehmen; bisweilen aber beharrte ich auf meinem Verlangen; dann stellte man mir auf die Türschwelle ein Essen, das man dem Vieh nicht angeboten hätte; ich nahm es weinend an und entfernte mich. Kam ich jemals zuletzt in den Chor, so fand ich die Tür verschlossen; ich kniete draußen nieder und wartete, bis der Gottesdienst zu Ende war: geschah mir dasselbe im Garten, so kehrte ich in meine Zelle zurück. Aber meine Kräfte erschlafften, weil ich so wenig und so schlechte Nahrung zu mir nahm und mehr noch, weil ich so vielen Kummer ertragen und so häufige Zeichen von Unmenschlichkeit erdulden mußte; ich fühlte, wenn ich weiter litte, ohne mich zu beschweren, so würde ich das Ende meines Prozesses nicht erleben. Ich entschloß mich also, mit der Äbtissin zu sprechen; ich war halbtot vor Angst, klopfte aber doch leise an ihre Tür. Sie öffnete. Bei ihrem Anblick wich sie mehrere Schritte zurück und schrie:

»Abtrünnige, entferne dich!«

Ich entfernte mich.

»Noch weiter.«

Ich entfernte mich noch weiter.

»Was wollen Sie?«

»Da weder Gott noch die Menschen mich zum Tode verurteilt haben, verlange ich, Frau Äbtissin, daß Sie den Befehl geben, mich leben zu lassen.«

»Leben!« sagte sie zu mir, indem sie sich auch der Worte der Küchenschwester bediente, »verdienen Sie das?«

»Das weiß nur Gott; aber ich sage Ihnen: wenn man mir die Nahrung verweigert, so bin ich gezwungen, meine Klagen denen vorzutragen, die mich unter ihren Schutz genommen haben. Ich bin hier nur in Gewahrsam, bis mein Schicksal sich entschieden hat.«

»Gehen Sie,« sagte sie zu mir, »besudeln Sie mich nicht mit Ihren Blicken. Ich werde das nötige veranlassen.«

Ich ging, und sie warf die Tür heftig zu. Anscheinend gab sie ihre Befehle, aber ich wurde deshalb doch nicht viel besser bedient; man machte sich ein Verdienst daraus, ihr ungehorsam zu sein: man warf mir die gröbsten Speisen vor und machte sie noch durch Asche und allen möglichen Unrat ungenießbar.

Dies Leben führte ich während meines ganzen Prozesses. Das Sprechzimmer wurde mir nicht völlig verboten, denn man konnte mir nicht die Freiheit nehmen, mit meinen Richtern und mit meinem Advokaten zu verhandeln: dieser allerdings mußte mehrmals Drohungen anwenden, um mich zu Gesicht zu bekommen. Eine Schwester begleitete mich; sie beklagte sich, wenn ich leise sprach; sie wurde ungeduldig, wenn ich zu lange blieb; sie unterbrach mich, strafte mich Lügen, widersprach mir, trug der Äbtissin meine Worte zu, veränderte sie, vergiftete sie, legte mir sogar Reden in den Mund, die ich gar nicht geführt hatte, was weiß ich? Man ging soweit, mich auszuplündern, mir meine Stühle, mein Bettzeug und meine Matratze wegzunehmen; man gab mir keine weiße Wäsche mehr; meine Kleider zerrissen; ich war fast ohne Strümpfe und Schuhe. Ich konnte kaum Wasser bekommen; mehrmals war ich gezwungen, mir aus dem Brunnen Wasser zu holen, aus dem Brunnen, von dem ich gesprochen habe. Man zerbrach meine Trinkgefäße, da war ich gezwungen, das geschöpfte Wasser gleich auszutrinken, und konnte es nicht in meine Zelle tragen. Wenn ich unter den Fenstern entlang ging, mußte ich häufig die Flucht ergreifen, wollte ich nicht den Schmutz aus den Zellen über mich ausgegossen bekommen. Einige Schwestern zerkratzten mir das Gesicht. Ich war jetzt von entsetzlicher Unsauberkeit. Da man fürchtete, ich könne mich bei unsern Beichtvätern beschweren, wurde mir die Beichte untersagt.

An einem hohen Feiertage, ich glaube, es war Christi Himmelfahrt, brachte man mein Schloß in Unordnung; ich konnte nicht zur Messe gehen und hätte auch allen andern Gottesdiensten fern bleiben müssen, wenn nicht Herr Manouri gekommen wäre, um mich zu besuchen; man sagte ihm anfangs, man wisse nicht, was aus mir geworden sei, man bekomme mich nicht mehr zu Gesicht und ich wohne keiner heiligen Handlung mehr bei. Indessen mühte ich mich doch so lange, bis ich mein Schloß sprengte, und begab mich nach der Tür des Chors, die ich verschlossen fand, wie immer, wenn ich nicht zuerst da war. Ich warf mich zu Boden, Kopf und Rücken gegen eine der Mauern gelehnt, die Arme auf der Brust verkreuzt, während mein ausgestreckter Körper den Gang versperrte. Als der Gottesdienst zu Ende war und die Nonnen hinausgingen, blieb die erste unvermittelt stehen; die andern traten auch hinzu; die Oberin merkte, was los war und sagte: »Tretet nur auf sie; sie ist nur ein Leichnam.«

Einige gehorchten und traten mich mit Füßen; andere waren weniger unmenschlich, aber keine wagte mir die Hand hinzustrecken, um mich aufzuheben. Während ich abwesend war, nahm man aus meiner Zelle meinen Betschemel, das Bild unserer Stifterin, die anderen frommen Bilder und das Kruzifix; es blieb mir nur das Kruzifix, das ich an meinem Rosenkranz trug, und auch das ließ man mir nicht lange. Ich lebte also in vier nackten Wänden, in einem Zimmer ohne Tür, ohne Stuhl, mußte stehen oder auf meinem Strohsack liegen, ohne die notwendigen Gefäße, war gezwungen, nachts hinauszugehen, um die Bedürfnisse der Natur zu befriedigen und wurde am andern Morgen beschuldigt, die Ruhe des Hauses zu stören, nachtzuwandeln und verrückt zu sein. Da meine Zelle sich nicht mehr schließen ließ, trat man nachts laut lärmend ein, man schrie, man schob mein Bett hin und her, man zerbrach meine Fenster, man stellte alle möglichen Greuel an. Der Lärm drang bis in das obere Stockwerk, und man hörte ihn auch im unteren, und alle, die nicht mit im Komplott waren, sagten, in meinem Zimmer gingen seltsame Dinge vor; sie hätten Trauerstimmen, Schreie, Kettenklirren gehört, ich pflöge Umgang mit Gespenstern und bösen Geistern, ich müsse wohl einen Pakt mit ihnen geschlossen haben, und man würde unverzüglich genötigt sein, meinen Korridor zu meiden.

Es gibt in den Klöstern schwache Köpfe, das ist sogar die große Masse; diese glaubten, was man ihnen sagte, wagten nicht an meiner Tür vorbeizugehen, sahen mich in ihrer Phantasie in einer furchtbar entstellten Gestalt, bekreuzigten sich, wenn sie mich sahen und entflohen schreiend: »Satan, weiche von mir! Herrgott, steh mir bei!« … Eine der Jüngsten stand hinten auf dem Gang, ich kam auf sie zu, sie hatte keine Möglichkeit, mir auszuweichen; furchtbarer Schrecken packte sie. Zuerst wandte sie das Gesicht der Wand zu und murmelte mit zitternder Stimme: »Mein Gott! mein Gott! Jesus! Marie!« … Aber ich ging weiter. Als sie merkte, daß ich ihr ganz nah war, bedeckte sie das Gesicht mit beiden Händen, aus Furcht, mich sehen zu müssen, machte einen Satz auf mich zu, stürzte mir heftig in die Arme und schrie: »Gnade, Gnade! Ich bin verloren! Schwester Sainte-Susanne, tun Sie mir kein Leid an; Schwester Sainte-Susanne, haben Sie Erbarmen mit mir! …« Als sie diese Worte gesagt hatte, sank sie halbtot zu Boden.

Auf ihr Geschrei liefen die andern bei und trugen sie weg. Ich kann Ihnen nicht schildern, wie dieser Vorfall ausgelegt wurde; man machte daraus eine höchst sträfliche Geschichte: man sagte, der Dämon der Unreinheit hätte sich meiner bemächtigt; man schob mir Absichten, Handlungen unter, die ich nicht einmal zu nennen wage, absonderliche Wünsche, denen man den aufgelösten Zustand zuschrieb, in dem sich die junge Nonne befunden hatte. Ich bin wahrhaftig kein Mann und weiß nicht, was zwischen zwei Frauen vorgehen könnte und noch weniger bei einer Frau allein; aber da mein Bett ohne Vorhänge war und man zu jeder Stunde in mein Zimmer eintrat, … was soll ich Ihnen sagen, mein Herr, … bei all ihrer äußeren Zurückhaltung, der Sittsamkeit ihrer Blicke, der Keuschheit ihrer Ausdrucksweise, hatten diese Frauen eine verdorbene Seele: sie wußten alle, daß man allein mit sich entehrende Handlungen begehen kann, das weiß ich aber nicht; deshalb habe ich nie so recht begriffen, wessen sie mich beschuldigten; und sie bedienten sich so dunkler Ausdrücke, daß ich nie wußte, was ich ihnen erwidern sollte.

Ich käme nie zu Ende, wenn ich die Verfolgungen weiter in allen Einzelheiten ausmalen wollte. Oh, mein Herr, wenn Sie Kinder haben, so lernen Sie aus meinem Schicksal, welches Los Sie ihnen bereiten, wenn Sie dulden, daß sie ohne die Zeichen der stärksten und ausgesprochensten Berufung für dies Leben ins Kloster gehen. Man ist ungerecht in der Welt. Man erlaubt einem Kinde, über seine Freiheit zu verfügen in einem Alter, da es noch nicht über einen Taler verfügen darf. Töten Sie lieber Ihre Tochter, als daß Sie sie wider ihren Willen in einem Kloster einkerkern; jawohl, töten Sie sie. Wie oft habe ich gewünscht, von meiner Mutter bei der Geburt erdrosselt worden zu sein; das wäre weniger grausam von ihr gewesen! Können Sie glauben, daß man mir mein Brevier nahm und mir verbot, zu Gott zu beten? Sie können sich wohl vorstellen, daß ich nicht gehorchte. Ach, das war mein einziger Trost; ich hob meine Hände zum Himmel, ich stieß Schreie aus und wagte zu hoffen, daß sie von dem einzigen Wesen gehört wurden, das mein ganzes Elend sah. Man lauschte an meiner Tür, und eines Tages, als ich mich in der Niedergeschlagenheit meines Herzens an ihn wandte und ihn um Hilfe anrief, sagte man mir:

»Sie rufen Gott vergeblich an; für Sie gibt es keinen Gott mehr; sterben Sie in Verzweiflung und seien Sie verdammt.«

Andere fügten hinzu: »So geschehe es mit der Abtrünnigen! Amen!«

Nun will ich Ihnen noch etwas erzählen, was Ihnen noch viel seltsamer erscheinen wird als alles andere. Ich weiß nicht, ob es aus Bosheit geschah oder ob man sich wirklich diesem Glauben hingab: sie berieten miteinander, mir den Teufel austreiben zu lassen, obwohl ich nichts tat, was auf Geistesgestörtheit hätte schließen lassen, geschweige denn auf eine vom Teufel besessene Seele; sie kamen mit Stimmenmehrheit zu dem Schluß: ich hätte meiner Weihe und meiner Taufe entsagt, der böse Geist wohne in mir und halte mich von den Gottesdiensten fern; eine andere fügte hinzu, daß ich bei gewissen Gebeten mit den Zähnen knirsche und in der Kirche von einem Zittern befallen werde; bei der Erhebung des heiligen Sakraments ränge ich die Hände. Eine andere warf mir vor, ich träte das Christusbild mit Füßen und trüge meinen Rosenkranz nicht mehr (den man mir gestohlen hatte), und erginge mich in Gotteslästerungen, die ich Ihnen nicht zu wiederholen wage. Alle waren der Meinung, in mir müsse etwas Unnatürliches vorgehen und der Großvikar müsse benachrichtigt werden; und das geschah.

Dieser Großvikar war ein Herr Hébert, ein älterer, erfahrener Mann, streng, aber gerecht und aufgeklärt. Man berichtete ihm über die Unordnung im Kloster, die allerdings groß genug war, aber wenn ich die Ursache sein sollte, so war ich eine sehr unschuldige Ursache. Sie werden sich denken können, daß man in der Schrift, die man ihm übersandte, meine nächtlichen Wanderungen, mein Fehlen im Chor, den nächtlichen Lärm in meiner Zelle, alles, was die einen gesehen und die andern gehört hatten, meine Abneigung gegen heilige Dinge, meine Lästerungen, die obszönen Handlungen, die man mir andichtete, nicht unerwähnt ließ; besonders das Erlebnis mit der jungen Nonne wurde tüchtig ausgebeutet. Die Anklagen waren so groß und so mannigfaltig, daß Hébert bei all seinem gesunden Menschenverstand nicht umhin konnte, zum Teil daran zu glauben und vieles für wahr zu halten. Die Sache erschien ihm wichtig genug, um sich selbst darüber zu informieren. Er ließ seinen Besuch ansagen und kam wirklich, begleitet von zwei jungen Nonnen, die man ihm beigegeben hatte und die ihn in seinen mühevollen Amtshandlungen unterstützten.

Einige Tage vorher hörte ich nachts jemanden leise mein Zimmer betreten. Ich sagte nichts, sondern wartete, bis man mich anredete, und nun wurde ich mit leiser und zitternder Stimme angerufen:

»Schwester Sainte-Susanne, schläfst du?«

»Nein, ich schlafe nicht. Wer ist da?«

»Ich bin es.«

»Wer? Du?«

»Deine Freundin; ich sterbe vor Angst und ich setze mich der Gefahr aus, mich unglücklich zu machen, um dir einen vielleicht unnützen Rat zu geben. Höre zu: Morgen oder später kommt der Großvikar; du bist angeklagt; bereite dich auf deine Verteidigung vor. Leb wohl; habe Mut; Gott sei mit dir!«

Mit diesen Worten entfernte sie sich leicht wie ein Schatten.

Sie sehen, es gibt überall, selbst in den Klöstern, mitleidige Seelen, die nie verhärten.

 

Unterdes ward mein Prozeß mit Wärme betrieben: mancherlei Personen aller Stände, jedes Geschlechts, aller Lebenslagen, die ich nicht kannte, interessierten sich für mein Schicksal und verwandten sich für mich. Sie gehörten auch zu der Zahl dieser Personen, und vielleicht ist Ihnen die Geschichte meines Prozesses besser bekannt als mir; denn schließlich durfte ich mit Herrn Manouri nicht mehr konferieren. Man sagte ihm, ich sei krank; er ahnte, daß man ihn täuschte und war in banger Sorge, man könne mich in das Verlies geworfen haben. Er wandte sich an den Erzbischof, wo man ihn nicht anzuhören geruhte; hier hatte man ausgestreut, ich sei verrückt geworden oder vielleicht noch etwas Schlimmeres. Er wandte sich an die Richter; er bestand auf der Ausführung des Befehls, welcher der Äbtissin zugestellt war: mich, lebendig oder tot, vor Gericht erscheinen zu lassen, wenn sie dazu aufgefordert wurde. Die weltlichen Richter schoben den geistlichen die Entscheidung darüber zu; diese fühlten, welche Folgen dieser Fall haben könne, wenn man ihnen nicht zuvorkäme; und dies beschleunigte anscheinend den Besuch des Großvikars, denn diese Herren haben das ewige Klostergezänk satt und mischen sich gewöhnlich nicht hinein; sie wissen aus Erfahrung, daß ihre Autorität stets umgangen und verwischt wird.

Ich machte mir den Rat meiner Freundin zunutze, um Gottes Beistand anzuflehen, meine Seele zu beruhigen und meine Verteidigung vorzubereiten. Ich erflehte von dem Himmel nur das eine Glück, unparteiisch befragt und angehört zu werden; dies Glück wurde mir zuteil, aber Sie werden erfahren, um welchen Preis. Wenn es in meinem Interesse lag, meinem Richter unschuldig und klug zu erscheinen, so lag meiner Äbtissin nicht weniger daran, daß er mich boshaft, vom Teufel besessen, schuldig und wahnsinnig sehen sollte. Während ich also die Inbrunst meiner Gebete verdoppelte, verdoppelte man die Bosheiten: man gab mir nur soviel Nahrung, wie eben hinreichte, um mich vor dem Hungertode zu bewahren; man kasteite mich, man umgab mich mit immer neuen Schrecken und raubte mir völlig jede Nachtruhe; alles, was der Gesundheit schaden und den Geist verwirren kann, setzte man ins Werk; es war ein Raffinement der Grausamkeit, von dem Sie sich keinen Begriff machen. Ich will Ihnen nur eine kleine Probe geben:

Eines Tages, als ich meine Zelle verließ, um mich in die Kirche oder anderswohin zu begeben, sah ich eine Feuerzange mitten auf dem Gang liegen. Ich bückte mich, um sie aufzuheben und sie so hinzulegen, daß die Verliererin sie leicht wiederfinden konnte: die Beleuchtung verhinderte mich, zu sehen, daß sie fast rot war; ich faßte sie an, aber als ich sie fallen ließ, haftete alle Haut meiner versengten Handfläche an ihr. Man legte abends an Stellen, die ich passieren mußte, Hindernisse, bald vor meine Füße, bald in Höhe meines Kopfes; hundertmal verletzte ich mich, ich begreife nicht, daß ich nicht gestorben bin. Ich hatte kein Licht und war gezwungen, mit ausgestreckten Händen zitternd dahinzugehen. Man streute Glasscherben unter meine Füße. Ich war fest entschlossen, das alles zu sagen, und ich habe auch beinahe Wort gehalten. Ich fand die Tür der Abtritte verschlossen und mußte mehrere Treppen hinuntersteigen und hinten in den Garten laufen, wenn die Tür offen war; wenn sie nicht offen war … Oh, Herr, was für böse Geschöpfe sind doch diese eingeschlossenen Weiber, die dem Haß ihrer Äbtissin frönen und ein Gott wohlgefälliges Werk zu tun glauben, wenn sie eine andere zur Verzweiflung treiben. Es war Zeit, daß der Erzbischof kam, es war Zeit, daß mein Prozeß zu Ende ging.

 

Nun kommt der schrecklichste Augenblick meines Lebens: denn bedenken Sie wohl, mein Herr; ich wußte nicht, in welchen Farben man mich den Augen dieses Geistlichen geschildert hatte und daß ihn die Neugier hertrieb, ein junges Mädchen zu sehen, das vom Teufel besessen war oder sich so stellte. Man glaubte, nur ein starker Schreck könne bewirken, daß ich mich ihm in diesem Zustand zeigte, und man tat alles, mir ihn einzuflößen.

Am Tage seines Besuchs trat die Äbtissin schon zu früher Stunde in meine Zelle; sie war von drei Schwestern begleitet; die eine trug meinen Betschemel, die andere ein Kruzifix, die dritte Stricke. Die Äbtissin sagte mit lauter und drohender Stimme:

»Steh auf … Wirf dich auf die Knie und befiehl deine Seele Gott.«

»Frau Äbtissin,« sagte ich zu ihr, »dürfte ich, bevor ich Ihnen gehorche, Sie fragen, was aus mir werden soll, was Sie über mich beschlossen haben, und was ich von Gott erbitten soll.«

Kalter Schweiß bedeckte meinen ganzen Körper, ich zitterte und meine Knie wankten mir; ich sah die drei schlimmen Begleiterinnen an; sie standen alle in einer Reihe, mit finsteren Gesichtern, zusammengepreßten Lippen und geschlossenen Augen. Mein Entsetzen hatte mich jedes Wort meiner Frage einzeln hervorstoßen lassen. Ich glaubte, da man schwieg, man habe mich nicht gehört, und ich wiederholte die letzten Worte dieser Frage, denn ich hatte nicht die Kraft, sie ganz zu wiederholen; ich sagte also mit leiser, erlöschender Stimme:

»Welche Gnade soll ich von Gott erbitten?«

Man antwortete mir:

»Bitte ihn um Vergebung für alle Sünden, die du in deinem ganzen Leben getan hast; sprich mit ihm, als solltest du im nächsten Augenblick vor ihm stehen.«

Als sie diese Worte sagte, glaubte ich, sie hätten Rat gehalten und beschlossen, sich meiner zu entledigen. Ich hatte wohl gehört, es solle bisweilen in bestimmten Klöstern vorkommen, daß sie zu Gericht saßen, verurteilten und hinrichteten, doch ich hatte nicht geglaubt, daß man in einem Nonnenkloster jemals eine so unmenschliche Gerichtsbarkeit angewandt hatte; es gab ja aber so viele Dinge, die ich mir nicht hatte träumen lassen und die dennoch geschahen! Bei dem Gedanken an meinen nahen Tod wollte ich schreien; aber mein Mund öffnete sich nur, ohne daß ich einen Ton herausgebracht hätte; ich schritt auf die Äbtissin zu, die Arme flehend ausgestreckt, während mein Leib von einem Schwächegefühl nach hinten gezogen wurde; ich fiel, aber mein Fall war nicht schlimm. In den Augenblicken des Außersichseins, wenn die Kraft uns verläßt, schwächen sich sozusagen alle Glieder, sinken eins in das andere hinein, und die Natur sucht, da sie sich nicht halten kann, weich zu fallen. Ich verlor Bewußtsein und Gefühl; ich hörte nur undeutliche und ferne Stimmen um mich summen; ob sie nun gesprochen haben oder ob mir die Ohren klangen, – ich hörte jedenfalls nichts als dies Klingen, das gar nicht aufhören wollte. Ich weiß nicht, wie lange ich in diesem Zustand blieb, aber ich wurde geweckt durch eine plötzliche Kälte, daß ich leicht zusammenschauerte und tief aufseufzte. Ich war ganz durchnäßt, das Wasser rann aus meinen Kleidern auf die Erde; man hatte ein großes Weihwasserbecken über mich ausgegossen. Ich lag auf der Seite in diesem Wasser, den Kopf gegen die Wand gelehnt, den Mund halb geöffnet und die Augen erloschen und geschlossen; ich versuchte sie zu öffnen und umherzublicken; aber mir war, als umgebe mich ein dichter Nebel, in dem ich nur wallende Gewänder sah, an die ich mich anzuklammern versuchte, ohne dazu imstande zu sein. Ich machte vergebliche Anstrengungen mit dem Arm, auf den ich mich nicht stützte; ich wollte ihn heben, aber er war mir zu schwer; allmählich ließ meine Schwäche nach; ich richtete mich etwas auf, ich lehnte mich mit dem Rücken gegen die Wand; beide Hände lagen im Wasser, den Kopf hatte ich auf die Brust gesenkt, und ich stieß unartikulierte, abgerissene und jammervolle Klagelaute aus. Die Frauen sahen mich mit einer Miene an, in der ihre Unerbittlichkeit geschrieben stand und die mir den Mut nahm, sie um Gnade anzuflehen. Die Äbtissin sagte: »Aufstehen.«

Man nahm mich bei den Armen und hob mich auf. Dann fügte sie hinzu:

»Wenn sie sich Gott nicht anbefehlen will, ist es um so schlimmer für sie. Sie wissen, was Sie zu tun haben; gehen Sie ans Werk.«

Ich glaubte, die mitgebrachten Stricke seien dazu bestimmt, mich zu erdrosseln; ich betrachtete sie, und meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich bat, mir das Kruzifix zu reichen, um es zu küssen, aber man verweigerte es mir. Ich neigte mich nieder, ergriff die Schärpe der Äbtissin, küßte sie und sagte:

»Mein Gott, habe Erbarmen mit mir! Mein Gott, habe Erbarmen mit mir! Liebe Schwestern, versucht, mir nicht weh zu tun.«

Und ich hielt meinen Hals hin.

Ich kann Ihnen nicht sagen, was nun mit mir wurde: sicher ist nur, daß alle, die man zum Richtplatz führt – und ich sah meinen Tod vor Augen, – tot sind, bevor das Urteil vollstreckt ist. Ich fand mich auf dem Strohsack, der mir als Bett diente, die Hände auf dem Rücken gebunden, sitzend, mit einem großen eisernen Christus auf den Knien …

Herr Marquis, ich sehe, indem ich dieses schreibe, wie weh ich Ihnen tue; aber Sie wollten wissen, ob ich das Mitleid verdiente, das ich von Ihnen erhoffe …

In diesem Augenblick empfand ich den Vorzug der christlichen Religion vor allen Religionen der Welt; welche Tiefe liegt in dem, was die blinde Philosophie die Torheit des Kreuzes nennt. Was hätte mir in dem Zustande, in dem ich mich befand, das Bild eines glücklichen, mit Ruhm überhäuften Gesetzgebers genützt? Ich sah den Unschuldigen mit durchstochener Seite, das Haupt mit Dornen gekrönt, die Hände und Füße von Nägeln durchbohrt, unter Leiden den Geist aufgebend, und ich sagte mir: »Das ist mein Gott, und ich wage zu klagen!« … An diesen Gedanken klammerte ich mich, und ich fühlte Trost in mein Herz einkehren; ich erkannte die Eitelkeit des Lebens und schätzte mich glücklich, es zu verlieren, bevor ich Zeit gehabt hatte, meine Sünden zu vermehren. Aber ich zählte meine Jahre und bedachte, daß ich kaum zwanzig Jahre alt war, und seufzte; ich war zu geschwächt, zu niedergeschlagen, als daß mein Geist sich hätte über die Schrecken des Todes erheben können; wäre ich bei voller Gesundheit gewesen, hätte ich ihm, glaube ich, mit mehr Mut entgegengesehen.

Aber die Äbtissin und ihre Scherginnen kamen zurück; sie fanden mich bei größerer Geistesgegenwart, als sie erwartet und gewünscht hatten. Sie rissen mich empor, man befestigte meinen Schleier vor dem Gesicht, zwei nahmen mich unter die Arme, eine dritte stieß mich von hinten, und die Äbtissin befahl mir, zu gehen. Ich ging, ohne zu wissen, wohin ich ging, glaubte aber, zum Tode zu schreiten, und sagte: »Mein Gott, habe Mitleid mit mir! Mein Gott, stütze mich! Mein Gott, verlaß mich nicht! Mein Gott, vergib mir, wenn ich dich beleidigt habe.«

Ich langte in der Kirche an. Der Großvikar hatte hier die Messe gelesen. Die Schwesternschaft war versammelt. Ich vergaß, Ihnen zu sagen, daß, als ich an der Tür stand, die drei Nonnen, die mich führten, mich zerrten und stießen und sich um mich bemühten, während die eine mich an den Armen zog, während die andern mich festhielten, als hätte ich Widerstand geleistet und müsse gewaltsam in die Kirche geschafft werden; aber das war nicht der Fall gewesen. Man führte mich vor den Altar, und ich hatte Mühe, auf den Füßen zu stehen; man riß mich auf die Knie, als hätte ich mich geweigert, niederzuknien; man hielt mich fest, als hätte ich die Absicht, zu fliehen. Man sang das Veni, Creator; das heilige Sakrament wurde bereitgestellt, man erteilte mir den Segen. In dem Augenblick, da der Segen erteilt wurde und man sich ehrfürchtig zu neigen hat, zogen die, welche mich am Arm gepackt hielten, mich gewaltsam vornüber, die andern aber legten mir die Hände auf die Schultern. Ich fühlte diese verschiedenen Bewegungen, aber es war mir unmöglich, ihren Zweck zu erraten; endlich klärte sich alles auf.

Nach dem Segen legte der Großvikar sein Meßgewand ab und bekleidete sich nur mit seinem Chorhemd und seiner Stola; so näherte er sich den Stufen des Altars, vor dem ich auf den Knien lag. Er ging zwischen den beiden Nonnen, den Rücken dem Altar zugekehrt, auf dem das Heilige Sakrament stand, und das Gesicht mir zugewendet. Er trat auf mich zu und sagte:

»Schwester Susanne, steh auf.«

Die Schwestern, die mich hielten, rissen mich empor; andere drängten sich um mich und umklammerten meinen Körper, als hätten sie Angst, ich könne davonlaufen. Dann fügte er hinzu:

»Bindet sie los!«

Man gehorchte ihm nicht; man stellte sich, als sei es unpassend oder gar gefährlich, mich freizulassen; aber ich erwähnte schon, daß dieser Mann streng war; er sagte mit fester und barscher Stimme noch einmal:

»Bindet sie los!«

Man gehorchte.

Kaum hatte ich die Hände frei, als ich einen schmerzlichen und gellenden Klageschrei ausstieß, der ihn erbleichen ließ, und die heuchlerischen Nonnen, die mich umgaben, wichen wie erschrocken zurück.

Er faßte sich; die Schwestern traten wie zitternd wieder heran; ich verharrte unbeweglich, und er sagte zu mir:

»Was hast du?«

Ich antwortete ihm nur, indem ich ihm meine beiden Arme zeigte; die Stricke, mit denen man mich gefesselt hatte, hatten mir tief in das Fleisch geschnitten; die Arme waren ganz violett vom Blut, das sich gestaut hatte; er begriff, daß mein Klageruf auf den Schmerz zurückzuführen war, den ich empfand, als das Blut plötzlich seinen Umlauf fortsetzte. Er sagte: »Nehmt ihr den Schleier ab.«

Man hatte ihn an verschiedenen Stellen zusammengenäht, ohne daß ich es bemerkt hatte, und sie rissen und zerrten heftig daran, was, wenn sie diesen Kniff nicht gebraucht hätten, nicht nötig gewesen wäre; dieser Geistliche sollte mich durchaus besessen, oder wahnsinnig sehen; aber bei dem Zerren zerriß der Faden an einigen Stellen, der Schleier und mein Gewand zerrissen auch stellenweise, und man sah mich.

Ich habe ein interessantes Gesicht; der tiefe Schmerz hatte es verändert, aber ihm von seinem Charakter nichts genommen; meine Stimme hat einen rührenden Klang; man fühlt, daß meine Worte wahr sind. Alle diese Eigenschaften machten einen starken Eindruck auf die jungen Gehilfinnen des Archidiakonus; er seinerseits war solcher Gefühle bar; gerecht, aber wenig empfindsam, gehörte er zu den Menschen, die unglücklicherweise dazu geboren sind, die Tugend auszuüben, ohne ihre Reize zu empfinden; sie tun das Gute aus einem Geist der Ordnung, gleichsam als eine Handlung des Verstandes. Er nahm den Mantel seines Chorrocks, legte ihn mir auf den Kopf und sagte: »Schwester Susanne, glaubst du an Gott den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist?«

Ich antwortete:

»Ich glaube daran.«

»Glaubst du an unsere heilige Mutter Kirche?«

»Ich glaube daran.«

»Entsagst du dem Satan und seinen Werken?«

Statt zu antworten, bog ich mich plötzlich nach vorn und stieß einen lauten Schrei aus, und der Ärmel seines Gewandes glitt von meinem Kopf herunter. Er war betroffen, seine Begleiterinnen erblaßten; von den Schwestern flohen einige, andere, die in ihren Kirchenstühlen waren, verließen sie in größter Verwirrung. Er machte ein Zeichen, man solle sich beruhigen; unterdes sah er mich an und machte sich auf etwas Außergewöhnliches gefaßt. Ich beruhigte ihn und sagte:

»Hochwürden, es ist nichts. Eine von den Nonnen hat mich mit einem spitzen Gegenstand gestochen,« und indem ich die Augen und die Hände zum Himmel erhob, fügte ich hinzu, einen Strom von Tränen vergießend: »Man hat mir in dem Augenblick eine Verletzung zugefügt, als Sie mich fragten, ob ich Satan und seinen Werken entsagen wolle, und ich weiß wohl, warum …«

Alle behaupteten durch den Mund der Äbtissin, mich nicht angerührt zu haben.

Der Archidiakonus legte mir wieder den Ärmel seines Gewandes auf den Kopf; die Nonnen wollten sich mir nähern, er aber gebot ihnen durch ein Zeichen, sich zu entfernen, und fragte mich nochmals, ob ich Satan und seinen Werken entsagen wolle, und ich erwiderte fest:

»Ich entsage ihm, ich entsage ihm.«

Er ließ sich ein Kruzifix geben und reichte es mir zum Kusse; ich küßte ihm die Füße, die Hände und die Wunde in der Seite.

Er befahl mir, es laut anzubeten; ich stellte es auf die Erde und kniete lange davor nieder:

»Mein Gott, mein Heiland, der du am Kreuz für meine Sünden und für die Sünden der Menschheit gestorben bist, ich bete dich an, laß mir das Verdienst der Qualen, die du ausgestanden hast, zugute kommen; laß einen Tropfen des Blutes, das du vergossen hast, auf mich kommen, auf daß ich gereinigt werde. Vergib mir, mein Gott, wie ich allen meinen Feinden vergebe …«

Da sagte er:

»Sprich ein Glaubensbekenntnis …« Und ich tat es.

»Sprich ein Liebesbekenntnis …« Und ich tat es.

»Sprich einen Spruch der Hoffnung …« Und ich tat es.

»Sprich ein Wort von der christlichen Liebe …« Und ich tat es.

Ich erinnere mich nicht mehr, in welchen Ausdrücken sie abgefaßt waren; aber ich glaube, sie waren sehr pathetisch, denn einige Nonnen schluchzten, die beiden jungen Assistentinnen vergossen Tränen, und der erstaunte Archidiakonus fragte mich, wo ich die Gebete hergenommen habe, die ich hergesagt.

Ich antwortete ihm:

»Aus der Tiefe meines Herzens; es sind meine Gedanken und meine Gefühle; dafür rufe ich Gott zum Zeugen an, der uns überall hört und auch hier an diesem Altar gegenwärtig ist. Ich bin Christin, ich bin unschuldig; wenn ich irgendwelche Fehler begangen habe, kennt Gott allein sie; und nur er hat das Recht, mich dafür zur Rechenschaft zu ziehen und mich zu strafen …«

Bei diesen Worten warf er einen Zornesblick auf die Äbtissin.

Der Schluß dieser Zeremonie, bei welcher der Majestät Gottes Hohn gesprochen, die heiligsten Dinge entweiht und der Diener der Kirche zum Narren gehalten worden war, kam. Die Nonnen zogen sich zurück, außer mir, der Äbtissin und den beiden jungen Assistentinnen. Der Archidiakonus setzte sich, zog die Schrift aus der Tasche, die man ihm wider mich zugestellt hatte, las sie mit lauter Stimme und fragte mich bei den einzelnen Punkten, die sie enthielt.

