Charles Dickens
Master Humphrey's Wanduhr. Zweiter Band
Charles Dickens

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Der Raritätenladen.

Sechsundvierzigstes Kapitel

Es war der alte Schulmeister. Niemand anders, als der arme Schulmeister. Kaum weniger überrascht und erschüttert durch den Anblick der Kleinen, als es diese ob der Wiedererkennung gewesen war, stand er einen Augenblick stumm und ganz verwirrt von dieser unerwarteten Erscheinung da, ohne sich auch nur so weit fassen zu können, daß er sie vom Boden aufhob.

Er sammelte sich jedoch bald, warf Buch und Stock weg, ließ sich an ihrer Seite auf das Knie nieder und bemühte sich, durch alle Mittel, die ihm zu Sinne kamen und zu Gebot standen, sie wieder zu sich zu bringen, während ihr Großvater unthätig daneben stand, die Hände rang und sie unter vielen zärtlichen Ausrufen anflehte, mit ihm zu sprechen, wäre es auch nur ein einziges Wort.

»Sie ist ganz erschöpft,« sagte der Schulmeister, gegen ihn aufblickend. »Sie haben ihre Kräfte über Gebühr angestrengt, Freund.«

»Sie verkümmert aus Noth,« versetzte der alte Mann. »Ich habe bis auf diesen Augenblick nie gedacht, daß sie so gar schwach und krank ist.«

Der Schulmeister warf einen halb vorwurfsvollen, halb mitleidigen Blick auf ihn, nahm Nell auf seine Arme, hieß den alten Mann das Körbchen aufheben und ihm folgen, und trug die Besinnungslose eiligst von hinnen.

In der Nähe befand sich ein kleines Wirthshaus, nach welchem er, wie es schien, eben seine Schritte hatte lenken wollen, als er so unerwartet eingeholt wurde. Nach diesem Orte eilte er mit seiner ohnmächtigen Bürde, stürmte in die Küche, und indem er den Anwesenden um Gotteswillen zurief, Platz zu machen, setzte er Nell auf einen Stuhl neben dem Feuer.

Die Wirthshausgäste, welche bei des Schulmeisters Eintreten verwirrt aufstanden, thaten, was man unter solchen Umständen gewöhnlich zu thun pflegt: Jedes rief nach seiner Lieblingsarzenei, welche Niemand brachte. Alles meinte, die Kranke brauche mehr Luft, und doch schloß man dieselbe sorgfältig aus, indem man sich rund um den Gegenstand des Mitleids drängte. Und männiglich wunderte sich, warum nicht das von Andern geschah, was Keinem selbst zu thun einfiel.

Die Wirthin jedoch, welche behender und rühriger war, als alle Uebrigen, und überhaupt bei dem Falle den eigenen Vortheil, der daraus erwachsen konnte, rasch in's Auge faßte, kam bald mit etwas heißem Branntwein und Wasser beigesprungen, während ihr Dienstmädchen mit Weinessig, Hirschhorn, Riechsalz und andern Belebungsmitteln folgte. Unter gebührender Anwendung solcher heilsamer Arzenei erholte sich Nell so weit, um im Stande zu sein, ihr dafür zu danken und die Hand gegen den armen Schulmeister auszustrecken, der mit ängstlich bekümmerter Miene neben ihr stand. Ohne sie auch nur ein Wort sprechen oder sich weiter rühren zu lassen, brachten sie die Weiber alsbald zu Bette, deckten sie warm zu, hüllten ihre kalten Füße, nachdem sie dieselben gebadet, in Flanell und schickten nach einem Arzte.

Der Doctor, ein rothnasiger Herr, dem ein Bündel von Petschaften unter der gerippten, schwarzen Atlasweste herunterhing, kam in aller Eile an, setzte sich neben dem Bette der armen Nell nieder, zog seine Uhr heraus und fühlte ihr den Puls. Sofort besah er ihre Zunge, fühlte dann wieder den Puls, und während er dieß that, beäugelte er, wie in tiefem Nachdenken, das halbleere Weinglas.

»Ich würde ihr,« – sprach endlich der Doctor – »hin und wieder einen Theelöffel voll heißen Branntweins mit Wasser reichen.«

»Ei, gerade so haben wir's gemacht, Doctor!« rief die Wirthin hoch erfreut.

