Charles Dickens
Master Humphrey's Wanduhr. Zweiter Band
Charles Dickens

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Der Raritätenladen.

Fünfundsechzigstes Kapitel

Es kam der kleinen Magd sehr zu statten, daß sie sehr schlau und behend war, sonst wäre wohl die Folge ihrer unbeschützten Sendung in der unmittelbaren Nachbarschaft einer Gegend, wo sie sich nicht ohne große Gefahr blicken lassen durfte, wahrscheinlich darauf hinausgelaufen, daß ihre Person der Oberherrlichkeit von Miß Sally wieder anheimgefallen wäre. Ohne jedoch dieser Gefahr zu achten, schlüpfte die Marquise, sobald sie das Haus verlassen hatte, in die erste dunkle Nebengasse, die ihr in den Weg kam, und da es ihr nicht darum zu thun war, auf schnurgeradem Wege das Ziel ihrer Reise zu erreichen, so ließ sie sich's zuerst angelegen sein, zwei gute Meilen Stein und Mörtel zwischen sich und Bevis-Marks zu bringen.

Sobald sie diesen Zweck erreicht hatte, begann sie die Richtung nach dem Bureau des Notars einzuschlagen, die ihr leicht angedeutet werden konnte – und zwar nicht durch eingeholte Nachweisungen in hellbeleuchteten Läden oder bei wohlgekleideten Leuten, wo sie Aufmerksamkeit hätte erregen können, denn sie zog es klüglich vor, nur bei den Aepfelweibern und Austernverkäufern an den Straßenecken Nachfrage anzustellen. Wie Brieftauben, die das erste Mal an einem fremden Orte losgelassen werden, anfangs auf's Ungefähr eine Meile in der Luft herumflattern, ehe sie sich dem Orte ihrer Bestimmung zuwenden, so rückte auch die Marquisin schüchtern hin und her, bis sie sich geborgen glaubte, und dann schoß sie rasch dem Hafen zu, der ihr als Ziel vorgesteckt war.

Sie hatte keinen Hut – nichts auf ihrem Kopfe, als eine große Haube, welche vor Alters von Sally Braß getragen worden war, deren eigentümlichen Geschmack am Kopfputz wir bereits kennen gelernt haben – und ihre Eile wurde eher verzögert, als unterstützt durch ihre Schuhe, welche, da sie außerordentlich groß und schlappig waren, hin und wieder abflogen und unter dem Menschengedränge nur mit Mühe wieder aufgefunden werden konnten. In der That hatte das arme Geschöpf so viel Mühe und Verzögerung von dem Umstande zu befahren, daß sie diese Anzugsartikel aus dem Schmutz und den Gossen hervorsuchen mußte, und außerdem erlitt sie durch ihre Nachforschungen so viele Stöße von den sich drängenden Vorübergehenden, daß sie zur Zeit, als sie die Straße erreichte, in welcher der Notar wohnte, völlig abgemattet und erschöpft war, und sich daher der Thränen nicht erwehren konnte.

Aber einmal dort zu sein, war schon ein großer Trost, zumal da sie in den Bureaufenstern noch Licht bemerkte und deßhalb noch Hoffnung haben durfte, nicht zu spät gekommen zu sein. Die Marquise trocknete also die Augen mit ihrem Handrücken, stahl sich sachte die Thürtreppe hinauf und guckte durch die Glasthüre.

Herr Chuckster stand hinter dem Deckel seines Pultes und schickte sich an, Feierabend zu machen, indem er seine Manschetten und Jabots herauszupfte, seinen Hals anmuthiger in die Kravatte schnallte, und unter Beihülfe eines kleinen, dreieckigen Stückchens Spiegelglas heimlich seinen Backenbart in Ordnung brachte. Vor der Asche des Feuers standen zwei Herren, von denen sie den einen mit Recht für den Notar, den andern aber, welcher eben seinen Ueberrock zuknöpfte und augenscheinlich sich anschickte, unmittelbar fortzugehen, für Herrn Abel Garland hielt.