»Warum beichten Sie nicht?« fragte er.

»Weil man mich daran hindert.«

»Warum nahen Sie sich nicht den heiligen Sakramenten?«

»Weil man mich daran hindert.«

»Warum wohnen Sie der Messe und dem Gottesdienst nicht bei?«

»Weil man mich daran hindert.«

Die Äbtissin wollte das Wort ergreifen, er aber sagte in seinem strengen Ton:

»Frau Äbtissin, schweigen Sie … Warum verlassen Sie nachts Ihre Zelle?«

»Weil man mich des Wassers, des Wasserkrugs und aller Gefäße beraubt hat, die für die Bedürfnisse der Natur nötig sind.«

»Warum hört man nachts in Ihrer Zelle und in dem Gang vor Ihrem Zimmer Lärm?«

»Weil man sich damit befaßt, mir die Ruhe zu rauben.«

Wieder wollte die Äbtissin sprechen, aber er sagte zum zweitenmal:

»Frau Äbtissin, ich habe Sie schon einmal gebeten, zu schweigen; Sie werden antworten, wenn ich Sie frage … Was ist das für eine Nonne, die man Ihren Händen entrissen und im Gang auf dem Boden liegend gefunden hat?«

»Das war eine Folge des Schreckens, den man den Nonnen vor mir eingeflößt hatte.«

»Ist sie Ihre Freundin?«

»Nein, Hochwürden.«

»Haben Sie nie ihre Zelle betreten?«

»Niemals.«

»Haben Sie niemals irgendeine unzüchtige Handlung weder mit ihr, noch mit andern begangen?«

»Niemals.«

»Warum hat man Sie gebunden?«

»Das weiß ich nicht.«

»Warum läßt sich Ihre Zelle nicht verschließen?«

»Weil ich das Schloß zerbrochen habe.«

»Warum haben Sie es zerbrochen?«

»Um die Tür öffnen und am Himmelfahrtstage dem Gottesdienst beiwohnen zu können.«

»Sie sind also an diesem Tage in der Kirche gewesen?«

»Jawohl, Hochwürden.«

Die Äbtissin sagte:

»Hochwürden, das ist nicht wahr; die ganze Schwesternschaft …«

Ich unterbrach sie:

»Kann bezeugen, daß die Tür des Chors verschlossen war; daß Sie mich vor der Tür auf dem Boden liegend gefunden und den Schwestern befohlen haben, über mich wegzugehen, was einige auch getan haben; aber ich verzeihe ihnen, und auch Ihnen, Frau Äbtissin, daß Sie diesen Befehl gaben; ich bin nicht hergekommen, um jemanden anzuklagen, sondern um mich zu verteidigen.«

»Warum haben Sie keinen Rosenkranz und kein Kruzifix?«

»Man hat mir beides genommen.«

»Wo ist Ihr Brevier?«

»Man hat es mir genommen.«

»Wie beten Sie denn?«

»Ich spreche mein Gebet, wie es mein Herz und mein Kopf mir eingibt, obwohl man mir verboten hat, zu beten.«

»Wer hat dieses Verbot erlassen?«

»Die Frau Äbtissin …«

Wieder wollte die Äbtissin sprechen.

»Frau Äbtissin,« sagte er zu ihr, »ist es wahr oder erlogen, daß Sie ihr verboten haben, zu beten? Sagen Sie ja oder nein.

»Ich glaubte und ich hatte guten Grund, zu glauben …«

»Darum handelt es sich nicht; haben Sie ihr verboten, zu beten, ja oder nein.«

»Ich habe es ihr verboten, aber …«

Sie wollte fortfahren.

»Aber,« nahm der Archidiakonus das Wort, »aber … Schwester Susanne, warum sind Sie barfüßig?«

»Weil man mir keine Strümpfe und keine Schuhe gibt.«

»Warum ist Ihre Wäsche und Ihr Kleid in einem so verbrauchten und unsauberen Zustand?«

»Weil man mir seit mehr als drei Monaten die Wäsche vorenthalten hat und ich gezwungen bin, in meinen Kleidern zu schlafen.«

»Warum schlafen Sie in Ihren Kleidern?«

»Weil ich keine Bettvorhänge, keine Matratze, keine Decke, keine Bettücher, kein Nachtzeug habe.«

»Warum haben Sie das alles nicht?«

»Weil man es mir genommen hat.«

»Haben Sie genügend zu essen bekommen?«

»Ich habe darum gebeten.«

»Sie sind also nicht ausreichend ernährt worden?«

Ich schwieg, und er fügte hinzu:

»Es ist unglaublich, daß man Sie so streng behandelt hat, ohne daß Sie irgendeinen Fehler begangen haben, der diese Strafen verdient hätte.«

»Meine Sünde ist, daß ich nicht zur Nonne berufen bin und gegen die Gelübde Einspruch erhoben habe, die von mir nicht freiwillig abgelegt sind.«

»Über diese Angelegenheit müssen die Gerichte entscheiden. Wie aber ihr Urteilsspruch auch ausfällt, – Sie müssen inzwischen die Klosterpflichten erfüllen.«

»Niemand kann das pünktlicher tun als ich, Hochwürden.«

»Sie müssen das Schicksal aller Ihrer Gefährtinnen teilen.«

»Weiter verlange ich auch nichts.«

»Haben Sie über jemanden Klage zu führen?«

»Nein, Hochwürden. Ich sagte es Ihnen bereits; ich bin nicht hergekommen, um anzuklagen, sondern um mich zu verteidigen.«

»Gehen Sie.«

»Wohin soll ich gehen, Hochwürden?«

»In Ihre Zelle.«

Ich tat einige Schritte, dann kehrte ich wieder um und warf mich der Äbtissin und dem Archidiakonus zu Füßen.

»Nun,« sagte er, »was ist denn?«

Ich sagte, indem ich auf meinen an mehreren Stellen blutig geschlagenen Kopf, auf meine blutenden Füße, auf meine hageren und fahlen Hände, auf mein schmutziges und zerrissenes Kleid zeigte:

»Sie sehen es ja.«

 

Ich höre Sie, Herr Marquis, und die meisten, die diese Aufzeichnungen lesen, sagen: »So mannigfaltige, verschiedenartige und andauernde Untaten? Eine Reihe so ausgesuchter Grausamkeiten in frommen Seelen? Das ist nicht wahrscheinlich,« so werden sie sprechen, und das werden auch Sie sagen. Und ich gebe es zu, aber es ist wahr; der Himmel, den ich zum Zeugen anrufe, soll mich mit ganzer Strenge richten und mich zur ewigen Hölle verdammen, wenn Verleumdung auf eine meiner Zeilen auch nur einen leisen Schatten wirft. Obwohl ich lange empfunden habe, wie die Antipathie einer Äbtissin die natürliche Perversität heftig steigerte, besonders wenn man sich ein Verdienst aus seinen Verfehlungen machen und sich ihrer rühmen konnte, wird mein Groll mich doch nicht hindern, gerecht zu sein. Je mehr ich darüber nachdenke, um so fester wird meine Überzeugung, daß das, was ich erlebt habe, noch nie geschehen ist und auch nie wieder geschehen wird. Einmal (und gebe Gott, daß es das erste und das letzte Mal war, hat es der Vorsehung, deren Wege uns unbekannt sind, nach ihrem unerforschlichen Ratschluß gefallen, auf eine einzige Unglückliche das ganze Maß der Grausamkeit auszuschütten, auf sie allein unter der unendlichen Menge von Unglücklichen, die vor ihr in einem Kloster lebten und nach ihr darin leben werden. Ich habe gelitten, ich habe viel gelitten; aber das Schicksal meiner Verfolgerinnen erscheint mir noch beklagenswerter als das meine. Ich wäre lieber gestorben, als daß ich meine Rolle mit der ihren vertauscht hätte. Meine Qualen werden ein Ende haben, ich erhoffe es von Ihrer Güte; ihnen aber wird die Schande ihrer Verbrechen und die Gewissensbisse bis zur letzten Stunde bleiben. Sie klagen sich heute schon an, zweifeln Sie nicht daran, und sie werden sich ihr ganzes Leben lang anklagen, und mit Schrecken werden sie in die Grube fahren. Aber, Herr Marquis, meine gegenwärtige Lage ist bedauernswert, das Leben ist mir zur Last; ich bin eine Frau, ich bin schwach wie alle meine Geschlechtsgenossinnen. Gott kann mich verlassen; ich fühle weder die Kraft noch den Mut, noch länger zu ertragen, was ich ertragen habe. Herr Marquis, fürchten Sie, daß ein verhängnisvoller Augenblick für mich wiederkehren kann; wenn Sie Ihre Augen brauchen, um über mein Schicksal zu weinen, wenn Gewissensbisse Sie zerreißen, würde mich das doch nicht dem Abgrunde entreißen, in den ich gefallen wäre; er würde sich auf immer über einer Verzweifelten schließen.

 

»Gehen Sie,« sagte der Archidiakonus zu mir.

Eine seiner Gehilfinnen gab mir die Hand, um mich aufzuheben, und der Archidiakonus fügte hinzu:

»Ich habe Sie verhört, jetzt will ich Ihre Äbtissin verhören; und ich gehe nicht fort von hier, bis hier nicht wieder Ordnung geschaffen ist.«

Ich zog mich zurück. Ich fand das ganze Haus in Aufregung; alle Nonnen standen auf der Schwelle ihrer Zellen; sie unterhielten sich über den Gang hinüber; sobald ich erschien, zogen sie sich zurück, und es gab ein großes Türschlagen, weil eine Tür nach der andern heftig zugeworfen wurde. Ich kehrte in meine Zelle zurück; ich kniete an der Wand nieder und betete zu Gott, er möge mir die Mäßigung, mit der ich mich dem Archidiakonus gegenüber ausgedrückt hatte, zugute halten und ihn meine Unschuld und die Wahrheit erkennen lassen.

Ich betete, als plötzlich der Archidiakonus, seine beiden Gehilfinnen und die Äbtissin in meiner Zelle erschienen. Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich keine Tapeten, keinen Stuhl, keinen Betschemel, keine Vorhänge, keine Matratzen, keine Decken, keine Bettücher, kein Geschirr in meiner Zelle besaß, daß meine Tür nicht schloß, daß meine Fenster fast gar keine Scheiben hatten. Ich erhob mich; der Archidiakonus aber blieb unvermittelt stehen, sah die Äbtissin empört an und sagte:

»Nun, Frau Äbtissin?«

Sie erwiderte:

»Das wußte ich nicht.«

»Sie wußten es nicht? Sie lügen! Ist ein Tag vergangen, an dem Sie nicht hier gewesen sind, und kamen Sie nicht aus dieser Zelle, als Sie vor mich hintraten? … Schwester Susanne, sprechen Sie, ist die Frau Äbtissin heute nicht hier gewesen?«

Ich antwortete nicht; er beharrte nicht bei seiner Frage, aber die jungen Gehilfinnen ließen die Arme sinken, senkten den Kopf, hefteten die Augen starr auf den Boden und verrieten ihren Kummer und ihre Überraschung hinlänglich. Alle gingen hinaus, und auf dem Gang hörte ich den Archidiakonus zu der Äbtissin sagen:

»Sie sind Ihres Amtes nicht würdig; Sie verdienen, abgesetzt zu werden. Ich werde beim Herrn Erzbischof Klage führen. Lassen Sie diese ganze Unordnung beseitigen, bevor ich das Haus verlasse.«

Im Weitergehen schüttelte er den Kopf und fügte hinzu:

»Es ist furchtbar. Christinnen! Nonnen! Menschliche Geschöpfe! Es ist entsetzlich!«

Von diesem Augenblick an hörte ich nichts weiter von der Sache; aber ich bekam Wäsche, Kleider, Vorhänge, Bettücher, Decke, Geschirr, mein Brevier, meine Andachtsbücher, meinen Rosenkranz, mein Kruzifix, Scheiben in den Fenstern, mit einem Wort alles, was mich in meinen Stand wieder einreihte; die Freiheit, das Sprechzimmer aufzusuchen, wurde mir auch zurückgegeben, aber nur für meine Angelegenheiten.

Sie standen schlecht. Herr Manouri veröffentlichte eine erste Schrift, die wenig Aufsehen machte; sie war zu geistvoll, zu wenig pathetisch und aller Rechtsgründe bar. Doch das ist diesem geschickten Anwalt nicht zum Vorwurf zu machen. Ich hatte durchaus nicht gewollt, daß er den Ruf meiner Eltern angriffe, er sollte auch den Nonnenstand und vor allem das Kloster, in dem ich mich befand, schonen; ich wollte nicht, daß er meine Schwestern und Schwäger in zu abscheulichen Farben malte. Zu meinen Gunsten sprach nur, daß ich bereits einmal feierlich protestiert hatte, allerdings in einem andern Kloster und ohne spätere Wiederholung. Wenn man seiner Verteidigung so enge Schranken zieht und Gegner hat, die ihren Angriff gar nicht einschränken, die Recht und Unrecht mit Füßen treten, die mit der gleichen Unverschämtheit leugnen und behaupten, die weder vor Unterstellungen, noch vor Vermutungen, noch vor übler Nachrede, noch vor Verleumdung erröten, ist es schwierig, über sie den Sieg davonzutragen, besonders vor Gericht, wo die Gewohnheit und die Eintönigkeit der Sachen fast nicht erlauben, die wichtigen mit einiger Gewissenhaftigkeit zu prüfen, und wo Rechtsfälle wie der meinige immer mit schelem Auge betrachtet werden von dem Politiker, der befürchtet, daß, wenn eine Nonne, die gegen ihr Gelübde Einspruch erhebt, durchdringt, eine Unmenge anderer sich zu dem gleichen Schritt getrieben fühlen: man fühlt insgeheim, daß, wenn man es zuließe, daß die Pforten dieser Gefängnisse sich vor einer Unglücklichen öffneten, die Menge herzudrängen und die Tür stürmen werde. Man bemüht sich, uns zu entmutigen, damit wir uns alle mit unserm Schicksal abfinden, weil wir die Aussichtslosigkeit, es zu ändern, einsehen. Mir scheint jedoch, daß es in einem gut regierten Staat umgekehrt sein müßte: man müßte schwer ins Kloster hineinkommen, leicht aber wieder austreten können. Und warum handelt man in diesem Falle nicht wie in so vielen andern, wo der kleinste Formfehler einen Hergang null und nichtig macht, auch wenn er sonst richtig ist? Sind denn die Klöster für das Bestehen des Staates so wichtig? Hat Jesus Christus Mönche und Nonnen eingesetzt? Kann die Kirche sie durchaus nicht entbehren? Was soll der Bräutigam mit so vielen törichten Jungfrauen? Und die Menschheit mit so vielen Opfern? Wird man nie einsehen, wie notwendig es ist, die Öffnung dieser Abgründe, in denen die kommenden Geschlechter zugrunde gehen, zuzuschütten? Wiegen alle berufsmäßigem Gebete, die dort hergeleiert werden, wohl einen Heller auf, den christliches Mitleid dem Armen spendet? Heißt Gott, der den Menschen gesellig erschaffen hat, es gut, daß er sich einschließt? Kann Gott, der ihn so unbeständig, so gebrechlich geschaffen hat, seinen vorwitzigen Gelübden Beifall zollen? Können diese Gelübde, die gegen die allgemeinen Triebe der Natur verstoßen, von irgend jemandem beobachtet werden, es sei denn von mißbildeten Geschöpfen, in denen die Keime der Leidenschaften verwelkt sind und die man mit gutem Recht unter die Abnormitäten einreihen könnte, wenn unsere Bildung uns instand setzte, den inneren Aufbau des Menschen ebensogut zu kennen wie seine äußere Form? Heben alle diese feierlichen Zeremonien, die bei der Einsegnung beobachtet werden, wenn man einen Mann oder eine Frau dem Klosterleben und dem Unglück weiht, die tierischen Funktionen auf? Erwachen sie nicht vielmehr in der Stille, dem Zwang und dem Müßiggang mit einer Heftigkeit, die Menschen, die in der Welt leben und die von allerlei Zerstreuungen hingerissen werden, unbekannt ist? Wo sieht man so viele Köpfe, von unreinen Bildern umlagert, die sie verfolgen und erregen? Wo findet man diesen tiefen Überdruß, diese Blässe, diese Magerkeit, alle diese Symptome der Natur, die sich in Sehnsucht verzehrt? Wo sind die Nächte so von Schauern gestört, die Tage so von grundlos vergossenen Tränen erfüllt, die einer Melancholie entspringen, deren Ursache man nicht kennt? Wo durchbricht die Natur, empört über einen Widerstand, für den sie nicht geschaffen ist, so die ihr entgegenstehenden Hindernisse, wo wird sie so rasend, wo stürzt sie so die Leibesbeschaffenheit in eine rettungslose Unordnung? An welchem Orte haben Kummer und Mißstimmung so alle gesellschaftlichen Eigenschaften vernichtet? Wo gibt es keinen Vater, keinen Bruder, keine Schwester, keinen Verwandten, keinen Freund? An welchem Orte behandelt der Mensch, indem er sich nur für ein schnell vergehendes Wesen eines Augenblicks hält, die süßesten Verbindungen dieser Welt ohne jede Anhänglichkeit wie ein Reisender die Dinge, die er auf seinem Wege antrifft? Wo ist der Wohnsitz des Hasses, des Widerwillens und der Grillen? Wo sind Sklaverei und Despotismus zu Hause? Wo lebt ein Haß, der nie erlischt? Wo sind die in der Stille glimmenden Leidenschaften? »Man kennt die Geschichte dieser Klöster nicht,« sagte Herr Manouri in seinem Plädoyer, »man kennt sie wirklich nicht.« An einer anderen Stelle fügte er hinzu: »Das Gelübde der Armut abzulegen, heißt, sich durch Schwur verpflichten, ein fauler Tagedieb zu sein; das Gelübde der Keuschheit ablegen, heißt, Gott die ständige Übertretung des wichtigsten und weisesten seiner Gesetze geloben; das Gelübde des Gehorsams ablegen, heißt, auf das unveräußerliche Vorrecht des Menschen, die Freiheit, verzichten. Wenn man diese Gelübde innehält, ist man ein Verbrecher; wenn man sie nicht innehält, wird man meineidig. Das Klosterleben paßt nur für einen Fanatiker oder für einen Heuchler.«

Eine Tochter bat ihre Eltern um Erlaubnis, bei uns eintreten zu dürfen. Der Vater gab seine Zustimmung, stellte aber die Bedingung, daß sie drei Jahre Zeit zur Überlegung hätte. Diese Vorschrift erschien dem jungen, eifervollen Mädchen hart; aber sie mußte sich fügen. Da ihr Eifer nicht nachließ, ging sie zu ihrem Vater und sagte ihm, die drei Jahre seien verflossen. »Es ist gut, mein Kind,« sagte er zu ihr, »ich habe dir drei Jahre Zeit gegeben, um dich zu prüfen; ich hoffe, du wirst mir jetzt eine gleich lange Frist gewähren, damit auch ich meinen Entschluß fassen kann …« Das erschien ihr noch härter, und sie vergoß viele Tränen; aber der Vater war ein energischer Mann, der auf seinem Willen bestand. Nach sechs Jahren trat sie in das Kloster ein und legte ihr Gelübde ab. Sie wurde eine gute Nonne, fromm, kindlich, pflichttreu; aber die Beichtväter machten sich ihre Ehrlichkeit zunutze, um sich im Beichtstuhl über das zu unterrichten, was im Kloster vorging. Die Äbtissin schöpfte Argwohn, sie wurde eingeschlossen und von allen Andachten ferngehalten; sie wurde wahnsinnig darüber: und wie kann auch der Verstand den Verfolgungen von fünfzig Menschen standhalten, die vom Morgen bis zum Abend darauf sinnen, sie zu quälen. Vorher hatte man ihrer Mutter eine Falle gestellt, die genau zeigt, wie habgierig die Klöster sind. Man flößte der Mutter dieser Nonne den Wunsch ein, in das Kloster zu kommen und die Zelle ihrer Tochter zu besuchen. Sie wandte sich an das Großvikariat und erhielt die nachgesuchte Erlaubnis. Sie betrat das Kloster, sie eilte nach der Zelle ihres Kindes, aber wer beschreibt ihr Erstaunen, als sie nur die vier nackten Mauern darin sah. Man hatte alles weggenommen. Man ahnte wohl, daß diese zärtliche und empfindsame Mutter ihre Tochter nicht in diesem Zustande lassen würde; wirklich stattete sie sie neu aus, versah sie mit Kleidern und Wäsche, sagte aber den Nonnen, ihre Neugier komme ihr zu teuer zu stehen, um sie ein zweites Mal zu empfinden; drei oder vier solcher Besuche im Jahr würde für ihre Brüder und Schwestern den Ruin bedeuten … So opfern Ehrgeiz und Luxus einen Teil der Familien auf, um den Übrigbleibenden ein besseres Los zu bereiten; die Klöster sind die Kehrichthaufen, auf den man die Abfälle der Gesellschaft wirft. Wieviele Mütter sühnen gleich der meinen ein geheimes Verbrechen durch ein anderes.

Herr Manouri verfaßte eine zweite Schrift, die etwas mehr Wirkung hatte. Man verwandte sich mit Lebhaftigkeit für mich; ich bot noch einmal meinen Schwestern an, sie ruhig und ungestört in dem Besitz des elterlichen Erbes zu lassen. Es gab eine Zeit, zu der mein Prozeß eine höchst günstige Wendung nahm und ich die Freiheit erhoffte; ich wurde um so grausamer enttäuscht; meine Sache wurde öffentlich verhandelt und zu meinen Ungunsten entschieden. Die ganze Schwesternschaft war schon davon unterrichtet, als ich noch nichts wußte. Es war ein Gehen und Kommen, eine Aufregung, eine Freude, überall wurde heimlich geflüstert, alle liefen zur Äbtissin und die Nonnen besuchten sich in ihren Zellen. Ich zitterte am ganzen Leibe; ich konnte nicht in meiner Zelle bleiben und auch nicht hinausgehen, keine Freundin hatte ich, in deren Arme ich eilen konnte. O welch ein grausamer Tag ist es, an dem ein großer Prozeß entschieden wird. Ich wollte beten und konnte es nicht; ich fiel auf die Knie und versuchte mich zu sammeln, ich begann ein Gebet, aber bald war mein Geist wider meinen Willen schon wieder bei meinen Richtern: ich sah sie, ich hörte die Anwälte, ich wandte mich an sie, ich unterbrach den meinen, ich fand meine Sache schlecht verteidigt. Ich kannte keinen von den Richtern, machte mir aber doch alle möglichen Bilder von ihnen; die einen waren mir günstig gestimmt, andere ungünstig, wieder andere waren gleichgültig: ich war in einer Aufregung, einer Verwirrung, die sich nicht beschreiben läßt. Der Lärm im Hause machte tiefem Schweigen Platz; die Nonnen sprachen nicht mehr miteinander; mir war es, als klängen im Chor ihre Stimmen herrlicher als gewöhnlich, wenigstens insoweit sie sangen; manche sangen überhaupt nicht; nach dem Gottesdienst zogen sie sich schweigend zurück. Ich suchte mir einzureden, die Erwartung beunruhige sie ebenso sehr wie mich, aber am Nachmittag setzte der Lärm und die Bewegung überall von neuem ein; ich hörte Türen sich öffnen, zuschlagen, hörte Nonnen hin und her laufen, hörte leises Gemurmel. Ich legte das Ohr an mein Schlüsselloch, aber es war, als schwiegen alle, wenn sie an meiner Zelle vorbeigingen, und als schlichen sie auf den Zehenspitzen. Ich ahnte, daß ich meinen Prozeß verloren hatte, ich zweifelte keinen Augenblick daran. Ich begann in meiner Zelle umherzuwandern, ohne zu sprechen; ich erstickte, ich konnte mich nicht beklagen, ich hob die Arme, ich preßte die Stirn bald gegen die eine Wand, bald gegen eine andere; ich wollte mich auf meinem Bett ausruhen, aber das heftige Schlagen meines Herzens verhinderte mich daran: ich hörte mein Herz schlagen und sah, wie es mein Gewand mit seinem Pochen hob. In diesem Zustande war ich, als man mir meldete, daß man mich sprechen wolle. Ich stieg die Treppe hinab und wagte kaum vorwärts zu gehen. Die Nonne, die man mir zugeschickt hatte, war so heiter, daß ich annahm, die Nachricht, die man für mich hatte, könne nur sehr traurig sein: trotzdem ging ich hinunter. Als ich an die Tür des Sprechzimmers kam, blieb ich plötzlich stehen und lehnte mich in die Ecke; ich konnte mich nicht mehr halten; dann aber trat ich ein. Es war niemand darin; ich wartete. Man hatte den, der mich hatte rufen lassen, verhindert, vor mir zu erscheinen; man ahnte wohl, daß es ein Abgesandter meines Anwalts war; man wollte wissen, was zwischen uns vorging, und hatte sich versammelt, um alles zu hören. Als er erschien, saß ich, den Kopf auf die Arme gestützt, an die Stäbe des Gitters gelehnt.

»Ich komme von Herrn Manouri,« sagte er.

»Um mir zu sagen,« erwiderte ich, »daß ich meinen Prozeß verloren habe.«

»Davon weiß ich nichts, aber er hat mir diesen Brief gegeben; er sah sehr traurig aus, als er mir ihn einhändigte, und ich bin seinem Auftrag gemäß hierher geeilt.«

»Geben Sie her …«

Er hielt mir den Brief hin, und ich nahm ihn, ohne mich zu bewegen und ohne ihn anzusehen; ich legte ihn auf den Schoß und verharrte regungslos. Aber der Mann fragte mich: »Soll ich keine Antwort mitnehmen?«

»Nein,« sagte ich, »gehen Sie.«

Er ging, und ich blieb an meinem Platz, konnte mich nicht bewegen und vermochte mich auch nicht entschließen, hinauszugehen.

Es ist im Kloster nicht erlaubt, ohne Erlaubnis der Äbtissin Briefe zu schreiben oder zu empfangen: alle, die man empfängt und die man schreibt, werden ihr eingehändigt: ich mußte ihr also auch meinen Brief geben. Ich machte mich auf den Weg zu ihr; ich dachte, ich würde nie ans Ziel kommen; ein armer Sünder, der seine Zelle verläßt, um sein Todesurteil zu empfangen, geht nicht langsamer und nicht niedergeschlagener. Endlich stand ich vor ihrer Tür. Die Nonnen beobachteten mich von fern; sie wollten sich nichts von dem Schauspiel meines Schmerzes und meiner Demütigung entgehen lassen. Ich klopfte und man tat mir auf. Die Äbtissin war mit einigen andern Nonnen zusammen; ich sah es an dem Saum ihrer Gewänder, denn ich wagte nicht die Augen aufzuschlagen; ich gab ihr mit zitternder Hand meinen Brief; sie nahm ihn, las ihn und gab ihn mir zurück. Ich ging wieder in meine Zelle, warf mich auf mein Bett, meinen Brief neben mir, und blieb liegen, ohne ihn zu lesen, ohne zum Mittagessen aufzustehen, ohne irgendeine Bewegung zu machen, bis die Stunde des Nachmittagsgottesdienstes kam. Um dreieinhalb Uhr meldete mir die Glocke, daß ich hinuntergehen müsse. Einige Nonnen waren schon da; die Oberin stand in der Tür des Chors; sie vertrat mir den Weg und befahl mir, draußen niederzuknien; die anderen Nonnen kamen, und die Tür wurde verschlossen. Nach dem Gottesdienst gingen alle hinaus; ich ließ sie vorbeigehen und stand dann auf, um ihnen zu folgen. Ich begann mich von diesem Augenblick zu allem, was man nur wollte, zu verdammen: man untersagte mir das Betreten der Kirche, ich untersagte mir selbst das Refektorium und das Erholungszimmer. Ich betrachtete meine Lage von allen Seiten und sah keine andere Hilfe für mich als völlige Unterwerfung und Ausnutzung meiner Talente. Ich wäre zufrieden gewesen, wenn die Nichtbeachtung angedauert hätte, die man mir einige Tage lang zuteil werden ließ. Einige Besucher kamen, aber Herr Manouri war der einzige, den man mir zu empfangen gestattete. Ich fand ihn, als ich das Sprechzimmer betrat, genau in der gleichen Stellung, wie ich seinen Abgesandten empfangen hatte, den Kopf auf die Arme gelegt, die Arme gegen das Gitter gestützt. Ich erkannte ihn, sagte aber nichts. Er wagte mich nicht anzusehen und auch nicht zu sprechen.

»Liebes Fräulein,« sagte er zu mir, ohne seine Stellung zu verändern, »ich habe Ihnen geschrieben; haben Sie meinen Brief gelesen?«

»Ich habe ihn bekommen, aber gelesen habe ich ihn nicht.«

»Sie wissen also nicht …«

»Nein, mein Herr, ich weiß nichts, ich habe mein Schicksal erraten und füge mich.«

»Wie behandelt man Sie?«

»Man denkt noch nicht an mich; aber die Vergangenheit lehrt mich, was die Zukunft mir bringen wird. Ich habe nur einen Trost, nämlich den, daß ich, da ich der Hoffnung beraubt bin, die mich aufrecht erhielt, unmöglich soviel leiden kann, wie ich schon gelitten habe; ich werde sterben. Die Schuld, die ich begangen habe, gehört nicht zu denen, die in einem Kloster verziehen werden können. Ich bete nicht zu Gott, die Herzen derer zu erweichen, auf deren Gnade ich angewiesen bin, sondern mir Kraft zu verleihen, um leiden zu können, mich vor der Verzweiflung zu bewahren und mich bald zu sich zu rufen.«

»Liebes Fräulein,« sagte er weinend, »wenn Sie meine eigene Schwester gewesen wären, hätte ich nichts anderes für Sie tun können …«

Dieser Mann hat ein weiches Herz.

»Liebes Fräulein,« fügte er hinzu, »wenn ich Ihnen irgendwie nützlich sein kann, so verfügen Sie über mich. Ich werde den ersten Präsidenten aufsuchen, ich bin gut bei ihm angeschrieben; ich werde zum Großvikar und zum Erzbischof gehen.«

»Herr Manouri, gehen Sie zu niemandem, es ist alles aus.«

»Aber man könnte doch wohl erreichen, daß Sie in ein anderes Kloster kommen?«

»Dem stehen zuviele Hindernisse im Wege.«

»Welcher Art sind diese Hindernisse?«

»Die Erlaubnis ist schwer zu erlangen, man muß eine neue Ausstattung haben oder die alte von diesem Kloster zurückfordern; und was würde ich in einem andern Kloster finden? Mein unbeugsames Herz, unbarmherzige Äbtissinnen, Nonnen, die nicht besser sind als die in diesem Kloster, die gleichen Pflichten, die gleichen Qualen. Es ist besser, ich vollende meine Tage hier; hier werden sie kürzer sein.«

»Aber liebes Fräulein, Sie haben das Interesse so vieler Menschen erregt; die meisten sind reich; man wird Sie hier nicht festhalten, wenn Sie fortgehen, ohne irgend etwas mitzunehmen.

»Das glaube ich Ihnen.«

»Eine Nonne, die fortgeht oder stirbt, vermehrt den Wohlstand derer, die im Kloster bleiben.«

»Aber diese reichen und guten Menschen denken nicht mehr an mich, und Sie werden sie sehr kühl finden, wenn es sich darum handelt, mich auf ihre Kosten auszustatten. Wie können Sie annehmen, daß die Menschen, die in der Welt leben, mehr tun, um eine Nonne, die sich für ihren Stand nicht berufen fühlt, aus dem Kloster zu befreien, als fromme Personen tun würden, um ein Mädchen, das Nonne werden möchte, in einem Kloster unterzubringen. Stattet man ein solches Mädchen sehr freigebig aus? Sie müssen wissen, Herr Manouri, daß, seit ich meinen Prozeß verloren habe, sich alle Leute von mir zurückgezogen haben; ich sehe niemanden mehr.«

»Liebes Fräulein, betrauen Sie mich nur mit dieser Mission; Sie machen mich glücklich dadurch.«

»Ich verlange nichts, ich hoffe nichts, ich leiste keinen Widerstand, die einzige Kraft, die mir geblieben war, ist zerbrochen. Wenn ich mich nur der Hoffnung hingeben könnte, daß Gott mich bekehren wird, daß die Eigenschaften des Nonnenstandes in meiner Seele an die Stelle der verlorenen Hoffnung treten, dieses Gewand ablegen zu dürfen … Aber das ist nicht möglich; dies Kleid klebt an meiner Haut, an meinen Knochen, und ist mir doch so hinderlich. O welch ein Schicksal ist mir geworden! auf ewig Nonne zu sein und zu fühlen, daß man doch immer nur eine schlechte Nonne sein wird. Sein ganzes Leben damit verbringen zu müssen, mit dem Kopf gegen die Eisenstäbe seines Kerkers zu rennen.«

Bei diesen Worten begann ich laut zu schreien; ich wollte das Geschrei unterdrücken, aber ich konnte es nicht. Herr Manouri, der von meiner Erregung überrascht war, sagte:

»Mein Fräulein, darf ich eine Frage an Sie stellen?«

»Bitte.«

»Hat ein so heftiger Schmerz nicht irgendeine geheime Ursache?«

»Nein, Herr Manouri. Aber ich hasse das abgeschiedene Leben, ich fühle, daß ich es hasse und immer hassen werde. Ich kann mich nicht in all die Bagatellen schicken, die den Tag einer Nonne ausfüllen; es sind lauter Kindereien, die ich verachte; ich hätte mich schon daran gewöhnt, wenn ich mich daran gewöhnen könnte, ich habe hundertmal versucht, mir Zwang anzutun, mich abzuhärten; ich kann es nicht. Ich habe meine Gefährtinnen um ihre glückselige Dummheit beneidet und habe zu Gott gebetet, mir eine gleiche Geistesverfassung zu spenden; das ist nicht geschehen, und er wird sie mir nicht zuteil werden lassen. Ich mache alles falsch, alles verkehrt; der Mangel an Berufensein spricht aus jeder meiner Handlungen; man sieht es deutlich; ich verstoße in jedem Augenblick gegen das klösterliche Leben; man nennt meine Unfähigkeit Stolz, man legt es darauf an, mich zu demütigen; die Vergehen und die Strafen mehren sich bis ins Unendliche, und meine Tage verbringe ich damit, die Höhe der Mauern zu messen, die mich umgeben.«

»Liebes Fräulein, ich kann die Mauern nicht beseitigen, aber ich kann etwas anderes.«

»Herr Manouri, versuchen Sie nichts.«

»Sie müssen das Kloster wechseln, das soll meine Aufgabe sein. Ich komme wieder zu Ihnen, ich hoffe, man wird Sie nicht ganz abschließen; jedenfalls werden Sie bald Nachricht von mir bekommen. Seien Sie überzeugt, daß, wenn Sie damit einverstanden sind, es mir gelingen wird, Sie von hier fortzubringen. Wenn man zu strenge mit Ihnen verfährt, lassen Sie mich es wissen.«

Es war schon spät, als Herr Manouri sich entfernte. Bald darauf läutete es zum Abendgottesdienst: ich war zuerst da, ließ alle Nonnen an mir vorbeigehen und nahm es für selbstverständlich, daß ich vor der Tür bleiben mußte; wirklich verschloß die Äbtissin sie vor mir. Am Abend beim Abendbrot bedeutete sie mir, als ich eintrat, ich solle mich mitten im Refektorium auf den Boden setzen; ich gehorchte, und man brachte mir nur Brot und Wasser. Ich aß ein wenig Brot, das ich mit meinen Tränen netzte. Am andern Tage hielt man Rat; die ganze Schwesternschaft saß zu Gericht über mir und man verurteilte mich, ich solle der Erholungen beraubt sein, ich müsse einen Monat lang den Gottesdienst vor der Tür des Chors anhören, ich müsse mitten im Refektorium auf dem Boden sitzend meine Mahlzeiten einnehmen, drei Tage hintereinander öffentliche Kirchenbuße tun, mein Gelübde und meine Einkleidung erneuern, das härene Gewand tragen, jeden zweiten Tag fasten und mich jeden Freitag nach dem Abendgottesdienst kasteien. Während dies Urteil über mich gesprochen wurde, lag ich auf den Knien, den Schleier vor das Gesicht gezogen.

