Denis Diderot
Die Nonne
Denis Diderot

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Ich wurde also nach Longchamp gebracht, und meine Mutter begleitete mich dorthin. Man erwartete mich, ich wurde gemeldet; und man kannte mich bereits durch meine Geschichte und meine Talente. Von der ersteren sagte man mir nichts, wollte dagegen gleich sehen, ob die Erwerbung, die man machte, der Mühe wert war. Als man sich von vielen gleichgültigen Dingen unterhalten hatte, sagte die Oberin:

»Mein Fräulein, Sie verstehen Musik und singen, wir haben einen Flügel; wenn Sie wollen, gehen wir in unser Sprechzimmer!«

Mir war die Seele wie zugeschnürt, doch es war nicht der Augenblick, Widerwillen merken zu lassen; meine Mutter ging voran, ich folgte ihr; während die Oberin mit einigen Nonnen, die die Neugier herbeigelockt hatte, den Zug schloß. Es war Abend, man brachte Lichter, und ich setzte mich an den Flügel; ich präludierte lange Zeit und suchte in meinem Kopfe nach einem Musikstück, fand aber nichts; indessen drängte mich die Oberin, und ich sang, ohne mir dabei etwas zu denken, aus Gewohnheit, weil mir das Stück vertraut war: »Traurige Vorbereitungen, bleiche Flammen, Tag, der du finsterer bist als die Schatten u. s. w.« Ich weiß nicht, welche Wirkung das Stück hervorbrachte, doch man hörte mir nicht lange zu, sondern unterbrach mich durch Lobeserhebungen, die ich meiner Ansicht nach recht schnell und mit geringen Kosten verdient hatte. Meine Mutter überließ mich den Händen der Oberin, reichte mir die Hand zum Kusse und kehrte nach Hause zurück.

Ich befinde mich also jetzt in einem anderen Kloster als Postulantin, und zwar hat es den Anschein, als hielte ich mich hier aus freiem Willen auf. In Longchamp wechseln, wie in den meisten Klöstern, die Oberinnen von drei zu drei Jahren. Es war eine Frau von Monc, welche gerade ihr Amt antrat, als ich in das Haus gebracht wurde. Sie war eine vernünftige Frau, die das menschliche Herz kannte, sie hatte Nachsicht, obwohl niemand derselben bedurfte, und wir waren alle ihre Kinder. Sie sah stets nur die Fehler, die sie sehen mußte, oder deren Bedeutung ihr nicht gestattete, die Augen zu schließen. Ich spreche darüber ohne selbstsüchtiges Interesse, denn ich habe meine Pflicht pünktlich gethan, und sie würde mir die Gerechtigkeit widerfahren lassen, zu bezeugen, daß ich nichts gethan, um Strafe zu verdienen, oder was sie mir hätte verzeihen müssen. – Wenn sie eine Vorliebe zeigte, so wurde ihr dieselbe durch das Verdienst eingegeben; und ich weiß nicht, ob ich sagen darf, daß sie mich zärtlich liebte, und daß ich nicht die letzte unter ihren Favoritinnen war. Den Namen Favoritin geben die andern den Lieblingen der Oberin aus Neid. Wenn ich Frau von Monc einen Fehler vorzuwerfen habe, so wäre es der, daß ihre Neigung für die Tugend, die Frömmigkeit, die Offenheit, die Sanftmut, die Talente, die Ehrenhaftigkeit sie beeinflußten, und daß sie recht wohl wußte, daß diejenigen, die keinen Anspruch darauf erheben könnten, dadurch nur noch mehr gedemütigt werden würden. Sie besaß auch die Gabe, die menschlichen Geister schnell voneinander zu unterscheiden. Mich gewann sie bald lieb, und auch ich hatte gleich von vornherein Vertrauen zu ihr. Sie sprach mit mir von meinem Abenteuer in Sainte-Marie; ich erzählte es ihr ohne Umschweife und sagte ihr alles, was meine Geburt betraf, sowie auch hinsichtlich meiner Leiden; nichts wurde vergessen. Sie beklagte mich, tröstete mich und ließ mich auf eine schönere Zukunft hoffen. Indessen verging die Zeit des Postulats; dann kam die, den Schleier zu nehmen, und ich nahm ihn. Ich bestand mein Noviziat ohne Widerwillen und übergehe schnell diese zwei Jahre, weil sie nichts Trauriges für mich hatten, als das geheime Gefühl, daß ich mich Schritt für Schritt einem Stande näherte, für den ich nicht geschaffen war. Manchmal tauchte dieses Gefühl von neuem in mir auf, doch sogleich nahm ich zu meiner guten Oberin meine Zuflucht, die mich umarmte, meine Seele aufrichtete, mir nachdrücklichst ihre Gründe auseinandersetzte und schließlich stets zu mir sagte:

»Haben die andern Berufe nicht auch ihre Dornen? Man fühlt nur die seinen . .  Auf, mein Kind, kommen Sie, lassen Sie uns auf die Knie fallen und beten.«

Bei diesen Worten warf sie sich nieder und betete laut, doch mit solcher Salbung, Beredsamkeit, Kraft und Rührung, daß man hätte glauben können, der Geist Gottes begeistere sie.

Indessen versank ich, je mehr sich der Tag nahte, an dem ich das Gelübde ablegen sollte, in eine so tiefe Schwermut, daß die gute Oberin durch dieselbe auf schreckliche Proben gestellt wurde. Ihr Talent verließ sie, und sie gestand es mir selbst.

»Ich weiß nicht,« sagte sie zu mir, »was in mir vorgeht. Ich glaube, wenn Sie kommen, zieht sich Gott von mir zurück, und sein Geist schweigt. Umsonst rege ich mich an, suche Gedanken und will meine Seele anfeuern; ich fühle mich als eine gewöhnliche und beschränkte Frau und fürchte mich, zu sprechen.«

»Oh, teure Mutter,« sagte ich zu ihr, »welche Ahnung! wenn Gott Sie selbst stumm machte!«

Eines Tages, als ich mich ungewisser und niedergeschlagener als je fühlte, ging ich in ihre Zelle; meine Anwesenheit verwirrte sie zuerst; sie las augenscheinlich in meinen Augen, in meiner ganzen Person, daß das Gefühl, das ich in mir trug, über ihre Kräfte ging, und sie wollte nicht kämpfen ohne auch die Gewißheit zu haben, daß sie siegen würde. Dennoch machte sie einen Versuch, und je mehr mein Schmerz sank, wuchs ihre Begeisterung; plötzlich warf sie sich auf die Kniee, und ich folgte ihrem Beispiel. Sie sprach einige Worte, dann schwieg sie plötzlich. Ich wartete umsonst, sie sprach nicht mehr, sondern erhob sich, brach in Thränen aus, faßte mich bei der Hand und sagte, mich in ihre Arme schließend:

»Oh, mein teures Kind, welchen grausamen Einfluß haben Sie auf mich ausgeübt; jetzt ist es geschehen; der Geist hat sich von mir zurückgezogen; ich fühle es. Gehen Sie, Gott selbst spricht zu Ihnen, da es ihm nicht gefällt, sich durch meinen Mund hören zu lassen.«

In der That weiß ich nicht, was in ihr vorging, ob ich ihr ein Mißtrauen auf ihre eigenen Kräfte eingeflößt, das nie wieder vergangen ist, ob ich sie eingeschüchtert, oder ob ich ihren Verkehr mit dem Himmel wirklich gebrochen habe; doch das Talent, zu trösten, kehrte ihr nicht mehr wieder.