»Auch würde ich,« bemerkte der Doctor, der den Kübel mit warmem Wasser hatte die Treppe hinuntertragen sehen, »auch würde ich,« sagte der Doctor mit einer Stimme des Orakels, »ihre Füße in warmes Wasser stecken und sie hernach mit Flanell umwickeln. Ich würde ihr auch,« fuhr der Doctor mit erhöhter Feierlichkeit fort, »etwas Leichtes zum essen geben – den Flügel eines gebratenen Huhns etwa –«

»Ei du mein gütiger Himmel, Sir, es ist in diesem Augenblick eines auf dem Küchenfeuer,« rief die Wirthin.

Und war es auch wirklich, denn der Schulmeister hatte ein Huhn zurichten lassen, und es war jetzt bereits so weit gediehen, daß der Doctor recht wohl den Duft hätte riechen können, was auch vielleicht der Fall war.

»Sie können ihr auch,« fuhr der Doctor gravitätisch, aufstehend, fort, »ein Glas mit Zucker versetzten heißen Portweins geben – wenn sie Wein trinken mag –«

»Und eine Röstschnitte, Sir?« fragte die Wirthin.

»Ja,« antwortete der Doctor in dem Tone eines Mannes, der mit Würde ein Zugeständniß macht. »Und eine Röstschnitte – von Brod. Aber wollen Sie gefälligst dafür besorgt sein, Ma'am, daß sie wirklich aus Brod besteht.«

Mit dieser Einschärfung, welche in gebührend langsamer und nachdrücklicher Weise gegeben wurde, entfernte sich der Doctor, und Alle im Hause bewunderten seine Weisheit, die in so genauem Einklang mit ihrer eigenen gestanden hatte. Jedermann sagte, er wäre in der That ein sehr gescheidter Doctor, der sich vollkommen auf die Constitutionen der Leute verstünde, für welche Annahme wohl auch einiger Grund vorhanden sein mochte.

Während das Essen zugerüstet wurde, sank Nell in einen erfrischenden Schlaf, aus welchem sie aufgeweckt wurde, sobald die Speise fertig war. Sie zeigte große Unruhe über die Nachricht, daß ihr Großvater unten sei, und wollte durchaus nicht von ihm getrennt sein, weßhalb er mit ihr essen mußte; und da sie sich über diesen Punkt noch nicht beschwichtigen wollte, so machte man ihm sein Bett in ein Nebenkämmerchen, nach welchem er sich alsbald zurückzog. Zum Glück stak der Thürschlüssel gegen Nell's Stübchen heraus, und sobald sich die Wirthin entfernt hatte, drehte das Kind denselben um und kroch mit dankbarem Herzen wieder in sein Bette.

Der Schulmeister saß noch eine geraume Zeit, seine Pfeife rauchend, bei dem nun verlassenen Küchenfeuer, und dachte mit einer Miene voll Seligkeit über den glücklichen Zufall nach, der ihn in den Stand gesetzt hatte, dem Kinde so gelegenen Beistand zu leisten, wobei er auf die möglichst einfache Weise dem Kreuz- und Quer-Verhör der Wirthin auswich, welche gar zu gerne alle Einzelnheiten aus Nell's Leben und Geschichte hätte wissen mögen. Freilich war der arme Schulmeister so offenherzig und so wenig in dem gewöhnlichen Schleichwege der Welt bewandert, daß sie unfehlbar in den ersten zehn Minuten ihr Ziel erreicht haben würde, wäre er nicht zufällig mit dem, was sie zu wissen wünschte, selbst ganz unbekannt gewesen und so machte er denn auch diesen Grund gegen sie geltend. Die Dame war jedoch mit dieser Versicherung, in welcher sie nur ein sinnreiches Umgehen ihrer Frage sah, durchaus nicht zufrieden, und meinte, er werde wohl Gründe für seine Schweigsamkeit haben; der Himmel aber verhüte, daß der Wunsch in ihr aufkomme, die Angelegenheiten ihrer Kunden auszuspioniren, da sie in der That mit ihren eigenen genug zu thun habe, und etwas der Art ganz und gar nicht ihre Sache sei; sie habe sich nur eine höfliche Frage erlaubt, und eine solche finde gewiß auch immer eine höfliche Antwort; sie sei ganz zufrieden gestellt – habe dadurch keine Bedenken, obschon es ihr lieb gewesen wäre, wenn er gleich gesagt hätte, daß er mit nichts herausrücken wolle, weil sie sich dann danach zu achten gewußt hätte; natürlich habe sie aber durchaus kein Recht, sich gekränkt zu fühlen, denn er müsse am besten wissen, was er zu thun habe, und stehe daher vollkommen in seinem Rechte, wenn er sage, was ihm gut dünke; Niemand könne ihm dieß auch nur einen Augenblick streitig machen – oh mein Gott, nein!