Am andern Morgen kam die Äbtissin in meine Zelle mit einer Nonne, die ein härenes Hemd und das Kleid aus grobem Stoff trug, mit dem man mich bekleidet hatte, als ich in das Verlies gebracht wurde. Ich verstand, was das bedeutete. Ich entkleidete mich, oder vielmehr man zerriß meinen Schleier und zog mir alle Sachen aus; und ich legte dies Kleid an. Ich war barhäuptig und barfüßig, mein langes Haar fiel auf die Schultern; nun bestand meine ganze Bekleidung aus dem härenen Gewand, das man mir reichte, aus einem groben Hemd und dem langen Kleide, das bis ans Kinn ging und lang auf die Füße herabfiel. So mußte ich am Tage gekleidet sein und bei allen Andachten erscheinen.

Am Abend, als ich mich in meine Zelle zurückgezogen hatte, hörte ich, daß man sich ihr näherte, Litaneien singend; die ganze Schwesternschaft kam paarweise herein, und ich erhob mich; man legte mir einen Strick um den Hals, gab mir eine brennende Fackel in die eine und eine Geißel in die andere Hand. Eine Nonne faßte den Strick an einem Ende und zog mich zwischen die beiden Reihen der Nonnen, und so schritt die Prozession nach einem kleinen Betgemach, das der heiligen Jungfrau geweiht war: Man war leise singend zu mir gekommen, man zog sich schweigend wieder zurück. Als ich in dem kleinen Betgemach ankam, das von zwei Kerzen erleuchtet war, befahl man mir, Gott und das Kloster um Vergebung zu bitten für den Skandal, den ich angestiftet hatte. Die Nonne, die mich führte, sagte mir ganz leise alles, was ich zu sagen hatte, vor, und ich wiederholte Wort für Wort. Darauf nahm man mir den Strick ab, entkleidete mich bis zum Gürtel, nahm meine Haare, die lose über die Schultern hingen, warf sie nach vorn, gab mir die Geißel, die ich in der linken Hand trug, in die Rechte und begann das Miserere. Ich verstand, was man von mir erwartete, und führte den Befehl aus. Als das Miserere beendigt war, hielt mir die Äbtissin eine kurze Ermahnungspredigt, die Kerzen wurden gelöscht, die Nonnen zogen sich zurück, und ich kleidete mich wieder an.

Als ich in meine Zelle zurückgekehrt war, fühlte ich heftige Schmerzen an den Füßen; ich betrachtete sie, sie waren ganz blutig von Schnittwunden, denn man hatte die Bosheit gehabt, mir Glasscherben auf den Weg zu streuen.

An den beiden nächsten Tagen tat ich auf dieselbe Art öffentliche Kirchenbuße, am letzten Tage aber fügte man dem Miserere noch einen Psalm hinzu.

Am vierten Tage gab man mir mein Nonnengewand wieder, ungefähr mit den gleichen Zeremonien, die angewendet werden, wenn die öffentliche Einkleidung stattfindet.

Am fünften erneuerte ich mein Gelübde. Im Laufe des Monats tat ich alle mir sonst noch auferlegte Buße und kehrte dann fast zu dem gewöhnlichen Klosterleben zurück; ich nahm meinen Platz im Chor und im Refektorium wieder ein und übernahm auch, wenn an mich die Reihe kam, die verschiedenen Ämter im Hause. Aber wie groß war meine Überraschung, als ich meine junge Freundin ansah, die sich für mein Schicksal interessiert hatte! Sie erschien mir fast ebenso verändert wie ich selbst; sie war von einer erschreckenden Magerkeit, war totenblaß mit weißen Lippen und fast erloschenen Augen.

»Schwester Ursula,« sagte ich ganz leise zu ihr, »was hast du?« – »Was ich habe!« sagte sie, »ich liebe dich, und du kannst mich fragen? Es war Zeit, daß deine Martern ein Ende nahmen, sonst wäre ich gestorben.«

Wenn ich an den beiden letzten Tagen meiner Kirchenbuße keine wunden Füße gehabt hatte, so war es ihr zu danken, denn sie hatte in aller Heimlichkeit die Gänge gekehrt und die Glasscherben beiseite gefegt. An den Tagen, wo ich zum Fasten bei Wasser und Brot verurteilt war, sparte sie sich einen Teil von ihrem Essen ab, hüllte es in ein weißes Tuch und warf es mir in meine Zelle. Man hatte gelost, welche Nonne mich am Strick führen solle, und das Los war auf sie gefallen; sie hatte die Geistesstärke gehabt, zu der Äbtissin zu gehen und ihr zu sagen, sie wolle lieber sterben, als dies grausame und gemeine Amt ausüben. Glücklicherweise war das junge Mädchen aus einer angesehenen Familie; sie hatte ein reiches Jahrgeld, das sie ganz nach dem Gutdünken der Äbtissin verwandte, und sie fand für einige Pfund Zucker und Kaffee eine Nonne, die ihre Stelle einnahm. Ich will nicht denken, daß Gottes Hand sich schwer auf diese Unwürdige gelegt hat: sie ist wahnsinnig geworden und sitzt in verschlossener Zelle; aber die Äbtissin lebt, herrscht, ersinnt alle möglichen Quälereien und befindet sich wohl.

Es war unmöglich, daß meine Gesundheit so langen und harten Prüfungen standhielt; ich wurde krank. In dieser Zeit konnte Schwester Ursula ihre ganze Freundschaft beweisen, die sie für mich hegte; ihr danke ich das Leben. Das Dasein, das sie mir rettete, war zwar kein Glück für mich, das sagte sie mir selbst bisweilen. Aber es gab keinen Dienst, den sie mir an den Tagen, da sie für das Krankenzimmer zu sorgen hatte, nicht leistete, und auch an den andern Tagen wurde ich nicht vernachlässigt, dank dem Interesse, das sie an mir nahm, und den kleinen Belohnungen, die sie an diejenigen verteilte, die bei mir wachten, wenn ich mit ihnen zufrieden gewesen war. Sie hatte gebeten, nachts bei mir wachen zu dürfen, die Äbtissin hatte es ihr aber abgeschlagen, unter dem Vorwand, sie sei zu zart, um diese Anstrengung aushalten zu können: das war ein tiefer Kummer für sie. Alle ihre Sorge vermochte jedoch das Fortschreiten der Krankheit nicht zu verhindern; es ging immer weiter abwärts und ich empfing die heiligen Sakramente. Einige Augenblicke vorher bat ich, daß die Schwestern sich bei mir versammelten, und das wurde mir gewährt. Die Nonnen stellten sich um mein Bett, unter ihnen die Äbtissin; meine junge Freundin stand am Kopfende meines Bettes und hielt eine meiner Hände, die sie mit Tränen benetzte. Man nahm an, daß ich etwas zu sagen hätte, richtete mich auf und stützte mich mit zwei Kopfkissen. Dann wandte ich mich an die Äbtissin, bat sie um ihren Segen und um Vergebung meiner Schuld; ich bat alle meine Gefährtinnen, mir den Skandal zu verzeihen, den ich angestellt hatte. Ich hatte allerlei Kleinigkeiten, die teils meine Zelle geschmückt, teils zu meinem persönlichen Gebrauch gedient hatten, auf mein Bett legen lassen und bat die Äbtissin, mir zu gestatten, sie zu verschenken; sie war damit einverstanden, und ich gab sie denen, die ihr als Scherginnen gedient hatten, als ich damals in das Verlies geworfen wurde. Ich ließ die Nonne herantreten, die mich am Tage meiner Kirchenbuße am Strick geführt hatte, und sagte, indem ich sie umarmte und ihr meinen Rosenkranz und mein Christusbild reichte: »Teure Schwester, denke an mich in deinen Gebeten und sei überzeugt, daß ich deiner vor Gott nicht vergessen werde …« Und warum hat Gott mich nicht in diesem Augenblick zu sich genommen? Ich wäre ohne Unruhe zu ihm gegangen. Das ist ein so großes Glück, und wer kann das ein zweites Mal für sich erwarten? Wer weiß, wie es jetzt in meinem letzten Augenblick sein wird? Und doch kann ich ihm nicht entrinnen. Möge Gott meine Leiden erneuern und mir eine ebenso ruhige Sterbestunde schenken, wie ich damals vor mir sah. Ich sah den Himmel offen, und das war er auch. Denn das Gewissen kann uns nicht täuschen, und es verhieß mir die ewige Seligkeit.

Nachdem ich mit den heiligen Sakramenten versehen war, verfiel ich in eine Art Lethargie; man gab mich auf. In der Nacht kam man von Zeit zu Zeit, um mir den Puls zu fühlen; ich fühlte Hände über mein Gesicht gleiten und hörte wie in weiter Ferne verschiedene Stimmen sagen: »Er hebt sich wieder … Ihre Nase ist kalt … Es dauert nicht mehr bis zum Morgen … Du behältst den Rosenkranz und das Kruzifix …« Und eine andere Stimme sagte unwillig: »Gehen Sie doch, gehen Sie doch! Lassen Sie sie in Frieden sterben, haben Sie sie noch nicht genug gequält? …« Es war für mich ein wundervoller Augenblick, als ich aus dieser Krise erwachte, die Augen wieder aufschlug und mich in den Armen meiner Freundin fand. Sie hatte mich nicht verlassen; sie hatte die Nacht bei mir zugebracht, hatte die Sterbegebete gemurmelt und mich das Kruzifix küssen lassen und es selber an ihre Lippen geführt, wenn sie es von den meinen genommen hatte. Sie glaubte, als sie mich die Augen groß aufschlagen sah und einen tiefen Seufzer ausstoßen hörte, es sei der letzte. Sie stieß einen lauten Schrei aus, nannte mich ihre Freundin und sagte: »Mein Gott, hab Erbarmen mit ihr und mir! Mein Gott, nimm ihre Seele auf! Geliebte Freundin! Wenn du vor Gott stehst, vergiß Schwester Ursula nicht …« Ich sah sie an und lächelte traurig, vergoß eine Träne und drückte ihr die Hand.

In diesem Augenblick kam Herr Bouvard, das ist der Arzt des Klosters, ein sehr geschickter Mann, soviel ich gehört habe, aber eigenwillig, hochmütig und streng. Er wies meine Freundin mit heftigen Worten aus dem Zimmer, fühlte mir den Puls und untersuchte mich; er war in Begleitung der Äbtissin und ihrer Lieblingsnonnen. Er stellte einige kurze Fragen, was denn vorgegangen sei, und sagte schließlich: »Sie wird mit dem Leben davonkommen.« Und indem er die Äbtissin anblickte, der sein Ausspruch keine Freude machte, sagte er noch einmal: »Jawohl, Frau Äbtissin, sie wird mit dem Leben davonkommen; die Haut ist gut, das Fieber ist gefallen und in den Augen ist schon wieder Leben.«

Bei jedem seiner Worte malte sich Freude auf dem Gesicht meiner Freundin; auf dem Gesicht der Äbtissin und ihrer Begleiterin aber sah ich tiefen, nur schlecht verhehlten Ärger.

»Herr Doktor,« sagte ich zu ihm, »mir liegt nichts am Leben.«

»Sehr traurig,« sagte er zu mir; dann verordnete er mir einiges und ging hinaus. Man hat mir erzählt, daß ich in meiner Lethargie mehrmals gesagt hätte: »Liebe Mutter, jetzt werde ich dich wiedersehen; nun will ich dir alles sagen.« Damit hatte ich zweifelsohne meine frühere Äbtissin gemeint, das glaube ich ganz bestimmt. Ihr Bild habe ich keiner geschenkt, ich wünschte es mit ins Grab zu nehmen.

Die Prophezeiung Doktor Bouvards bewahrheitete sich; das Fieber nahm ab, Schweißausbrüche nahmen es mit fort, und man zweifelte nicht mehr an meiner Genesung: ich genas wirklich, aber sehr langsam. Es war mir bestimmt, in diesem Hause alle Qualen zu erdulden, die man überhaupt empfinden kann. Meine Krankheit hatte einen bösartigen Charakter gehabt; die Schwester Ursula war fast nie von meiner Seite gewichen. Als ich allmählich wieder zu Kräften kam, schwanden die ihren, ihre Verdauung wurde gestört, sie wurde nachmittags von Ohnmächten befallen, die bisweilen eine Viertelstunde dauerten: in diesem Zustande war sie wie tot, ihr Auge erlosch, kalter Schweiß bedeckte ihre Stirn und sammelte sich in Tropfen, die ihr über die Backen liefen; ihre Arme hingen unbeweglich an ihrem Leibe nieder. Man verschaffte ihr etwas Erleichterung, indem man ihr Gewand öffnete. Wenn sie aus diesen Ohnmächten zu sich kam, war ihr erstes, mich an ihrer Seite zu suchen, und sie fand mich immer neben sich; bisweilen, wenn etwas Gefühl und Bewußtsein in ihr geblieben war, tastete sie mit der Hand umher, ohne die Augen zu öffnen. Diese Gebärde war so gar nicht mißverständlich, daß einige Nonnen, die diese tastende Hand ergriffen hatten und nicht erkannt worden waren, weil sie bewegungslos zurücksank, zu mir sagten: »Schwester Susanne, sie verlangt nach Ihnen, gehen Sie zu ihr …« Ich kniete vor ihr nieder, legte ihre Hand auf meine Stirn und ließ sie da, bis ihre Ohnmacht vorbei war; wenn sie wieder zu sich kam, sagte sie: »Ja, Schwester Susanne, jetzt werde ich von hinnen gehen und du wirst hier bleiben; ich werde sie zuerst sehen, ich werde ihr von dir erzählen, und sie wird mich nicht ohne Tränen anhören. Wenn es bittere Tränen gibt, muß es doch auch süße geben, und wenn man dort oben liebt, muß man wohl auch weinen können.« Damit lehnte sie den Kopf an meine Schulter; sie weinte heftig und fügte hinzu: »Lebwohl, Schwester Susanne, lebwohl, meine liebe Freundin; wer wird deinen Kummer teilen, wenn ich nicht mehr da bin? Wer …? Oh, teure Freundin, ich beklage dich! Ich gehe von hinnen, ich fühle es, ich gehe fort. Wie ungern würde ich sterben, wenn du glücklich wärst.«

Ihr Zustand erschreckte mich. Ich sprach mit der Äbtissin. Ich verlangte, daß man sie ins Krankenhaus bringe, daß man sie vom Gottesdienst und von den andern mühevollen häuslichen Arbeiten entbände, daß man einen Arzt rufe; aber man sagte mir immer nur, es habe nichts auf sich, diese Ohnmachten würden von selbst vorübergehen und die liebe Schwester Ursula wünsche sich nichts Besseres, als ihren Pflichten genügen und das übliche Klosterleben führen zu können. Eines Tages kam sie nach den Frühmetten, denen sie beigewohnt hatte, nicht zum Vorschein. Ich dachte sofort, daß sie krank geworden sein müsse. Als der Morgengottesdienst vorbei war, flog ich zu ihr und fand sie völlig angekleidet auf ihrem Bett liegen; sie sagte: »Kommst du, liebe Freundin? Ich dachte es mir, daß du bald kommen würdest, und ich habe dich erwartet. Höre zu! Ich habe dich so ungeduldig herbeigesehnt. Meine Ohnmacht war so tief und so anhaltend, daß ich dachte, ich würde nicht wieder erwachen und würde dich nicht wiedersehen. Hier hast du den Schlüssel zu meinem Betkämmerchen, schließe den Wandschrank auf, hebe ein kleines Brett auf, das die Schublade in zwei Teile schneidet, und hinter diesem Brett findest du ein Päckchen mit Papieren; ich habe mich nie entschließen können, mich davon zu trennen, so gefährlich es auch war, es zu behalten, und so schmerzlich es mich auch berührte, es zu lesen; die Schrift ist von meinen Tränen fast verwischt; wenn ich nicht mehr bin, mußt du es verbrennen …«

Sie war so schwach und bedrückt, daß sie nicht zwei Worte hintereinander aussprechen konnte; bei fast jeder Silbe hielt sie inne, und dann sprach sie so leise, daß ich Mühe hatte, sie zu verstehen, obwohl ich mein Ohr fast auf ihren Mund preßte. Ich nahm den Schlüssel und deutete nach dem Betkämmerchen, und sie bejahte durch ein Kopfnicken; da ich ahnte, daß ich sie verlieren sollte und überzeugt war, daß ihre Krankheit eine Folge der meinen sein mußte, sei es daß sie sich überanstrengt hatte, sei es, daß sie zu tief gelitten hatte, begann ich zu weinen und meiner Verzweiflung Luft zu machen. Ich küßte ihr die Stirn, die Augen, das Gesicht, die Hände; ich bat sie um Verzeihung: aber sie war wie zerstreut, sie hörte mich nicht, und eine ihrer Hände ruhte auf meinem Gesicht und liebkoste mich; ich glaube, sie sah mich nicht mehr, vielleicht dachte sie, ich sei hinausgegangen, denn sie rief mich.

»Schwester Susanne?«

Ich sagte: »Hier bin ich.«

»Wie spät ist es?«

»Einhalb zwölf Uhr.«

»Einhalb zwölf Uhr; geh zum Essen hinunter; geh, und dann komm bald wieder.«

Es läutete zum Mittagessen, ich mußte sie verlassen. Als ich an der Tür stand, rief sie mich zurück; ich kehrte um; sie mühte sich, mir ihre Wangen darzureichen, ich küßte sie; sie ergriff meine Hand und hielt sie fest umklammert; es war, als könne und wolle sie mich nicht verlassen. »Es muß sein,« sagte sie und ließ mich los, »Gott will es; lebwohl, Schwester Susanne. Gib mir mein Kruzifix.« Ich legte es ihr in die Hände und ging fort.

Man war im Begriff, vom Tisch aufzustehen. Ich wandte mich an die Äbtissin und sprach ihr in Gegenwart aller Nonnen von der Gefahr, in der Schwester Ursula schwebte; ich bat sie inständig, sich selbst davon zu überzeugen. »Gut,« sagte sie, »ich werde sie mir ansehen.« Sie stieg hinauf, von einigen anderen begleitet; ich folgte ihnen; sie betraten die Zelle; die arme Schwester war nicht mehr; sie lag auf ihrem Bett, völlig angekleidet, den Kopf auf dem Kissen, den Mund halb geöffnet, die Augen geschlossen und das Kruzifix in den Händen. Die Äbtissin sah sie kühl an und sagte: »Sie ist tot. Wer hätte gedacht, daß ihr Ende so nahe sei? Sie war ein ausgezeichnetes Mädchen: Wir wollen die Glocken für sie läuten und sie beerdigen.«

Ich blieb allein an ihrem Lager. Ich kann Ihnen meinen Schmerz nicht schildern; aber ich beneidete sie um ihr Schicksal. Ich näherte mich ihr, überströmte ihr Gesicht mit Tränen, küßte sie immer und immer wieder, und zog ihre Bettdecke über ihr Gesicht, dessen Züge sich zu verändern begannen; dann dachte ich daran, das auszuführen, was sie mir ans Herz gelegt hatte. Um bei dieser Beschäftigung nicht unterbrochen zu werden, wartete ich, bis alle anderen beim Gottesdienst waren; ich öffnete das Betkämmerchen, nahm das Brett weg und fand eine recht umfangreiche Papierrolle, die ich am gleichen Abend verbrannte. Dies junge Mädchen war immer melancholisch gewesen, und ich erinnere mich nicht, je ein Lächeln auf ihrem Gesicht gesehen zu haben, außer einmal während ihrer Krankheit.

Nun war ich allein in diesem Hause, in der Welt; denn ich kannte kein einziges Geschöpf, das sich für mich interessierte. Ich hatte von dem Advokaten Manouri nichts gehört; ich nahm an, er sei auf Schwierigkeiten gestoßen oder durch Arbeit und Vergnügungen abgelenkt und denke nicht mehr daran, daß er mir seine Dienste zur Verfügung gestellt hatte, und ich nahm ihm das nicht sehr übel: mein Wesen neigt zur Toleranz; ich kann den Menschen alles verzeihen, nur nicht Ungerechtigkeit, Undankbarkeit und Unmenschlichkeit. Ich entschuldigte also den Advokaten Manouri soviel ich konnte, und alle Menschen, die während meines Prozesses ein so großes Interesse für mich an den Tag gelegt hatten und für die ich jetzt nicht mehr vorhanden war; auch Sie, Herr Marquis; und ich hatte alle Hoffnung aufgegeben, als unsere Kirchenvorsteher einen Besuch in unserm Kloster machten.

Sie kommen dann, gehen durch alle Zellen, legen den Nonnen Fragen vor, lassen sich über die weltliche und geistliche Verwaltung Bericht erstatten und machen je nach ihrer Veranlagung die bestehende Unordnung wieder gut oder vergrößern sie. Ich sah also den guten und strengen Herrn Hébert mit seinen beiden jungen und mitleidigen Gehilfinnen wieder. Sie erinnerten sich wahrscheinlich des beklagenswerten Zustandes, in dem ich damals vor ihnen erschienen war; ihre Augen feuchteten sich, und ich sah auf ihrem Gesicht Rührung und Freude. Herr Hébert setzte sich und bedeutete mir, ihm gegenüber Platz zu nehmen; seine beiden Gefährtinnen blieben hinter seinem Stuhl stehen; ihre Blicke waren auf mich gerichtet. Herr Hébert sagte zu mir:

»Nun, Susanne, wie werden Sie jetzt behandelt?«

Ich erwiderte: »Hochwürden, man vergißt mich.«

»Um so besser.«

»Und das ist auch alles, was ich wünsche; aber ich möchte eine große Gunst von Ihnen erbitten, nämlich: die Frau Äbtissin herzurufen.«

»Und warum?«

»Weil sie, wenn irgend jemand sich bei Ihnen über sie beklagt, ohne Zweifel in mir die Schuldige sehen wird.«

»Ich verstehe; aber sagen Sie mir immerhin, was Sie von ihr wissen.«

»Hochwürden, ich flehe Sie an, sie rufen zu lassen; sie soll selbst Ihre Fragen und meine Antworten hören.«

»Sprechen Sie ganz ruhig.«

»Hochwürden, Sie machen mich unglücklich.«

»Nein, fürchten Sie nichts; von heute an stehen Sie nicht mehr unter ihrer Oberhoheit; Ende der Woche werden Sie nach Sainte-Europe bei Arpajon gebracht. Sie haben einen guten Freund.«

»Einen guten Freund, Hochwürden? Ich kenne keinen.«

»Ich meine Ihren Anwalt.«

»Herrn Manouri?«

»Ganz recht.«

»Ich habe nicht gedacht, daß er sich meiner noch erinnert.«

»Er hat Ihre Schwestern aufgesucht, er ist zum Erzbischof, zum ersten Präsidenten, zu allen durch ihre Wohltätigkeit bekannten Persönlichkeiten gegangen; er hat bewirkt, daß Sie für das Kloster, das ich Ihnen soeben genannt habe, ausgestattet werden; und Sie sind nur noch eine ganz kurze Zeit hier. Also wenn Ihnen irgendeine Unordnung bekannt ist, können Sie mich davon in Kenntnis setzen, ohne irgend etwas zu riskieren, und ich befehle es Ihnen bei dem heiligen Gehorsam.«

»Mir ist nichts bekannt!«

»Wie! man hat Sie einigermaßen schonend behandelt, nachdem Sie Ihren Prozeß verloren haben?«

»Man glaubte wohl auch berechtigterweise, ich hätte eine Sünde begangen, als ich gegen mein Gelübde Einspruch erhob; und man hat mich Gott um Vergebung bitten lassen.«

»Aber die näheren Umstände dieser Buße möchte ich kennen …«

Während er das sagte, schüttelte er den Kopf und runzelte die Brauen, und ich erkannte, daß es nur an mir lag, der Äbtissin einen Teil der Geißelhiebe zurückzugeben, die sie mir hatte zukommen lassen; aber das lag nicht in meiner Absicht. Der Archidiakonus sah wohl, daß er von mir nichts erfahren würde und er ging hinaus, indem er mir Schweigen auferlegte bezüglich des Geheimnisses, das er mir über meine Versetzung nach Sainte-Europe bei Arpajon anvertraut hatte.

Als der gute Hébert allein den Gang entlang schritt, kehrten seine beiden Gehilfinnen um und begrüßten mich sanft und liebenswürdig. Ich weiß nicht, wer sie sind, aber möge Gott ihnen dies freundliche und gütige Wesen erhalten, das in ihrem Stande so selten ist, und das doch den Vertrauten aller menschlichen Schwächen und den Fürsprechern bei Gott so wohl ansteht. Ich glaubte Herrn Hébert damit beschäftigt, eine andere Nonne zu trösten, zu befragen oder zu ermahnen, als er in meine Zelle zurückkehrte. Er sagte:

»Woher kennen Sie Herrn Manouri?«

»Von meinem Prozeß.«

»Wer hat Sie an ihn empfohlen?«

»Die Frau Präsidentin.«

»Sie müssen im Laufe des Verfahrens häufig mit ihm konferiert haben?«

»Nein, Hochwürden, ich habe ihn selten gesehen.«

»Auf welche Weise haben Sie ihm Instruktionen gegeben?«

»Durch Aufzeichnungen, die ich niedergeschrieben hatte.«

»Haben Sie eine Abschrift von diesen Aufzeichnungen?«

»Nein, Hochwürden.«

»Wer hat ihm diese Aufzeichnungen übergeben?«

»Die Frau Präsidentin.«

»Und woher kennen Sie sie?«

»Schwester Ursula, meine Freundin und eine Verwandte von ihr, hat mich mit ihr bekannt gemacht.«

»Haben Sie Herrn Manouri nach Ihrem Prozeß gesehen?«

»Einmal.«

»Das ist sehr wenig. Und er hat Ihnen nicht geschrieben?«

»Nein, Hochwürden.«

»Sie haben ihm auch nicht geschrieben?«

»Nein, Hochwürden.«

»Er wird Ihnen ohne Zweifel mitteilen, was er für Sie getan hat. Ich befehle Ihnen, ihn nicht im Sprechzimmer zu empfangen, und, wenn er Ihnen, direkt oder indirekt, schreibt, mir seinen Brief uneröffnet zuzuschicken; verstehen Sie, uneröffnet!«

»Jawohl, Hochwürden, ich werde Ihnen gehorchen …«

Ich fühlte mich verletzt durch Héberts Mißtrauen, ob es sich nun gegen meinen Wohltäter oder gegen mich selbst richtete.

Herr Manouri kam noch am gleichen Abend nach Longchamps, aber ich hielt dem Archidiakonus mein Wort und weigerte mich, ihn zu sehen. Am nächsten Morgen schickte er mir durch seinen Boten einen Brief, ich nahm den Brief und sandte ihn, ohne ihn zu öffnen, an Herrn Hébert. Das war am Dienstag, soviel ich mich erinnere. Ich wartete voll Ungeduld auf die Verwirklichung des Versprechens, das der Archidiakonus mir gegeben hatte. Der Mittwoch, der Donnerstag, der Freitag vergingen, ohne daß ich das geringste hörte. Wie lang erschienen mir diese Tage. Ich war voll banger Furcht, irgendein Hindernis könne aufgetaucht sein und alles zerstört haben. Ich erlangte meine Freiheit nicht wieder, aber ich durfte das Gefängnis wechseln, und das ist immerhin etwas. Ein erstes glückliches Ereignis läßt in uns die Hoffnung auf ein zweites emporsprießen. Und das ist vielleicht der Ursprung des Sprichworts, daß ein Glück selten allein kommt.

Ich kannte die Gefährtinnen, die ich verließ, und ich konnte mich doch wohl der Hoffnung hingeben, daß ich im Verkehr mit anderen Gefangenen etwas gewinnen würde; wie sie auch waren, sie konnten nicht boshafter und nicht übelwollender sein. Am Samstagmorgen gegen neun Uhr entstand eine große Bewegung im Hause. Es ist so wenig erforderlich, um die Köpfe der Nonnen zu entflammen. Man lief hin und her, man flüsterte; die Türen der Schlafzimmer öffneten und schlossen sich; das ist, wie Sie bisher immer gesehen haben, das Anzeichen einer Revolution im Kloster. Ich war allein in meiner Zelle; mir klopfte das Herz. Ich lauschte an der Tür, ich sah aus dem Fenster, ich ging hin und her, ohne zu wissen, was ich tat. Ich sagte mir selbst, während ich vor Freude zitterte: »Man holt mich; in einer kleinen Weile werde ich nicht mehr hier sein …« Und ich täuschte mich nicht.

Zwei unbekannte Gestalten tauchten vor mir auf; es war eine Nonne mit der Laienschwester von Arpajon: sie unterrichteten mich mit einem Wort über den Zweck ihres Besuchs. Ich raffte eilig die sieben Sachen zusammen, die mir gehörten, und warf sie bunt durcheinander der Laienschwester in den Schoß, die sie zusammenpackte. Ich bat nicht darum, mich von der Äbtissin verabschieden zu dürfen; Schwester Ursula war nicht mehr, ich ließ niemanden hier zurück. Ich ging hinunter, man öffnete mir die Türen, nachdem man meine Habseligkeiten, die ich mitnahm, besichtigt hatte; ich stieg in einen Wagen, und wir fuhren ab.

Der Archidiakonus und seine beiden jungen Gehilfinnen, die Frau Präsidentin und Herr Manouri hatten sich bei meiner neuen Äbtissin versammelt, wo ihnen meine Abfahrt gemeldet wurde. Unterwegs unterrichtete die Nonne mich über das neue Kloster; und die Laienschwester fügte bei jedem Lobeswort hinzu: »Das ist die reine Wahrheit …« Sie pries sich glücklich, daß die Wahl, mich zu holen, auf sie gefallen sei, und wollte meine Freundin sein; infolgedessen vertraute sie mir einige Geheimnisse an und gab mir Ratschläge hinsichtlich meines Verhaltens; diese Ratschläge mochten wohl für sie taugen, waren für mich aber ganz ungeeignet. Ich weiß nicht, ob Sie das Kloster Arpajon kennen; es ist ein viereckiges Gebäude, dessen eine Seite auf die Landstraße geht, während die andere auf Felder und Gärten sieht. Vor jedem Fenster der Vorderfront sah ich eine, zwei oder drei Nonnen; dieser eine Umstand sagte mir genug über die Ordnung, die im Hause herrschte, mehr, als die Nonne und ihre Begleiterin mir hatten sagen können. Man kannte anscheinend den Wagen, in dem wir uns befanden; denn im Nu waren all diese verschleierten Köpfe verschwunden, und ich war vor der Tür meines neuen Gefängnisses angelangt. Die Äbtissin eilte auf mich zu, mit offenen Armen, umarmte mich, nahm mich bei der Hand und führte mich in den großen Klostersaal, in dem sich schon einige Nonnen befanden, während andere zu meinem Empfang herbeieilten.