Am Abend vor der Ablegung meines Gelübdes suchte ich sie auf; ihre Schwermut war der meinen gleich. Ich fing an zu weinen, sie ebenfalls, ich warf mich ihr zu Füßen; sie segnete mich, hob mich auf, umarmte mich und schickte mich fort, indem sie zu mir sagte:

»Ich bin des Lebens müde und wünsche zu sterben; ich habe Gott gebeten, mich diesen Tag nicht sehen zu lassen; doch es ist nicht sein Wille; gehen Sie; ich werde mit Ihrer Mutter sprechen; ich werde die Nacht im Gebet zubringen; beten Sie auch; doch legen Sie sich nieder, ich befehle es Ihnen.«

»Gestatten Sie mir,« erwiderte ich, »daß ich mich mit Ihnen einschließe?«

»Ich gestatte es Ihnen von 9 bis 11 Uhr, doch nicht länger. Um 9½ Uhr werde ich zu beten beginnen, und Sie ebenfalls; doch um 11 Uhr werden Sie mich allein beten lassen und ruhen. Gehen Sie, teures Kind, ich werde den Rest der Nacht für Sie zu Gott flehen.«

Sie wollte beten, doch sie konnte es nicht. Ich schlief, und währenddessen ging diese heilige Frau in den Gängen auf und ab, klopfte an jede Thür; weckte die Nonnen und ließ sie geräuschlos in die Kirche hinuntersteigen. Alle begaben sich dorthin, und als sie versammelt waren, forderte sie sie auf, zum Himmel für mich zu flehen.

Dieses Gebet fand zuerst in tiefem Schweigen statt; dann löschte sie die Lichter aus, alle sprachen zusammen das Miserere, mit Ausnahme der Oberin, die am Fuße des Altars zu Boden gesunken war und sich kasteite. Am nächsten Tage trat sie frühzeitig in meine Zelle, ich hörte sie nicht, denn ich war noch nicht wach. Sie setzte sich neben mein Bett und hatte eine ihrer Hände leicht auf meine Stirn gelegt; sie sah mich an; die Unruhe, die Verwirrung, der Schmerz jagten sich auf ihrem Gesicht; und so erschien sie mir, als ich die Augen aufschlug. Von dem, was in der Nacht vorgegangen war, sprach sie nicht zu mir; sie fragte mich nur, ob ich mich freiwillig niedergelegt hätte, und ich antwortete ihr:

»Zu der Stunde, zu der Sie's mir befohlen haben!«

»Ob ich geruht hätte?«

»Ja.«

»Das erwartete ich . .  wie ich mich befände?«

»Sehr gut, und Sie, teure Mutter?«

»Ach,« versetzte sie, »ich habe niemand ohne Unruhe in den geistlichen Stand treten sehen, doch bei keiner habe ich soviel Angst empfunden, als bei Ihnen. Ich möchte, daß Sie glücklich werden.«

»Wenn Sie mich stets lieben, werde ich es sein.«

»Ach, wenn es nur daran läge! Haben Sie an nichts während der Nacht gedacht?«

»Nein.«

»Sie haben keinen Traum gehabt?«

»Nein.«

»Was geht jetzt in Ihrer Seele vor?«

»Ich bin wie blöde; ich gehorche meinem Schicksal, ohne Widerwillen und ohne Geschmack; ich fühle, daß die Not mich hinreißt und lasse mich treiben. Doch Sie sagen mir ja gar nichts?«

»Ich bin nicht gekommen, um mit Ihnen zu plaudern, sondern um Sie zu sehen und Sie zu hören. Ich erwarte Ihre Mutter, suchen Sie nicht, mich aufzuregen, lassen Sie die Gefühle sich in meiner Seele sammeln. Ruhen Sie noch einen Augenblick, damit ich Sie sehe; sagen Sie nur noch wenige Worte und lassen Sie mich hier empfangen, was ich bei Ihnen suche. Ich werde gehen, und Gott wird das übrige thun.«

Ich schwieg und legte mich auf mein Kopfkissen zurück, während ich ihr eine meiner Hände reichte, die sie ergriff. Sie schien nachzudenken und zwar sehr tief, denn sie hatte die Augen geschlossen; manchmal öffnete sie dieselben, richtete sie gen Himmel, um sie dann wieder auf mich zu heften; sie wurde bewegt, und ihre Seele schien in lebhaftester Erregung. Mehrmals drückte sie mir kräftig die Hand und fragte mich plötzlich, welche Uhr es wäre.

»Es ist bald 6 Uhr!«

»Leben Sie wohl, ich gehe. Man wird Sie ankleiden, und würde ich dabei sein, so würde es mich zerstreuen. Ich habe nur die eine Sorge, nämlich die, in den ersten Augenblicken Mäßigung zu bewahren.«

Sie hatte mich kaum verlassen, als die Novizenmutter und meine Gefährtinnen eintraten; man zog mir meine Ordenskleider aus und legte mir weltliche Kleider an. Ich hörte kein Wort von allem, was um mich her gesprochen wurde; ich war in den Zustand des Automaten zurückgesunken; ich bemerkte nichts und machte nur zeitweise kleine konvulsivische Bewegungen. Indessen unterhielt sich die Oberin mit meiner Mutter, doch ich habe nie erfahren, was in dieser Unterredung, die ziemlich lange dauerte, vorgegangen ist; man sagte mir nur, als sie sich trennten, wäre meine Mutter so verwirrt gewesen, daß sie die Thür nicht hätte finden können, durch die sie eingetreten war, und daß die Oberin, die gefalteten Hände krampfhaft gegen die Stirn drückend, das Zimmer verlassen hatte.

Indessen erklangen die Glocken, und ich ging hinunter. Die Versammlung war wenig zahlreich. Ob die Predigt gut oder schlecht war, weiß ich nicht, denn ich hörte nichts; man verfügte über mich den ganzen Vormittag, der in meinem Leben sozusagen wichtig erscheint, denn nie habe ich die Dauer desselben erfahren. Ich weiß weder, was geschah, noch was ich gethan, noch was ich gesagt habe. Man hat mich jedenfalls gefragt, und ich habe jedenfalls geantwortet, ich habe Gelübde ausgesprochen, doch ich habe keine Erinnerung mehr daran.