»Ich versichere Ihnen, meine gute Frau,« entgegnete der sanfte Schulmeister, »daß ich Ihnen die reine Wahrheit gesagt habe – so wahr ich selig zu werden hoffe, ich habe Ihnen die Wahrheit mitgetheilt.«

»Je nun, ich glaube ja, daß es Ihnen Ernst ist,« erwiederte die Wirthin in der besten Laune, »und es thut mir sehr leid, daß ich Sie belästigt habe. Doch Sie wissen wohl, Neugierde ist der Fluch unseres Geschlechts.«

Der Wirth kratzte sich im Kopf, als dächte er, dieser Fluch plage bisweilen das andere Geschlecht in gleicher Weise; er wurde jedoch durch des Schulmeisters Entgegnung verhindert, eine dahin abzielende Bemerkung fallen zu lassen, wenn er anders eine solche im Sinne hatte.

»Sie könnten mich meinetwegen sechs Stunden in einem Sitze ausfragen, und wenn ich könnte, so wollte ich Ihnen gerne geduldig Rede stehen, um der Herzensgüte willen, welche Sie diesen Abend an den Tag gelegt haben,« sagte er. »So aber bitte ich eben, daß Sie morgen für sie Sorge tragen und mich zeitig wissen lassen, wie es ihr geht. Ich werde für alles Zahlung leisten.«

So kam der Schulmeister auf die beste Weise los, die durch die letztere Andeutung vielleicht um so herzlicher wurde und verfügte sich nach seinem Bette, worauf der Wirth und die Wirthin ein Gleiches thaten.

Des andern Morgens hieß es, Nell sei besser, aber außerordentlich schwach, und werde wenigstens noch einen Tag Ruhe und sorgfältige Pflege brauchen, ehe sie ihre Reise wieder aufnehmen könne.

Der Schulmeister freute sich über diese Nachricht ungemein und meinte, er habe wohl einen Tag übrig, für den Nothfall auch zwei – und könne daher recht gut abwarten. Da man glaubte, die Kranke werde gegen Abend aufstehen können, so versprach er, sie zu einer bestimmten Stunde auf ihrem Stübchen zu besuchen, worauf er mit seinem Buche spazieren ging und erst zur Zeit des verheißenen Besuchs wieder heim kam.

Nell konnte sich der Thränen nicht enthalten, als sie allein waren, und auch der ehrliche Schulmeister weinte, als er ihr blasses Gesicht und ihre abgezehrte Gestalt sah, obgleich er ihr zu gleicher Zeit in sehr nachdrücklicher Sprache zu beweisen suchte, wie thöricht sie handle, daß sie sich so von ihren Gefühlen hinreißen lasse, und wie leicht sie es vermeiden könnte, wenn sie nur wollte.

»So wohlthuend Ihre Güte auf mich wirkt,« sprach das Kind, »so macht es mich doch ganz unglücklich, wenn ich daran denke, daß wir Ihnen zur Last fallen sollen. Wie kann ich Ihnen je genug danken? Wenn ich Sie nicht so weit von Ihrer Heimath getroffen hätte, so wäre ich wohl auf der Straße gestorben, und Er hätte Niemand mehr gehabt, der für ihn sorgte.«

»Reden wir nicht mehr von Sterben und Zurlastfallen,« versetzte der Schulmeister, »denn seit Ihr in meiner Hütte schlief't, habe ich mein Glück gemacht.«

»Wirklich?« rief das Kind freudig.