Diese Äbtissin heißt Frau X. Ich kann mir nicht versagen, Ihnen, bevor ich fortfahre, ein Bild von ihr zu entwerfen. Sie war eine kleine, rundliche Frau, aber rasch und lebhaft in ihren Bewegungen, ihr Kopf sitzt keinen Augenblick still auf den Schultern; immer ist an ihrem Anzug irgend etwas in Unordnung; ihr Gesicht ist nicht übel; ihre Augen, von denen eins, das rechte, höher sitzt und größer ist als das andere, sind feurig und zerstreut; wenn sie geht, schlenkert sie mit den Armen. Wenn sie sprechen will, tut sie den Mund auf, bevor sie ihre Gedanken geordnet hat; sie stottert auch ein wenig. Wenn sie sitzt, rutscht sie auf ihrem Sessel hin und her, als stäche sie etwas; sie vergißt alle Wohlanständigkeit: sie hebt ihren Schleier, um sich die Haut zu kratzen, sie schlägt die Beine übereinander, sie stellt Fragen, man antwortet ihr und sie hört nicht hin; sie spricht mit jemandem, wird zerstreut, hält plötzlich inne, weiß nicht, wo sie ist, wird böse und nennt die andere dumm, stupid, borniert, wenn sie ihr nicht wieder einhelfen kann; bald ist sie so vertraulich, daß sie einen duzt, bald gebieterisch und stolz bis zur Verachtung; aber ihre würdigen Momente sind kurz; sie ist abwechselnd mitleidig und hart; ihr unregelmäßiges Gesicht verrät die Zusammenhanglosigkeit ihres Geistes und die ganze Ungleichmäßigkeit ihres Charakters; daher wechselten Ordnung und Unordnung im Kloster miteinander ab; es gab Tage, an denen alles bunt durcheinander lief, an denen die Kostgängerinnen mit den Novizen, die Novizen mit den Nonnen zusammenhockten, man besuchte sich auf den Zimmern, man trank Tee, Kaffee, Schokolade, Liköre zusammen; der Gottesdienst wurde mit unglaublicher Schnelligkeit absolviert; mitten in dem ganzen Wirrwarr veränderte sich plötzlich das Gesicht der Äbtissin, die Glocke läutet; alle schließen sich ein, ziehen sich zurück; tiefstes Schweigen folgt dem Lärm, dem Geschrei und dem Leben, und man könnte glauben, alles sei plötzlich gestorben. Wenn eine Nonne dann in einer geringsten Kleinigkeit ein Versehen macht, läßt sie sie in ihre Zelle kommen, behandelt sie mit großer Strenge, befiehlt ihr, sich zu entkleiden und sich zwanzig Geißelhiebe zu versetzen; die Nonne gehorcht, entkleidet sich, nimmt ihre Geißel und kasteit sich; aber kaum hat sie sich einige Schläge zugefügt, so entreißt ihr die Äbtissin, deren Mitleid geweckt ist, das Marterinstrument, beginnt zu weinen, jammert, daß sie das Unglück hat, strafen zu müssen, küßt ihr die Stirn, die Augen, den Mund, die Schultern, liebkost sie, lobt sie: »O was für eine weiße, glatte Haut du hast! Und wie üppig du bist! Dieser schöne Hals, dieser herrliche Nacken! … Schwester Sainte-Augustine, aber du bist närrisch, dich zu schämen; laß das Hemd fallen; ich bin doch eine Frau und eine Äbtissin. O dieser schöne Busen! Wie drall er ist! Und ich sollte dulden, daß so etwas von Stacheln zerrissen würde? Nein, nein, das soll nicht sein …« Sie küßt sie immer wieder, zieht sie empor, kleidet sie selber wieder an, sagt ihr die süßesten Worte, beurlaubt sie vom Gottesdienst, schickt sie in ihre Zelle zurück. Man ist mit solchen Frauen sehr übel dran; man weiß nie, was ihnen gefällt und was ihnen mißfällt, was man vermeiden und was man tun soll. Nichts ist geregelt; bald stirbt man vor Hunger; die Haushaltung ist in Unordnung, Beschwerden werden entweder übel aufgenommen oder überhört; Äbtissinnen dieses Charakters steht man immer entweder zu fern oder zu nah; es gibt keinen richtigen Abstand, kein Maß; man taumelt zwischen Ungnade und Gunst hin und her, ohne daß man weiß, warum. Soll ich Ihnen durch ein kleines Beispiel zeigen, wie sie im allgemeinen ihr Amt verwaltete? Zweimal im Jahr lief sie von Zelle zu Zelle und ließ alle Likörflaschen, die sie fand, aus dem Fenster werfen, und vier Tage darauf schickte sie selbst ihren Nonnen neuen Likör. Ihr hatte ich das Gelübde feierlichen Gehorsams abgelegt, denn unser Gelübde gilt in einem Kloster so gut wie in einem andern.

Ich betrat mit ihr das Haus; sie führte mich, den Arm um meine Taille gelegt. Man brachte mir Früchte, Marzipan und Konfitüren. Der ehrwürdige Archidiakonus wollte ein Wort zu meinem Lobe sagen; sie unterbrach ihn: »Man hat unrecht gehabt, man hat unrecht gehabt, das weiß ich.« Der würdige Archidiakonus wollte fortfahren, aber die Äbtissin unterbrach ihn: »Wie haben sie sie nur fahren lassen können? Sie ist die Bescheidenheit und die Sanftmut selbst, und soll so sehr talentiert sein …« Der Archidiakonus wollte seine letzten Worte wiederholen, aber wieder unterbrach ihn die Äbtissin und flüsterte mir zu: »Ich habe Sie rasend gern, und wenn diese Pedanten fort sind, lasse ich unsere Schwestern kommen, und Sie singen uns ein Liedchen vor, nicht wahr?« Mich überkam die Lust, zu lachen. Der würdige Herr Hébert war etwas aus der Fassung gebracht; seine beiden jungen Gehilfinnen lächelten über seine Verlegenheit und über meine. Aber Herr Hébert fand rasch sein gewohntes Wesen und sein Benehmen wieder, befahl ihr barsch, sich zu setzen und gebot ihr Schweigen. Sie setzte sich; aber sie war nicht in ihrem Element; sie rutschte auf ihrem Platze hin und her, sie kratzte sich den Kopf, zupfte ihr Kleid zurecht an Stellen, wo es gar nicht in Unordnung war, stotterte, und unterdes sprach der Archidiakonus sehr verständig über das Haus, aus dem ich kam, über die Unannehmlichkeiten, die mir darin widerfahren waren, über das Kloster, in das ich jetzt eintreten sollte, über die Verpflichtungen, die ich den Menschen schuldete, die mir einen Dienst geleistet hatten. An dieser Stelle sah ich Herrn Manouri an, er schlug die Augen nieder. Nun wurde die Unterhaltung allgemeiner; das peinvolle Schweigen, das der Äbtissin auferlegt war, endete. Ich näherte mich Herrn Manouri, dankte ihm für alles, was er für mich getan hatte, ich stammelte und zitterte und wußte nicht, welchen Dank ich ihm verheißen sollte. Meine Verwirrung, meine Verlegenheit, meine Rührung, denn ich war wirklich gerührt, meine mit Tränen untermischte Freude, mein ganzes Wesen sagte ihm mehr, als Worte vermochten. Seine Antwort war nicht viel vernünftiger als meine Rede; er war ebenso verwirrt wie ich. Ich weiß nicht, was er mir sagte, aber ich hörte ihn davon sprechen, daß es für ihn Lohn genug sei, die Härte meines Schicksals gemildert zu haben; daß er mit noch mehr Freude an das denken werde, was er getan, als ich selbst es tue; daß er bedaure, daß seine Arbeit ihn in Paris festhalte und ihm nicht erlaube, häufig das Kloster Arpajon zu besuchen, daß er sich aber der Hoffnung hingebe, von dem Herrn Archidiakonus und der Frau Äbtissin die Erlaubnis zu bekommen, sich nach meiner Gesundheit und meinem Ergehen zu erkundigen.

Der Archidiakonus hörte das nicht, aber die Äbtissin antwortete: »Soviel Sie wollen, mein Herr. Sie kann alles tun, was sie mag; wir werden versuchen, hier den Kummer wiedergutzumachen, den man ihr angetan hat.« … Und dann sagte sie ganz leise zu mir: »Mein Kind, du hast also sehr gelitten? Aber wo haben diese Kreaturen in Longchamps nur den Mut hergenommen, dich zu mißhandeln? Ich kenne die Äbtissin, wir sind in Port Royal zusammen als Klosterschülerinnen gewesen; sie war das schwarze Schaf unter uns. Wir haben ja Zeit, uns zu sehen, du wirst mir das alles erzählen …« Und bei diesen Worten nahm sie eine meiner Hände und tätschelte sie. Die jungen Gehilfinnen hießen mich auch willkommen. Es war schon spät; Herr Manouri verabschiedete sich; der Archidiakonus und seine Gehilfinnen begaben sich zu Herrn X., dem Schloßherrn von Arpajon, bei dem sie eingeladen waren, und ich blieb mit der Äbtissin allein, aber nicht für lange: alle Nonnen, alle Novizen, alle Klosterschülerinnen kamen herbeigelaufen, in einem Augenblick sah ich mich von hundert Frauen umringt. Ich wußte nicht, wem ich zuhören, wem ich antworten sollte. Es waren Gesichter aller Art und Reden jeden Genres, aber ich merkte bald, daß man weder mit meinen Antworten, noch mit meiner Person unzufrieden war.

Als diese lästige Zusammenkunft eine Weile gedauert hatte und die erste Neugier befriedigt war, verlief sich die Menge; die Äbtissin schickte die übrigen weg und sie selbst ließ sich in meiner Zelle häuslich nieder. Sie hieß mich darin nach ihrer Weise willkommen, zeigte mir das Betkämmerchen und sagte: »Hier wird meine kleine Freundin beten; man soll ihr aber ein Kissen auf die Stufen legen, damit ihre Knie nicht gedrückt werden. Im Weihwasserkessel ist kein Weihwasser; diese Schwester Dorothea vergißt immer irgend etwas. Setze dich in diesen Sessel; der wird dir bequem sein …«

Und während sie das sagte, drückte sie mich in den Sessel nieder, bog meinen Kopf zurück und küßte mich auf die Stirn. Dann aber trat sie ans Fenster, um sich zu vergewissern, daß die Gitter sich leicht aufziehen und schließen ließen, dann an mein Bett, zog die Vorhänge vor und schob sie zurück, um zu sehen, ob alles gut funktionierte; sie befühlte die Decken: »Die sind gut.« Sie nahm das Kopfkissen, lockerte es auf und sagte: »Darauf wird das Köpfchen gut liegen; die Bettücher sind nicht sehr fein, aber anders haben wir sie im Kloster nicht; die Matratze ist gut …« Danach kam sie zu mir, umarmte mich und verließ mich. Während dieser Szene dachte ich bei mir: »O dies närrische Geschöpf!« Und ich machte mich auf gute und schlimme Tage gefaßt.

Ich machte mich in meiner Zelle zurecht und wohnte dann dem Abendgottesdienst, dem Abendbrot und der darauffolgenden Erholungsstunde bei. Einige Nonnen näherten sich mir, andere mieden mich; jene rechneten auf meine Protektion bei der Priorin, diese waren schon beunruhigt über die Bevorzugung, die sie mir hatte widerfahren lassen. Diese ersten Augenblicke verliefen mit gegenseitigen Schmeicheleien, mit Fragen nach dem Kloster, aus dem ich gekommen war; man versuchte meinen Charakter, meine Neigungen, meinen Verstand, meine Sympathien kennen zu lernen; man betastet einen überall; eine Kette von kleinen Fallen wird ausgelegt, und man zieht daraus sehr richtige Schlußfolgerungen. Zum Beispiel wird ein Wort der Verleumdung hingeworfen und alle sehen einen an; eine Geschichte wird begonnen, und alle warten gespannt, ob man die Fortsetzung zu hören verlangt oder gleichgültig bleibt; wenn man etwas ganz Alltägliches sagt, finden alle es reizend, obwohl sie sehr gut wissen, daß es nichts Besonderes ist; man lobt oder tadelt einen absichtlich; man sucht die geheimsten Gedanken zu erraten; man fragt nach der Lektüre, man bietet einem heilige und profane Bücher an und achtet genau darauf, welche gewählt werden; man fordert zu harmlosen Übertretungen der Klosterregeln auf; man macht Geständnisse und wirft hier und da ein Wort über die Äbtissin hin: alles wird zusammengetragen und wiedererzählt; man forscht die Gedanken über die Sitten, über die Frömmigkeit, über die Welt, Religion, das Leben im Kloster, über alles aus. Aus diesen gesammelten Eindrücken ergibt sich ein Beiwort, das einen charakterisiert und man gibt der Betreffenden einen Beinamen; so wurde ich Sainte-Susanne die Zurückhaltende genannt.

Am ersten Abend bekam ich den Besuch meiner Äbtissin; sie kam, als ich mich schlafen legen wollte; sie selbst nahm mir den Schleier ab und ordnete mein Haar für die Nacht, sie selbst entkleidete mich. Sie sagte mir viele süße Worte, erwies mir tausend Liebkosungen, die mir etwas peinlich waren, ich weiß nicht warum, denn ich dachte mir nichts Böses dabei, und sie auch nicht; selbst wenn ich jetzt darüber nachdenke, weiß ich nicht, was wir uns hätten dabei denken sollen. Aber ich sprach mit meinem Beichtvater darüber, und dieser schlug einen sehr ernsten Ton an, als er von dieser Vertraulichkeit hörte, die mir sehr unschuldig vorkam und mir noch heute so vorkommt, und verbot mir streng, mich in Zukunft dazu herzugeben. Sie küßte mir den Hals, die Schultern, die Arme; sie lobte meine Fülle und meinen Wuchs und legte mich ins Bett; sie hob meine Decke von beiden Seiten auf, küßte mich auf die Augen, zog meine Vorhänge zu und ging fort. Ich vergaß Ihnen zu sagen, daß sie annahm, ich sei müde, und daß sie mir erlaubte, so lange zu schlafen, wie ich möchte.

Ich machte mir diese Erlaubnis zunutze, es ist, glaube ich, die einzige gute Nacht, die ich im Kloster verbracht habe. Am nächsten Morgen gegen neun Uhr wurde leise an meine Tür geklopft; ich lag noch im Bett und rief herein; es war eine Nonne, die mir ziemlich übelgelaunt sagte, es sei schon spät und die Frau Äbtissin wünsche mich zu sprechen. Ich stand auf, kleidete mich eilig an und ging hinaus.

»Guten Tag, mein Kind,« sagte sie. »Hast du die Nacht gut verbracht? Hier steht seit einer Stunde dein Kaffee und wartet auf dich; ich glaube, er ist gut; trinke schnell, dann wollen wir plaudern …«

Und während sie das sagte, deckte sie ein Tuch über den Tisch, breitete ein anderes über meinen Schoß, schenkte den Kaffee ein und tat Zucker in die Tassen. Die andern Nonnen taten unter sich ein gleiches. Während ich frühstückte, sprach sie über meine Gefährtinnen, schilderte sie mir gemäß ihrer Abneigung oder ihrer Sympathie, versicherte mich immer wieder ihrer Freundschaft, stellte tausend Fragen über das Kloster, aus dem ich kam, über meine Eltern, über die Unannehmlichkeiten, die ich gehabt hatte; lobte, tadelte, wie es ihr gerade in den Sinn kam, hörte niemals meine Antwort bis zu Ende an. Ich widersprach ihr nicht; sie war entzückt über meinen Verstand, mein klares Urteil und meine Diskretion. Dann kam eine Nonne, eine zweite, eine dritte, eine vierte, eine fünfte; man sprach von den Vögeln der Äbtissin, von den Eigenheiten einer Schwester, von all den kleinen Lächerlichkeiten all der Nonnen, die nicht anwesend waren; und es entstand große Heiterkeit. In einer Ecke der Zelle stand ein Spinett, wie zerstreut legte ich die Finger darauf, denn da ich in diesem Hause neu war und die Nonnen, über die man scherzte, kaum kannte, so machte mir das alles keinen Spaß. Es gehört viel Geist dazu, gute Witze zu machen, und außerdem, wer hat nicht seine lächerlichen Seiten? Während man lachte, schlug ich einige Akkorde an; allmählich zog ich die Aufmerksamkeit auf mich. Die Äbtissin kam auf mich zu und schlug mir leicht auf die Schulter: »Nun, Sainte-Susanne,« sagte sie, »jetzt sollst du uns unterhalten; spiele ein wenig, und dann sollst du singen.« Ich tat, was sie mir sagte, ich spielte einige Stücke, die ich in den Fingern hatte, präludierte dann aus dem Kopf und sang ein paar Strophen aus Mondonvildes Psalmen.

»Das ist sehr schön,« sagte die Äbtissin, »aber geistliche Sachen hören wir in der Kirche genug; wir sind allein; dies hier sind meine Freundinnen, und sie werden auch die deinen sein; singe uns etwas Heiteres.«

Einige von den Nonnen sagten: »Aber sie kann vielleicht nichts anderes; sie wird von der Reise ermüdet sein; man muß sie schonen, es ist genug für einmal.«

»Nein, nein,« sagte die Äbtissin, »sie begleitet sich wundervoll, sie hat die schönste Stimme der Welt (wirklich habe ich keine üble Stimme, aber sie ist mehr korrekt, sanft und biegsam als umfangreich und groß), ich lasse sie nicht eher los, bis sie uns etwas anderes vorgesungen hat.«

Ich war von den Reden der Nonnen etwas gekränkt; ich erwiderte der Äbtissin, es mache den Schwestern keinen Spaß mehr.

»Aber mir macht es noch Spaß.«

Diese Antwort hatte ich vorausgesehen. Ich sang also ein hübsches Liedchen, und alle klatschten in die Hände, lobten mich, umarmten mich, liebkosten mich und baten um ein zweites. Das waren kleine Heucheleien, durch die Antwort der Äbtissin hervorgerufen; es war nicht eine unter diesen Nonnen, die mir nicht, wenn sie gekonnt hätte, die Finger zerbrochen und die Stimme weggenommen hätte. Einige unter ihnen, die vielleicht nie in ihrem Leben Musik gehört hatten, ließen sich einfallen, über meinen Gesang einen ebenso lächerlichen wie unangenehmen Tadel auszusprechen, der auf die Äbtissin aber gar keinen Eindruck machte.

»Schweigt,« sagte sie zu ihnen, »sie spielt und singt wie ein Engel, und sie soll jeden Tag zu mir kommen; ich habe früher auch etwas Klavier gespielt, und sie soll mich wieder darin unterweisen.«

»Oh, Frau Äbtissin,« sagte ich zu ihr, »wenn man es einmal gekonnt hat, vergißt man es nie ganz …«

»Gut, überlaß mir also deinen Platz …«

Sie präludierte, sie spielte närrische, seltsame Sachen, die ebenso zusammenhanglos waren wie ihre Gedanken; aber ich sah bei allen Fehlern der Ausführung, daß sie eine unendlich viel leichtere Hand hatte als ich. Ich sagte es ihr, denn ich lobe gern und habe selten eine Gelegenheit vorbeigehen lassen, wenn ich es aus ehrlichem Herzen tun konnte; es ist etwas so Schönes! Die Nonnen schlichen sich eine nach der andern davon, und ich plauderte – fast allein – mit der Äbtissin über Musik. Sie saß, ich stand; sie faßte meine Hände, drückte sie und sagte: »Sie spielt nicht nur gut, sie hat auch die schönsten Hände der Welt; sieh nur, Schwester Therese …« Schwester Therese schlug die Augen nieder, errötete und stammelte; aber was ging es diese Schwester an, ob ich schöne Hände hatte oder nicht, ob es von der Äbtissin recht war oder unrecht, diese Bemerkung zu machen? Die Äbtissin umschlang meine Taille und fand, daß ich wundervoll gewachsen sei. Sie hatte mich an sich gezogen und bat mich, sie anzusehen; sie bewunderte meine Augen, meinen Mund, meine Wangen, meinen Teint; ich erwiderte nichts darauf, ich hatte die Augen niedergeschlagen und ließ mir alle Liebkosungen wie eine Idiotin gefallen. Schwester Therese war zerstreut, unruhig, ging hin und her, faßte alles an, ohne etwas in die Hand zu nehmen, wußte nicht, was sie mit sich anfangen sollte, sah aus dem Fenster, glaubte an der Tür ein Klopfen zu hören, bis schließlich die Äbtissin sagte: »Schwester Therese, du kannst fortgehen, wenn du dich langweilst.«

»Frau Äbtissin, ich langweile mich nicht.«

»Ich muß dieses Kind tausend Dinge fragen.«

»Das glaube ich.«

»Ich will ihre ganze Geschichte wissen; wie kann ich die Leiden wieder gutmachen, die man ihr angetan hat, wenn ich sie nicht kenne? Sie soll mir alles erzählen, ohne irgend etwas auszulassen; ich bin überzeugt, es wird mir das Herz zerreißen, und ich werde weinen, aber das tut nichts: Sainte-Susanne, wann werde ich alles erfahren?«

»Wann Sie befehlen, Frau Äbtissin.«

»Ich würde dich sogleich darum bitten, wenn wir Zeit dazu hätten. Wie spät ist es? …«

Schwester Therese erwiderte: »Frau Äbtissin, es ist fünf Uhr, und es ist schon zur Vesper geläutet.«

»Mag sie anfangen.«

»Aber Frau Äbtissin, Sie hatten mir vor der Vesper ein Troststündchen versprochen. Ich mache mir Gedanken, die mich beunruhigen; ich möchte Ihnen wohl mein Herz öffnen. Wenn ich so zum Gottesdienst gehe, kann ich nicht beten und bin zerstreut.«

»Nein, nein,« sagte die Äbtissin, »du hast ganz närrische Gedanken. Ich wette, ich weiß, was es ist; wir wollen morgen darüber sprechen.«

»Ach, teure Mutter,« sagte Schwester Therese, indem sie in Tränen ausbrechend sich der Äbtissin zu Füßen warf, »lassen Sie es gleich sein.«

»Frau Äbtissin,« sagte ich, indem ich mich aus meiner knienden Stellung, in der ich geblieben war, erhob, »gewähren Sie meiner Schwester das, worum sie bittet; lassen Sie ihren Kummer nicht länger andauern; ich ziehe mich zurück; ich habe ja immer noch Zeit, das Interesse zu befriedigen, das Sie an mir nehmen, und wenn Sie meine Schwester Therese angehört haben, wird sie nicht mehr leiden …«

Ich wandte mich der Tür zu, um hinauszugehen; die Äbtissin hielt mich an der Hand zurück, Schwester Therese warf sich auf die Knie, bemächtigte sich der andern, küßte sie und weinte, und die Äbtissin sagte zu ihr: »Wirklich, Sainte-Therese, du bist sehr lästig mit deiner Unruhe; ich habe dir schon öfter gesagt, daß ich das nicht mag und daß es mich hindert; ich will nicht behelligt sein.«

»Das weiß ich, aber ich bin nicht Herrin meiner Gefühle, ich möchte und ich kann nicht …«

Unterdes hatte ich mich zurückgezogen und die junge Schwester mit der Äbtissin allein gelassen. Ich konnte mich nicht enthalten, sie in der Kirche anzusehen; sie war auch jetzt noch niedergeschlagen und traurig; unsere Augen begegneten sich mehrmals, und mir schien es, als falle es ihr schwer, meinen Blick auszuhalten. Die Äbtissin war in ihrem Kirchenstuhl eingeschlafen.

Der Gottesdienst wurde rasch erledigt: die Kirche war, soviel mir schien, nicht der Ort des Hauses, wo man sich am wohlsten fühlte. Man verließ sie schnell und schwatzend wie eine Schar Vögel, die ihren Käfigen entflattern; und die Schwestern zerstreuten sich, laufend, lachend, plaudernd; die Äbtissin schloß sich in ihrer Zelle ein, und die Schwester Therese verweilte an der Tür der ihren und belauschte mich, als sei sie neugierig, was ich jetzt tun werde. Ich kehrte in meine Zelle zurück, die Tür von Schwester Thereses Zelle schloß sich aber erst einige Zeit später, und zwar ganz leise. Mir kam der Gedanke, das junge Mädchen könne eifersüchtig auf mich sein und die Befürchtung hegen, ich werde sie aus der Gunst und der Freundschaft der Äbtissin verdrängen. Ich beobachtete sie mehrere Tage lang, und als ich meinen Argwohn durch ihre kleinen Zornesausbrüche, ihre Unruhe, ihr beharrliches Ausspionieren aller meiner Schritte bestätigt fand, als ich sah, wie sie sich zwischen die Äbtissin und mich drängte, unsere Unterhaltung störte, meine guten Eigenschaften in den Schatten stellte, meine Fehler betonte, als ich ihre Blässe, ihren Kummer, ihre Tränen, ihre gestörte Gesundheit gewahrte, ging ich zu ihr und sagte zu ihr: »Liebe Freundin, was haben Sie?«

Sie antwortete mir nicht; mein Besuch überraschte sie und setzte sie in Verlegenheit; sie wußte nicht, was sie sagen und tun sollte.

»Sie lassen mir nicht genügend Gerechtigkeit widerfahren; sprechen Sie offen mit mir, Sie fürchten, daß ich die Zuneigung, die unsere Äbtissin für mich gefaßt hat, mißbrauchen werde, daß ich Sie aus ihrem Herzen verdränge. Beruhigen Sie sich; das liegt nicht in meinem Charakter: wenn ich je so glücklich sein sollte, einige Herrschaft über ihr Wesen zu bekommen.«

»Sie werden alles bekommen, was Sie wollen; sie liebt Sie; sie tut für Sie heute genau das, was sie im Anfang für mich getan hat.«

»Nun, seien Sie überzeugt: ich werde das Vertrauen, das sie mir schenkt, nur benutzen, um Sie noch mehr bei ihr in Gunst zu setzen.«

»Und hängt das von Ihnen ab?«

»Warum sollte es das nicht tun?«

Statt zu antworten, fiel sie mir um den Hals und sagte seufzend: »Es ist nicht Ihre Schuld, das weiß ich wohl, ich sage es mir jeden Augenblick, aber versprechen Sie mir …«

»Was soll ich Ihnen versprechen?«

»Daß …«

»Sprechen Sie weiter; ich will alles tun, was von mir abhängt.«

Sie zögerte, bedeckte die Augen mit den Händen und sagte mit so leiser Stimme, daß ich sie kaum verstehen konnte: »Daß Sie so selten wie möglich mit ihr zusammen sind …«

Diese Bitte erschien mir so seltsam, daß ich nicht umhin konnte, zu fragen: »Und was geht es Sie an, ob ich unsere Äbtissin häufig oder selten sehe? Ich bin doch nicht traurig, wenn Sie unausgesetzt mit ihr zusammen wären. Sie müssen nicht böse sein, wenn auch ich sie häufig sehe; genügt es Ihnen nicht, daß ich feierlich verspreche, weder Ihnen noch irgend jemandem bei ihr zu schaden?«

Sie sagte darauf nur die folgenden Worte, die sie in schmerzlichem Ton aussprach, indem sie von mir fortging und sich auf ihr Bett warf: »Ich bin verloren!«

»Verloren? Warum denn? Sie müssen mich ja für das böseste Geschöpf halten, das die Erde trägt?«

Soweit waren wir gekommen, als die Äbtissin eintrat. Sie war in meiner Zelle gewesen, hatte mich dort nicht gefunden und war vergeblich durch das ganze Haus gelaufen; ihr kam nicht der Gedanke, ich könne zu Schwester Therese gegangen sein. Als sie es von den Nonnen, die sie auf die Suche nach mir geschickt hatte, hörte, war sie schnell zu uns geeilt. In ihren Blicken und auf ihrem Gesicht malte sich einige Unruhe, aber sie ist ja so selten ganz ruhig! Sainte-Therese schwieg, während sie auf ihrem Bett saß, ich aber stand. Ich sagte: »Ich bitte Sie um Verzeihung, liebe Mutter, daß ich ohne Ihre Erlaubnis hierher gegangen bin.«

»Es wäre allerdings besser gewesen,« sagte sie, »du hättest mich um Erlaubnis gebeten.«

»Aber die gute Schwester tat mir leid; ich sah, daß sie einen Kummer hatte.«

»Inwiefern?«

»Soll ich es Ihnen sagen? Aber warum sollte ich es nicht sagen! Es ist ein zartes Empfinden, das ihrer Seele alle Ehre macht und beweist, wie innig sie an Ihnen hängt. Die Güte, die Sie mir erweisen, hat sie beunruhigt; sie fürchtet, ich könne sie aus Ihrem Herzen verdrängen; dies Gefühl der Eifersucht, das so ehrenhaft, so natürlich und so schmeichelhaft für Sie ist, war, wie mir schien, für meine Schwester eine Qual, und ich wollte sie beruhigen.«

Nachdem die Äbtissin mich angehört hatte, nahm sie eine strenge und gebieterische Miene an und sagte zu ihr:

»Schwester Therese, ich habe Sie sehr geliebt und liebe Sie noch; ich kann mich nicht über Sie beklagen, und Sie können auch nicht über mich klagen, aber ich darf eine solche Anmaßung nicht dulden. Das müssen Sie ablegen, wenn Sie nicht den letzten Rest meiner Zuneigung auslöschen wollen, und wenn Sie sich erinnern, wie es Schwester Agathe ergangen ist …« Dann wandte sie sich zu mir und sagte: »Das ist die große Brünette, die im Chor mir gegenüber sitzt.« (Denn ich kam so selten mit den Nonnen zusammen und war noch neu im Hause, daß ich nicht alle Namen meiner Gefährtinnen kannte.) Sie fügte hinzu: »Ich liebte sie, als Schwester Therese bei uns eintrat und meine Zuneigung gewann. Sie war von der gleichen Unruhe beherrscht, sie machte die gleichen Dummheiten; ich warnte sie, sie besserte sich nicht, und ich war genötigt, sehr strenge Maßregeln anzuwenden, die sich über eine lange Zeit erstreckten und die meinem Wesen zuwider sind; denn alle werden dir sagen, daß ich gut bin und nur widerwillig strafe …«

Dann wandte sie sich an Sainte-Therese und fügte hinzu: »Mein Kind, ich mag nicht belästigt werden, das habe ich dir schon einmal gesagt; du kennst mich; treibe mich nicht zu etwas, was meinem Charakter nicht entspricht …« Dann legte sie mir eine Hand auf die Schulter und sagte: »Komm, Sainte-Susanne, begleite mich.«

Wir gingen hinaus. Schwester Therese wollte uns folgen, die Äbtissin aber drehte nachlässig den Kopf halb zurück und sagte in despotischem Ton: »Geh wieder in deine Zelle und verlasse sie nicht ohne meine Erlaubnis.« Sie gehorchte, schloß heftig ihre Tür und stieß einige Worte aus, die die Äbtissin in Wut versetzten. Ich weiß nicht warum, denn sie hatten gar keinen Sinn; ich sah ihren Zorn und sagte zu ihr: »Liebe Mutter, wenn Sie einige Freundschaft für mich empfinden, so verzeihen Sie meiner Schwester Therese; ihr Geist ist verwirrt, sie weiß nicht, was sie sagt und tut.«

»Ich soll verzeihen? Das will ich tun; aber was gibst du mir dafür?«

»O liebe Mutter, sollte ich so glücklich sein, irgend etwas zu besitzen, was Ihnen gefiele und was Ihren Zorn besänftigen könnte?«

Sie schlug die Augen nieder, errötete und seufzte; sie benahm sich ganz wie ein Liebhaber. Dann sagte sie, indem sie sich fest auf mich lehnte, als würde sie ohnmächtig: »Reiche mir deine Stirn, daß ich sie küsse …« Ich beugte mich zu ihr, und sie küßte mich auf die Stirn. Von nun an tat ich, sobald eine Nonne irgendeinen Fehler begangen hatte, für sie Fürsprache und konnte sicher sein, durch irgendeine unschuldige Gefälligkeit ihre Begnadigung zu erwirken; sei es durch einen Kuß auf die Stirn, auf den Hals, auf die Augen, auf die Wangen, auf den Mund; sie fand, ich habe einen so reinen Atem, so weiße Zähne und so frische, rote Lippen.

Ich hätte wirklich sehr schön sein müssen, wenn ich nur den kleinsten Teil der Schmeicheleien verdient hätte, die sie mir sagte: meine Stirn sei so weiß, glatt und wohlgeformt, meine Augen so glänzend, meine Wangen so rot und weich, meine Hände so klein und rund, mein Busen fest wie Stein und von wunderbarer Form, meine Arme herrlich gemeißelt und rund, mein Hals schöner gebildet und von größerem Liebreiz als irgendeine andere Schwester ihn habe: was weiß ich, was sie alles sagte! In ihren Lobsprüchen lag sicher einiges Wahre, ich zog viel davon ab, aber nicht alles. Bisweilen betrachtete sie mich von oben bis unten mit mitleidiger Miene, wie ich sie nie bei irgendeiner andern Frau gesehen hatte, und sagte: »Nein, es ist ein großes Glück, daß Gott dich in das Kloster gebracht hat; mit dieser Erscheinung hätte sie alle Männer, die sie gesehen hätten, und sich selbst in die ewige Verdammnis gestürzt. Was Gott tut, das ist wohlgetan.«

Unterdes näherten wir uns ihrer Zelle, und ich schickte mich an, sie zu verlassen; sie aber faßte meine Hand und sagte: »Es ist zu spät, um deine Erzählung deiner Erlebnisse in Sainte-Marie und Longchamps zu beginnen, aber komm mit herein, du sollst mir eine Klavierstunde geben.«

Ich folgte ihr. Im Nu hatte sie den Flügel geöffnet, ein Notenheft hervorgeholt und einen Stuhl herangezogen, denn sie war sehr lebhaft. Ich setzte mich. Sie dachte, ich könne frieren, nahm ein Kissen von einem der Stühle, legte es vor mich auf den Fußboden, bückte sich und ergriff meine beiden Füße, die sie daraufstellte; dann spielte ich einige Stücke von Couperin, Rameau, Scarlatti: dabei hatte sie einen Zipfel meines Halstuches gehoben und ihre Hand auf meine nackte Schulter gelegt, so daß ihre Fingerspitzen auf meinem Busen ruhten. Sie seufzte und schien sehr erregt, ihr Atem ging unregelmäßig; die Hand, die auf meiner Schulter lag, preßte sie zuerst sehr zusammen, dann drückte sie gar nicht mehr, als sei sie kraftlos und ohne Leben; und ihr Kopf fiel auf den meinen. Diese Närrin war von einer ganz unglaublichen Empfindsamkeit und hatte eine sehr große Liebe zur Musik; ich habe nie einen Menschen gekannt, auf den sie eine so sonderbare Wirkung ausübte.

Wir ergötzten uns so in ebenso einfacher wie lieblicher Weise, als plötzlich die Tür heftig aufgerissen wurde; ich erschrak, die Äbtissin gleichfalls: es war die närrische Schwester Therese: ihre Kleidung war in Unordnung, ihre Augen irr; sie sah uns beide mit seltsamer Eindringlichkeit an, ihr zitterten die Lippen, sie konnte nicht sprechen. Dann aber kam sie zu sich und warf sich vor der Äbtissin auf die Knie; ich vereinigte meine Bitten mit den ihren und erlangte endlich Verzeihung für sie; aber die Äbtissin kündigte ihr sehr energisch an, es sei das letztemal, daß sie ihr Fehler dieser Art verzeihe; dann gingen wir beide zusammen hinaus.

Während wir in unsere Zellen zurückkehrten, sagte ich: »Liebe Schwester, nehmen Sie sich in acht, Sie bringen unsere Mutter gegen sich auf. Ich werde Sie nicht im Stich lassen, aber Sie werden meine Fürsprache zu sehr ausnutzen, und ich werde untröstlich sein, wenn ich eines Tages weder für Sie noch für irgendeine andere mehr etwas tun kann. Aber was haben Sie eigentlich für Gedanken?«

Keine Antwort.

»Was fürchten Sie von mir?«

Keine Antwort.

»Kann unsere Mutter uns beide nicht gleichermaßen lieben?«

»Nein, nein,« erwiderte sie heftig, »das kann nicht sein; bald werde ich ihr widerwärtig sein, und das ist mein Tod! Oh, warum sind Sie hergekommen! Sie werden hier nicht lange glücklich sein, davon bin ich überzeugt, und ich werde auf immer unglücklich werden.«

»Aber,« sagte ich zu ihr, »es ist gewiß ein großes Unglück, das Wohlwollen einer Äbtissin vermissen zu müssen; doch ich kenne ein noch größeres: wenn man diesen Verlust verdient hat. Haben Sie sich nichts vorzuwerfen?«

»Ach, wollte Gott, es wäre so!«

»Wenn Sie sich innerlich irgendeines Fehlers anklagen, müssen Sie ihn wiedergutmachen; und das sicherste Mittel ist, geduldig die Strafe zu ertragen.«

»Das kann ich nicht, das kann ich nicht; und außerdem gebührt es ihr, mich dafür zu strafen?«

»Ihr, Schwester Therese, ihr? Spricht man so von einer Äbtissin? Das ist nicht hübsch; Sie vergessen sich. Ich glaube, diese Schuld ist größer als alle, die Sie sich zum Vorwurf machen.«

»Ach, wollte Gott,« sagte sie noch einmal, »wollte Gott …« Und wir trennten uns; sie ging; um sich in ihrer Zelle ihrer Verzweiflung hinzugeben, ich aber, um in der meinen über die sonderbaren Ideen von Weiberhirnen nachzudenken.