Ich befand mich in einem Zustande so tiefer Niedergeschlagenheit, daß, als man mir einige Tage später mitteilte, ich solle im Chore singen, ich nicht wußte, was man damit sagen wollte. Ich fragte, ob es wahr wäre, daß ich das Gelübde abgelegt; ich wollte die Unterschrift sehen, und man mußte diesen Beweisen das Zeugnis der ganzen Klostergemeinde hinzufügen, sowie einiger Fremden, die man zur Ceremonie eingeladen hatte. Mehrmals wandte ich mich an die Oberin und sagte zu ihr:

»Es ist also wahr?«

Dabei erwartete ich stets, daß sie mir antworten solle:

»Nein, mein Kind, man täuscht Sie!«

Ihre wiederholten Versicherungen überzeugten mich nicht, denn ich konnte nicht begreifen, daß ich mich im Verlaufe eines ganzen, so aufregenden, so bedeutungsvollen Tages an nichts erinnern konnte, nicht einmal an das Gesicht derjenigen, die mir dabei Hilfe geleistet hatten, auch nicht an das des Priesters, der mich ermahnt, noch dessen, der mir das Gelübde abgenommen hatte. Die Vertauschung der religiösen Tracht mit der weltlichen ist das einzige, woran ich mich noch erinnere; von diesem Augenblicke an bin ich vollständig geistesabwesend gewesen.

In demselben Jahre erlitt ich drei bedeutende Verluste; den meines Vaters, oder vielmehr des Mannes, der für meinen Vater galt; – er war alt und hatte viel gearbeitet, – den meiner Oberin und den meiner Mutter. Diese würdige Nonne fühlte schon längere Zeit vorher, daß ihre letzte Stunde nahte; sie verurteilte sich zum Schweigen und ließ ihren Sarg in ihr Zimmer bringen. Sie hatte ihren Schlummer verloren und brachte die Tage und Nächte mit Schreiben und Grübeln zu. Sie hat fünfzehn Betrachtungen hinterlassen, die meiner Ansicht nach höchst bedeutend sind; ich habe eine Abschrift derselben, und sie führen den Titel: »Die letzten Augenblicke der Schwester de Monc.«

Als sie ihren Tod nahen fühlte, ließ sie sich ankleiden, und man verabreichte ihr die Sterbesakramente, während sie dabei ein Kruzifix in ihrer Hand hielt. Es war Nacht, und der Schein der Kerzen beleuchtete diese düstere Scene. Wir umringten sie, zerflossen in Thränen, und ihre Zelle widerhallte von Geschrei. Plötzlich begannen ihre Augen zu leuchten; sie erhob sich und sprach; ihre Stimme klang fast ebenso stark, als im Zustande der Gesundheit. Die Gabe, die sie verloren, kehrte ihr zurück, und sie warf uns die Thränen vor, die ihr das ewige Glück zu beneiden schienen.

»Meine Kinder«, sprach sie, »Euer Schmerz betrübt mich; dort! dort!« sagte sie, gen Himmel zeigend, »werde ich Euch dienen; meine Augen werden sich unaufhörlich auf dieses Haus senken; ich werde für Euch bitten, und meine Bitte wird Erhörung finden. Tretet alle näher, daß ich Euch umarme; empfanget meinen Segen und mein Lebewohl!«

Während sie diese letzten Worte sprach, schied die heilige Frau, deren wir stets mit nie endendem Bedauern gedenken werden.

Meine Mutter starb bei der Rückkehr von einer kleinen Reise, die sie gegen Ende des Herbstes zu einer ihrer Töchter antrat. Sie hatte tiefen Kummer durchzumachen gehabt, und ihre Gesundheit war bereits stark erschüttert. Ich habe nie den Namen meines Vaters, noch die Geschichte meiner Geburt erfahren. Ihr Beichtvater, der auch der meine war, übergab mir in ihrem Auftrage ein Päckchen; es waren 50 Louisdors mit einem kleinen Billet, alles in ein Stück Leinwand gewickelt und zusammengenäht. Das Billet enthielt folgende Worte:

»Mein Kind, es ist wenig, doch mein Gewissen gestattet mir nicht, über eine größere Summe zu verfügen; es ist der Rest dessen, was ich von den kleinen Geschenken des Herrn Simonin habe sparen können. Lebe fromm, das ist das beste, selbst für dein Glück auf dieser Welt. Bete für mich; deine Geburt ist der einzige bedeutende Fehler, den ich je begangen habe; hilf mir ihn sühnen, damit Gott mir verzeihe, dich in die Welt gesetzt zu haben. Vor allen Dingen betrübe die Familie nicht; und obgleich die Wahl des Standes, in dem du dich jetzt befindest, keine so freiwillige gewesen ist, wie ich es gern gewünscht hätte, so hüte dich doch, ihn zu wechseln. Warum bin ich nicht mein ganzes Leben lang in einem Kloster eingeschlossen gewesen! Der Gedanke würde mich nicht so erschüttern, daß ich in einem Augenblick ein schreckliches Urteil werde über mich ergehen lassen müssen. Gedenke, mein Kind, daß das Schicksal deiner Mutter in einer anderen Welt sehr stark von dem Betragen abhängt, das du in dieser führen wirst. Gott, der alles sieht, wird mir in seiner Gerechtigkeit alles das Gute und Böse anrechnen, was du thust. – Lebe wohl, Susanne, verlange nichts von deinen Schwestern, denn sie sind nicht imstande, dir zu helfen; hoffe auch nichts von deinem Vater, denn er ist mir vorangegangen, er hat den großen Tag bereits gesehen und erwartet mich; meine Anwesenheit wird für ihn weniger schrecklich sein als die seinige für mich. Noch einmal, lebe wohl; deine Schwestern sind angelangt, ich bin nicht mit ihnen zufrieden, sie nehmen und schleppen alles fort und zanken sich unter den Augen ihrer sterbenden Mutter um Geldfragen. Wenn sie sich meinem Bette nähern, so drehe ich mich nach der andern Seite, denn was würde ich an ihnen sehen? zwei Geschöpfe, in denen die Armut das Gefühl der Natur erstickt hat. Sie lechzen nach dem Wenigen, das ich hinterlasse. Sie stellen unpassende Fragen an den Arzt und die Wärterin und erwarten mit Ungeduld den Moment, da ich scheiden werde. Sie vermuten, ich weiß nicht weshalb, ich könnte einiges Geld in meiner Matratze versteckt haben; deshalb haben sie alles mögliche angestellt, daß ich das Bett verlasse, und es ist ihnen auch gelungen, doch glücklicherweise ist mein Anwalt schon am vorigen Tage gekommen und ich hatte ihm dieses kleine Päckchen mit dem Inhalt übergeben, sowie den Brief, den er nach meinem Diktat geschrieben hat. Verbrenne den Brief, und wenn du erfahren wirst, daß ich nicht mehr bin, was bald der Fall sein wird, so lasse eine Messe für mich beten und erneuere dein Gelübde, denn ich wünsche noch immer, daß du Nonne bleibst; der Gedanke, dich in der Welt ohne Stütze, ohne Hilfe verlassen zu wissen, würde meine letzten Augenblicke in der entsetzlichsten Weise verbittern.«

Mein Vater starb am 5. Januar, meine Oberin am Ende desselben Monats, und meine Mutter am zweiten Weihnachtsfeiertage.