Nachdem die kleine Spionin diese Beobachtungen angestellt hatte, ging sie mit sich zu Rathe und kam dabei zu dem Entschlusse, auf der Straße zu warten, bis Herr Abel herauskäme, da sie dann nicht mehr zu befürchten hatte, vor Herrn Chuckster sprechen zu müssen, und ihren Auftrag mit geringerer Schwierigkeit ausrichten konnte. In dieser Absicht glitt sie wieder hinaus, ging über den Weg hinüber und setzte sich gerade vis à vis auf eine Thürschwelle.

Sie hatte kaum diese Stelle eingenommen, als, alle Viere in den Lüften und den Kopf nach allen Seiten drehend, ein Pony die Straße herauf getanzt kam. Dieser Pony hatte einen kleinen Phaeton hinter sich, in welchem ein Mann saß; aber weder Mann noch Phaeton schienen ihn auch nur im Mindesten zu incommodiren, da er sich auf seine Hinterbeine stellte, Halt machte, vorwärts trabte, wieder stille stand, rückwärts ging, oder Seitensprünge machte, ohne die geringste Rücksicht auf sein Anhängsel zu nehmen, gerade wie es ihm seine Laune eingab, als ob er das freieste Thier in der Schöpfung sei. Als sie vor der Thüre des Notars anlangten, rief der Mann in sehr respektvoller Weise: »Oha!« was so viel heißen sollte, als: »wenn ich es wagen darf, einen Wunsch auszudrücken, so möchten wir hier Halt machen.« Der Pony blieb einen Augenblick stehen; aber als ob ihm jetzt erst einfiele, daß man unbequeme und gefährliche Consequenzen daraus ziehen könnte, wenn er hielte, sobald man es von ihm verlangte, packte er gleich wieder auf, rasselte galoppirend um die Straßenecke, drehte sich dann, kam zurück und blieb aus eigenem Antriebe stehen.

»O! du bist ein köstliches Geschöpf!« sagte der Mann, der, nebenbei gesagt, nicht früher mit seiner wahren Farbe heraus zu rücken wagte, bis er wohlbehalten auf dem Pflaster stand. »Ich wollte, ich dürfte dir's eintränken.«

»Was hat er denn gethan?« fragte Herr Abel, der einen Shawl um seinen Hals band, als er die Stufen herunter kam.

»Man möchte sich zu Tode ärgern über das Beest,« antwortete der Stallknecht. »Es ist der boshafteste Schuft – oha! willst du?«

»Er wird nie halten, wenn Ihr ihm Unnamen gebt,« sagte Herr Abel einsteigend und die Zügel ergreifend. »Er ist ein guter Bursche, wenn man ihn zu behandeln versteht. Seit lange ist er heute das erste Mal wieder im Geschirr, denn er hat seinen alten Kutscher verloren und wollte bis auf heute Morgen mit Niemand von der Stelle gehen. Sind die Lampen in Ordnung? Nun das ist gut. Seid so gut, Euch morgen hier wieder einzufinden. Gute Nacht!«

Und nach einem oder zwei wunderlichen Sprüngen ganz eigener Erfindung fügte sich der Pony Herrn Abels milder Hand und trabte gemächlich weiter.

Die ganze Zeit über hatte sich Herr Chuckster unter der Thüre aufgepflanzt, so daß die Magd nicht wagte, näher zu kommen. Sie konnte daher jetzt nichts Weiteres thun, als der Chaise nachlaufen und Herrn Abel zurufen, daß er halten möchte, Ganz außer Athem, als sie ihn einholte, war sie nicht im Stande, sich ihm hörbar zu machen. Der Fall war ein verzweifelter, denn der Pony beschleunigte seine Schritte. Die Marquise hängte sich deshalb einige Augenblicke hinten an, und da sie fühlte, sie könne nicht weiter gehen und müsse bald erliegen, so kletterte sie mittelst einer gewaltigen Kraftanstrengung in den hintern Sitz, bei welcher Gelegenheit sie einen der Schuhe für immer verlor.