Das kommt von dem zurückgezogenen Leben. Der Mensch ist für Geselligkeit geboren; wenn man ihn isoliert und abtrennt, werden seine Gedanken mit sich selbst uneins, sein Charakter wird sich verändern, tausend lächerliche Gelüste werden in seinem Herzen aufwachen, extravagante Gedanken in seinem Hirn sprossen, wie Unkraut auf unbebautem Acker. Man stelle einen Mann in einen Wald, so verwildert er darin; in einem Kloster, wo der Gedanke des Zwangs sich zu dem der Knechtschaft gesellt, ist es noch schlimmer. Aus einem Walde kann man wieder heraus, aus einem Kloster nicht; im Walde ist man frei, im Kloster ein Sklave. Es ist vielleicht mehr Seelenkraft erforderlich, der Einsamkeit standzuhalten als dem Elend; das Elend erniedrigt, die Abgeschlossenheit von der Welt verdirbt den Charakter. Ist es besser, in Verworfenheit, als in Narrheit zu leben? Das wage ich nicht zu entscheiden, aber man müßte beides vermeiden.

Ich sah die Zuneigung der Äbtissin zu mir von Tag zu Tag wachsen. Ich war dauernd in ihrer Zelle oder sie in der meinen; bei dem geringsten Unwohlsein kam ich ins Krankenzimmer, brauchte den Gottesdiensten nicht beizuwohnen, durfte früh zu Bett gehen und brauchte zu den Frühmetten nicht aufzustehen. Im Chor, im Refektorium, im Erholungsraum fand sie alle möglichen Mittel, mir ihre Freundschaft zu beweisen; wenn im Chor eine Strophe gesungen wurde, die von liebevollen und zärtlichen Gefühlen sprach, richtete sie ihren Gesang an mich oder sah mich an, wenn eine andere diese Strophe sang; im Refektorium steckte sie mir stets etwas zu, wenn ihr irgend etwas besonders Gutes vorgesetzt wurde; in den Erholungsstunden hielt sie mich umarmt und sagte mir liebe, verbindliche Worte; sie bekam kein Geschenk, von dem sie mir nicht abgegeben hätte: Schokolade, Zucker, Kaffee, Likör, Tabak, Wäsche, Taschentücher, was auch immer es sei; sie hatte aus ihrer Zelle Kupferstiche, Möbel, alle möglichen angenehmen oder nützlichen Gegenstände entfernt, um mein Zimmer damit zu schmücken; ich konnte mich kaum einen Augenblick aus meiner Zelle entfernen, ohne sie beim Zurückkommen durch irgendwelche Gaben bereichert zu finden. Ich bedankte mich bei ihr und sie äußerte eine unbeschreibliche Freude; sie umarmte mich, liebkoste mich, nahm mich auf den Schoß, erzählte mir die geheimsten Dinge des Hauses, und sprach davon, daß ihr Leben, wenn ich sie liebte, tausendmal glücklicher sei, als wenn sie in der Welt gelebt hätte. Dann hielt sie inne, sah mich mit gerührten Blicken an und fragte: »Schwester Susanne, liebst du mich?«

»Wie sollte ich Sie nicht lieben! Dann müßte ich eine sehr undankbare Seele sein!«

»Das ist wahr.«

»Sie sind so gut.«

»Sage, so eingenommen von dir …«

Und während sie das sagte, schlug sie die Augen nieder; die Hand, mit der sie mich umarmt hielt, drückte mich heftig, ebenso die, die auf meinem Knie lag; sie zog mich näher an sich; mein Gesicht lag auf ihrem, sie seufzte, sie lehnte sich zitternd in den Stuhl zurück; man konnte glauben, sie wolle mir irgend etwas anvertrauen und habe den Mut nicht dazu; sie vergoß Tränen und sagte dann: »O Schwester Susanne, du liebst mich nicht!«

»Ich liebe Sie nicht, teure Mutter?«

»Nein.«

»Was soll ich denn tun, um Ihnen meine Liebe zu beweisen?

»Das mußt du erraten.«

»Ich bemühe mich, aber ich kann es nicht erraten.«

Unterdes hatte sie ihr Halstuch aufgehoben und eine meiner Hände auf ihren Busen gelegt; sie schwieg, ich ebenfalls; sie schien das größte Vergnügen zu empfinden. Sie forderte mich auf, ihr Stirn, Augen, Wangen und Mund zu küssen; ich gehorchte ihr; ich glaube nicht, daß etwas Böses dabei war; aber ihr Vergnügen steigerte sich, und da ich mir nichts Besseres wünschte, als auf so unschuldige Art ihr Glück zu erhöhen, küßte ich ihr immer wieder Stirn, Wangen, Augen und Mund. Die Hand, die sie auf mein Knie gelegt hatte, glitt an meinem Kleide entlang, bis zu meinen Fußspitzen, bis an meinen Gürtel und drückte mich bald an dieser Stelle, bald an einer andern; sie forderte mich stammelnd und mit ganz veränderter und leiser Stimme auf, meine Liebkosungen zu verdoppeln, und ich verdoppelte sie; endlich kam ein Augenblick, da sie, ich weiß nicht, ob vor Wonne oder vor Schmerz, bleich wurde wie der Tod; ihre Augen schlossen sich, ihr Körper dehnte sich gewaltsam, ihre Lippen preßten sich zusammen, sie waren wie mit leichtem Schaum bedeckt; dann öffnete ihr Mund sich halb und sie stieß einen tiefen Seufzer aus, so daß ich glaubte, sie verscheide. Ich sprang rasch auf, in der Annahme, sie befände sich schlecht und wollte hinausgehen und Hilfe herbeirufen. Sie öffnete die Augen ein wenig und sagte mit erloschener Stimme: »Kleine Unschuld, es ist nichts! Was willst du tun? Bleib hier! …« Ich sah sie mit verdutzten Augen an, ungewiß, ob ich bleiben oder gehen sollte. Sie schlug wieder die Augen auf, konnte aber nicht sprechen und machte mir nur ein Zeichen, ich solle herankommen und mich wieder auf ihren Schoß setzen. Ich weiß nicht, was in mir vorging; ich hatte Angst, ich zitterte, mein Herz klopfte, ich konnte kaum atmen, ich fühlte mich verwirrt, erregt, aufgewühlt, erschrocken; mir war, als verließen mich meine Kräfte und als müsse ich ohnmächtig werden; aber ich kann nicht sagen, daß ich Schmerz empfand. Ich eilte auf sie zu; sie winkte mir noch einmal, mich auf ihren Schoß zu setzen, und ich setzte mich; sie war wie tot und mir war, als müsse ich sterben. Wir blieben beide ziemlich lange in diesem sonderbaren Zustand; wenn eine Nonne hinzugekommen wäre, wäre ich sicher sehr erschrocken gewesen; sie hätte denken müssen, wir befänden uns beide schlecht oder seien eingeschlafen. Endlich kam die gute Äbtissin, – denn man kann unmöglich so gefühlvoll sein, wenn man nicht gut ist, – wieder zu sich. Sie lehnte noch immer in ihrem Stuhl, ihre Augen waren noch immer geschlossen, aber ihr Gesicht belebte sich mit schöneren Farben; sie ergriff eine meiner Hände und küßte sie, und ich sagte zu ihr: »O liebe Mutter, Sie haben mir einen schönen Schrecken eingejagt …« Sie lächelte sanft, ohne die Augen zu öffnen. »Aber haben Sie nicht gelitten?«

»Nein.«

»Ich dachte es.«

»O die Unschuld, die liebe Unschuld! wie gut gefällt mir das!«

Mit diesen Worten stand sie auf, richtete sich auf, rückte sich auf ihrem Stuhl zurecht, umschlang mich und küßte mich heftig auf die Wangen; dann sagte sie: »Wie alt bist du?«

»Ich bin noch nicht zwanzig Jahre.«

»Unbegreiflich.«

»Und doch ist es wahr, liebe Mutter.«

»Ich will dein ganzes Leben kennen; wirst du mir alles erzählen?«

»Ja, liebe Mutter.«

»Alles?«

»Alles.«

»Aber es könnte jemand kommen; wir wollen uns ans Klavier setzen, du sollst mir Unterricht geben.«

Wir gingen an das Klavier, aber ich weiß nicht, wie es zuging: mir zitterten die Hände, ich sah auf dem Papier nur einen Haufen Noten, ich konnte nicht spielen. Ich sagte es ihr, sie begann zu lachen und nahm meinen Platz ein, aber das war noch schlimmer, sie konnte kaum die Arme heben.

»Mein Kind,« sagte sie zu mir, »ich sehe, daß du nicht in dem Zustand bist, mich unterweisen zu können. Ich bin etwas ermüdet und muß mich ausruhen, lebwohl! Morgen will ich erfahren, was alles in dieser lieben kleinen Seele vorgegangen ist; lebwohl …«

Sonst begleitete sie mich, wenn ich fortging, bis an ihre Tür, sah mir nach, wie ich den Gang entlang zu meiner Zelle ging, warf mir eine Kußhand zu, und ging erst wieder in ihre Zelle, wenn ich meine Tür hinter mir geschlossen hatte; diesmal stand sie kaum auf und strengte sich nur an, den Sessel neben ihrem Bett zu erreichen; sie setzte sich, legte den Kopf auf ihr Kopfkissen, warf mir eine Kußhand zu; ihre Augen schlossen sich, und ich ging fort.

Meine Zelle lag Schwester Thereses Zelle ungefähr gegenüber; sie erwartete mich, hielt mich an und sagte:

»O Schwester Susanne, Sie kommen von unserer Mutter?«

»Jawohl,« sagte ich.

»Sie sind sehr lange bei ihr geblieben?«

»So lange sie wollte.«

»Das haben Sie mir nicht versprochen.«

»Ich habe Ihnen nichts versprochen.«

»Wagen Sie mir zu sagen, was Sie dort getan haben?«

Obwohl mein Gewissen mir keine Vorwürfe machte, muß ich Ihnen doch gestehen, Herr Marquis, daß ihre Frage mich in Bestürzung versetzte; sie bemerkte es und beharrte bei ihrer Frage, und ich antwortete ihr: »Liebe Schwester, mir würden Sie vielleicht nicht glauben, aber unserer teuren Mutter werden Sie glauben, wenn ich sie bitte, Sie darüber zu unterrichten.«

»Liebe Schwester Susanne,« sagte sie leidenschaftlich, »tun Sie das nicht! Sie wollen mich doch nicht unglücklich machen; sie würde mir nie verzeihen; Sie kennen sie nicht: sie kann von der größten Zärtlichkeit zur schrecklichsten Wildheit übergehen; ich weiß nicht, was mit mir geschehen würde. Versprechen Sie mir, ihr nichts zu sagen.«

»Wünschen Sie das wirklich nicht?«

»Ich beschwöre Sie auf den Knien. Ich bin verzweifelt, ich sehe, ich muß mich entschließen, ich will mich entschließen. Versprechen Sie mir, ihr nichts zu sagen …«

Ich hob sie auf und gab ihr mein Wort; sie verließ sich darauf und zwar mit Recht; und wir schlossen uns wieder ein, sie in ihrer Zelle, ich in der meinen.

Als ich in meiner Zelle anlangte, war ich nachdenklich. Ich versuchte zu beten und konnte es nicht; ich versuchte mich zu beschäftigen; ich nahm eine Arbeit auf und ließ sie liegen, um etwas anderes zur Hand zu nehmen; meine Hände waren sich gegenseitig im Wege, und ich war wie vor den Kopf geschlagen; etwas Ähnliches hatte ich nie empfunden. Meine Augen fielen von selbst zu; ich schlief ein Weilchen, obwohl ich sonst nie am Tage schlafe. Als ich aufwachte, legte ich mir die Frage vor, was eigentlich zwischen der Äbtissin und mir vorgegangen sei, und prüfte mein Herz; ich glaubte, es zu durchschauen … aber es waren so unbestimmte, so närrische, so lächerliche Gedanken, daß ich sie weit von mir schob. Das Ergebnis meiner Überlegungen war, sie müsse vielleicht von einer Krankheit befallen sein; dann dachte ich weiter, vielleicht sei diese Krankheit ansteckend, Schwester Therese sei ebenfalls davon erfaßt, und auch ich würde sie bekommen.

Am andern Morgen nach dem Frühgottesdienst sagte unsere Äbtissin zu mir: »Schwester Susanne, heute hoffe ich alles zu erfahren, was du erlebt hast. Komm mit mir …«

Ich folgte ihr. Sie hieß mich in dem Sessel neben ihrem Bett Platz nehmen und setzte sich selbst auf einen etwas niedrigeren Stuhl. Ich überragte sie also, weil ich größer und erhöhter saß. Sie war mir so nah, daß meine beiden Knie die ihren berührten, und sie hatte sich mit den Ellbogen auf ihr Bett gestützt. Nachdem sie ein Weilchen geschwiegen hatte, sagte ich zu ihr:

»Obwohl ich noch sehr jung bin, habe ich doch schon viel Kummer erlebt; seit bald zwanzig Jahren bin ich auf der Welt, und seit zwanzig Jahren leide ich. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen alles sagen kann und ob Sie so stark sind, es anzuhören; das Leiden bei meinen Eltern, mein Leiden im Kloster Sainte-Marie, mein Leiden im Kloster Longchamps, Leiden überall; teure Mutter, wo soll ich anfangen?«

»Bei deinen ersten Leiden.«

»Aber,« sagte ich, teure Mutter, das wird eine lange und traurige Geschichte, und ich möchte Sie nicht so sehr betrüben.«

»Fürchte nichts; ich weine gern: es ist ein wunderbarer Zustand für eine zärtliche Seele, Tränen zu vergießen. Du mußt auch lernen, gern zu weinen; du wirst meine Tränen trocknen und ich die deinen, und vielleicht werden wir mitten in deiner Erzählung von deinen Leiden glücklich sein; wer weiß, wozu die Rührung uns führen kann? …« Und während sie diese letzten Worte aussprach, sah sie mich von oben bis unten mit schon feuchten Augen an; sie ergriff meine beiden Hände, sie rückte noch näher an mich heran, so daß ich sie und sie mich berührte.

»Erzähle, mein Kind,« sagte sie. »Ich warte, ich fühle das dringende Verlangen, mich rühren zu lassen; ich glaube, ich habe nie in meinem Leben einen so mitleidvollen und zärtlichen Tag gehabt …«

Ich begann also meine Erzählung und berichtete ungefähr dasselbe, was ich hier niedergeschrieben habe. Ich kann Ihnen nicht schildern, wie das alles auf sie wirkte, welche Seufzer sie ausstieß, wieviel Tränen sie vergoß, wie empört sie war über meine grausamen Eltern, über die bösen Schwestern in Sainte-Marie, über die Nonnen in Longchamps; es würde mich sehr betrüben, wenn auch nur der kleinste Teil der Übel, die sie auf sie herabwünschte, über sie käme; ich möchte nicht, daß meinem grausamsten Feinde ein Haar auf dem Kopfe gekrümmt werde. Von Zeit zu Zeit unterbrach sie mich, stand auf, ging hin und her, setzte sich dann wieder an ihren Platz; bisweilen hob sie Hände und Augen zum Himmel und barg dann wieder den Kopf in meinem Schoß. Als ich ihr von meinem Aufenthalt in dem Verlies, von der Austreibung des Satans, von meiner Kirchenbuße erzählte, stieß sie fast laute Schreie aus; als ich zu Ende war, schwieg ich und sie verharrte eine Weile über das Bett geworfen, das Gesicht in die Decke gepreßt, die Arme weit ausgestreckt. Ich aber sagte: »Liebe Mutter, ich bitte Sie um Vergebung, daß ich Ihnen solchen Kummer bereitet habe; ich hatte es Ihnen vorher gesagt, aber Sie haben es gewollt …« Sie erwiderte mir darauf nur:

»Diese bösen Kreaturen! Diese entsetzlichen Kreaturen! Nur in den Klöstern kann die Menschlichkeit bis zu einem solchen Grade schwinden. Wenn der Haß zu der üblichen schlechten Laune hinzukommt, weiß man nicht mehr, wie die Dinge ausgehen. Glücklicherweise bin ich sanften Gemüts. Ich liebe meine Nonnen; auch haben sie alle, die einen mehr, die andern weniger, etwas von meinem Charakter angenommen und lieben sich untereinander. Aber wie hat diese zarte Gesundheit so vielen Martern widerstehen können? Daß die zarten Glieder nicht zerbrochen sind! Daß dieser ganze feine Bau nicht zerstört wurde! Daß der Glanz der Augen nicht in Tränen erloschen ist! Diese Grausamen! Wie konnten sie diese Arme mit Stricken schnüren!« … Und sie nahm meine Arme und küßte sie. »Tränen in diese Augen treiben!« … Und sie küßte sie. »Klagen und Angstgeschrei diesem Munde entlocken!« … Und sie küßte ihn. »Dies bezaubernde, heitere Gesicht dazu verdammen, sich unentwegt mit Wolken der Trübsal zu überziehen.« … Und sie küßte es. »Die Rosen auf diesen Wangen erbleichen lassen!« … Und sie streichelte sie und küßte sie. »Diesen Kopf zu verunstalten, diese Haare auszuraufen! diese Stirn mit Sorgen zu belasten!« … Und sie küßte meinen Kopf, meine Stirn, mein Haar … »Daß sie es wagten, diesen Hals mit einem Strick zu umwinden und diese Schultern mit spitzen Stacheln zu zerreißen!« … Und sie entblößte Schultern und Hals; sie öffnete oben mein Gewand, mein Haar fiel gelöst auf meine nackten Schultern, meine Brust war halb nackt, und ihre Küsse regneten auf den entblößten Hals und die Schultern und auf meine halbnackte Brust.

Ich merkte an dem Zittern, das sie befiel, an der Verwirrung ihrer Rede, an der Verstörtheit ihrer Augen und Hände, an ihren Knien, die sich gegen meine preßten, an der Glut, mit der sie mich liebkoste, und der Heftigkeit, mit der ihre Arme mich umschlangen, daß sie wieder einen Anfall ihrer Krankheit bekommen würde. Ich weiß nicht, was in mir vorging, aber Angst ergriff mich, ein Zittern und ein Schwächegefühl überkam mich, das mir den Argwohn bestätigte, ihre Krankheit müsse ansteckend sein.

Ich sagte: »Liebe Mutter, sehen Sie doch, in was für eine Verfassung Sie mich gebracht haben! Wenn jemand käme …«

»Bleib, bleib,« sagte sie mühsam, »es kommt niemand …«

Aber ich versuchte aufzustehen und mich ihren Händen zu entreißen, und sagte: »Vorsicht, liebe Mutter, sonst kommt Ihre Krankheit wieder über Sie. Gestatten Sie, daß ich mich entferne …«

Ich wollte fortgehen; ich wollte es, das ist sicher, aber ich konnte es nicht. Ich hatte keine Kraft mehr, meine Knie wankten. Sie saß, ich stand, sie zog mich an sich, ich fürchtete auf sie zu fallen und ihr weh zu tun; ich setzte mich auf den Rand ihres Bettes und sagte zu ihr:

»Liebe Mutter, ich weiß nicht, was mir ist, ich fühle mich nicht wohl.«

»Ich auch nicht,« sagte sie, »aber ruhe dich einen Augenblick aus; es geht vorbei, es ist nichts …«

Wirklich beruhigte meine Äbtissin sich wieder, und ich auch. Wir waren beide niedergeschlagen; ich hatte den Kopf auf ihr Kopfkissen gelegt, sie hatte den Kopf in meinen Schoß gebettet, die Stirn auf eine meiner Hände gepreßt. So blieben wir einige Augenblicke; ich weiß nicht, was sie dachte; ich für mein Teil dachte nichts, konnte es nicht, ich war von einer Schwäche, die mich völlig in Anspruch nahm. Wir schwiegen beide, bis die Äbtissin das Schweigen brach; sie sagte: »Susanne, mir ist, als habest du von deiner ersten Äbtissin gesagt, sie sei dir sehr teuer gewesen.«

»Sehr teuer.«

»Sie liebte dich nicht mehr, als ich dich liebe, aber sie wurde von dir mehr geliebt … Du antwortest mir nicht?«

»Ich war unglücklich, sie tröstete mich in meinem Kummer.«

»Aber woher kommt deine Abneigung gegen das Leben im Kloster? Susanne, du hast mir nicht alles gesagt.«

»Doch, Frau Äbtissin.«

»Wie! Sollte es möglich sein, daß dir niemand, obwohl du sehr liebenswert bist, – denn das bist du, mein Kind, du ahnst nicht, wie sehr, – das gesagt hat.«

»Es ist mir gesagt worden.«

»Und der es dir gesagt hat, mißfiel dir nicht?«

»Nein.«

»Und du faßtest Zuneigung zu ihm?«

»Durchaus nicht.«

»Wie! Dein Herz hätte noch nicht empfunden?«

»Nichts.«

»Also hat deine Abneigung gegen das Kloster nicht in einer geheimen oder von deinen Eltern mißbilligten Leidenschaft ihren Grund? Vertraue dich mir an; ich bin nachsichtig.«

»Liebe Mutter, in diesem Punkte habe ich Ihnen nichts anzuvertrauen.«

»Aber, ich frage noch einmal, worauf ist dein Widerwille gegen das Leben als Nonne zurückzuführen?«

»Aus dem Klosterleben selbst. Ich hasse die Verpflichtungen, die Beschäftigungen, die Abgeschiedenheit, den Zwang; mir ist, als sei ich zu etwas anderm berufen.«

»Aber woran merkst du das?«

»An der Langeweile, die mich überwältigt; ich langweile mich.«

»Auch hier?«

»Ja, liebe Mutter, auch hier; trotz aller Güte, die Sie für mich haben.«

»Empfindest du denn in dir selbst besondere Regungen und Gelüste?«

»Nein.«

»Das will ich glauben; du scheinst sehr ruhig zu sein.«

»Ziemlich.«

»Sogar kalt.«

»Das weiß ich nicht.«

»Du kennst die Welt nicht?«

»Wenig.«

»Welche Anziehungskraft kann sie denn für dich haben?«

»Das ist mir nicht klar, aber vorhanden ist sie.«

»Entbehrst du hier die Freiheit?«

»Das auch, und noch manches andere.«

»Und welches andere ist das? Liebe Freundin, sprich offen mit mir; möchtest du verheiratet sein?«

»Lieber als hier zu sein; das ist sicher.«

»Warum würdest du das vorziehen?«

»Das weiß ich nicht.«

»Du weißt es nicht? Aber sage mir, was für einen Eindruck macht auf dich die Anwesenheit eines Mannes?«

»Gar keinen; wenn er Geist hat und gut spricht, höre ich ihm mit Vergnügen zu; wenn er gut aussieht, fällt es mir auf.«

»Und dein Herz ist ruhig?«

»Bisher hat sich nichts darin geregt.«

»Wie! wenn sie ihre feurigen Blicke auf dich gerichtet haben, hast du nichts gefühlt …«

»Bisweilen bin ich verlegen geworden und habe die Augen niedergeschlagen.«

»Ohne jede Unruhe?«

»Ohne jede.«

»Und deine Sinne sagen dir nichts?«

»Ich weiß nicht, was Sprache der Sinne bedeutet.«

»Sie haben aber doch eine Sprache.«

»Mag sein.«

»Und du kennst sie nicht?«

»Nein.«

»Wie? Du … Es ist eine süße Sprache; möchtest du sie kennen lernen?«

»Nein, liebe Mutter, wozu sollte mir das nützen?«

»Deine Langeweile zu vertreiben.«

»Sie vielleicht zu steigern. Und dann; was bedeutet die Sprache der Sinne ohne einen Gegenstand?«

»Wenn man spricht, spricht man stets zu jemandem; das ist zweifelsohne besser, als sich allein zu unterhalten, obwohl das auch nicht ganz ohne Reiz ist. Wenn du wolltest, liebes Kind, könnte ich deutlicher werden.«

»Nein, liebe Mutter, nein. Ich weiß nichts, und ich möchte lieber auch fernerhin nichts wissen, als Kenntnisse erlangen, die mich vielleicht noch beklagenswerter machen als ich bin. Ich habe keine Wünsche, und ich möchte auch keine haben, die ich nicht befriedigen könnte.«

»Und warum könntest du es nicht?«

»Wie könnte ich es?«

»Wie ich.«

»Wie Sie? Aber in diesem Hause ist doch niemand.«

»Ich bin hier, liebe Freundin, du bist hier.«

»Nun ja, was bin ich Ihnen, was sind Sie mir?«

»Wie unschuldig sie ist!«

»Ja, das ist wahr, liebe Mutter, unschuldig bin ich, und ich möchte lieber sterben, als aufhören, das zu sein.«

Ich weiß nicht, was diese letzten Worte für sie Kränkendes haben konnten, aber mit einem Schlage veränderte sich ihr Gesicht, sie wurde ernst, verlegen; ihre Hand, die sie auf mein Knie gelegt hatte, hörte auf, es zu drücken, und zog sich dann zurück; sie hatte die Augen niedergeschlagen.

Ich sagte: »Liebe Mutter, was habe ich gesagt? Ist mir ein Wort entschlüpft, das Sie gekränkt hat? Verzeihen Sie mir. Ich mache von der Freiheit Gebrauch, die Sie mir zugestanden haben; ich überlege nichts vorher, was ich Ihnen zu sagen habe, und wenn ich überlegte, könnte ich nicht anders sprechen, vielleicht nur schlechter. Die Dinge, über die wir uns unterhalten, sind mir so fremd! Verzeihen Sie mir …«

Mit diesen Worten schlang ich meine beiden Arme um ihren Hals und legte meinen Kopf auf ihre Schulter. Sie umschlang mich auch mit ihren Armen und drückte mich zärtlich an sich. So verharrten wir eine Weile; dann hatte sie ihre Zärtlichkeit und ihre Heiterkeit wiedergewonnen und sagte: »Susanne, schläfst du gut?«

»Sehr gut,« sagte ich, »besonders seit einiger Zeit.«

»Schläfst du sofort ein?«

»Meistens ja.«

»Aber wenn du nicht sogleich einschläfst, woran denkst du dann?«

»An mein vergangenes Leben, an mein Leben, das ich noch vor mir habe; und ich bete oder weine; was weiß ich?«

»Und wenn du morgens aufwachst?«

»Dann stehe ich auf.«

»Sofort?«

»Sofort.«

»Du träumst also nicht gern?«

»Nein.«

»Ruhst nicht gern auf deinem Kissen?«

»Nein.«

»Genießt nicht gern die Wärme deines Bettes?«

»Nein.«

»Niemals?«

Hier hielt sie inne, und das war recht von ihr; was sie mich fragen wollte, war nicht wohlgetan, und vielleicht ist es für mich noch viel unschicklicher, es weiter zu erzählen, aber ich habe mich entschlossen, nichts zu verheimlichen. »Hast du dich nie versucht gefühlt, mit Wohlgefallen deine Schönheit zu betrachten?«

»Nein, liebe Mutter, ich weiß nicht, ob ich so schön bin, wie Sie sagen, und wenn ich es bin, so ist man doch nur für die andern schön, nicht für sich.«

»Hast du nie daran gedacht, deine Hände über die schöne Brust, über deine Schenkel, deinen Leib, über dies feste, weiche, weiße Fleisch gleiten zu lassen?«

»O nein, das ist doch Sünde! Und wenn mir diese Versuchung gekommen wäre, so weiß ich nicht, wie ich sie hätte beichten sollen …«

Ich weiß nicht mehr, was wir noch weiter sprachen, als eine Botin kam und die Äbtissin ins Sprechzimmer bat. Ich hatte den Eindruck, daß dieser Besuch ihr lästig kam, und daß sie lieber weiter mit mir geplaudert hätte, obwohl an dem, was wir sagten, nicht viel verloren war; wir trennten uns also.

Niemals war die Schwesternschaft glücklicher gewesen als seit meinem Eintritt in das Kloster. Die Äbtissin schien die Ungleichmäßigkeit ihres Charakters verloren zu haben; man sagte, ich hätte ihr Festigkeit gegeben. Sie gab sogar zu meinen Gunsten mehrere Erholungstage, die Feste genannt werden; an diesen Tagen wird etwas besser gegessen als gewöhnlich, die Gottesdienste sind kürzer und die ganze Zeit zwischen den Andachten ist der Erholung gewidmet. Aber diese glückliche Zeit sollte für die andern und für mich vorübergehen.

Der Szene, die ich soeben beschrieben habe, folgten sehr viele ähnliche, die ich nicht weiter erwähne, abgesehen von der Fortsetzung der eben geschilderten.

Der Äbtissin begann sich eine gewisse Unruhe zu bemächtigen; sie verlor ihre Heiterkeit, ihre Fülle, ihre Ruhe. In der nächsten Nacht, als alle schliefen und das Haus im Schweigen lag, stand sie auf; nachdem sie eine Zeitlang in den Gängen umhergeirrt war, kam sie an meine Zelle. Ich habe einen leichten Schlaf und glaubte ihren Schritt zu hören. Sie blieb stehen. Indem sie anscheinend die Stirn gegen meine Tür lehnte, machte sie Geräusch genug, um mich zu wecken, wenn ich geschlafen hätte. Ich verhielt mich ruhig; ich glaubte eine klagende Stimme zu hören, und dann einen Seufzer; anfangs überlief mich ein leichter Schauder, dann entschloß ich mich, mein Ave herzusagen. Statt zu antworten, entfernte man sich mit leichten Schritten. Bald darauf kam sie wieder; wieder setzten Klagen und Seufzer ein, ich sagte wieder mein Ave her, und wieder entfernte sie sich. Ich beruhigte mich und schlief wieder ein. Während ich schlief, trat sie ein, setzte sich neben mein Bett; meine Vorhänge waren nicht ganz geschlossen, sie nahm eine kleine Kerze, mit der sie mir ins Gesicht leuchtete, um mich im Schlafen zu betrachten; wenigstens schloß ich das aus ihrer Haltung, als ich die Augen aufschlug; und ich sah die Äbtissin vor mir.

Ich richtete mich hastig auf; sie sah meine Bestürzung und sagte: »Susanne, beruhige dich, ich bin es …« Ich legte den Kopf wieder auf mein Kissen und sagte: »Liebe Mutter, was tun Sie hier um diese Stunde? Was mag Sie hergeführt haben? Warum schlafen Sie nicht?«

»Ich kann nicht schlafen,« erwiderte sie, »ich werde lange nicht imstande sein, zu schlafen. Böse Träume quälen mich; kaum habe ich die Augen geschlossen, so kehren die Leiden, die du erduldet hast, in meine Vorstellung zurück; ich sehe dich in den Händen dieser unmenschlichen Kreaturen, ich sehe dein Haar dir ins Gesicht hängen, sehe deine blutenden Füße, die Fackel in deiner Hand, den Strick um deinen Hals; ich glaube, sie wollen dir das Leben nehmen; mich überläuft ein Schauder, ich zittere; ich will dir zu Hilfe eilen, ich stoße Schreie aus, ich wache auf, und vergeblich warte ich, daß der Schlaf wiederkommt. Das ist mir heute nacht geschehen; mich beschlich die Angst, der Himmel wolle mir damit ankündigen, daß meiner Freundin ein Unglück zugestoßen sei; ich bin aufgestanden, habe mich deiner Tür genähert, habe gelauscht; mir war es, als wenn du nicht schliefest; du sprachst, ich zog mich zurück, ich kam wieder, du sprachst noch immer, und ich entfernte mich abermals; dann kehrte ich ein drittesmal zurück, und da ich dich schlafend glaubte, bin ich eingetreten. Ich sitze schon eine Weile neben dir und fürchtete dich aufzuwecken; ich schwankte anfangs, ob ich deine Vorhänge aufziehen solle, aber ich konnte dem Wunsch nicht widerstehen, mich zu überzeugen, ob es meiner teuren Susanne gut ginge; ich habe dich betrachtet; wie schön bist du, auch wenn du schläfst.«

»Liebe Mutter, wie gut sind Sie!«

»Mich friert, aber nun weiß ich, daß ich nichts Böses für mein Kind zu fürchten habe und daß ich ruhig schlafen kann. Gib mir deine Hand.«

Ich gab sie ihr.