Die Schwester Sainte-Christine folgte der Mutter de Monc. Welch ein Unterschied zwischen beiden! Diese hatte einen kleinlichen Charakter, einen beschränkten, mit Aberglauben vollgestopften Kopf und verkehrte viel mit Jesuiten. Sie faßte eine Abneigung gegen alle Lieblinge ihrer Vorgängerin; man mußte sich mit ihr über theologische Fragen aussprechen, von denen wir nichts verstanden, Formeln unterschreiben und uns eigentümlichen Gebräuchen unterwerfen. Die Mutter de Monc billigte die Bußübungen nicht, die am Leibe vorgenommen wurden, sie hatte sich nur zweimal in ihrem Leben kasteit, einmal am Tage vor der Ablegung meines Gelübdes und einmal bei einer ähnlichen Gelegenheit. Sie wünschte, daß ihre Nonnen sich wohl befänden und gesund an Geist und Körper sein sollten. Das erste, wenn eine Nonne in den Orden eintrat, war, daß sie sich alle Büßerhemden mit den Geißeln bringen ließ, daß sie verbot, die Nahrungsmittel durch Asche zu verderben, auf der harten Erde zu schlafen und sich mit irgend einem dieser Instrumente zu versehen. Die zweite Oberin dagegen schickte jeder Nonne ihr Büßerhemd und ihre Geißel zurück und ließ das neue und das alte Testament einfordern.

Ich war der jetzigen Oberin gleichgültig, um nichts Schlimmeres zu sagen, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil ich der vorigen lieb und wert gewesen war; doch bald verschlimmerte ich mein Schicksal durch einige Handlungen, und zwar erstens dadurch, daß ich mich ganz dem Schmerz überließ, den ich über den Verlust unserer ersten Oberin empfand, weil ich sie bei jeder Gelegenheit lobte; daß ich zwischen ihr und der jetzt waltenden Vergleiche anstellte, die der letzteren nicht günstig waren; daß ich den Zustand des Hauses in früheren Jahren schilderte; daß ich an den Frieden erinnerte, dessen wir uns erfreuten, die Nachsicht, die man für uns besessen, an die geistige wie irdische Nahrung, die man uns damals verabreichte, und indem ich die Sitten, die Gefühle und den Charakter der Schwester de Monc in den Himmel hob. Zweitens warf ich das Büßerhemd ins Feuer und entledigte mich meiner Geißel, machte meinen Freundinnen darüber Vorstellungen und veranlaßte einige, meinem Beispiel zu folgen; drittens verschaffte ich mir ein altes und neues Testament; viertens hielt ich mich streng an die Regel des Hauses und wollte nicht mehr und nicht weniger thun, als dieselbe gebot; infolgedessen ließ ich mich zu keiner über meine Verpflichtung hinausgehenden Handlungen herbei, sang nur, wenn ich Chordienst hatte und stieg nur an Festtagen zur Orgel hinauf. Ich las die Vorschriften, las sie immer wieder und kannte sie schließlich auswendig; wenn man mir etwas befahl, was entweder nicht klar ausgedrückt oder was überhaupt nicht erwähnt war, oder was mir widersinnig erschien, wies ich es mit festem Entschlusse zurück; ich nahm das Buch zur Hand und sagte:

»Hier sind die Verpflichtungen, die ich übernommen habe, und andere bin ich nicht eingegangen.«

Meine Reden machten auch auf andere Eindruck, und die Autorität der Oberin wurde dadurch sehr beeinträchtigt; denn sie konnte nicht mehr über uns, wie über ihre Sklavinnen verfügen. Es verging fast kein Tag, ohne eine aufregende Szene. In ungewissen Fällen fragten mich meine Gefährtinnen um Rat; und ich war stets für die Regel gegen den Despotismus. Ich machte bald den Eindruck einer Aufrührerin und spielte auch ein wenig die Rolle einer solchen. Die Großvikare des Erzbischofs wurden unaufhörlich herbeigerufen; ich erschien vor ihnen, verteidigte meine Gefährtinnen, und nicht ein einziges Mal kam es vor, daß man uns verurteilt hätte.

Trotzdem durchsuchte man meine Zelle und entdeckte darin das alte und das neue Testament. Ich hatte mir unvorsichtige Reden über die verdächtige Vertraulichkeit einiger Favoritinnen entschlüpfen lassen; die Oberin hatte lange und häufige Zusammenkünfte mit einem Geistlichen, und ich hatte den Grund von dem Vorwand zu unterscheiden verstanden. Ich unterließ nichts, was mich gefürchtet, verhaßt machen konnte, und erreichte in der That meinen Vorsatz. Man beklagte sich nicht mehr über mich bei den Vorgesetzten, sondern ließ es sich angelegen sein, mir das Leben schwer zu machen. Man verbot den anderen Nonnen, sich mir zu nähern, und bald sah ich mich allein; ich hatte eine kleine Anzahl von Freundinnen; man vermutete, sie würden sich heimlich für den Zwang entschädigen, den man ihnen auferlegte, und da sie sich am Tage nicht mit mir unterhalten konnten, so würden sie mich in der Nacht oder in verbotenen Stunden besuchen. Man beobachtete uns, man überraschte mich bald mit dieser oder jener; man machte aus dieser Unklugheit ein ungeheures Verbrechen, und ich wurde in der unmenschlichsten Weise dafür bestraft; man verurteilte mich dazu, ganze Wochen die Messe auf den Knieen anzuhören und zwar von den übrigen getrennt; ich mußte von Wasser und Brot leben, mußte in meiner Zelle eingeschlossen bleiben und die niedrigsten Arbeiten des Hauses versehen. Meine sogenannten Mitschuldigen wurden nicht besser behandelt. Wenn man mir keine Schuld nachweisen konnte, so ersann man eine solche; man gab mir gleichzeitig die widerspruchvollsten Befehle und bestrafte mich, wenn ich denselben nicht nachgekommen war; man verrückte die Stunden des Gottesdienstes und der Mahlzeiten; man änderte ohne mein Wissen die ganze Klosterregel um, und trotzdem ich die größte Aufmerksamkeit walten ließ, wurde ich doch tagtäglich für schuldig befunden und tagtäglich bestraft.

Meine Gesundheit hielt diesen langen und harten Prüfungen nicht stand; ich verfiel in Niedergeschlagenheit, Kummer und Schwermut. Ich suchte zu Anfang am Fuße der Altäre Kraft und fand sie auch manchmal dort. Ich schwankte zwischen Entsagung und Verzweiflung hin und her, indem ich mich bald der ganzen Strenge meines Schicksals unterwarf, bald daran dachte, mich durch gewaltsame Mittel von demselben zu befreien. Es befand sich in dem entlegensten Teil des Gartens ein tiefer Brunnen. Wie oft bin ich zu demselben gegangen, wie oft habe ich hineingeblickt! Daneben befand sich eine Steinbank. Wie oft habe ich mich auf dieselbe gesetzt und den Kopf auf den Rand des Brunnens gestützt! Wie oft bin ich im Sturm meiner Gedanken plötzlich aufgesprungen mit dem festen Entschluß, meinen Qualen ein Ende zu machen!