Da Herr Abel in einer gedankenvollen Gemüthsstimmung war und zu thun hatte, um den Pony im Gang zu erhalten, so fuhr er weiter, ohne sich umzuschauen, indem er sich nichts träumen ließ von der sonderbaren Gestalt, die sich dicht hinter ihm befand, bis die Marquise, sobald sie einigermaßen wieder zu Athem gekommen war und sich in den Verlust ihres Schuhes, wie auch in die Neuheit ihrer Lage gefunden hatte, dicht vor seinem Ohre die Worte sprach – -

»Ich sage, Sir –«

Jetzt wandte er den Kopf rasch um, hielt den Pony an und rief mit einigem Zittern:

»Gott behüte mich, was ist das?«

»Erschrecken Sie nicht, Sir,« entgegnete die noch immer keuchende Botin. »O, ich bin Ihnen so gar lange nachgelaufen!«

»Aber, was will Sie von mir?« sagte Herr Abel. »Wie kömmt Sie hierher?«

»Ich bin von hinten hinaufgestiegen,« entgegnete die Marquise. »O, haben Sie die Gefälligkeit, weiter zu fahren, Sir – halten Sie nicht und fahren Sie der City zu, nicht wahr? Und ach, beeilen Sie sich gefälligst, weil es von wichtigen Folgen ist. Es wünscht Sie dort Jemand zu sprechen. Er sandte mich, um Ihnen zu sagen, Sie möchten doch gleich kommen; er wisse Alles von Kit, könne ihn noch retten, und sei im Stande, seine Unschuld zu beweisen.«

»Was sagst du mir, Kind?«

»Die Wahrheit, auf mein Wort und meine Ehre. Aber seien Sie so gut, weiter zu fahren – rasch, wenn ich bitten darf. Ich bin schon so lange fort, daß er glauben wird, es sei mir etwas geschehen.«

Herr Abel trieb mechanisch den Pony vorwärts. Der Pony, durch irgend eine geheime Sympathie oder durch eine neue Caprice veranlaßt, ging in einen raschen Galopp über, und ließ darin, aller seiner excentrischen Leistungen vergessend, nicht eher ab, bis sie an der Thüre von Herrn Swiveller's Wohnung anlangten, wo er – wird man es glauben? – seine Zustimmung zum Haltmachen gab, als Herr Abel die Zügel anzog.

»Sehen Sie! 's ist dort oben in jenem Zimmer,« sagte die Marquise, nach einem Fenster deutend, wo ein mattes Licht brannte. »Kommen Sie!«

Herr Abel, der einer der einfachsten und schüchternsten Menschen auf Gottes Erde, und obendrein von Natur aus sehr furchtsam war, zauderte, denn er hatte von Leuten gehört, die unter Umständen, welche den gegenwärtigen sehr ähnlich waren, nach fremden Orten verlockt, beraubt und ermordet worden waren, und da war es denn recht wohl möglich, daß die Marquise gleichfalls zu einer Gaunerbande gehörte und jetzt Lust hatte, das bekannte Kunststück an ihm zu üben. Seine Vorliebe für Kit überwältigte überdies jede andere Rücksicht. Er vertraute daher den Pony der Obhut eines Mannes, der in der Nähe auf einen derartigen Verdienst paßte, überließ der kleinen Magd seine Hand und gestattete ihr, ihn die dunkeln und engen Treppen hinauszuführen.

Er war nicht wenig überrascht, als er fand, daß man ihn in eine düster beleuchtete Krankenkammer wies, worin ein Mensch ruhig in einem Bette schlief.

»Ist es nicht herrlich, ihn so ruhig hier liegen zu sehen?« sagte seine Führerin in angelegentlichem Flüstern. »O gewiß! Sie würden das Gleiche sagen, wenn Sie ihn vor zwei oder drei Tagen gesehen hätten.«

Herr Abel antwortete nicht, sondern hielt sich, aufrichtig gestanden, in ziemlicher Entfernung von dem Bette und in großer Nähe bei der Thüre. Seine Führerin, die sein Widerstreben zu verstehen schien, schneuzte die Kerze, nahm den Leuchter und trat damit an das Krankenlager. Während sie dieß that, fuhr der Schläfer auf, und Herr Abel erkannte in dem abgemagerten Gesichte die Züge von Herrn Swiveller.