»Wie ruhig dein Puls ist! wie gleichmäßig! nichts stört ihn.«

»Ich habe einen sehr ruhigen Schlaf.«

»Wie glücklich du bist!«

»Liebe Mutter, Sie werden sich erkälten.«

»Du hast recht, lebwohl, schöne Freundin, gute Nacht, ich gehe.«

Aber sie ging nicht, sie sah mich immerfort an und zwei Tränen liefen ihr über die Wangen. »Liebe Mutter,« sagte ich, »was haben Sie? Sie weinen. Wie sehr bereue ich es, Ihnen von meinen Leiden erzählt zu haben! …« Sofort verschloß sie meine Tür, löschte ihre Kerze und stürzte auf mich zu. Sie umarmte mich und legte sich auf meine Bettdecke neben mich; ihr Gesicht preßte sie dicht an meins, ihre Tränen netzten meine Wangen; sie seufzte und sagte mit klagender, abgerissener Stimme: »Liebe Freundin, hab Mitleid mit mir.«

»Liebe Mutter,« sagte ich, »was haben Sie? Ist Ihnen nicht wohl? Was soll ich tun?«

»Ich zittere,« entgegnete sie, »mich schaudert; Todeskälte durchrieselt mich.«

»Soll ich aufstehen und Ihnen mein Bett überlassen?«

»Nein,« sagte sie, »aufzustehen brauchst du nicht; nimm nur die Decke etwas weg, damit ich näher an dich heranrücken und mich erwärmen kann, das wird mir helfen.«

»Liebe Mutter,« sagte ich, »das ist verboten. Was würde man sagen, wenn man es erführe? Ich habe erlebt, daß Nonnen um viel unerheblicherer Dinge willen Buße tun mußten. Im Kloster Sankt Marien war einmal eine Nonne zur Nachtzeit in die Zelle einer andern gegangen, die ihre gute Freundin war, und ich kann Ihnen nicht sagen, was man davon gedacht hat. Der Beichtvater hat mich zuweilen gefragt, ob man mir vorgeschlagen habe, in meinem Bett mit mir zu schlafen, und er hat mir ernstlich ans Herz gelegt, es nicht zu dulden. Ich habe ihm auch von den Liebkosungen erzählt, die Sie für mich haben; ich finde sie höchst unschuldig, aber er denkt nicht so; ich weiß nicht, wie ich seine Worte habe vergessen können, ich hatte mir vorgenommen, Ihnen davon zu erzählen.«

»Liebe Freundin,« sagte sie, »alles schläft um uns her, niemand wird etwas erfahren. Ich selbst belohne oder strafe; und was auch der Beichtvater sagt: ich sehe nichts Schlimmes darin, wenn eine Freundin eine Freundin bei sich aufnimmt, die von Unruhe befallen, aufgewacht und in der Nacht und trotz der Kälte herbeigeeilt ist, um zu sehen, ob ihre Geliebte von keiner Gefahr bedroht sei. Susanne, hast du in deinem Elternhause nie mit einer deiner Schwestern dein Bett geteilt?«

»Nein, nie.«

»Würdest du, wenn die Gelegenheit sich geboten hätte, es nicht ohne Bedenken getan haben? Wenn deine Schwester, beunruhigt und vor Kälte zitternd, gekommen wäre, um an deiner Seite einen Platz zu erbitten, hättest du es ihr abgeschlagen?«

»Ich glaube nein.«

»Und bin ich nicht deine liebe Mutter?«

»Ja, das sind Sie; aber es ist verboten.«

»Liebe Freundin, ich verbiete es den andern, erlaube es aber dir und verlange es von dir. Ich will mich einen Augenblick erwärmen und dann wieder fortgehen. Gib mir deine Hand …« Ich gab sie ihr. »Fühle,« sagte sie, »sieh selbst, ich zittere, mich schaudert's, ich bin kalt wie Stein« … und das war Tatsache. »Oh, liebe Mutter,« sagte ich, »Sie werden krank werden. Warten Sie, ich rücke an den Rand, und Sie können sich auf die warme Stelle legen.« Ich rückte zur Seite, hob die Decke auf, und sie legte sich an meinen Platz. Oh, wie übel war sie dran! Alle Glieder zitterten ihr; sie wollte mit mir sprechen, sie wollte näher an mich heranrücken, sie konnte keinen Ton herausbringen, sie konnte sich nicht rühren. Sie sagte mit leiser Stimme: »Susanne, geliebte Freundin, komm etwas näher heran.« … Sie streckte die Arme aus, ich kehrte ihr den Rücken; sie faßte mich sanft und zog mich an sich; sie legte meinen rechten Arm unter meinen Körper, und den andern darüber und sagte: »Ich bin ganz erfroren; ich bin so kalt, daß ich mich scheue, dich zu berühren, aus Furcht, dir weh zu tun.«

»Liebe Mutter, fürchten Sie nichts.«

Da legte sie eine ihrer Hände auf meine Brust, die andere um meine Taille; ihre Füße hatte sie unter die meinen geschoben, und ich drückte sie, um sie zu erwärmen; da sagte die teure Mutter: »Oh, liebe Freundin, sieh nur, wie schnell meine Füße warm geworden sind, weil nichts sie von den deinen trennt.«

»Aber,« sagte ich, »wer hindert Sie, sich überall auf die gleiche Weise zu erwärmen.«

»Nichts, wenn du es erlaubst.«

Ich hatte mich ihr wieder zugewandt, sie hatte ihr Hemd abgestreift und ich wollte eben das meine entfernen, als plötzlich zweimal heftig an die Tür geklopft wurde. Erschrocken springe ich sofort an einer Seite aus dem Bett, die Äbtissin an der andern; wir lauschen und hören, wie jemand auf Fußspitzen in die nächste Zelle zurückschleicht. »Ah,« sagte ich, »das ist Schwester Therese; sie wird Sie durch den Gang haben gehen und bei mir eintreten sehen; sie wird uns belauscht und unsere Reden gehört haben; was wird sie sagen?« … Ich war mehr tot als lebendig. »Ja, das ist sie,« sagte die Äbtissin in gereiztem Ton, »das ist sie, ich zweifle nicht daran; aber an diese Kühnheit soll sie lange denken müssen.«

»Liebe Mutter,« sagte ich, »tun Sie ihr nichts zu leide.«

»Susanne,« rief sie, »lebwohl, und gute Nacht; geh wieder zu Bett, schlafe wohl, zur Frühmette brauchst du nicht zu erscheinen. Ich gehe zu der dreisten Närrin, Gib mir deine Hand …«

Ich streckte sie ihr von dem einen Bettrande zu: sie hob den Ärmel auf, der meinen Arm verhüllte, bedeckte den Arm seufzend mit Küssen, von den Fingerspitzen bis an die Schulter, und ging hinaus, mit der Beteuerung, daß die Kühne, die sie zu stören gewagt hatte, daran denken solle. Ich näherte mich rasch von meinem Bett der Tür und lauschte: sie trat bei Schwester Therese ein. Ich fühlte mich versucht, dazwischen zu treten, falls es einen heftigen Auftritt geben sollte; doch ich war so verwirrt, mir war so übel zumut, daß ich lieber in meinem Bett bleiben wollte; aber ich schlief nicht. Ich dachte, jetzt würde ich der Gesprächsstoff des Klosters werden; dieser Vorfall, der an sich doch ganz natürlich war, würde mit allen möglichen ungünstigen Ausschmückungen weitererzählt werden, so daß es hier noch schlimmer sein würde als in Longchamps, wo mir nur alles möglich angedichtet wurde; unser Versehen würde zur Kenntnis unserer Vorgesetzten kommen, unsere Mutter würde abgesetzt und wir beide streng bestraft werden. Ich spitzte die Ohren und wartete voll Ungeduld, unsere Mutter solle von Schwester Therese herauskommen; die Sache war schwierig beizulegen, schien es, denn sie blieb die ganze Nacht bei ihr. Wie leid sie mir tat! Sie war im Hemd, ganz unbekleidet, und bebte vor Zorn und Kälte.

Am Morgen fühlte ich große Lust, mir die erteilte Erlaubnis zunutze zu machen und im Bett zu bleiben; aber mir kam dann der Gedanke, daß es besser sei, es nicht zu tun. Ich kleidete mich schnell an und war die erste im Chor. Die Äbtissin und Schwester Therese erschienen nicht, und das war mir sehr lieb, denn ich hätte Mühe gehabt, ohne Verlegenheit dieser Schwester gegenüberzutreten; außerdem hatte sie wohl, da ihr erlaubt worden war, dem Gottesdienst fernzubleiben, von der Äbtissin Verzeihung erlangt, jedoch sicher nur unter Bedingungen, die mich beruhigen konnten. Ich hatte es erraten.

Kaum war der Gottesdienst zu Ende, so ließ die Äbtissin mich zu sich rufen. Ich ging zu ihr; sie lag noch im Bett und sah sehr angegriffen aus; sie sagte: »Ich habe sehr gelitten und fast gar nicht geschlafen. Schwester Therese ist toll; wenn dies noch einmal geschieht, schließe ich sie ein.«

»Aber, liebe Mutter,« sagte ich zu ihr, »einsperren können Sie sie doch nicht!«

»Das hängt von ihrem Benehmen ab; sie hat mir versprochen, sich zusammenzunehmen, und ich verlasse mich darauf. Und du, liebe Susanne, wie fühlst du dich?«

»Gut, liebe Mutter.«

»Hast du ein wenig geruht?«

»Sehr wenig.«

»Man hat mir gesagt, du seist im Chor gewesen; warum bist du nicht in deinem Bett geblieben?«

»Ich hätte mich doch nicht wohl darin gefühlt, und außerdem dachte ich, es sei besser …«

»Nein, es hat nichts auf sich. Aber ich habe Verlangen nach Schlaf; ich rate dir, in deiner Zelle auch zu schlafen, wenn du es nicht vorziehst, einen Platz neben mir einzunehmen.«

»Liebe Mutter, Sie sind sehr gütig; ich habe die Gewohnheit, allein zu schlafen, und ich kann nicht mit einem andern zusammen schlafen.«

»So geh; ich werde zum Mittagessen nicht ins Refektorium kommen; man wird mir das Essen hier servieren; vielleicht stehe ich heute nicht mehr auf. Du kommst dann später mit einigen andern her, die ich benachrichtigt habe.«

»Kommt Schwester Therese auch?« fragte ich.

»Nein,« erwiderte sie.

»Darüber bin ich nicht böse.«

»Warum nicht?«

»Ich weiß nicht, ich habe ein Gefühl, als sei es mir unangenehm, ihr zu begegnen.«

»Beruhige dich, mein Kind; ich verbürge mich dafür, daß sie mehr Angst vor dir hat, als du vor ihr zu haben brauchst.«

Ich verließ sie und legte mich zur Ruhe. Am Nachmittag ging ich zur Äbtissin, wo ich eine ziemlich zahlreiche Versammlung der jüngsten und hübschesten Nonnen des Klosters antraf; die andern hatten ihr nur einen Besuch gemacht und sich dann zurückgezogen. Sie verstehen sich doch auf Malerei, Herr Marquis, und ich versichere Ihnen, es war ein sehr liebliches Bild. Stellen Sie sich einen Raum mit zehn bis zwölf Mädchen vor, deren jüngstes fünfzehn Jahre alt sein mochte und deren ältestes nicht mehr als dreiundzwanzig zählte; eine Äbtissin, die den vierzig nahe war, weiß von Haut, frisch, üppig, halb im Bett sitzend, mit einem Doppelkinn, das ihr sehr gut stand, runden, wie gedrechselten Armen, schmalen, spitzen Fingern, mit Grübchen übersät, schwarze, große, lebhafte und zärtliche Augen, die fast nie ganz geöffnet, sondern immer halb geschlossen waren, als sei sie zu müde, sie ganz aufzuschlagen; rosenrote Lippen, milchweiße Zähne, wundervolle Wangen, ein sehr hübscher Kopf, der tief und weich in das Kopfkissen eingebettet war, die Arme behaglich ausgestreckt, von kleinen Kissen gestützt. Ich saß auf dem Bettrand und tat nichts; eine andere in einem Sessel, eine kleine Stickerei auf den Knien; andere, die an den Fenstern saßen, klöppelten; auf der Erde saßen einige auf Kissen, die man von den Stühlen heruntergenommen hatte, nähten, stickten und spannen. Manche waren blond, manche braun; keine war der andern ähnlich, obwohl alle schön waren. Ihr Wesen war so verschieden wie ihr Aussehen, einige waren heiter, andere ernsthaft, wieder andere melancholisch oder traurig. Alle außer mir arbeiteten, wie ich schon sagte. Es war nicht schwierig, die gegenseitigen Freundinnen von den Gleichgültigen oder den Feindinnen zu unterscheiden; die Freundinnen saßen nebeneinander oder sich gegenüber, und während sie arbeiteten, plauderten sie, gaben sich Ratschläge, sahen sich verstohlen an, drückten sich die Hände, unter dem Vorwand, sich eine Stecknadel, eine Schere, eine Nähnadel zu reichen. Die Äbtissin ließ ihre Blicke auf ihnen ruhen; sie warf der einen ihren Fleiß vor, der andern ihren Müßiggang, wieder einer andern ihre Gleichgültigkeit, einer dritten ihr trauriges Wesen; sie ließ sich die Arbeiten zeigen, lobte oder tadelte; einer richtete sie ihren Kopfschmuck: »Dieser Schleier fällt zu sehr ins Gesicht … Diese Binde nimmt zuviel vom Gesicht weg, man sieht nicht genug von den Backen … Diese Falten sitzen nicht gut …« Sie bedachte eine jede mit zärtlichen Vorwürfen oder kleinen Liebkosungen.

Während man so beschäftigt war, hörte ich, wie es leise an die Tür klopfte. Ich ging hin. Die Äbtissin sagte: »Schwester Susanne, du kommst doch wieder?«

»Jawohl, liebe Mutter.«

»Vergiß es nicht, denn ich habe dir etwas Wichtiges mitzuteilen.«

»Ich bin gleich wieder da …«

Es war die arme Schwester Therese. Sie stand einen Augenblick still da, ohne zu sprechen, und mir erging es ebenso. Dann sagte ich zu ihr: »Liebe Schwester, wollen Sie zu mir?«

»Ja.«

»Womit kann ich Ihnen dienen?«

»Das will ich Ihnen sagen. Ich habe mir die Ungnade unserer lieben Mutter zugezogen; ich glaubte, sie hätte mir verziehen und hatte einiges Recht zu dieser Annahme; nun aber sind alle bei ihr versammelt, nur ich nicht, und mir wurde befohlen, in meiner Zelle zu bleiben.«

»Möchten Sie gern hereinkommen?«

»Ja.«

»Warten Sie, liebe Freundin, ich gehe zu ihr.«

»Wirklich, wollen Sie für mich bitten?«

»Gewiß; und warum sollte ich es nicht tun nach dem, was ich Ihnen versprochen habe?«

»Oh,« sagte sie und sah mich zärtlich an, »ich verzeihe ihr, ich verzeihe ihr die Zuneigung, die sie zu Ihnen gefaßt hat; sie besitzen alle Vorzüge, die schönste Seele und den reizendsten Körper.«

Ich war entzückt, daß ich ihr diesen kleinen Dienst leisten konnte. Ich ging wieder hinein. In meiner Abwesenheit hatte eine andere meinen Platz auf dem Bettrand bei der Äbtissin eingenommen, neigte sich über sie, den Ellbogen zwischen ihre beiden Beine gestützt, und zeigte ihr ihre Arbeit; die Äbtissin hatte die Augen fast geschlossen und sagte ja und nein, fast ohne sie anzusehen; und ich stand neben ihr, ohne daß sie es bemerkte. Die Nonne, die sich meines Platzes bemächtigt hatte, räumte ihn mir wieder ein, und ich setzte mich wieder, dann neigte ich mich zu der Äbtissin hinüber, die sich ein wenig aufgerichtet hatte, und schwieg, sah sie aber an, als wolle ich eine Gunst von ihr erbitten. »Nun,« sagte sie, »was gibt es? sprich, was willst du? pflege ich dir irgend etwas abzuschlagen?«

»Schwester Therese …«

»Ich verstehe. Ich bin sehr unzufrieden mit ihr; aber wenn Schwester Susanne für sie bittet, verzeihe ich ihr; geh, sage ihr, sie dürfe hereinkommen.«

Ich eilte zu ihr. Die arme kleine Schwester wartete vor der Tür; ich sagte ihr, sie solle eintreten; sie tat es zitternd, mit niedergeschlagenen Augen; sie hatte einen langen Streifen Musselin auf ein Muster geheftet, das beim ersten Schritt ihren Händen entglitt; ich hob es auf, nahm sie beim Arm und führte sie zu der Äbtissin. Sie kniete vor ihr nieder, faßte eine ihrer Hände, die sie seufzend küßte, und vergoß eine Träne; dann bemächtigte sie sich einer meiner Hände, legte sie in die der Äbtissin und küßte sie abwechselnd. Die Äbtissin gab ihr einen Wink, aufzustehen und sich einen Platz auszuwählen; sie gehorchte. Ein Imbiß wurde gebracht. Die Äbtissin stand auf, sie setzte sich nicht zu uns, sondern ging um den Tisch herum, legte bald der einen die Hand auf den Kopf, bog sie sanft nach hinten zurück und küßte sie auf die Stirn; dann lüftete sie das Halstuch einer andern, legte die Hand auf ihren Hals und blieb auf die Lehne ihres Stuhls gestützt stehen; darauf kam sie zu einer dritten, streichelte sie oder legte ihr die Hand auf den Mund; sie kostete nur von den aufgetragenen Speisen und verteilte sie sonst hierhin und dorthin. Nachdem sie so eine Weile umhergegangen war, blieb sie vor mir stehen und sah mich mit liebevollen, zärtlichen Blicken an; alle andern schlugen die Augen nieder, als fürchteten sie, der Äbtissin lästig zu fallen oder sie abzulenken, besonders Schwester Therese tat das. Als die Erfrischung eingenommen war, setzte ich mich ans Klavier und begleitete zwei Schwestern, die mit ungeschulten, aber hübschen, angenehmen Stimmen ein paar Stücke sangen. Ich sang selbst auch und begleitete mich. Die Äbtissin saß zu Füßen des Klaviers und schien die größte Freude darüber zu empfinden, mich zu hören und zu sehen; die andern standen, ohne irgend etwas zu tun, oder hatten sich wieder an ihre Arbeit gesetzt. Es war ein entzückender Abend. Schließlich zogen alle sich zurück.

Ich ging mit den andern fort; aber die Äbtissin hielt mich zurück: »Wie spät ist es?« sagte sie zu mir.

»Es ist gleich sechs Uhr.«

»Ich erwarte einige von unseren geistlichen Beraterinnen. Ich habe über das nachgedacht, was du mir über deinen Austritt aus Longchamps gesagt hast; ich habe mit ihnen darüber gesprochen, sie sind meiner Meinung, und wir haben dir einen Vorschlag zu machen. Es ist unmöglich, daß wir nicht durchdringen; und wenn wir Erfolg haben, ist es für das Kloster ein kleiner Vorteil und auch für dich recht angenehm …«

Um sechs Uhr kamen die Beraterinnen. Ich erhob mich, sie setzten sich, und die Äbtissin sagte zu mir: »Schwester Susanne, hast du mir nicht gesagt, du danktest der Wohltätigkeit Herrn Manouris die Ausstattung, die du in dies Haus mitgebracht hast?«

»Jawohl, liebe Mutter.«

»Ich habe mich also nicht getäuscht, und die Schwestern von Longchamps sind in dem Besitz der Aussteuer geblieben, die du bei deinem Eintritt dort mitgebracht hast?«

»Ja, liebe Mutter.«

»Sie haben dir nichts zurückgegeben?«

»Nein, liebe Mutter.«

»Sie zahlen dir kein Jahrgeld?«

»Nein, liebe Mutter.«

»Das ist nicht richtig, und das habe ich unseren Beraterinnen mitgeteilt; sie denken, wie ich, daß du das Recht hast, gegen sie zu klagen und daß diese Mitgift zugunsten unseres Hauses ausgezahlt werden muß oder daß du wenigstens die Zinsen des Geldes bekommst. Was du besitzt, weil Herr Manouri an deinem Schicksal Anteil genommen hat, hat nichts mit dem zu tun, was die Schwestern von Longchamps dir schulden; nicht zu ihrem Vorteil hat er dir die Mitgift geliefert.«

»Das glaube ich auch, aber das einfachste ist wohl, ihm zu schreiben, um darüber Gewißheit zu erlangen.«

»Gewiß; doch falls seine Antwort so lautet, wie wir es wünschen, habe ich dir folgende Vorschläge zu machen: Wir führen den Prozeß in deinem Namen gegen das Kloster Longchamps, unser Haus trägt die Kosten, die nicht beträchtlich sein werden, weil allem Anschein nach Herr Manouri nicht ablehnen wird, sich mit dieser Angelegenheit zu befassen; und wenn wir gewinnen, teilt das Kloster die Zinsen oder das Kapital mit dir zu gleichen Teilen. Was meinst du dazu, liebe Schwester? Du sagst nichts? Du bist so nachdenklich?«

»Ich denke daran, daß die Schwestern von Longchamps mir sehr viel Böses getan haben und daß ich verzweifelt wäre, wenn sie auf den Gedanken kämen, ich wollte mich rächen.«

»Es handelt sich nicht um eine Rache; es handelt sich darum, zurückzufordern, was man dir schuldet.«

»Man soll also noch einmal sich zum Gerede machen?«

»Das ist nicht so schlimm; es wird fast gar nicht von dir die Rede sein. Und außerdem ist unser Kloster arm, und das Kloster Longchamps reich. Du wirst unsere Wohltäterin, wenigstens so lange du lebst; bei uns spricht dies Motiv nicht mit, um uns für deinen Unterhalt zu interessieren, wir lieben dich alle …« Und die Beraterinnen fielen ein: »Wer sollte sie denn nicht lieben? Sie ist ja vollkommen.«

»Ich kann plötzlich mein Amt aufgeben müssen, eine andere Äbtissin hätte vielleicht nicht die gleichen Gefühle für dich, die ich habe, o nein, das würde sie sicher nicht haben. Du könntest kleine Bedürfnisse haben, könntest einmal nicht ganz wohl sein, dann ist es sehr angenehm, etwas Geld zu besitzen, über das man verfügen kann, um sich selbst Erleichterung zu verschaffen oder sich die andern zu verpflichten.«

»Teure Mutter,« sagte ich, »diese Erwägungen sind gewiß nicht von der Hand zu weisen, da Sie die Güte haben, sie anzustellen; es sind aber andere vorhanden, die mich noch stärker berühren; jedoch gibt es keine Abneigung, die ich nicht bereit wäre, Ihnen zu opfern. Die einzige Gnade, um die ich Sie zu bitten habe, liebe Mutter, ist, nichts zu beginnen, ohne in meiner Gegenwart mit Herrn Manouri verhandelt zu haben.«

»Das ist nicht mehr als billig. Willst du ihm selbst schreiben?«

»Wie Sie meinen, liebe Mutter.«

»Schreibe ihm; und damit wir nicht nochmals darauf zurückzukommen brauchen, – denn ich schätze diese geschäftlichen Dinge nicht, sie langweilen mich tödlich, – so schreibe ihm sofort.«

Man gab mir eine Feder, Tinte und Papier, und ich bat Herrn Manouri, sich, sobald seine Arbeit es ihm erlaubte, nach Arpajon zu begeben; ich bedürfe seiner Hilfe und seines Rates noch einmal in einer recht wichtigen Angelegenheit usw. Die Versammelten lasen diesen Brief, billigten ihn, und er wurde abgesandt.

Herr Manouri kam einige Tage darauf. Die Äbtissin setzte ihm auseinander, um was es sich handelte; er schwankte nicht einen Augenblick, sondern schloß sich sofort ihrer Meinung an; meine Bedenken behandelte man als Lächerlichkeiten; es wurde beschlossen, die Nonnen von Longchamps gleich am nächsten Tage vorzuladen. Das geschah, und wider meinen Willen wurde mein Name abermals in Klageschriften, Tatbeständen und in der öffentlichen Verhandlung genannt, und zwar mit Einzelheiten, Vermutungen, Lügen und allen möglichen Anschwärzungen, die einen Menschen seinen Richtern in einem ungünstigen Licht erscheinen lassen können und ihn dem Publikum verhaßt machen. Aber, Herr Marquis, ist es den Anwälten denn erlaubt, nach Herzenslust zu verleumden? Gibt es ihnen gegenüber keine Gerechtigkeit? Wenn ich alle die Bitterkeiten hätte voraussehen können, die dieser Prozeß mit sich bringen würde, so hätte ich nie eingewilligt, daß er angestrengt wurde, das schwöre ich Ihnen. Man versäumte nicht, mehreren Nonnen in unserem Kloster die Schriftstücke zuzusenden, die gegen mich veröffentlicht wurden. Fortwährend kamen sie zu mir, um mich nach den Einzelheiten irgend welcher schrecklichen Ereignisse zu fragen, an denen keine Spur von Wahrheit war. Je unwissender ich mich stellte, für um so schuldiger hielt man mich; weil ich keine Erklärungen abgab, nichts eingestand und alles ableugnete, glaubte man, daß alles wahr sei; man lächelte, man sagte mir verblümte, aber höchst beleidigende Dinge, man zuckte die Achseln über meine Unschuld. Ich weinte und war trostlos.

 

Aber ein Kummer kommt selten allein. Jetzt kam die Zeit, zur Beichte zu gehen. Die ersten Liebkosungen, die meine Äbtissin mir erwiesen hatte, waren schon gebeichtet; der Beichtvater hatte mir sehr energisch verboten, mich weiter dazu herzugeben; aber wie kann man etwas verweigern, was einer andern, von der man vollständig abhängt, so große Freude bereitet, und worin man selbst kein Arg findet?

Da dieser Beichtvater in meinen Aufzeichnungen noch eine große Rolle spielen wird, ist es angezeigt, ihn Ihnen vorzustellen.

Er war ein Barfüßermönch und hieß Pater Lemoine; er war nicht über fünfundvierzig Jahre alt. Er war eine der schönsten Erscheinungen, die man sich vorstellen kann; er hat ein sanftes, heiteres, offenes, freundliches, angenehmes Gesicht, wenn er sich vergißt; aber wenn er in seinem Amt ist, furcht sich seine Stirn, seine Brauen runzeln sich, er schlägt die Augen nieder und nimmt eine strenge Haltung an. Ich kenne nicht zwei verschiedenere Menschen als den Pater Lemoine im Beichtstuhl und den Pater Lemoine im Sprechzimmer, wenn er allein oder in Gesellschaft ist. Übrigens haben alle Personen geistlichen Standes etwas von dieser Art; ich selbst habe mich mehrmals dabei ertappt, daß ich, wenn ich ans Gitter treten wollte, unvermittelt stehen blieb, meinen Schleier zurechtrückte, meine Stirnbinde ordnete, mein Gesicht, meine Augen, meinen Mund, meine Hände, meine Arme, meine Mienen, meinen Gang in Übereinstimmung brachte und eine Haltung voll erheuchelter Bescheidenheit annahm, die ich kürzere oder längere Zeit bewahrte, je nach den Leuten, mit denen ich zu sprechen hatte. Pater Lemoine ist groß, gut gebaut, heiter, sehr liebenswürdig, wenn er sich vergißt; er spricht wunderbar; er steht im Kloster in dem Ruf, ein großer Theologe zu sein, und gilt in der Welt als ein großer Prediger; er hat eine bezaubernde Unterhaltungsgabe. Er ist ein sehr gebildeter Mann mit unendlich vielen Kenntnissen, die sonst seinem Stande fremd sind: er hat eine herrliche Stimme, ist musikalisch, ist geschichts- und sprachkundig; er ist Doktor der Sorbonne. Obwohl er noch jung ist, sind ihm doch schon die Hauptwürden seines Ordens auferlegt gewesen. Ich glaube, daß er kein Ränkeschmied und nicht ehrgeizig ist; von seinen Mitbrüdern wird er sehr geliebt. Er hatte die Priorschaft des Klosters Etampes für sich erbeten als einen Ruheposten, an dem er sich ungestört seinen begonnenen Studien hingeben konnte, und dieses Amt war ihm übertragen worden. Für ein Nonnenkloster nun ist die Wahl eines Beichtvaters eine hochwichtige Sache; man mußte einen bedeutenden und ausgezeichneten Mann haben. Man tat alles, um Pater Lemoine für dies Amt zu gewinnen, und er nahm es an, wenigstens für besondere Gelegenheiten.

Man schickte ihm am Vorabend vor den großen Festen den Wagen, und er kam. Man muß die Aufregung gesehen haben, die sein Kommen in der ganzen Schwesternschaft hervorrief; wie freudig erregt waren alle, wie lange schlossen sie sich ein, wie arbeiteten sie an ihrer Gewissensprüfung, wieviel Mühe gaben sie sich, ihn möglichst lange zu beschäftigen.

Es war am Pfingstsonnabend, und er wurde erwartet. Ich war unruhig, die Äbtissin bemerkte es und sprach mit mir. Ich verhehlte ihr den Grund meiner Besorgnis nicht, sie schien noch beunruhigter darüber zu sein als ich, obwohl sie alles tat, mich es nicht merken zu lassen. Sie stellte den Pater Lemoine als einen lächerlichen Menschen hin, spottete über meine Gewissensbisse, fragte mich, ob Pater Lemoine über die Unschuld ihrer Gefühle und der meinen mehr wissen könne als unser Gewissen, und ob mein Gewissen mir irgend etwas vorwerfe. Ich sagte nein. »Gut,« sagte sie, »ich bin deine Äbtissin, du bist mir Gehorsam schuldig, und ich befehle dir, ihm nichts von diesen Dummheiten zu sagen. Es hat gar keinen Sinn, daß du zur Beichte gehst, wenn du ihm nur Bagatellen zu offenbaren hast.«

Pater Lemoine kam also an, und ich bereitete mich zur Beichte vor, während die Eifrigsten sich seiner bemächtigt hatten. Bald kam an mich die Reihe, da aber trat die Äbtissin auf mich zu, nahm mich beiseite und sagte: »Schwester Susanne, ich habe über das nachgedacht, was du mir gesagt hast; kehre in deine Zelle zurück, ich will nicht, daß du heute zur Beichte gehst.«

»Warum nicht, liebe Mutter?« sagte ich. »Morgen ist ein hoher Feiertag, es ist der Tag der allgemeinen Kommunion; was soll man davon denken, wenn ich allein dem Tisch des Herrn fernbleibe?«

»Mag man sagen, was man will, aber zur Beichte gehst du nicht.«

»Liebe Mutter,« sagte ich, »wenn Sie mich wirklich lieben, dürfen Sie mir diese Demütigung nicht zufügen, seien Sie barmherzig.«

»Nein, nein, es geht nicht. Du stiftest irgendwelche Klatschereien bei diesem Manne an, und so etwas mag ich nicht.«

»Nein, liebe Mutter, das werde ich nicht tun.«

»Versprich mir also … Es hat keinen Zweck; du kommst morgen früh in meine Zelle, und legst mir deine Beichte ab: du hast keine Sünde begangen, von der ich dich nicht freisprechen und für die ich nicht Absolution erteilen kann; und du gehst mit den andern zur Kommunion. Geh jetzt.«

Ich zog mich also zurück und blieb in meiner Zelle, traurig, unruhig, nachdenklich, und konnte mich zu nichts entschließen; sollte ich gegen den Willen meiner Äbtissin zum Pater Lemoine gehen, sollte ich mir an ihrer Absolution am folgenden Morgen genügen lassen und mit den andern zur Kommunion gehen, oder sollte ich dem Tisch des Herrn fernbleiben, was man auch immer davon denken mochte? Als die Äbtissin zurückkam, hatte sie ihre Beichte abgelegt, und Pater Lemoine hatte sie gefragt, warum ich nicht vor ihm erschienen sei, ob ich krank sei; ich weiß nicht, was sie ihm geantwortet hat, aber jedenfalls erwartete er mich jetzt im Beichtstuhl. »Geh nur hin,« sagte sie, »da es einmal sein muß; aber versprich mir, daß du schweigst.« Ich zögerte, sie bestand auf ihrer Forderung. »Du Närrin,« sagte sie, »was für ein Unrecht soll denn daran sein, etwas zu verschweigen, woran, als man es tat, keine Sünde war?«

»Und inwiefern ist es unrecht, es zu sagen?«

»Es ist nicht anzuraten. Wer kann wissen, was für eine Bedeutung dieser Mann dem Ganzen beilegt? Versprich mir also …« Ich schwankte noch immer; aber endlich verpflichtete ich mich, nichts zu sagen, wenn er mich nicht fragte, und ich ging fort.

Ich legte meine Beichte ab und schwieg; aber da fragte mich der Beichtvater, und ich verheimlichte nichts. Er stellte tausend seltsame Fragen, von denen ich noch heute, da ich wieder daran denke, nichts verstehe. Er behandelte mich mit großer Nachsicht, sprach sich aber über die Äbtissin in Ausdrücken aus, die mich erzittern ließen. Er nannte sie eine Unwürdige, ein wollüstiges Weib, eine schlechte Nonne, eine verworfene Frau, eine verderbte Seele; dann schärfte er mir ein, wenn ich nicht die Strafe einer Todsünde auf mich laden wolle, nie wieder mit ihr allein zu bleiben und keine ihrer Liebkosungen zu dulden.

»Aber, mein Vater,« sagte ich, »es ist doch meine Äbtissin; sie kann meine Zelle betreten, mich rufen lassen, wenn es ihr gefällt.«

»Das weiß ich, das weiß ich, und ich bin verzweifelt darüber. Liebes Kind, Gott sei gelobt, der dich bisher beschützt hat! Ich wage nicht, dir irgendwelche Erklärungen zu geben, um nicht der Mitschuldige der gemeinen Äbtissin zu werden und mit dem vergifteten Hauch, der wider meinen Willen von meinen Lippen kommen würde, eine zarte Blume zu beschädigen, die nur durch den besonderen Schutz der Vorsehung frisch und ohne Makel erhalten sein kann; ich befehle dir, deine Äbtissin zu fliehen, ihre Liebkosungen weit von dir zu weisen, nie allein in ihre Zelle zu gehen, deine Tür, besonders nachts, vor ihr zu verschließen; aus deinem Bett aufzustehen, wenn sie gegen deinen Willen bei dir eingetreten ist, auf den Gang hinauszugehen, um Hilfe zu rufen, wenn es sein muß, nackt an den Altar zu laufen, das Haus mit deinem Geschrei zu erfüllen und alles zu tun, was die Liebe zu Gott, die Furcht vor der Sünde, die Heiligkeit deines Standes und die Sorge um dein Seelenheil dir eingeben würden, wenn Satan in eigener Person dir erschiene und dich verfolgte. Ja, mein Kind, Satan; ich bin gezwungen, dir deine Äbtissin unter diesem Bilde zu zeigen; sie ist in den Abgrund der Sünde gestürzt und versucht, dich auch hinunterzuziehen; und du würdest vielleicht schon mit ihr hinuntergefallen sein, wenn nicht deine Unschuld ihr Angst eingeflößt und sie zurückgehalten hätte.« Dann schlug er die Augen zum Himmel auf und rief: »Mein Gott, beschütze dieses Kind … Sprich mit mir: Satana, vade retro, apage, Satana. Wenn die Unglückliche dich fragt, sage ihr alles, wiederhole ihr meine Worte; sage ihr, es wäre besser, sie wäre nicht geboren, oder sie lieferte sich durch gewaltsamen Tod selbst der Hölle aus.«

»Aber, mein Vater,« erwiderte ich, »Sie haben sie doch selbst soeben gehört.«

Er antwortete mir nicht; aber indem er einen tiefen Seufzer ausstieß, legte er seine Arme gegen eine Wand des Beichtstuhls, und lehnte den Kopf darauf wie ein von tiefem Schmerz erfüllter Mensch: in dieser Stellung verharrte er einige Zeit. Ich wußte nicht, was ich denken sollte; mir zitterten die Knie, ich war in einer Verwirrung, einer Unruhe, die sich nicht schildern läßt. So mag einem Wanderer zumute sein, der in der Finsternis auf einen Abgrund zugeht, den er nicht sieht, und der von allen Seiten von unterirdischen Stimmen erschreckt wird, die ihm zurufen: »Es ist um dich geschehn!« Endlich sah er mich mit ruhiger, aber gerührter Miene an und sagte: »Bist du gesund?«

»Ja, mein Vater.«

»Würde eine Nacht, die du schlaflos zubringst, nicht allzuviel ausmachen?«

»Nein, mein Vater.«

»Gut,« sagte er, »so wirst du dich in dieser Nacht nicht schlafen legen; gleich nach der Vesper gehst du in die Kirche, wirfst dich vor dem Altar auf die Knie und verbringst die Nacht in Gebeten. Du kennst die Gefahr nicht, in der du geschwebt hast; du mußt Gott danken, daß er dich davor bewahrt hat, und morgen wirst du mit den andern Nonnen zum Tisch des Herrn kommen. Ich erlege dir keine andere Buße auf, als dich der Äbtissin fernzuhalten und ihre vergifteten Liebkosungen zurückzuweisen. Geh; ich will meine Gebete mit den deinen vereinigen. Wie unruhig bin ich um deinetwillen! Ich empfinde alle Folgen, die mein Ratschlag für dich haben wird, aber ich muß ihn dir geben, das bin ich dir und mir selbst schuldig. Gott ist der Herr, und wir haben nur ein Gesetz.«

Ich erinnere mich aller Dinge, die er mir sagte, nur sehr undeutlich. Wenn ich jetzt seine Rede, sowie ich sie hier aufgeschrieben habe, mit dem furchtbaren Eindruck vergleiche, den sie auf mich machte, so finde ich kein Verhältnis dazwischen. Aber das kommt daher, daß sie in der Wiedergabe unzusammenhängend und unterbrochen ist, daß vieles darin fehlt, was mir entfallen ist, weil ich keine klare Vorstellung damit verband, und daß ich die Bedeutung der Dinge, über die er sich mit so großer Heftigkeit verbreitete, nicht verstand und noch heute nicht verstehe. Was erschien ihm zum Beispiel an der Szene am Klavier so seltsam? Gibt es nicht Menschen, auf die Musik einen außerordentlich starken Eindruck macht? Man hat mir oft gesagt, daß bestimmte Lieder, bestimmte Töne mein Gesicht vollkommen veränderten: dann war ich außer mir und wußte nicht, was mit mir geschah, aber ich glaube nicht, daß ich deshalb weniger unschuldig war. Warum sollte es nicht bei meiner Äbtissin ebenso gewesen sein, die doch sicher, trotz ihren Narrheiten und ihren Ungleichmäßigkeiten eine der empfindsamsten Frauen der Welt war? Sie konnte keine rührende Erzählung mit anhören, ohne in Tränen zu zerfließen; als ich ihr meine Geschichte erzählte, versetzte ich sie dadurch in einen bedauernswerten Zustand. Warum rechnete er ihr denn nicht auch ihr Mitgefühl als Sünde an? Und die nächtliche Szene, deren Ausgang er mit so tödlichem Entsetzen erwartete … nein, sicher, dieser Mann ist zu streng.