Ich zweifle heute nicht, daß meine häufigen Besuche bei diesem Brunnen bemerkt worden waren, und daß meine grausamen Feindinnen gehofft hatten, ich würde eines Tages den Plan ausführen, den ich im tiefsten Grunde meines Herzens nährte. Mehrere Male fand ich die Gartenthür zu Stunden geöffnet, wo sie geschlossen sein mußte, und merkwürdigerweise an den Tagen, wo man mich ganz besonders gequält hatte; man hatte die Heftigkeit meines Charakters bis aufs äußerste getrieben und hielt mich für geistesgestört. Doch sobald ich erraten zu haben glaubte, daß man dieses Mittel, das Leben zu verlassen, meiner Verzweiflung sozusagen anbot, daß man mich förmlich bei der Hand zu diesem Brunnen führte, da kümmerte ich mich nicht mehr um ihn, mein Geist wandte sich andern Dingen zu; ich hielt mich in den Korridoren und Gängen auf und maß die Höhe der Fenster ab. Abends, wenn ich mich auskleidete, probierte ich unbewußt die Stärke meiner Strumpfbänder, an einem anderen Tage weigerte ich mich zu essen, ging in das Refektorium herunter, blieb dort, den Rücken gegen die Wand gelehnt, mit geschlossenen Augen, und rührte die Speisen nicht an, die man mir hingestellt hatte; ich vergaß mich so vollkommen in diesem Zustande, daß alle Nonnen bereits hinausgegangen waren, während ich noch immer im Saale verharrte. Man zog sich nun möglichst geräuschlos zurück und ließ mich dort, dann bestrafte man mich, weil ich die Religionsübung versäumt hatte.

So weit war ich gekommen, da gedachte ich daran, mein Gelübde ungültig erklären zu lassen. Zuerst dachte ich nur flüchtig daran; jedoch beruhigte mich dieser Gedanke, mein Geist sammelte sich wieder; ich beherrschte mich, vermied allerlei Unannehmlichkeiten und ertrug andere, die mir zustießen, geduldiger. Man bemerkte diese Veränderung und wunderte sich darüber; die Bosheit machte plötzlich Halt wie ein feiger Feind, der uns verfolgt und dem wir im Augenblick, da wir es am wenigsten erwarten, gegenübertreten müssen.

Dadurch, daß man sich beständig mit einer Sache beschäftigt, wird man von ihrer Gerechtigkeit durchdrungen und hält sie schließlich auch für möglich; man fühlt sich sehr stark, wenn man auf diesem Standpunkt angelangt ist. Das war bei mir seit 14 Tagen der Fall, denn mein Geist arbeitet schnell. Um was handelte es sich denn? Eine Denkschrift aufzusetzen und sie einem Rechtsgelehrten zu unterbreiten; beides war nicht ohne Gefahr. Seit sich in meinem Kopfe eine Umwälzung vollzogen hatte, beobachtete man mich mit größerer Aufmerksamkeit als je und folgte mir mit den Augen; ich that nicht einen Schritt, der nicht belauert wurde, ich sprach kein Wort, das man nicht auf die Wagschale legte. Man näherte sich mir und suchte mich auszuforschen, man heuchelte Mitleid oder Freundschaft, man befragte mich, man sprach mir von meinem vergangenen Leben, man klagte mich nur noch schwach an und entschuldigte mich, man hoffte ein besseres Betragen und schmeichelte mir mit einer schöneren Zukunft. Indessen trat man jeden Augenblick in meine Zelle unter allen möglichen Vorwänden; ganz plötzlich zog man heftig meine Vorhänge auseinander, um dann wieder spurlos zu verschwinden. Ich hatte die Gewohnheit angenommen, angekleidet zu schlafen, auch hatte ich noch eine andere, nämlich meine Beichte niederzuschreiben. In den dazu bestimmten Tagen bat ich die Oberin um Tinte und Papier, was mir nie verweigert wurde. Deshalb erwartete ich ungeduldig den Tag der Beichte und setzte inzwischen in meinem Kopfe alles auf, was ich vorzubringen hatte, stellte jedoch alles unter erdichtetem Namen dar. Dabei aber beging ich drei Thorheiten; erstens sagte ich der Oberin, daß ich vielerlei zu schreiben haben würde und bat sie unter diesem Vorwande um mehr Papier, als man gewöhnlich erhält; zweitens beschäftigte ich mich nur mit meiner Denkschrift und dachte nicht weiter an die Beichte; und drittens schrieb ich gar keine Beichte nieder und hielt mich, da ich mich auf diese religiöse Handlung nicht vorbereitet hatte, nur einen Augenblick im Beichtstuhl auf. Das alles wurde bemerkt, und man schloß daraus, daß das Papier, das ich verlangt, zu einem andern Zweck als dem von mir genannten gedient hatte. Ohne zu wissen, daß man sich damit beschäftigen würde, fühlte ich doch, daß man bei mir ein Schreiben von solcher Wichtigkeit nicht finden durfte. Zuerst dachte ich daran, es in meinem Kopfkissen oder meiner Matratze einzunähen, dann es in meinen Kleidern zu verbergen, es im Garten zu vergraben oder ins Feuer zu werfen. Zunächst versiegelte ich es, dann steckte ich es in den Busen und ging zur Messe, welche eben geläutet wurde. Ich befand mich in einer Unruhe, die sich in meinen Bewegungen verriet. Ich saß neben einer jungen Dame, die mich lieb hatte; ich hatte gesehen, wie sie mich manchmal mitleidig anblickte und Thränen vergoß; sie sprach nicht mit mir, doch gewiß litt sie meinetwegen. Auf die Gefahr hin, daß ich alles verderben konnte, beschloß ich, ihr mein Papier anzuvertrauen. Bei einem Augenblick des Gottesdienstes, bei welchem alle Nonnen auf die Kniee fielen, sich niederbeugten und gleichsam in ihren Betstühlen versinken, zog ich leise das Papier aus dem Busen und reichte es ihr hinter meinem Rücken; sie nahm es und steckte es zu sich. Ich hatte gut daran gethan, diesen Entschluß zu fassen, denn als wir den Chor verließen, sagte die Oberin zu mir: »Schwester Susanne, folgen Sie mir!«

Ich folgte ihr; dann blieb sie auf dem Gange bei einer andern Thür stehen und sagte:

»Hier ist Ihre Zelle, die Schwester Sainte-Jerome wird die Ihrige bewohnen.«

Ich trat ein und sie mit mir. Wir setzten uns alle beide, ohne zu sprechen, als eine Nonne mit Gewändern erschien, die sie auf einen Stuhl legte, während die Oberin zu mir sagte:

»Schwester Susanne, entkleiden Sie sich, und ziehen Sie dieses Gewand an.«

Ich gehorchte in ihrer Gegenwart, und sie beobachtete alle meine Bewegungen. Die Schwester, welche meine Kleider gebracht, stand vor der Thür; sie trat wieder ein und nahm die, die ich ausgezogen hatte, fort, während die Oberin ihr folgte. Den Grund ihres Benehmens teilte man mir nicht mit, und ich fragte auch gar nicht danach. Indessen hatte man überall in meiner Zelle nachgesucht, man hatte das Kopfkissen, sowie die Matratzen aufgetrennt, hatte alles vom Flecke gerückt, was nur fortzubringen war; man untersuchte meine Fußspuren, ging nach dem Beichtstuhl, nach der Kirche, in den Garten nach dem Brunnen, nach der Steinbank. Doch man fand nichts; trotzdem blieb man überzeugt, es müsse etwas vorhanden sein. Man fuhr fort, mich mehrere Tage hindurch zu beobachten, man ging dorthin, wo ich gegangen war, man schaute überall nach, doch umsonst. Endlich glaubte die Oberin, daß sie die Wahrheit nur durch mich erfahren könnte, und darum trat sie eines Tages in meine Zelle und sagte zu mir:

»Schwester Susanne, Sie haben Fehler, doch der der Lüge gehört nicht dazu, sagen Sie mir also die Wahrheit: Was haben Sie mit all dem Papier gemacht, das ich Ihnen gegeben habe?«

»Madame, ich habe es Ihnen bereits gesagt!«

»Das ist nicht möglich; Sie haben viel Papier von mir verlangt und sind nur einen Augenblick im Beichtstuhl gewesen.«

»Das ist wahr!«

»Was haben Sie also damit gemacht?«

»Ich habe es Ihnen bereits gesagt.«

»Nun gut; schwören Sie mir bei dem heiligen Gehorsam, den Sie Gott geweiht, daß dem so ist, und trotzdem der Schein gegen Sie spricht, will ich Ihnen glauben.«

»Madame, es ist Ihnen nicht gestattet, wegen einer so unbedeutenden Sache einen Schwur zu fordern, und es ist mir nicht gestattet, ihn zu leisten; ich werde nicht schwören.«

»Sie täuschen mich, Schwester Susanne, und wissen nicht, welcher Gefahr Sie sich aussetzen. Was haben Sie mit dem Papier angefangen, das ich Ihnen gegeben habe?«

»Ich habe es Ihnen bereits gesagt!«

»Wo ist es?«

»Ich habe es nicht mehr.«

»Was haben Sie damit angefangen?«

»Was man damit immer macht, wenn man sich seiner bedient hat.«

»Schwören Sie mir bei dem heiligen Gehorsam, daß Sie es gebraucht haben, Ihre Beichte niederzuschreiben und es nicht mehr besitzen!«

»Madame, ich wiederhole Ihnen, da dieser zweite Punkt nicht wichtiger ist als der erste, so werde ich nicht schwören.«

»Schwören Sie mir, oder –«

»Ich werde nicht schwören.«

»Sie werden nicht schwören?«

»Nein, Madame!«

»So sind Sie also schuldig?«

»Und wessen könnte ich schuldig sein?«

»Alles ist Ihnen zuzutrauen; es giebt nichts, dessen Sie nicht fähig sind. Sie haben die Frau gelobt, die meine Vorgängerin gewesen, einzig und allein, um mich herabzusetzen; Sie haben die ganze Klostergemeinde aufgewiegelt, haben gegen die Ordensregel verstoßen, haben die Gemüter entzweit, haben alle Ihre Pflichten verletzt, haben mich gezwungen, Sie und diejenigen zu bestrafen, die Sie verführt haben. Ich hätte in der strengsten Weise gegen Sie verfahren können, doch ich habe Sie geschont, ich dachte, Sie würden Ihr Unrecht einsehen und die Gesinnung Ihres Standes wiederfinden, doch nichts dergleichen ist geschehen. Es geht etwas in Ihrem Geiste vor, das nicht zu Ihrem Heile ist. Sie schmieden Pläne; das Interesse des Hauses verlangt, daß ich dieselben kennen lerne, und ich werde dieselben kennen lernen, dafür stehe ich Ihnen. Schwester Susanne, sagen Sie mir die Wahrheit!«

»Ich habe sie Ihnen gesagt!«

»Ich werde gehen; fürchten Sie meine Rückkehr . .  Ich setze mich, ich lasse Ihnen noch einen Augenblick Zeit, um sich zu entschließen. . . . Ihre Papiere, wenn solche vorhanden sind . . «

»Ich besitze sie nicht mehr.«

»Oder den Schwur, daß sie nur Ihre Beichte enthielten!«

»Ich kann ihn nicht leisten.«

Sie schwieg einen Augenblick, dann ging sie hinaus und kehrte mit vier ihrer Favoritinnen zurück. Ich flehte ihr Mitleid an, doch sie schrieen alle zusammen:

»Kein Mitleid, Madame, lassen Sie sich nicht erweichen. Sie gebe ihre Papiere heraus oder man werfe sie ins Gefängnis.«

Die Oberin blieb unbeweglich, sah mich an und sagte zu mir:

»Gieb deine Papiere, Unglückliche, und enthülle, was sie enthalten.«

»Madame,« riefen sie ihr zu, »verlangen Sie sie nicht mehr von ihr, Sie sind zu gütig; Sie kennen sie nicht, sie ist eine unbeugsame Seele, mit der man nur mit den äußersten Mitteln fertig werden kann; sie treibt Sie selbst dazu, um so schlimmer für sie!«

»Meine teure Mutter,« sprach ich zu ihr, »ich habe nichts gethan, was die Menschen beleidigen könnte, das schwöre ich Ihnen.«

»Das ist nicht der Schwur, den ich von Ihnen verlange.«

»Sie wird über Sie oder über uns an den Erzbischof oder den Großvikar geschrieben haben; Gott mag wissen, wie sie unser Haus geschildert hat; man glaubt ja das Schlechte so leicht!«

Die Oberin schwieg; dann fuhr sie fort:

»Sehen Sie her, Schwester Susanne, . . «

Ich erhob mich schnell und sagte zu ihr:

»Madame, ich habe alles gesehen und weiß, daß ich mich zu Grunde richte; thun Sie mit mir, was Ihnen beliebt, hören Sie auf Ihre Wut, vollenden Sie Ihre Ungerechtigkeit.«