»Ei, wie kömmt dieß?« sagte Herr Abel freundlich, indem er auf ihn zueilte. »Sind Sie krank gewesen?«

»Sehr,« versetzte Dick. »Auf den Tod. Sie hätten vielleicht höchstens von Ihrem gehorsamen Diener Richard gehört, wie er in der Todtenbahre liegt, wenn nicht die Freundin gewesen wäre, die ich ausgeschickt habe, um Sie zu holen. Noch einen Händedruck, Marquise, wenn ich bitten darf. Setzen Sie sich, Sir.«

Herr Abel schien etwas erstaunt, also von den Verdiensten seiner Führerin sprechen zu hören, und setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bette.

»Ich habe nach Ihnen geschickt, Sir,« sagte Dick. »Ist Ihnen auch bereits mitgetheilt, weßwegen?«

»Ja, und ich bin von alle dem so verwirrt, daß ich in der That nicht weiß, was ich sagen oder denken soll,« versetzte Herr Abel.

»Sie werden darüber bald in's Klare kommen,« entgegnete Dick. »Marquise, willst du nicht auch einen Stuhl an das Bett nehmen? Jetzt sage diesem Herrn Alles, was du mir erzählt hast, und zwar ganz ausführlich. Ich bitte, sie ja nicht zu unterbrechen, Sir.«

Die Geschichtserzählung wurde wiederholt; sie war in der That genau dieselbe, wie früher, ohne irgend eine Abweichung oder Lücke. Richard Swiveller verwandte während des Berichts kein Auge von dem Besuche, und sobald die Marquise zu Ende gekommen war, ergriff er wieder das Wort.

»Sie haben jetzt Alles gehört und werden es nicht wieder vergessen. Es ist mir noch so schwindelig und wunderlich, daß ich keinen Rath ertheilen kann, aber Sie und Ihre Freunde werden wissen, was zu thun ist. Nach so langer Zögerung zählt jede Minute für ihn ein Menschenalter. Wenn Sie je in Ihrem Leben schnell nach Hause gefahren sind, so beeilen Sie sich diesen Abend. Halten Sie sich nicht mit weiteren Erwiederungen auf, sondern gehen Sie. Sie ist hier zu finden, sobald man ihrer bedarf; und was mich anbelangt, so darf man ziemlich darauf rechnen, daß man mich die nächsten paar Wochen zu Hause treffen wird. Es giebt da mehr als einen Grund. Marquise, nimm das Licht. Wenn Sie noch eine Minute verlieren, mich anzusehen, Sir, so werde ich es Ihnen nie vergeben!«

Herr Abel bedurfte keiner weitern Vorstellung oder Ueberredung. In einem Nu war er fort; und als die Marquise mit dem Licht zurückkam, berichtete sie, daß der Pony ohne irgend eine vorläufige Einwendung in vollem Galopp weiter geeilt sei.

»So ist's recht!« sagte Dick. »Es ist wacker von ihm, und ich ehre ihn von dieser Zeit an. Aber hole jetzt etwas zu essen und einen Krug Bier, denn ich bin überzeugt, daß du müde sein wirst. Du mußt einen Krug Bier haben. Es wird mir eben so gut thun, wenn ich dich trinken sehe, als wenn ich selbst tränke.«

Nur diese Versicherung konnte die kleine Wärterin bewegen, sich eine solche Schwelgerei zu erlauben. Nachdem sie zu Herrn Swiveller's ungemeiner Zufriedenheit gegessen und getrunken hatte, reichte sie auch ihm seinen Trank, brachte Alles in zierliche Ordnung, hüllte sich in eine alte Bettdecke und legte sich in dem groben Fries vor dem Herde nieder.

Herr Swiveller murmelte halb im Schlafe vor sich hin: »So mach' ein Binsenbett zur Noth; hier bleib' ich bis zum Morgenroth. Gute Nacht, Marquise.«



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