Dennoch führte ich pünktlich aus, was er mir befohlen und dessen unmittelbare Folgen er wohl vorausgesehen hatte. Als ich den Beichtstuhl verließ, warf ich mich vor dem Altar nieder; mein Kopf war ganz verwirrt, und ich blieb dort bis zum Abendbrot. Die Äbtissin war in Sorge, was aus mir geworden sein mochte, und ließ mich rufen; ihr wurde gesagt, ich betete. Sie erschien mehrmals in der Tür des Chors, aber ich stellte mich, als sähe ich sie nicht. Die Glocke zum Abendbrot läutete; ich begab mich ins Refektorium und aß sehr schnell; als das Essen beendet war, kehrte ich sofort in die Kirche zurück; in der Erholungsstunde am Abend ließ ich mich nicht sehen, auch als die Stunde des Schlafengehens kam, erschien ich nicht. Die Äbtissin wußte nicht, was aus mir geworden war. Die Nacht war schon vorgeschritten; alles im Hause lag in tiefem Schweigen, als sie sich zu mir in die Kirche begab. Das Bild, unter dem der Beichtvater sie mir gezeigt hatte, erschien vor meiner Phantasie; mich befiel ein heftiges Zittern, ich wagte sie nicht anzusehen, ich glaubte, ich würde ein abscheuliches Antlitz vor mir erblicken, ganz in Flammen eingehüllt, und ich betete in meinem Herzen: »Satana, vade retro, apage, Satana! Mein Gott, beschütze mich, nimm diesen Dämon von mir!«

Sie warf sich auf die Knie, und nachdem sie eine Zeitlang gebetet hatte, sagte sie: »Schwester Susanne, was tust du hier?«

»Sie sehen es, Frau Äbtissin.«

»Weißt du, wie spät es ist?«

»Jawohl, Frau Äbtissin.«

»Warum bist du nicht zur Schlafenszeit in deine Zelle gegangen?«

»Ich muß mich vorbereiten, morgen den Feiertag zu begehen.«

»Du hast also die Absicht, hier die Nacht zu verbringen?«

»Jawohl, Frau Äbtissin.«

»Und wer hat dir das erlaubt?«

»Der Beichtvater hat es mir befohlen.«

»Der Beichtvater hat nichts zu befehlen, was gegen die Klosterordnung verstößt. Ich befehle dir, sofort schlafen zu gehen.«

»Frau Äbtissin, dies ist die Buße, die er mir auferlegt hat.«

»Du kannst sie durch andere Werke ersetzen.«

»Das steht nicht in meiner Wahl.«

»Aber, liebes Kind,« sagte sie, »komm mit. Die nächtliche Kälte in der Kirche schadet dir; du kannst in deiner Zelle beten.«

Damit wollte sie mich bei der Hand nehmen, aber ich wich rasch zurück.

»Du fliehst mich,« sagte sie.

»Ja, Frau Äbtissin, ich fliehe Sie.«

Beruhigt durch die Heiligkeit des Ortes, die Anwesenheit der Gottheit und die Unschuld meines Herzens wagte ich die Augen zu ihr aufzuschlagen; aber kaum waren meine Blicke auf sie gefallen, als ich einen lauten Schrei ausstieß und wie eine Wahnsinnige nach dem Chor hinüberstürzte, indem ich immerfort rief: »Hebe dich von mir, Satan!« …

Sie folgte mir nicht, sie blieb an ihrem Platze stehen und sagte, indem sie zärtlich die Arme nach mir ausstreckte und einen rührenden und sanften Ton anschlug: »Was hast du? Woher kommt dir diese Angst? Steh still. Ich bin nicht Satan, ich bin deine Äbtissin, deine Freundin.«

Ich blieb stehen, ich wandte den Kopf ihr zu und sah, daß ich durch eine seltsame Erscheinung erschreckt worden war, die meine Einbildungskraft mir als etwas Wirkliches gezeigt hatte. Als ich mich wieder etwas gefaßt hatte, setzte ich mich in einen Kirchenstuhl. Sie näherte sich mir und setzte sich in den Nebenstuhl, aber da stand ich auf und rückte einen Platz weiter. So mußte ich von Stuhl zu Stuhl flüchten, und sie folgte mir bis zum letzten; hier blieb ich und beschwor sie, wenigstens einen Stuhl zwischen uns freizulassen.

»Das will ich tun,« sagte sie.

Wir setzten uns beide; ein Stuhl trennte uns; nun nahm die Äbtissin das Wort und sagte: »Kann man erfahren, Schwester Susanne, wie es kommt, daß du Schrecken vor mir empfindest?«

»Liebe Mutter,« sagte ich, »vergeben Sie mir, daran ist Pater Lemoine schuld. Er hat mir die Zärtlichkeit, die Sie für mich hegen, die Liebkosungen, die Sie mir erweisen, in denen ich, wie ich Ihnen gestehen muß, nichts Böses sehe, in den schrecklichsten Farben geschildert. Er hat mir befohlen, zu fliehen, nicht mehr allein zu Ihnen zu gehen, meine Zelle zu verlassen, wenn Sie sie betreten; er hat Sie meinem Geist als ein Teufel hingestellt. Ich kann Ihnen nicht sagen, was er darüber geäußert hat.«

»Du hast ihm also alles gesagt?«

»Nein, liebe Mutter, aber ich mußte ihm doch antworten.«

»Ich erscheine also deinen Augen sehr entsetzlich?«

»Nein, liebe Mutter, ich kann nicht umhin, Sie zu lieben, Ihre Güte zu schätzen und Sie zu bitten, sie mir zu bewahren; aber ich muß meinem Beichtvater gehorchen.«

»Du willst mich also nicht mehr besuchen?«

»Nein, liebe Mutter.«

»Du wirst mich nicht mehr bei dir empfangen?«

»Nein, liebe Mutter.«

»Du wirst meine Liebkosungen zurückweisen?«

»Es wird mir schwer fallen, denn ich habe eine zärtliche Natur und habe es gern, wenn ich geliebkost werde; aber ich muß es; ich habe es meinem Beichtvater versprochen und habe es am Altar beschworen. Wenn ich Ihnen sagen könnte, wie er sich ausgedrückt hat! Er ist ein frommer und gebildeter Mann; was für ein Interesse sollte er daran haben, mir eine Gefahr zu zeigen, wo keine ist? Warum sollte er einer Äbtissin das Herz ihrer Nonne entfremden? Aber vielleicht sieht er in den von Ihrer und meiner Seite ganz unschuldigen Handlungen einen Keim zu geheimer Verderbtheit, den er in Ihnen ganz entwickelt glaubt und den Sie, wie er befürchtet, in mir zur Entwicklung bringen könnten. Ich will Ihnen nicht verhehlen, daß, wenn ich mir überlege, welchen Eindruck ich bisweilen empfangen habe … Wie kommt es, liebe Mutter, daß ich, von Ihnen kommend, sobald ich wieder in meiner Zelle anlangte, erregt und träumerisch war? Wie kommt es, daß ich nicht beten und mich nicht beschäftigen konnte? Woher kommt diese gewisse Langeweile, wie ich sie sonst nie empfunden habe? Warum bin ich, die ich sonst nie am Tage geschlafen habe, bisweilen eingeschlummert? Ich glaubte, Sie seien von einer ansteckenden Krankheit befallen, die auch auf mich zu wirken beginne. Aber Pater Lemoine faßt alles ganz anders auf.«

»Wie denn?«

»Er sieht darin eine große Sünde, er hält Sie für verloren und mein Verderben bevorstehend. Was weiß ich?«

»Ach geh,« sagte sie, »dein Pater Lemoine sieht Gespenster; es ist nicht der erste Fall dieser Art. Ich brauche mich nur an irgend jemanden in zärtlicher Freundschaft anzuschließen, so legt er es sofort darauf an, diesem allerlei Grillen in den Kopf zu setzen; es hätte wenig gefehlt, und er hätte die arme Schwester Therese wahnsinnig gemacht. Das beginnt mich zu langweilen, und ich werde mich dieses Menschen entledigen; außerdem wohnt er zehn Meilen von hier und es ist umständlich, ihn holen zu lassen; er ist nie hier, wenn man ihn braucht; aber darüber können wir immer noch sprechen. Du willst also nicht in deine Zelle hinaufgehen?«

»Nein, liebe Mutter, ich bitte Sie, mir zu erlauben, daß ich die Nacht hier verbringe. Wenn ich diese Pflicht verabsäumte, würde ich morgen nicht wagen, mit den übrigen Schwestern an den Tisch des Herrn zu treten. Aber werden Sie auch das Abendmahl nehmen, liebe Mutter?«

»Gewiß.«

»Hat Ihnen Pater Lemoine denn nichts gesagt?«

»Nein.«

»Wie geht das zu?«

»Er hatte gar keine Ursache, mir etwas zu sagen. Man geht nur zur Beichte, um seine Sünden zu bekennen; und ich sehe keine Sünde darin, ein so liebenswürdiges Mädchen wie Schwester Susanne zärtlich zu lieben. Wenn eine Schuld dabei ist, so wäre es nur die, daß ich auf sie ein Gefühl konzentriere, das sich gleichermaßen auf alle Glieder der Schwesternschaft verteilen müßte; aber das hängt nicht von mir ab; ich kann nicht umhin, das wahre Verdienst auszuzeichnen, wenn ich es finde, und es zu bevorzugen. Dafür bitte ich Gott um Vergebung; und ich begreife nicht, wie Pater Lemoine glauben kann, durch eine so natürliche Parteilichkeit, vor der man sich so schwer bewahren kann, sei mein Schicksal besiegelt. Ich versuche, alle glücklich zu machen; aber es sind doch einige darunter, die ich mehr liebe als die andern, weil sie liebenswürdiger und schätzenswerter sind. Das ist mein ganzes Verbrechen dir gegenüber; Schwester Susanne, findest du es sehr groß?«

»Nein, liebe Mutter.«

»Gut, liebes Kind, so laß uns ein kurzes Gebet sprechen und uns zurückziehen.«

Ich flehte sie nochmals an, mir zu gestatten, die Nacht in der Kirche zu verbringen; sie willigte ein, unter der Bedingung, daß es nicht wieder vorkomme, und zog sich zurück.

Ich dachte über das nach, was sie mir gesagt hatte, und betete zu Gott, mich zu erleuchten; ich überlegte lange und kam zu dem Schluß, daß man, auch wenn man gleichen Geschlechts war, sich doch unanständig bei seinen Freundschaftsbezeigungen benehmen konnte; Pater Lemoine, der ein sehr strenger Mann war, hatte die Dinge vielleicht übertrieben, aber sein Rat, die übertriebene Vertraulichkeit mit der Äbtissin durch große Zurückhaltung zu vermeiden, war gut, und ich gelobte mir, ihn zu befolgen.

Am andern Morgen, als die Nonnen in das Chor kamen, fanden sie mich an meinem Platz; alle traten zum Tisch des Herrn, die Äbtissin an ihrer Spitze, was mich vollends von ihrer Unschuld überzeugte, ohne mich von dem gefaßten Entschluß abzubringen. Und außerdem empfand ich für sie bei weitem nicht die Zuneigung, die sie für mich hegte. Ich konnte nicht umhin, sie mit meiner ersten Äbtissin zu vergleichen; welch ein Unterschied! Sie hatte weder die gleiche Frömmigkeit, noch die gleiche Würde, weder den gleichen Ernst, noch die gleiche Inbrunst, weder denselben Geist, noch dieselbe Ordnungsliebe.

Im Laufe von wenigen Tagen traten zwei große Ereignisse ein: erstens gewann ich meinen Prozeß gegen die Nonnen von Longchamps; sie wurden verurteilt, dem Kloster Sainte Europe, in dem ich mich befand, ein meiner Mitgift angemessenes Jahrgeld zu zahlen; außerdem aber bekamen wir einen andern Beichtvater. Die Äbtissin teilte mir dies selbst mit.

Aber ich ging nur immer in Gesellschaft anderer zu ihr; sie besuchte mich nicht mehr allein. Sie suchte meine Nähe, aber ich wich ihr aus; das bemerkte sie und machte mir Vorwürfe. Ich weiß nicht, was in dieser Seele vorging, aber es mußte wohl etwas ganz Außerordentliches sein. Sie stand des Nachts aus ihrem Bett auf und wanderte in den Gängen umher, besonders in dem Gang vor meiner Zelle; ich hörte sie immer wieder an meiner Tür vorbeigehen, hörte, wie sie klagte und seufzte. Ich zitterte und verkroch mich tiefer in mein Bett. Am Tage, wenn ich spazieren ging, im Arbeitssaal oder im Erholungszimmer, wenn ich sie nicht sehen konnte, verbrachte sie ganze Stunden damit, mich anzusehen; sie belauerte alle meine Schritte; wenn ich die Treppen hinunterging, fand ich sie unten auf den Stufen; sie erwartete mich oben, wenn ich heraufkam. Eines Tages vertrat sie mir den Weg und sah mich an, ohne ein Wort zu sagen; Tränen entströmten ihren Augen, dann plötzlich warf sie sich zu Boden, umklammerte meine Knie mit beiden Händen und sagte: »Grausame Schwester, fordere mein Leben, ich will es dir geben, aber weiche mir nicht mehr aus; ich kann ohne dich nicht mehr leben …« Ihr Zustand flößte mir Mitleid ein, ihre Augen waren erloschen, sie hatte ihre Fülle und ihre frischen Farben verloren. Sie war meine Äbtissin, sie lag zu meinen Füßen, den Kopf gegen mein Knie gelehnt, das sie umklammert hielt; ich streckte ihr die Hände hin, sie ergriff sie feurig, küßte sie und sah mich noch immer an; ich hob sie auf. Sie wankte und konnte kaum gehen; ich brachte sie in ihre Zelle zurück. Als ihre Tür geöffnet war, nahm sie mich bei der Hand und wollte mich sanft hineinziehen, aber ohne mit mir zu sprechen und ohne mich anzusehen.

»Nein,« sagte ich, »liebe Mutter, nein, ich habe es mir gelobt; es ist besser für Sie und für mich; ich nehme zuviel Platz in Ihrem Herzen ein, und doch schulden Sie Gott Ihre ganze Seele.«

»Kannst du mir deswegen Vorwürfe machen?«

Ich versuchte, während ich mit ihr sprach, meine Hand aus der ihren zu lösen.

»Du willst also nicht eintreten?« sagte sie zu mir.

»Nein, liebe Mutter, nein.«

»Du willst nicht, Schwester Susanne? Du weißt nicht, was geschehen kann, nein, du weißt es nicht, du treibst mich in den Tod …«

Diese letzten Worte flößten mir ein ganz anderes Gefühl ein, als sie angenommen hatte; ich zog heftig meine Hand zurück und entfloh. Sie wandte sich um, sah mir eine Weile nach, trat dann wieder in ihre Zelle, deren Tür offen blieb, und begann gellende Klagerufe auszustoßen. Ich hörte sie, und sie gingen mir durch Mark und Bein. Ich schwankte einen Augenblick, ob ich mich entfernen oder wieder umkehren solle; aber ich weiß nicht, was für ein Gefühl der Abneigung mich trieb, mich zu entfernen, obwohl mich der Zustand schmerzte, in welchem ich sie zurückließ; ich bin von Natur mitleidig. Ich schloß mich in meiner Zelle ein, fühlte mich aber sehr unglücklich; ich wußte nicht, was ich anfangen sollte; ich ging hin und her, zerstreut und verwirrt; ich ging hinaus und kehrte wieder um; endlich klopfte ich an die Tür Schwester Theresas, meiner Nachbarin. Sie war in intimer Unterhaltung mit einer andern jungen Nonne, einer ihrer Freundinnen; ich sagte zu ihr: »Liebe Schwester, ich bedaure, Sie stören zu müssen, aber ich bitte Sie, mich einen Augenblick anzuhören, ich habe Ihnen etwas zu sagen …« Sie kam mit in meine Zelle, und ich sagte: »Ich weiß nicht, was mit unserer Mutter, der Äbtissin, ist, sie ist ganz verzweifelt; wenn Sie zu ihr gehen, würde es ihr vielleicht Trost bringen …« Sie antwortete mir nicht; sie ließ ihre Freundin in ihrer Zelle, verschloß ihre Tür und eilte zu unserer Äbtissin.

Aber das Leiden dieser Frau verschlimmerte sich von Tag zu Tag; sie wurde melancholisch und ernst; die Heiterkeit, die seit meinem Eintritt in das Kloster nicht geschwunden war, verflog plötzlich; alles kehrte zur strengsten Ordnung zurück; der Gottesdienst wurde mit gebührender Feierlichkeit abgehalten, Besucher wurden fast ganz vom Sprechzimmer ausgeschlossen; den Nonnen wurde verboten, sich gegenseitig in den Zellen zu besuchen; die Andachtsübungen wurden mit peinlicher Gewissenhaftigkeit wiederaufgenommen; niemals fand mehr eine Zusammenkunft bei der Äbtissin statt, und es gab keine Vergünstigungen mehr; die leichtesten Vergehen wurden streng bestraft; man wandte sich noch bisweilen an mich, um meine Fürsprache zu erbitten, aber ich weigerte mich entschieden, mich ins Mittel zu legen. Die Ursache dieser Umwälzung war niemandem bekannt; die Alten waren nicht böse darüber, die Jungen waren trostlos; sie sahen mich mit schelen Augen an; ich aber beachtete ihre schlechte Stimmung und ihre Vorwürfe nicht, da ich ein gutes Gewissen hatte.

Die Äbtissin aber, die ich nicht trösten konnte, obwohl ich sie tief beklagte, verfiel von Trübsinn in Frömmigkeit und von Frömmigkeit in Wahnsinn. Ich kann die einzelnen Stadien ihres Zustandes nicht schildern, weil ich damit auf Einzelheiten eingehen müßte, die nie ein Ende nähmen; ich will Ihnen nur sagen, daß sie im ersten Stadium ihrer Krankheit mich bald suchte, bald mied; bisweilen behandelte sie die andern und mich mit der gewohnten Sanftmut, bisweilen aber ging sie plötzlich in die äußerste Strenge über; sie ließ uns rufen und schickte uns wieder weg; sie ließ eine Erholungsstunde ansagen und widerrief ihre Befehle im nächsten Augenblick; sie ließ uns ins Chor kommen, und wenn alles in Bewegung war, um ihr zu gehorchen, gab ein zweites Glockenzeichen der Schwesternschaft den Befehl, in den Zellen zu bleiben. Es ist schwierig, zu beschreiben, ein wie unruhiges Leben man führte; der Tag verging damit, die Zelle zu verlassen und wieder dahin zurückzukehren, sein Brevier zu nehmen und es wieder hinzulegen, hinunterzusteigen und wieder hinaufzugehen, seinen Schleier herabzulassen und ihn wieder aufzuheben. Die Nacht war fast ebenso unruhig wie der Tag.

Einige Nonnen wandten sich an mich und wollten mir zu verstehen geben, daß, wenn ich der Äbtissin nur etwas gefälliger wäre und etwas mehr Rücksicht auf sie nähme, alles wieder in die alte Ordnung kommen würde, sie hätten sagen müssen: in die alte Unordnung; ich entgegnete ihnen traurig: »Ich bedaure Sie, aber sagen Sie mir deutlich, was ich tun soll …« Da wandten sich manche von mir ab, indem sie den Kopf senkten und mir keine Antwort gaben; andere erteilten mir Ratschläge, die ich nicht mit den Vorschriften unseres Beichtvaters vereinen konnte; ich spreche von dem alten Beichtvater, denn seinen Nachfolger hatten wir noch nicht gesehen.

Die Äbtissin verließ nachts ihre Zelle nicht mehr, Wochen vergingen, ohne daß sie sich beim Gottesdienst, im Chor, im Refektorium, in den Erholungsstunden sehen ließ; sie blieb in ihrer Zelle eingeschlossen; sie irrte in den Gängen umher oder begab sich in die Kirche; sie klopfte an die Türen der Nonnen und sagte mit klagender Stimme: »Schwester, beten Sie für mich! Schwester, beten Sie für mich« … Es verbreitete sich das Gerücht, daß sie sich zu einer Generalbeichte vorbereite.

 

Eines Tages, als ich als erste in die Kirche kam, sah ich am Gittervorhang einen Zettel; ich trat heran und las: »Liebe Schwestern, man bittet euch, für eine Nonne zu beten, die sich von ihren Pflichten verirrt hat und zu Gott zurückkehren will …« Ich fühlte mich versucht, den Zettel abzureißen, aber ich ließ ihn hängen. Einige Tage später fand ich einen andern, auf dem geschrieben stand: »Liebe Schwestern, ihr werdet gebeten, die Gnade Gottes anzuflehen für eine Nonne, die ihre Verirrungen erkannt hat; sie sind groß.« … Wieder eines Tages fanden wir eine neue Aufforderung: »Liebe Schwestern, ihr werdet gebeten, Gott anzuflehen, er möge eine Nonne, die alles Vertrauen zu seiner göttlichen Gnade verloren hat, der Verzweiflung entreißen …«

Alle diese Aufforderungen, in denen sich die grausamen Qualen dieser Seele ausdrückten, betrübten mich tief. Es geschah, daß ich bisweilen wie eine Bildsäule vor diesen Anschlägen stehen blieb; ich fragte mich selbst, was für Verirrungen sie sich zum Vorwurf mache; welchen Grund hatte die Verzweiflung dieser Frau? Welches Verbrechens mochte sie sich anklagen? Wieder fielen mir die Äußerungen des Beichtvaters ein, ich erinnerte mich seiner Ausdrücke, ich suchte einen Sinn darin, fand keinen und blieb in meine Gedanken versunken stehen. Einige Nonnen, die mich beobachteten, zischelten untereinander; und wenn ich mich nicht täusche, so sahen sie mich an, als sei ich unmittelbar von den gleichen Qualen bedroht.

Die arme Äbtissin ließ sich nur mit herabgelassenem Schleier sehen; sie kümmerte sich nicht mehr um die Angelegenheiten des Klosters, sprach mit niemandem, hatte häufige Unterredungen mit dem neuen Beichtvater, den man uns gegeben hatte. Das war ein junger Benediktiner. Ich weiß nicht, ob er ihr all die Demütigungen auferlegt hat, die sie sich zufügte; sie fastete dreimal in der Woche; sie kasteite sich, sie wohnte in den unteren Kirchenstühlen dem Gottesdienst bei. Man mußte auf dem Weg zur Kirche an ihrer Zelle vorbei. Hier fanden wir sie kniend, das Gesicht auf den Boden gedrückt; und sie stand erst auf, wenn alle vorbei waren. Nachts ging sie im Hemd und barfüßig in die Kirche hinunter; wenn Schwester Therese oder ich ihr zufällig begegneten, drehte sie sich um und drückte das Gesicht gegen die Wand. Eines Tages, als ich aus meiner Zelle kam, fand ich sie davor auf dem Boden liegen, das Gesicht auf die Erde gedrückt; und sie sagte zu mir: »Geh weiter, geh, tritt mich mit Füßen; eine andere Behandlung verdiene ich nicht.«

Monatelang dauerte diese Krankheit, die übrige Schwesternschaft hatte eine schwere Zeit und faßte tiefe Abneigung gegen mich. Ich will nicht auf alle die Unannehmlichkeiten zurückkommen, die einer Nonne bereitet werden, wenn Sie sich den Haß des Klosters zugezogen hat; Sie wissen schon genug darüber. Ich fühlte den Widerwillen gegen meinen Stand wieder in mir erwachen. Diesen Widerwillen und all meinen Kummer beichtete ich dem neuen Beichtvater; er heißt Dom Morel; er ist von feurigem Temperament und den Vierzigen nahe. Er schien mir aufmerksam und mit Interesse zuzuhören, wünschte die Geschichte meines Lebens kennen zu lernen und ließ mich die kleinsten Einzelheiten über meine Familie, meine Neigungen, meinen Charakter, die Klöster, in denen ich gewesen war, das Kloster, in dem ich mich jetzt befand und alles, was zwischen meiner Äbtissin und mir vorgegangen war, berichten. Ich verhehlte ihm nichts. Er schien dem Verhältnis zwischen der Äbtissin und mir nicht die gleiche Bedeutung beizulegen wie Pater Lemoine; er geruhte kaum einige Worte darüber zu sagen und sah diese Sache als abgeschlossen an; was ihn am stärksten interessierte, war meine geheime Gesinnung für das Klosterleben. Während ich ihm mein Herz ausschüttete, wuchs auch sein Vertrauen zu mir; wenn ich ihm beichtete, beichtete er mir auch; was er mir von seinen Leiden sagte, hatte die größte Ähnlichkeit mit meinen eigenen Erlebnissen; er war gegen seinen Willen für die Mönchslaufbahn bestimmt, ertrug sein Leben mit dem gleichen Widerwillen wie ich und war kaum weniger zu beklagen.

»Aber, liebe Schwester,« fügte er hinzu, »was soll man dabei tun? Es gibt nur ein Mittel, nämlich unsere Lage uns so leicht zu machen wie möglich.« Und dann gab er mir die gleichen Ratschläge, die er selbst auch befolgte, und sie waren sehr weise. »Auf diese Art,« fügte er hinzu, »verhindert man das Leiden nicht, man entschließt sich nur, es zu ertragen. Die Mönche und Nonnen sind nur glücklich, wenn sie sich vor Gott aus ihrem Kreuz ein Verdienst machen; dann empfinden sie Freude darüber und setzen sich gern allen Demütigungen aus; je bitterer diese Demütigungen sind und je häufiger sie sich wiederholen, desto glücklicher preisen sie sich; sie haben ihr Glück in dieser Welt gegen das künftige Glück ausgetauscht; dieses sichern sie sich, indem sie freiwillig das irdische Glück opfern. Wenn sie schwer gelitten haben, sprechen sie zu Gott: Amplius, Domine; Herr, noch mehr! … Und das ist ein Gebet, das Gott selten zu erhören unterläßt. Aber wenn diese Leiden über Sie und über mich ebenso verhängt sind wie über die andern, dürfen wir doch nicht die gleiche Belohnung erwarten, wir haben das einzige nicht, was ihnen ihren Wert gibt: die Ergebung; das ist sehr traurig. Oh, wie soll ich Ihnen die Tugend einflößen, die Ihnen fehlt und die ich selber auch nicht besitze? Ohne sie aber setzen wir uns der Gefahr aus, in jenem Leben verdammt zu werden, nachdem wir in diesem so unglücklich gewesen sind. Trotz allen Bußübungen ist uns die Verdammnis ebenso gewiß wie den Leuten, die in der Welt ihrem Vergnügen nachjagen; wir entsagen, sie aber genießen; und nach diesem Leben erwarten uns die gleichen Martern. Wie traurig ist das Leben eines Mönches, einer Nonne, die keine Berufung zu ihrem Stande in sich fühlen; das ist unser Los, und wir können es nicht ändern. Man hat uns schwere Ketten auferlegt und wir sind verurteilt, sie mitzuschleppen, ohne die Hoffnung, sie je brechen zu können; also, liebe Schwester, lassen Sie uns versuchen, sie zu tragen. Gehen Sie jetzt, ich komme wieder zu Ihnen.«

Einige Tage darauf kam er wieder; ich sah ihn im Sprechzimmer und beschäftigte mich eingehender mit ihm. Er vertraute mir jetzt alles aus seinem Leben an, und ich ihm alles aus dem meinen, unendlich viele Umstände, die zwischen ihm und mir ebensoviele Berührungspunkte und Ähnlichkeiten schufen; er hatte im Elternhause und im Kloster fast die gleichen Verfolgungen ausgestanden wie ich. Ich merkte nicht, daß die Schilderung seiner Abneigung wenig geeignet war, meine eigene zu zerstreuen; aber trotzdem wurde diese Wirkung in mir hervorgerufen, und ich glaube, die Schilderung meiner Abneigung hatte auf ihn die gleiche Wirkung. So gesellte sich zu der Ähnlichkeit der Charaktere die der Ereignisse, und je öfter wir uns sahen, desto größeres Gefallen fanden wir aneinander; die Geschichte seiner Erlebnisse, seiner Empfindungen, seiner Seele war meine eigene.

Als wir uns genügend über uns selbst ausgesprochen hatten, sprachen wir von andern, und besonders von der Äbtissin. Seine Eigenschaft als Beichtvater machte ihn sehr zurückhaltend, aber ich hörte aus seinen Reden heraus, daß die augenblickliche Gemütsverfassung dieser Frau nicht anhalten werde; sie kämpfe gegen sich selbst, aber vergeblich; und es sei zu erwarten, daß von zwei Dingen eines einträte: nämlich daß sie bald wieder zu ihren früheren Neigungen zurückkehrte oder den Verstand verlöre. Ich war sehr neugierig, mehr zu erfahren; er hätte mir wohl Aufklärung geben können über alle Fragen, die ich mir vorgelegt hatte, ohne je eine Antwort darauf zu finden, aber ich wagte ihn nicht zu fragen; ich erlaubte mir nur die Frage, ob er Pater Lemoine kenne.

»Ja,« sagte er, »den kenne ich; das ist ein sehr, ein überaus verdienstvoller Mann.«

»Wir haben ihn hier plötzlich verloren.«

»Das ist richtig.«

»Können Sie mir nicht sagen, wie das zugegangen ist?«

»Ich würde es bedauern, wenn das ruchbar würde.«

»Sie können sich auf meine Verschwiegenheit verlassen.«

»Man hat, glaube ich, beim Erzbischof sich über ihn beschwert.«

»Was konnte man denn sagen?«

»Er wohne zu weit vom Kloster; er sei nie da, wenn man ihn brauche; er habe eine zu strenge Moral; man habe Grund zu dem Verdacht, daß er zu den Neuerern gehöre, er säe Zwietracht im Hause und mache die Nonnen ihrer Äbtissin abwendig.«

»Und woher wissen Sie das?«

»Von ihm selbst.«

»Sie kommen also mit ihm zusammen?«

»Ja, zuweilen; er hat mir auch von Ihnen erzählt.«

»Was hat er Ihnen von mir gesagt?«

»Sie seien sehr zu beklagen; er begreife nicht, wie Sie allen Leiden hätten widerstehen können, die Sie erduldet; er habe allerdings nur ein- oder zweimal Gelegenheit gehabt, Sie zu sehen, glaube aber nicht, daß Sie sich an das Klosterleben gewöhnen würden; er sei der Meinung …«

Hier hielt er plötzlich inne, und ich warf ein: »Welcher Meinung?«

Dom Morel entgegnete: »Das ist eine zu vertrauliche Angelegenheit, als daß ich mir erlauben dürfte, zu Ende zu sprechen …«

Ich drang nicht weiter in ihn, ich sagte nur: »Es ist Tatsache, daß Pater Lemoine mir die Abneigung gegen meine Äbtissin eingeflößt hat.«

»Daran hat er wohl getan.«

»Und warum?«

»Meine Schwester,« erwiderte er und nahm eine ernste Miene an, »halten Sie sich an seine Ratschläge und versuchen Sie, zeit Ihres Lebens über deren Ursache in Unkenntnis zu bleiben.«

»Aber ich glaube, wenn ich die Gefahr kennte, so würde ich mich um so mehr bemühen, sie zu vermeiden.«

»Vielleicht wäre auch das Gegenteil der Fall.«

»Sie müssen eine sehr schlechte Meinung von mir haben.«

»Ich habe von Ihrem Wandel und Ihrer Unschuld die Meinung, die ich davon haben muß; aber glauben Sie mir: es gibt gefährliche Erkenntnisse, die man nicht erlangt, ohne daran zugrunde zu gehen. Ihre Unschuld hat Ihre Äbtissin im Zaum gehalten; hätten Sie besser Bescheid gewußt, so würde sie weniger Scheu vor Ihnen empfunden haben.«

»Ich verstehe Sie nicht.«

»Um so besser.«

»Können denn die Vertraulichkeiten und die Liebkosungen einer Frau für eine andere Frau gefährlich sein?«

Dom Morel gab darauf keine Antwort.