Mit diesen Worten hielt ich meine Hände hin, und meine Gefährtinnen bemächtigten sich ihrer. Man riß mir meinen Schleier ab und entkleidete mich ohne Scham. Auf meinem Busen fand man ein kleines Bild meiner früheren Oberin; man nahm mir dasselbe ab, und ich bat, es noch einmal küssen zu dürfen, doch diese Bitte wurde verweigert. Man warf mir ein Hemd über, zog mir meine Strümpfe aus, bedeckte mich mit einem Sack und führte mich mit nackten Füßen durch die Gänge. Ich schrie und rief um Hilfe, doch man hatte die Glocke geläutet, um anzuzeigen, daß niemand erscheinen dürfe. Ich flehte den Himmel an, warf mich zur Erde, doch man schleppte mich weiter. Als ich am Fuß der Treppen anlangte, hatte ich blutige Füße und wunde Beine; ich befand mich in einem Zustand, der Herzen von Stein hätte rühren können. Indessen öffnete man mit großen Schlüsseln die Thür eines kleineren, dunkeln, unterirdischen Raumes, in welchem man mich auf eine von der Feuchtigkeit halb verfaulte Strohmatte warf. Dort fand ich ein Stück Schwarzbrot und einen Krug Wasser nebst einigen plumpen, notwendigen Gefäßen. Die Matte, die an einem Ende zusammengerollt war, bildete ein Kopfkissen, außerdem erblickte ich auf einem Steinblock einen Totenkopf und ein hölzernes Kruzifix. Meine erste Absicht war, mich zu töten; ich fuhr mir mit den Händen nach der Kehle und zerriß mit den Zähnen meine Kleider, dazu stieß ich ein entsetzliches Geschrei aus und brüllte wie ein wildes Tier. Ich schlug mit dem Kopf gegen die Mauern und zerfleischte mich, bis das Blut floß; ich suchte mich zu töten, bis mich die Kräfte verließen, was nicht lange dauerte. Drei Tage habe ich hier zugebracht, und ich glaubte, ich würde mein ganzes Leben hier bleiben. Jeden Morgen trat eine meiner Henkerinnen ein und sagte zu mir:

»Gehorchen Sie unserer Oberin, und Sie werden dieses Gefängnis verlassen.«

»Ich habe nichts gethan und weiß nicht, was man von mir verlangt.«

Am dritten Tage gegen 9 Uhr öffnete man die Thür, und dieselben Nonnen erschienen, die mich hergebracht hatten. Nachdem sie das Lob unserer Oberin gesungen, teilten sie mir mit, sie ließe mir Gnade widerfahren, und man würde mich in Freiheit setzen.

»Es ist zu spät,« sagte ich zu ihnen, »laßt mich hier, ich will sterben.«

Indessen hatten sie mich hochgehoben und zogen mich fort; man führte mich wieder in meine Zelle, wo ich die Oberin bereits vorfand.

»Ich habe Gott über Ihr Schicksal befragt, er hat mein Herz gerührt; er wünscht, daß ich Mitleid mit Ihnen haben soll, und ich gehorche ihm. Werfen Sie sich auf die Kniee, und bitten Sie ihn um Verzeihung!«

Ich warf mich zur Erde und sprach:

»Mein Gott, ich bitte dich um Verzeihung wegen der Fehler, die ich begangen; vergieb mir, wie du ja auch am Kreuze für mich betetest.«

»Das ist noch nicht alles,« sagte die Oberin, »schwören Sie mir beim heiligen Gehorsam, daß Sie nie von dem, was hier vorgegangen, sprechen werden.«

»Was Sie gethan, ist also sehr schlecht, da Sie von mir die eidliche Versicherung fordern, daß ich darüber schweigen werde? Niemand soll etwas erfahren als Ihr Gewissen, das schwöre ich Ihnen.«

»Sie schwören es?«

»Ja, ich schwöre es Ihnen!«

Hierauf nahmen sie mir die Gewänder wieder ab, die sie mir gegeben, und ließen mich meine eigenen Kleider wieder anziehen.

Nach dieser Zeit nahm ich meinen Platz in der Kirche wieder ein und fügte mich den Regeln des Hauses.

Ich hatte mein Papier nicht vergessen und ebensowenig die junge Schwester, der ich dasselbe übergeben hatte. Einige Tage, nachdem ich mein Gefängnis verlassen, fühlte ich mich im Chor, gerade in demselben Augenblick, als ich es ihr gegeben hatte, das heißt, als wir uns auf die Kniee warfen, zu einander neigten und in unseren Betstühlen verschwanden, leicht an meinem Kleide gezogen; ich streckte die Hand aus, und man gab mir einen Zettel, der nur folgende Worte enthielt:

»Welche Sorgen habe ich Ihretwegen ausgestanden, und was soll ich mit diesem gräßlichen Papier anfangen?«

Nachdem ich diese Worte gelesen, rollte ich den Zettel in meinen Händen zusammen und verschluckte ihn. Das alles spielte sich zu Beginn der Fastenzeit ab. Die Zeit nahte, wo die Neugier, die Klostermusik zu hören, die gute und schlechte Gesellschaft nach Longchamp lockt. Ich hatte eine sehr schöne Stimme, die nicht besonders gelitten hatte. In den Klöstern widmet man den kleinsten Interessen eine große Aufmerksamkeit, daher schonte man mich ein wenig. Ich erfreute mich einer etwas größeren Freiheit. Die Schwestern, welche ich im Gesang unterrichtete, konnten ungehindert zu mir kommen; dazu gehörte auch diejenige, der ich meine Denkschrift anvertraut hatte. In den Erholungsstunden, die wir im Garten zubrachten, nahm ich sie beiseite und ließ sie singen, und während sie sang, sprach ich folgendes zu ihr:

»Sie kennen viele Leute, ich aber kenne niemand. Ich möchte nicht, daß Sie sich irgend einer Gefahr aussetzen; lieber möchte ich hier sterben, als daß man auf Sie Verdacht werfen könnte, mir gedient zu haben. Meine Freundin, Sie wären verloren, das weiß ich, und mich würde es nicht retten; aber selbst wenn ich gerettet werden könnte, so würde ich doch um diesen Preis darauf verzichten.«

»Lassen wir das,« sagte sie zu mir, »um was handelt es sich?«

»Es handelt sich darum, diese Denkschrift irgend einem geschickten Advokaten zugehen zu lassen, ohne daß er erfährt, aus welchem Hause sie kommt, und eine Antwort von ihm zu erhalten, die Sie mir in der Kirche oder anderswo zustellen werden.«

»Übrigens,« flüsterte sie mir zu, »was haben Sie denn mit meinem Billet angefangen?«

»Seien Sie unbesorgt, ich habe es verschluckt.«

»Seien auch Sie unbesorgt, ich werde an Ihre Sache denken.«

Sie hielt ihr Wort und unterrichtete mich davon in unserer gewöhnlichen Weise. Die heilige Woche kam heran. und der Zulauf zur Messe war groß. Ich sang ziemlich gut, meine jungen Schülerinnen waren vortrefflich vorbereitet, einige hatten Stimme, fast alle Ausdruck und Taktgefühl, und es schien mir, als habe sie das Publikum mit Vergnügen gehört und wäre mit dem Erfolge meiner Bestrebungen zufrieden gewesen. Es ist bekannt, daß man am Donnerstag das heilige Sakrament von seinem Tabernakel auf einen besonderen Altar überführt, wo es bis zum Freitag morgen bleibt. Diese Zwischenzeit wird von ununterbrochenen Betübungen der Nonnen ausgefüllt, die sich eine nach der andern oder zu zwei und zwei nach dem Altar begeben. Es ist eine Tafel vorhanden, die einer jeden ihre Stunde anzeigt, und zu meiner großen Zufriedenheit las ich: »Die Schwester Susanne und die Schwester Sanct Ursula von zwei bis drei Uhr morgens.« Zur angegebenen Stunde begab ich mich zum Hochaltar, und meine Gefährtin war bereits dort. Wir stellten uns nebeneinander auf die Stufen des Altars, warfen uns zusammen nieder und beteten eine halbe Stunde zu Gott. Nach Verlauf dieser Zeit reichte mir meine junge Freundin die Hand, drückte sie mir und sagte: »Wir werden vielleicht nie wieder Gelegenheit finden, uns so lange und ungehindert zu unterhalten. Ich habe Ihre Denkschrift nicht gelesen, doch ich kann leicht erraten, was sie enthält, und werde in kürzester Zeit die Antwort darauf erhalten. Doch wenn diese Antwort Ihnen nun gestattet, die Ungültigkeit Ihrer Gelübde nachzusuchen, sehen Sie nicht ein, daß Sie notwendigerweise mit Rechtsgelehrten konferieren müssen?«