»Ja, ja,« erwiederte ihr Freund. »Ich bin zum Küster und Schulmeister in einem fernen Dorfe ernannt worden – sehr weit entlegen von meinem frühern – und erhalte jährlich fünfunddreißig Pfund. Fünfunddreißig Pfund!«

»Oh, wie freut mich dies,« sagte das Kind – »gewiß, gewiß recht sehr.«

»Ich bin eben auf dem Wege dahin begriffen,« nahm der Schulmeister wieder auf. »Man hat mir gestattet, mit der Postkutsche zu kommen – ich darf für die ganze Reise einen Außensitz auf dem Postwagen berechnen. Gott sei Dank, sie mäkeln nicht mit mir. Da mir übrigens die Zeit, in welcher ich dort erwartet werde, hinreichend Muße ließ, so beschloß ich, zu Fuß zu gehen. Wie froh macht mich jetzt der Gedanke, daß ich es that.«

»Und wie froh müssen nicht erst wir sein!«

»Ja, ja,« sagte der Schulmeister, indem er sich unruhig in seinem Stuhle hin und her bewegte, »gewiß, das ist sehr wahr. Aber ihr, wo geht ihr hin, wo kommt ihr her, was habt ihr gethan, seit ihr mich verlassen habt, und was war früher euer Geschäft? Nun, sage mir das – sage mir's. Ich weiß nur sehr wenig von der Welt, und vielleicht seid ihr besser geeignet, mir in ihren Angelegenheiten Rath zu ertheilen, als ich euch zu berathen im Stande bin; aber ich meine es aufrichtig und habe einen Grund, (du hast es wohl nicht vergessen), dich zu lieben. Es war mir seit jener Zeit, als ob meine Liebe zu dem Gestorbenen auf dich übergegangen sei, weil du an der Seite seines Bettes standest. Wenn dieß,« fügte er mit einem Blicke zum Himmel bei, »wenn dieß die schöne Schöpfung ist, die sich aus der Asche neu erzeugt, so laß ihren Frieden mit mir sein, so wahr ich es liebevoll und theilnehmend mit diesem jungen Kinde meine!«

Das schlichte, aufrichtige Wohlwollen des ehrlichen Schulmeisters, der theilnahmsvolle Ernst in seiner Sprache und seinem Benehmen, und der Stempel der Wahrheit, der jedem seiner Worte und Blicke ausgeprägt war, hauchten Nell ein Vertrauen zu ihm ein, welches die hinterlistigsten Künste der Verstellung nie in ihrer Brust zu wecken vermocht hätten. Sie sagte ihm alles – daß sie keine Freunde oder Verwandte hätten – daß sie mit dem alten Manne geflohen wäre, um ihn vor dem Irrenhause und all' dem Elend zu retten, welches er fürchtete – daß sie noch jetzt auf der Flucht begriffen sei, um ihn gegen sein eigenes Ich zu schützen – und daß sie ein Asyl an irgend einem entlegenen Orte auf dem Lande suche, wo er keiner Versuchung mehr Preis gegeben sei, und Sorgen wie sie kürzlich erlebt, nicht mehr aufkommen könnten.

Der Schulmeister hörte ihr mit Erstaunen zu.

»Welch' ein Kind!« dachte er; – »hat dieses Kind heldenmütig ausgehalten unter allen Zweifeln und Gefahren, mit Armuth und Leiden gekämpft und keiner anderen Stütze sich erfreut, als ihrer treuen Liebe und ihres Rechtsgefühls? Und doch ist die Welt voll von solchem Heldenmuth. Sollte ich jetzt erst lernen müssen, daß die schwersten Siege diejenigen sind, welche in keiner Erdenchronik aufgezeichnet werden und doch jeden Tag sich zutragen? Und sollte es mich Wunder nehmen, ein Gleiches in der Geschichte dieses Kindes zu hören?«

Was er noch weiter sagte und dachte, gehört nicht zur Sache. Es wurde beschlossen, daß Nell und ihr Großvater ihn nach seinem Dorfe begleiten sollten, und er wollte sich Mühe geben, irgend eine bescheidene Beschäftigung für sie ausfindig zu machen, bei der sie bestehen könnten.

»Ich bin überzeugt, daß es gelingen muß, »rief der Schulmeister aus der Fülle seines Herzens. »Die Sache ist zu gut um fehlschlagen zu können.«

Sie bestimmten die Fortsetzung ihrer Reise auf den nächsten Abend, da um diese Zeit ein Frachtwagen, welcher eine Strecke weit ihren Weg fuhr, vor dem Wirtshause die Pferde wechselte, und der Fuhrmann Nell ohne Zweifel gegen eine kleine Belohnung mitnahm. Der Handel kam auch richtig in's Reine und in der gewöhnlichen Zeit rollte der Wagen mit Nell ab, die ein gutes Plätzchen unter dem weicheren Gepäcke gefunden hatte, während ihr Großvater und der Schulmeister neben dem Fuhrmann einher gingen, die besten Wünsche der Wirthin und der guten Leute im Wirthshaus mit auf den Weg nehmend.