»Bin ich nicht mehr dieselbe, die ich war, als ich hier eintrat?«

Keine Antwort seitens Dom Morels.

»Wäre ich nicht dieselbe geblieben? Worin liegt das Unrecht, wenn man sich liebt, es sich sagt und es sich beweist? Es ist so schön.«

»Das ist wahr,« sagte Dom Morel, indem er die Augen, die er während meiner Rede gesenkt hatte, auf mich richtete.

»Und das ist also so üblich in den Nonnenklöstern? Meine arme Äbtissin! In was für einen Zustand ist sie verfallen!«

»Es ist ein schlimmer Zustand, und ich fürchte, er wird sich noch mehr verschlimmern. Sie war für ihren Stand nicht geschaffen, und so kommt es früher oder später, wenn man sich den natürlichen Neigungen widersetzt: eben dieser Zwang verwandelt sie in regellose Gelüste, die um so heftiger sind, je weniger sie einen Grund haben; es ist eine Art Wahnsinn.«

»Ist sie wahnsinnig?«

»Ja, das ist sie, und es wird noch schlimmer mit ihr werden.«

»Und Sie glauben, daß dies Schicksal alle erwartet, die sich in einen Stand begeben haben, zu dem sie keine Berufung in sich fühlen?«

»Nein, nicht alle; es gibt einige, die vorher sterben; andere werden durch unbestimmte Hoffnungen einige Zeit aufrechterhalten.«

»Und was für Hoffnungen hat eine Nonne?«

»Was für Hoffnungen? Die Hoffnung, daß sie vielleicht die Aufhebung ihrer Gelübde bewirken kann.«

»Und wenn man diese Hoffnung nicht mehr hat?«

»Dann muß sie hoffen, eines Tages die Tür offen zu finden; muß hoffen, daß die Menschen von der Unsitte abkommen, junge, lebendige Geschöpfe lebendig zu begraben, und daß die Klöster geschleift werden, daß das Haus in Flammen aufgeht, daß die Klostermauern fallen, daß irgend jemand sie befreit. Alle diese Möglichkeiten kreisen in den Köpfen der Nonnen; sie unterhalten sich darüber; wenn sie im Garten spazieren gehen, betrachten sie ganz unbewußt die Mauern, ob sie sehr hoch sind; wenn sie in der Zelle sind, prüfen sie die Stäbe ihres Gitters und rütteln wie aus Zerstreutheit leise daran; wenn man eine Straße unter seinen Fenstern hat, blickt man hinunter; wenn man jemanden vorbeigehen hört, schlägt einem das Herz, man seufzt nach einem Befreier; wenn irgendein Auflauf entsteht, dessen Lärm in das Haus dringt, so hofft man; man rechnet auf eine Krankheit, die einem einen Menschen nahebringt oder einem zu einer Reise ins Bad verhilft.«

»Das ist wahr, das ist wahr!« rief ich, »Sie lesen auf dem Grunde meiner Seele; alle diese Illusionen habe ich mir gemacht und mache sie mir noch heute.«

»Und gehen sie einem verloren, weil man näher darüber nachdenkt, und weil die heilsamen Illusionen, die das Herz der Vernunft vorgaukelt, sich zuweilen zerstreuen, dann erkennt man den ganzen Umfang seines Elends; man verabscheut sich selbst, man verabscheut die andern; man weint, man zittert, man schreit, man fühlt die Verzweiflung nahen. Dann werfen manche sich ihrer Äbtissin zu Füßen und suchen bei ihr Trost; andere beten in ihrer Zelle oder vorm Altar und rufen den Himmel um Hilfe an; wieder andere zerreißen ihre Kleider und raufen sich die Haare; manche suchen sich einen tiefen Brunnen, hohe Fenster, einen Strick, und finden es bisweilen; wieder andere verfallen, nachdem sie sich lange gequält haben, in eine Art Vertierung und verblöden; andere, die einen schwachen und zarten Organismus haben, verzehren sich in Sehnsucht; bei einigen aber wird der ganze Mechanismus gestört, und sie verfallen in Raserei. Die Glücklichsten sind die, in denen die tröstenden Illusionen wieder aufleben und sie bis an ihr Grab einwiegen; ihr Leben schwankt zwischen Irrtum und Verzweiflung hin und her.«

»Und die Unglücklichsten«, fügte ich hinzu, indem ich einen tiefen Seufzer ausstieß, »sind wohl die, die nacheinander alle diese Gemütszustände durchmachen müssen … O mein Vater, wie leid tut es mir, daß ich Sie gehört habe!«

»Und warum?«

»Ich kannte mich nicht, jetzt kenne ich mich; meine Illusionen werden nicht mehr lange dauern. In den Augenblicken …«

Ich wollte fortfahren, als eine andere Nonne eintrat, dann eine zweite, eine dritte und noch vier, fünf, sechs, ich weiß nicht wieviele. Die Unterhaltung wurde allgemein. Einige von ihnen sahen den Beichtvater an; andere hörten ihm schweigend und mit niedergeschlagenen Augen zu; wieder andere befragten ihn gleichzeitig, alle jedoch lobten die Klugheit seiner Antworten. Ich aber hatte mich in eine Ecke zurückgezogen, wo ich mich tiefem Nachdenken überließ. Mitten in der Unterhaltung, bei der jede sich zur Geltung zu bringen und durch ihre Vorzüge sich bei dem heiligen Manne beliebt zu machen versuchte, hörte man jemanden langsamen Schritts herankommen, ab und zu stillstehen und tief seufzen; man lauschte und sagte dann mit leiser Stimme: »Das ist sie, es ist unsere Äbtissin.« Dann schwiegen alle und setzten sich im Kreise. Sie war es wirklich; sie trat ein, ihr Schleier reichte bis zum Gürtel, die Arme hatte sie über der Brust verkreuzt und den Kopf gesenkt. Ich war die erste, deren sie gewahr ward; da streckte sie eine ihrer Hände, mit denen sie sich die Augen bedeckt hatte, unter ihrem Schleier hervor, wandte sich ein wenig zur Seite und winkte uns mit der andern Hand, hinauszugehen; wir gingen schweigend hinaus und sie blieb mit Dom Morel allein.

Ich sehe voraus, Herr Marquis, daß Sie eine schlechte Meinung von mir bekommen werden; aber wenn ich mich dessen, was ich getan habe, nicht schäme, warum sollte ich erröten, es zu gestehen? Und wie könnte ich in dieser Erzählung ein Ereignis auslassen, das so viele Folgen gehabt hat? Ich will lieber zugeben, daß ich ein sehr sonderbares Wesen habe; wenn die Dinge, die ich erzähle, Ihre Achtung herausfordern müssen oder Ihr Mitgefühl vergrößern können, schreibe ich, ob gut, ob schlecht, jedenfalls aber mit einer unglaublichen Schnelligkeit und Leichtigkeit; meine Seele ist heiter, der Ausdruck kommt mir ohne Mühe, meine Tränen fließen sanft, mir ist, als hätte ich Sie vor mir, als sähe ich, wie Sie mir zuhören. Wenn ich aber gezwungen bin, mich Ihren Augen in ungünstigem Licht zu zeigen, so macht das Denken mir Schwierigkeiten, der Ausdruck will mir nicht in die Feder, sogar meine Schrift ändert sich, und ich schreibe nur weiter, weil ich mich insgeheim der Hoffnung hingebe, Sie werden diese Stellen nicht lesen. Nun kommt so eine Stelle.

Als unsere Schwestern sich zurückgezogen hatten … »Nun, was taten Sie?« – Sie erraten es nicht? Nein, Sie sind zu ehrenhaft dazu. Ich ging auf den Fußspitzen wieder hinunter und stellte mich leise vor die Tür des Sprechzimmers, um zu hören, was drinnen gesprochen wurde. »Das ist sehr böse von Ihnen,« sagen Sie; das sagte ich mir selbst auch; und meine Aufregung, die Vorsicht, die ich anwandte, um nicht bemerkt zu werden, mein häufiges Stillstehen auf meinem Wege, die Stimme meines Gewissens, die bei jedem Schritt in mich drang, umzukehren, ließen mich nicht im Zweifel, daß mein Vorhaben schlecht sei; aber die Neugier war stärker, und ich ging hin. Aber wenn es schlecht ist, das Gespräch zweier Menschen, die sich allein glauben, zu belauschen, ist es nicht noch schlechter, es Ihnen wiederzuerzählen? Nun kommt wieder eine von den Stellen, die ich nur schreibe, weil ich mich der Hoffnung hingebe, daß Sie sie nicht lesen werden; das wird nicht der Fall sein, aber ich muß es mir einreden.

Das erste Wort, das ich nach einem ziemlich langen Schweigen hörte, ließ mich zusammenfahren; dies Wort war:

»Mein Vater, ich bin verdammt …«

Ich beruhigte mich und lauschte; der Schleier, der mir bis dahin die Gefahr, in der ich geschwebt hatte, zerriß, da rief man mich; ich mußte hingehen und ich ging, aber ach, ich hatte nur zuviel gehört. Welch ein Weib, Herr Marquis, welch ein abscheuliches Weib!

(Hier sind die Aufzeichnungen der Schwester Susanne unterbrochen; das folgende sind nur noch Notizen, die sie wahrscheinlich für die Fortsetzung ihrer Erzählung verwenden wollte. Es scheint, daß die Äbtissin wahnsinnig geworden war und daß sich auf ihren Zustand die hier mitgeteilten Bruchstücke beziehen.)

Nach dieser Beichte hatten wir einige Tage Ruhe. Freude kehrte in das Kloster zurück, und man überschüttete mich deswegen mit Lobsprüchen, die ich empört zurückwies.

Sie floh mich nicht mehr; sie sah mich an, aber meine Anwesenheit schien sie nicht mehr aufzuregen. Ich bemühte mich, ihr das Entsetzen zu verheimlichen, das sie mir einflößte, seit ich sie infolge meiner verhängnisvollen oder segensreichen Neugier besser kennen gelernt halte.

Dann wurde sie schweigsam; sie sagte nur noch ja und nein; sie ging allein umher, sie verweigerte die Nahrung; ihr Blut erhitzte sich, Fieber befiel sie, und auf das Fieber folgten Delirien.

Wenn sie allein in ihrem Bett liegt, glaubt sie mich zu sehen, spricht mit mir, bittet mich, näher heranzutreten, überschüttet mich mit zärtlichen Worten. Wenn sie Schritte in der Nähe ihrer Zelle hört, ruft sie: »Jetzt geht sie vorbei; es ist ihr Schritt, ich erkenne ihn; ruft sie doch her, nein, nein, laßt sie!«

Sonderbar ist, daß sie sich nie täuschte, nie eine andere für mich hielt.

Sie lachte laut, im nächsten Augenblick aber zerfloß sie in Tränen. Unsere Schwestern standen schweigend an ihrem Lager, manche weinten mit ihr.

Plötzlich sagte sie: »Ich bin nicht in der Kirche gewesen, ich habe nicht zu Gott gebetet … Ich will aufstehen und mich anziehen; man soll mir helfen …« Wenn man ihr widersprach, fügte sie hinzu: »Gebt mir wenigstens mein Brevier …« Man gab es ihr; sie öffnete es, schlug die Blätter um und blätterte immer weiter, auch wo das Buch schon zu Ende war; dabei hatte sie einen verwirrten Blick.

Eines Nachts ging sie allein in die Kirche hinunter; ein paar von den Schwestern folgten ihr; sie warf sich auf den Stufen des Altars nieder, begann zu zittern, zu seufzen, laut zu beten; sie ging hinaus, sie kam wieder und sagte: »Holt sie her! Sie ist eine so reine Seele, ein so unschuldiges Geschöpf! wenn sie ihre Gebete mit den meinigen vereinte …« Dann wandte sie sich an die ganze Schwesternschaft und rief zu den leeren Kirchenstühlen hinüber: »Geht, geht alle hinaus, sie soll mit mir allein bleiben. Ihr seid nicht würdig, ihr zu nahen; wenn eure Stimmen sich mit der ihren vermischen, so würde euer unheiliger Weihrauch den Duft ihres Atems vor Gott verderben …« Dann ermahnte sie mich, den Himmel um Beistand und Vergebung anzuflehen. Sie sah Gott; der Himmel schien ihr von Blitzen durchfurcht, schien sich zu öffnen und über ihrem Haupte zu donnern; Engel stiegen aus den Wolken herab; die Blicke der Gottheit ließen sie erzittern; sie rannte nach allen Seiten, sie verbarg sich in den dunkelsten Winkeln der Kirche, sie bat um Gnade, sie preßte das Gesicht auf die Erde und schlummerte in dieser Stellung ein; die feuchte Kühle der Kirche hatte sie angegriffen und man trug sie, wie tot, in ihre Zelle.

Von dieser furchtbaren nächtlichen Szene wußte sie am andern Morgen nichts. Sie sagte: »Wo sind unsere Schwestern? Ich sehe niemanden mehr, ich bin allein geblieben in diesem Hause, sie haben mich alle verlassen, auch Schwester Therese; sie haben wohl daran getan. Da Schwester Susanne nicht mehr hier ist, kann ich hinausgehen, ich werde ihr nicht mehr begegnen … Oh, wenn ich ihr begegnete! Aber sie ist nicht mehr hier, nicht wahr? Nicht wahr, sie ist nicht mehr hier? … Glücklich das Kloster, das sie aufnimmt! Sie wird ihrer neuen Äbtissin alles erzählen; was soll sie von mir denken? … Ist Schwester Therese tot? Ich habe die ganze Nacht Totengeläut gehört … Das arme Mädchen! Sie ist auf ewig verloren; und ich auch, ich auch! Eines Tages werde ich ihr gegenüberstehen; was soll ich dann sagen, was ihr erwidern? … Weh über mich!«

Dann wieder sagte sie: »Sind unsere Schwestern wieder da? Sagt ihnen, ich sei sehr krank … Schüttelt mein Kopfkissen auf … bindet mich los … mich drückt irgend etwas … Der Kopf brennt mir, nehmt mir die Haube ab … ich will mich waschen … Bringt mir Wasser; gießt ein, gießt mehr ein … Sie sind weiß, aber der Schmutz der Seele ist geblieben … Ich möchte tot sein, ich wollte, ich wäre nie geboren, ich hätte sie nie gesehen.«

Eines Morgens fand man sie mit bloßen Füßen, im Hemd, mit hängendem Haar, in ihrer Zelle umherirren, heulend, mit Schaum vorm Munde, die Hände an die Ohren gepreßt und den Leib an die Wand gedrückt … »Geht fort von diesem Abgrund! Hört ihr das Geschrei? das ist die Hölle, aus diesem tiefen Abgrund züngeln Flammen, ich sehe sie; aus dem Feuer höre ich Stimmen, die mich rufen … mein Gott, habe Erbarmen mit mir! … Eilt euch! Läutet die Glocke, ruft die Schwesternschaft zusammen, ordnet an, daß sie für mich beten, ich will auch beten … Aber es ist kaum erst Tag; unsere Schwestern schlafen … ich habe in der Nacht kein Auge zugetan; ich möchte schlafen, und ich kann nicht.«

Eine von den Schwestern sagte: »Frau Äbtissin, Sie haben irgendeinen Kummer, vertrauen Sie ihn mir an; vielleicht gibt das Ihnen Erleichterung.«

»Schwester Agathe, hören Sie, kommen Sie her zu mir … näher … noch näher … man darf uns nicht hören. Ich will alles sagen, alles; aber Sie müssen das Geheimnis bewahren … Sie kennen sie doch?«

»Wen, Frau Äbtissin?«

»Ist es nicht wirklich wahr, daß kein Mensch so reizend ist wie sie? Dieser Gang! Diese Würde! Diese vornehme Gesinnung! Diese Bescheidenheit! … Gehen Sie zu ihr! Sagen Sie ihr … Nein, sagen Sie nichts; gehen Sie nicht … Sie können ihr nicht nahen; die Engel des Himmels bewachen sie, schützen sie; ich habe sie gesehen, Sie werden sie auch sehen und werden ebenso bestürzt sein wie ich … Bleiben Sie hier … Was wollen Sie ihr sagen, wenn Sie zu ihr gehen? Erfinden Sie irgend etwas, worüber sie nicht errötet …«

»Aber Frau Äbtissin, könnten Sie sich nicht mit unserm Beichtvater beraten?«

»Ja, gewiß … Nein, nein, ich weiß, was er sagt; ich habe es sooft gehört … Was sollte ich ihm sagen? … Wenn ich doch das Gedächtnis verlöre! … wenn ich in das Nichts zurückkehren könnte oder von neuem geboren würde! … Rufen Sie den Beichtvater nicht … Man soll mir lieber die Leidensgeschichte unseres Herrn Jesu Christi vorlesen. Lest! … Ich fange wieder an, aufzuatmen … nur ein Tropfen dieses Blutes ist nötig, mich zu reinigen … Seht, es quillt aus seiner Seite hervor … Neigt diese geheiligte Wunde auf mein Haupt … Sein Blut fließt über mich, es bleibt aber nicht an mir … Ich bin verloren! … Nehmt das Kruzifix weg! … Bringt es mir wieder …«

Man brachte es ihr wieder; sie nahm es in die Arme, küßte es und sagte: »Es sind ihre Augen, es ist ihr Mund; wann werde ich sie wiedersehen? Schwester Agathe, sagen Sie ihr, daß ich sie liebe; schildern Sie ihr meinen Zustand, sagen Sie ihr, daß ich sterbe.«

Sie wurde zur Ader gelassen, sie bekam Bäder, aber durch die Kur schien ihr Leiden sich zu verschlimmern. Ich wage Ihnen nicht zu schildern, was für unzüchtige Handlungen sie beging, kann Ihnen die unanständigen Reden nicht wiederholen, die in ihrem Delirium ihrem Munde entschlüpften. Immer wieder führte sie die Hand an die Stirn, wie um lästige Gedanken und Bilder – was weiß ich, was für Bilder es waren? – zu verscheuchen. Sie vergrub ihren Kopf in den Kissen, bedeckte das Gesicht mit der Decke. »Das ist der Versucher,« sagte sie, »das ist er! Was für eine seltsame Gestalt hat er angenommen! Nehmt geweihtes Wasser; besprengt mich mit Weihwasser … Hört auf, hört auf, er ist nicht mehr da.«

Man säumte nicht, sie in Gewahrsam zu bringen, aber das Gefängnis war nicht so gut bewacht, daß sie nicht eines Tages daraus entschlüpfen konnte. Sie hatte ihre Kleider zerrissen, rannte völlig nackt durch die Gänge, nur zwei Strickenden hingen von ihren beiden Armen herab; sie schrie: »Ich bin eure Äbtissin; mir habt ihr den Eid geleistet, mir habt ihr zu gehorchen. Ihr habt mich eingekerkert, ihr Elenden! Das also ist der Lohn für meine Güte; ihr beleidigt mich, weil ich zu gut bin; ich werde nicht mehr gut sein … Feuer! … Mörder! … Diebe! … Zu Hilfe! … Hierher, Schwester Therese … hierher, Schwester Susanne …« Jetzt aber ergriff man sie und führte sie in ihr Gefängnis zurück, und sie sagte: »Ihr habt recht, ihr habt recht; ach, ich bin wahnsinnig geworden, ich fühle es.«

Bisweilen schien sie von dem Bilde verschiedener Strafen geplagt zu werden; sie sah Frauen mit dem Strick um den Hals, Frauen, denen die Arme auf dem Rücken gebunden waren; sie sah andere mit Fackeln in der Hand; sie schloß sich den Büßenden an; sie glaubte zu Tode geführt zu werden und sagte zu dem Henker: »Ich habe mein Los verdient; ich habe es verdient; ja, wenn dies die letzte Qual wäre, aber eine Ewigkeit, eine Ewigkeit im höllischen Feuer! …«

Ich erzähle hier nichts, was nicht wahr ist, und alles, was ich sonst noch Wahres zu erzählen hätte, fällt mir nicht ein, oder ich würde erröten, dies Papier damit zu besudeln.

Nachdem sie mehrere Monate in diesem beklagenswerten Zustand gelebt hatte, starb sie. War das ein Sterben, Herr Marquis! Ich habe sie gesehen, ich habe dies furchtbare Bild der Verzweiflung und des Verbrechens in der letzten Stunde gesehen; sie glaubte sich von höllischen Geistern umgeben, sie warteten auf ihre Seele, um sich ihrer zu bemächtigen, und sie sagte mit erstickter Stimme: »Da sind sie! Da sind sie! …« Sie hielt ihnen nach rechts und nach links ein Christusbild entgegen, das sie in der Hand hatte, heulte und schrie: »Mein Gott! … mein Gott!« … Schwester Therese folgte ihr bald nach, und wir bekamen eine andere Äbtissin, die schon alt, launisch und abergläubisch war.

Man beschuldigte mich, ihre Vorgängerin verhext zu haben; sie glaubte es, und meine Leiden erneuerten sich. Der neue Beichtvater wird ebenfalls von seinen Vorgesetzten verfolgt und überredet mich, aus dem Kloster zu fliehen.

Meine Flucht ist geplant. Ich begebe mich zwischen elf Uhr und Mitternacht in den Garten. Man wirft mir Seile zu; ich lege sie mir um den Leib; sie zerreißen und ich falle; ich habe mir die Beine zerschunden und mir eine heftige Quetschung an den Hüften zugezogen. Ein zweiter, ein dritter Versuch brachten mich oben auf die Mauer; ich steige hinunter. Wie groß war meine Überraschung. An Stelle eines Postwagens, in den ich aufgenommen zu werden hoffte, fand ich ein schlechtes Mietsfuhrwerk vor. Nun war ich also auf dem Wege nach Paris mit einem jungen Benediktiner, Ich merkte bald an dem freien Ton, den er sich herausnahm, und an den Freiheiten, die er sich erlaubte, daß er sich nicht an die vereinbarten Bedingungen halten werde; da sehnte ich mich nach meiner Zelle und empfand den ganzen Schrecken meiner Lage.

Nun müßte ich Ihnen meine Erlebnisse in dem Fuhrwerk schildern. Was gab das für Szenen! War das ein Mensch! Ich schrie! Der Kutscher eilte mir zu Hilfe. Es gab einen heftigen Zank zwischen Kutscher und Mönch.

Ich komme in Paris an. Der Wagen hält in einer engen Gasse, vor einer schmalen Tür, die sich auf einen dunklen und unsauberen Gang öffnete. Die Inhaberin der Wohnung kam mir entgegen und brachte mich im obersten Stockwerk unter, in einem kleinen Zimmer, in dem ich kaum die nötigsten Möbel fand. Nun besucht mich die Frau, die im ersten Stock wohnt. »Sie sind jung, Sie werden sich langweilen, mein Fräulein. Kommen Sie zu mir hinunter, da finden Sie Gesellschaft von Damen und Herren, nicht alle so liebenswürdig wie Sie, aber fast alle ebenso jung. Man plaudert, man spielt, man singt, man tanzt; wir amüsieren uns auf alle mögliche Art. Wenn Sie unseren Kavalieren den Kopf verdrehen, so werden deswegen unsere Damen nicht eifersüchtig oder gekränkt sein, das schwöre ich Ihnen. Kommen Sie, liebes Fräulein …« Die Frau, die das zu mir sagte, war bei Jahren, hatte einen zärtlichen Blick, eine sanfte Stimme und eine einschmeichelnde Redeweise.

Ich blieb etwa vierzehn Tage in diesem Hause, den Zudringlichkeiten meines niedriggesinnten Entführers ausgesetzt, inmitten der lärmenden Auftritte eines verrufenen Hauses, und lauerte jeden Augenblick auf eine Gelegenheit, zu entfliehen.

Eins Tages endlich bot sich mir diese Gelegenheit; wenn ich in der Nähe meines Klosters gewesen wäre, wäre ich dahin zurückgekehrt. Ich laufe, ohne zu wissen, wohin. Ich werde von Männern angehalten, Schrecken ergreift mich. Ich breche, überwältigt von Müdigkeit, auf der Schwelle des Ladens eines Kerzenziehers zusammen; man eilt herbei, mir beizustehen; als ich wieder zu mir komme, finde ich mich auf einer Pritsche ausgestreckt, von mehreren Personen umgeben. Ich werde gefragt, wer ich sei; ich weiß nicht, was ich darauf erwidert habe. Man gab mir die Dienerin des Hauses mit zu meiner Begleitung; ich nahm ihren Arm; wir gingen fort. Wir hatten schon ein gutes Stück Wegs zurückgelegt, als das Mädchen zu mir sagte: »Liebes Fräulein, Sie wissen doch wohl, wohin wir gehen?«

»Nein, mein Kind; ins Hospital, glaube ich.«

»Ins Hospital? Sollten Sie etwa hausflüchtig sein?«

»Ja, leider.«

»Was haben Sie denn verbrochen, daß Sie zu so später Stunde davongejagt sind? Aber hier sind wir vor Sankt Katharinen; wir wollen sehen, ob uns auf getan wird; Sie brauchen jedenfalls nichts zu fürchten; auf der Straße sollen Sie nicht bleiben, Sie können bei mir übernachten.«

Ich ging wieder mit zu dem Lichtzieher. Bestürzung der Dienerin, als sie meine von dem Fall bei meiner Flucht aus dem Kloster zerschundenen Beine sah. Hier verbringe ich die Nacht. Am andern Abend ging ich wieder nach Sankt Katharinen und blieb dort drei Tage; dann sagte man mir, ich müsse mich ins öffentliche Krankenhaus begeben oder die erste Stellung annehmen, die sich mir böte.

In Sankt Katharinen war ich durch die Männer und Frauen einer großen Gefahr ausgesetzt, denn hier versahen sich, wie man mir später sagte, die Wüstlinge und Kupplerinnen der Stadt mit ihren nötigen Materialien. Die Erwartung des Elends gab den groben Verführungen, denen ich hier ausgesetzt war, keinen Reiz. Ich verkaufte meine Kleider und schaffte mir andere an, die besser zu meiner Lage paßten.

Ich trete bei einer Wäscherin in Dienst, bei der ich heute noch bin. Ich muß Wäsche plätten; mein Tagewerk ist mühevoll; ich werde schlecht ernährt, habe ein schlechtes Kämmerchen und ein schlechtes Bett, dafür aber werde ich menschlich behandelt. Der Mann ist Mietkutscher; seine Frau ist etwas auffahrend, aber sonst gut. Ich würde mit meinem Lose zufrieden sein, wenn ich hoffen könnte, unbehelligt zu bleiben.

Ich habe erfahren, daß die Polizei sich meines Entführers bemächtigt und ihn in die Hände seines Abtes ausgeliefert hat. Der arme Mann! Er ist mehr zu beklagen als ich; seine Tat hat Aufsehen gemacht, und Sie können sich nicht vorstellen, wie grausam die Klosterinsassen Skandale bestrafen: ein Verlies wird für den Rest seines Lebens sein Aufenthalt sein, und dieses Schicksal erwartet auch mich, wenn ich gefaßt werde; aber er wird länger darin leben als ich.

Der Schmerz von meinem Fall her macht sich bemerkbar; meine Beine sind geschwollen, und ich kann nicht einen Schritt machen: ich arbeite im Sitzen, denn es würde mir schwer fallen, zu stehen. Aber ich fürchte den Augenblick meiner Heilung; welchen Vorwand habe ich alsdann, nicht auszugehen? Und welcher Gefahr setze ich mich aus, wenn ich mich sehen lasse? Aber glücklicherweise habe ich noch einige Zeit vor mir. Meine Verwandten, die nicht daran zweifeln können, daß ich in Paris bin, stellen sicher alle möglichen Nachforschungen an. Ich hatte mich entschlossen, Herrn Manouri zu mir zu bitten, seinen Rat einzuholen und zu befolgen, aber er lebt nicht mehr.

Ich lebe in ständiger Unruhe; bei dem geringsten Geräusch, das ich im Hause, auf der Treppe, auf der Straße höre, ergreift mich Angst, ich zittere wie Laub, meine Knie versagen mir den Dienst und die Arbeit fällt mir aus den Händen. Ich verbringe fast alle Nächte, ohne ein Auge zuzutun; wenn ich schlafe, fahre ich immer wieder aus dem Schlaf auf; ich kann nicht begreifen, daß die, die um mich sind, noch nichts gemerkt haben.

Es scheint, daß meine Flucht bekannt geworden ist; darauf war ich gefaßt. Eine meiner Kolleginnen sprach gestern darüber, fügte einige widerwärtige Einzelheiten und allerlei Ausschmückungen hinzu, daß ich ganz verzweifelt war. Glücklicherweise war sie gerade mit dem Aufhängen von Wäsche beschäftigt und kehrte der Lampe den Rücken zu, so daß sie meine Verwirrung nicht bemerkte; meine Brotherrin aber sah, daß ich weinte und sagte: »Marie, was hast du?« – »Nichts,« sagte ich. – »Wie,« fügte sie hinzu, »bist du so dumm, Mitleid mit einer liederlichen, treulosen Nonne zu empfinden, die sich in einen Schuft von einem Mönch verliebt hat und mit ihm aus ihrem Kloster flieht? Dann müßtest du viel Mitgefühl übrig haben. Sie brauchte nur zu trinken, zu essen, zu beten und zu schlafen; sie hatte es gut da, wo sie war; warum ist sie da nicht geblieben? Wenn sie nur drei- oder viermal bei jedem Wetter an den Fluß hätte gehen müssen, dann hätte sie sich wohl mit ihrem Stande ausgesöhnt …« Darauf erwiderte ich, man kenne genau nur seine eigenen Leiden; ich hätte lieber schweigen sollen, dann hätte sie nicht hinzugefügt: »Ach, sie ist eine liederliche Dirne, die Gott strafen wird …« Da beugte ich mich über den Tisch und blieb in dieser Stellung, bis meine Dienstherrin zu mir sagte: »Aber, Marie, woran denkst du? Wenn du schläfst, wird die Arbeit nicht getan!«

Ich hatte niemals Neigung für das Klosterleben, und das geht aus meinem Schritt, glaube ich, genügend hervor, aber ich habe mich dort an gewisse Dinge gewöhnt, die ich mechanisch tue; wenn zum Beispiel eine Glocke läutet, mache ich das Zeichen des Kreuzes oder knie nieder. Wenn an die Tür geklopft wird, sage ich Ave. Oft entfährt mir eine Antwort, die mit einem »Ja, liebe Mutter, nein, liebe Schwester« endet. Wenn ein Fremder kommt, verkreuzen sich meine Arme über der Brust, und anstatt einen Knix zu machen, verbeuge ich mich. Meine Kolleginnen beginnen zu lachen und denken, ich mache mir ein Vergnügen daraus, die Nonne zu spielen; aber ihr Irrtum kann nicht lange mehr dauern; meine Unvorsichtigkeiten werden mich verraten, und dann bin ich verloren.

Herr Marquis, helfen Sie mir rasch. Sie werden mir wahrscheinlich sagen: Unterrichten Sie mich, was ich für Sie tun kann. Mein Ehrgeiz ist nicht groß. Ich würde gern eine Stellung als Kammerfrau oder Haushälterin annehmen, auch als Dienstmädchen, wenn ich nur unbekannt auf dem Lande, irgendwo in der Provinz, bei anständigen Leuten leben könnte, die nicht zu großen Verkehr haben. Auf den Lohn kommt es mir nicht an, wenn ich nur Ruhe, Sicherheit, Brot und Wasser habe. Ich habe im Hause meines Vaters arbeiten und im Kloster gehorchen gelernt; ich bin jung, habe einen sehr sanften Charakter und wenn meine Beine wieder geheilt sind, habe ich mehr Kraft als nötig ist, meine Arbeit zu tun. Ich kann nähen, sticken, spinnen und waschen; als ich noch in der Welt lebte, habe ich mir selbst meine Spitzen genäht und würde mich bald wieder hineinfinden; ich bin zu keinem Ding ungeschickt und scheue mich vor keiner Arbeit. Ich habe Stimme, bin musikalisch und spiele gut genug Klavier, um eine Dame, die Gefallen daran findet, zu unterhalten. Ich könnte auch ihren Kindern Unterricht geben; aber ich fürchte, daß diese Zeichen einer besseren Erziehung mich verraten könnten. Wäre es nötig, daß ich frisieren lerne, so würde ich Unterricht nehmen, ich habe Geschmack und würde mir gern diese Handfertigkeit aneignen. Herr Marquis, eine erträgliche Stellung, wenn es sein kann, irgendeine Stellung, das ist alles, was ich brauche; weiter wünsche ich nichts. Sie können sich für meinen guten Lebenswandel verbürgen; trotz, allem Anschein bin ich sittsam; ich bin sogar fromm. Oh, Herr Marquis, all mein Leiden würde ein Ende haben und ich hätte nichts mehr von den Menschen zu fürchten, wenn Gott mich nicht zurückgehalten hätte. Wie oft bin ich zu dem tiefen Brunnen gegangen, der hinten im Klostergarten lag. Wenn ich mich nicht hineingestürzt habe, so ist es nur deshalb nicht geschehen, weil mich so gar nichts daran hinderte. Ich weiß nicht, welches Schicksal mir bestimmt ist, aber wenn ich eines Tages in irgendein Kloster zurückkehren muß, welches es auch sei, stehe ich für nichts; es gibt überall Brunnen. Herr Marquis, haben Sie Mitleid mit mir und bereiten Sie sich selbst nicht eine lange Reue.

P. S. Ich bin überwältigt von Müdigkeit, Schrecken umgibt mich, und die Ruhe flieht mich. Ich habe soeben mit ausgeruhtem Kopf diese Aufzeichnungen noch einmal durchgelesen, und sehe, daß ich, ohne die geringste Absicht, mich in jeder Zeile so unglücklich, wie ich in Wahrheit gewesen bin, aber viel liebenswürdiger geschildert habe, als ich bin. Sollte das daran liegen, daß wir die Männer für viel weniger empfänglich für unsere Leiden, als für das Bild unserer Reize halten? Und glauben wir sie mit größerer Leichtigkeit verführen, als rühren zu können? Ich kannte sie zu wenig und habe sie nicht genügend studiert, um das zu wissen. Aber wenn der Marquis, dem man ein sehr großes Taktgefühl zuschreibt, bemerkt, daß ich mich nicht an seine Wohltätigkeit wende, sondern an seine schwachen männlichen Seiten appelliere, was sollte er von mir denken? Diese Erwägung beunruhigt mich. Wirklich, es wäre sehr unrecht, wenn er mir persönlich einen Instinkt zuschriebe, der meinem ganzen Geschlecht eigen ist. Ich bin eine Frau, vielleicht auch ein wenig kokett, was weiß ich? Aber ich bin doch ganz natürlich und ungekünstelt.


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