»Das ist wahr.«

»Daß Sie der Freiheit bedürfen?«

»Das ist ebenfalls wahr.«

»Und daß Sie, wenn Sie klug handeln, die augenblickliche Stimmung benützen müssen, um Ihr Ziel zu erreichen?«

»Daran habe ich auch gedacht.«

»Sie werden es also thun?«

»Ich werde sehen.«

»Noch eins! Wenn Ihre Angelegenheit nun eingeleitet wird, so werden Sie hier der ganzen Wut der Klostergemeinschaft anheimgegeben sein. Haben Sie diese Verfolgungen vorausgesehen?«

»Sie werden nicht größer sein als die, die ich schon erduldet.«

»Das weiß ich nicht.«

»Verzeihen Sie; erstens wird man nicht wagen, über meine Freiheit zu verfügen.«

»Und weshalb?«

»Weil ich dann unter dem Schutze der Gesetze stehen werde; ich werde mich sozusagen zwischen der Welt und dem Kloster befinden; ich werde Sie alle zu Zeugen anrufen; ich werde den Mund öffnen dürfen, und man wird mir volle Freiheit geben, mich zu beklagen; man wird nicht wagen, ein Unrecht zu begehen, das ich zur Sprache bringen könnte; man wird sich hüten, eine schlechte Sache noch schlimmer zu machen.«

»Aber es ist doch ganz unglaublich, daß Sie solch eine Abneigung gegen einen Beruf hegen, dessen Pflichten Sie so leicht und gewissenhaft erfüllen.«

»Ich fühle diese Abneigung einmal; ich habe sie bei der Geburt empfangen, und sie wird mich nicht verlassen. Ich würde schließlich eine schlechte Nonne werden, und dem will ich zuvorkommen.«

»Doch wenn Sie unglücklicherweise unterliegen sollten?«

»Wenn ich unterliege, so werde ich um die Erlaubnis bitten, das Kloster zu wechseln, oder sterben.«

»Man hat lange zu leiden, bevor man stirbt. Oh, meine Freundin, Ihr Schritt läßt mich erzittern; ich fürchte, Ihr Gelübde wird nicht gelöst werden, und ich fürchte auch, daß es doch geschieht; wenn das aber der Fall ist, was soll aus Ihnen werden? Was werden Sie in der Welt anfangen? Sie haben Figur, Geist und Talente; doch man sagt, das führe, wenn man tugendhaft ist, zu nichts, und ich weiß, Sie werden der Tugend nie die Treue brechen.«

»Sie lassen mir Gerechtigkeit widerfahren, der Tugend aber nicht, auf sie allein zähle ich; je seltener sie unter den Menschen ist, desto höher muß sie geschätzt werden. Man lobt sie, doch man thut nichts für sie. Das eben ermutigt mich und hält mich in meinem Plane aufrecht. Was man auch gegen mich einwenden mag, man wird stets meine Sitten achten; man wird wenigstens nicht sagen, wie man es bei den meisten andern thut, daß ich von einer ungeregelten Leidenschaft aus meinem Berufe getrieben worden bin; ich sehe niemand, ich kenne niemand. Ich verlange nichts weiter als die Freiheit, weil das Opfer meiner Freiheit kein freiwilliges gewesen ist. Haben Sie meine Denkschrift gelesen?«

»Nein; ich habe das Päckchen, welches Sie mir gegeben haben, geöffnet, weil es ohne Adresse war und ich geglaubt habe, es wäre für mich bestimmt; doch die ersten Zeilen haben mich eines andern belehrt, und ich habe nicht weiter gelesen . .  Doch die Stunde unserer Andacht geht zu Ende, knieen wir nieder, damit die, die uns ablösen, uns in der Lage vorfinden, die wir einnehmen müssen. Bitten Sie Gott, daß er Sie erleuchte und leite; ich werde mein Gebet und meine Seufzer mit den Ihrigen vereinigen.«

Meine Seele fühlte sich ein wenig erleichtert. Meine Gefährtin richtete sich auf und betete; ich warf mich zur Erde, meine Stirn lehnte sich an die letzte Stufe des Altars, und meine Arme streckten sich nach den höheren Stufen aus. Ich glaube nicht, daß man sich je mit größerem Troste und größerer Inbrunst an Gott gewendet hat. Das Herz schlug mir heftig, und ich vergaß in einem Augenblick alles, was mich umgab. Ich weiß nicht, wie lange ich in dieser Lage blieb, noch wie lange ich in derselben geblieben sein würde, doch ich bot ein äußerst rührendes Schauspiel für meine Gefährtin und die beiden Nonnen, die dazu gekommen waren. Als ich mich erhob, glaubte ich, allein zu sein, doch ich täuschte mich; sie waren alle drei hinter mich getreten und brachen in Thränen aus; sie hatten nicht gewagt, mich zu unterbrechen und warteten nun, daß ich von selbst aus dem Zustand der Geistesabwesenheit und Aufregung erwachen sollte, in dem ich mich befand. Als unsere Andacht beendet war, überließen wir unseren Nachfolgerinnen den Platz und umarmten uns, meine junge Gefährtin und ich, bevor wir uns trennten, sehr zärtlich.

Die Scene am Altar erregte Aufsehen; dazu kam noch der Erfolg unserer Messe am Charfreitag; ich sang, ich spielte Orgel, und man klatschte mir Beifall. Man kam mir entgegen, und zwar die Oberin zuerst. Einige Personen der vornehmen Gesellschaft suchten mich kennen zu lernen, und das paßte zu gut zu meinem Plane, als daß ich es hätte von der Hand weisen können. Ich wurde dem ersten Präsidenten vorgestellt, der Frau von Soubise und einer Menge ehrenwerter Leute, Mönche, Minister, Offiziere, Beamte, weltliche und fromme Frauen.

Der erste Beweis von Güte, den man mir gab, bestand darin, daß man mich wieder in meine Zelle zurückführte. Ich hatte den Mut, das kleine Bild unserer Oberin wieder zu verlangen, und man wagte nicht, es mir zu verweigern; es hat wieder seinen Platz auf meinem Herzen eingenommen und wird dort so lange bleiben, wie ich lebe. Alle Morgen ist es das erste, meine Seele zu Gott zu erheben, das zweite, das Bild zu küssen. Wenn ich beten will und meine Seele kalt fühle, so nehme ich's von meinem Halse, lege es vor mich hin, sehe es an, und es begeistert mich.


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