Welch' eine beruhigende, üppige, einschläfernde Reisemanier, in dem Innern eines solchen Berges zu liegen und zu horchen auf das Klingeln der Pferdeglöckchen, das gelegentliche Knallen der Fuhrmannspeitsche, das sanfte Rollen der großen, breiten Räder, das Rasseln des Wagengeschirrs, die freundlichen Begrüßungen der auf kleinen, kurzschrittigen Pferden vorbeitrabenden Reisenden – und Alles dieß so angenehm gedämpft durch die darüber gespannte dicke Decke, die eigens dazu gemacht zu sein scheint, um träge darunter zu horchen, bis man einschläft, stets unter dem unbestimmten, durch das Hin- und Herschwanken des Kopfes auf dem Kissen erzeugten Eindruck, daß es ohne Mühe und Anstrengung weiter gehe, während man all' diesen Tönen wie einer Trauermusik zuhorcht, welche die Sinne einlullt – und das langsame Erwachen, wenn man findet, daß man durch den vorn halboffenen, luftigen Vorhang weit hinaussieht in den kalten, klaren Himmel, mit seinen Miriaden Sternen, und herab auf die Wagenlaterne, die, dem Irrwisch der Sümpfe und Moore gleich, an den Seiten der dunkeln, grämlichen Bäume hintanzt, auf der langen, öden Straße immer und immer höher sich hebend, bis sie plötzlich an einer scharfen Kante Halt macht, als ob kein Weg mehr da und jenseits alles Himmel wäre – und das Rasten vor einem Wirtshaus zum Füttern, wo man Einem heraushilft, in eine Stube mit Feuer und Lichtern geht, die Einen blinzeln machen, und auf die angenehmste Weise erinnert wird, daß die Nacht klar war, indem man sich dieselbe, um die Behaglichkeit zu erhöhen, noch kälter vorstellt! – welch' eine köstliche Reise war jene in dem Frachtwagen!

Dann das Weiterfahren – anfangs so frisch und bald nachher so schläfrig. Das Erwachen aus einem gesunden Schläfchen, wenn die Post vorbeisaust, wie ein Landstraßencomet, mit flimmernden Laternen, klappernden Hufen und den Gedanken an einen Conducteur hinten, der aufgestanden ist, um seine Füße warm zu halten, und an einen Herrn in einer Pelzmütze, der seine Augen öffnet und in blöder Verwirrung umherschaut – das Anhalten an dem Schlagbaum, wo der Wärter schon zu Bett ist, und das Klopfen an dem Häuschen, bis er mit einem durch die Bettdecken erstickten Schrei aus dem kleinen Stübchen oben, wo das matte Licht brennt, antwortete und dann alsbald, die Nachtmütze auf dem Kopfe, und schaudernd, herunterkömmt, um die Barre zurückzuziehen, wobei er alle Frachtwagen hinwünscht, wo der Pfeffer wächst, natürlich die bei Tag anfahrenden ausgenommen. Die scharfkalte Zwischenzeit zwischen Nacht und Morgen – der ferne Lichtstreif, der sich mehr und mehr erweitert und verbreitert, vom Grauen in's Weiße, vom Weißen in's Gelbe, vom Gelben in's brennendste Roth übergehend – der Tag mit all' seiner Rührigkeit und Lebhaftigkeit – Menschen und Pferde an dem Pflug – Vögel in den Bäumen und Hecken, und Knaben auf den einsamen Feldern, welche sie mit Klappern wegscheuchen. Die Ankunft in einer Stadt, geschäftige Leute auf dem Markte, leichte Karren und Chaisen rund um den Wirthshaushof, vor ihren Thüren stehende Krämer, Männer, die den Kaufliebhabern ihre Pferde vorreiten, grunzende Schweine, die in der Entfernung im Koth wühlen, sich von ihren langen Stricken losreißen, in reinliche Apothekerladen laufen und von den Lehrlingen mit Besen hinausgejagt werden, die Nachtpost, welche ihre Pferde wechselt – mürrische, erfrorene, häßlich eingemummte und unzufriedene Passagiere, denen der Bart in einer Nacht gewachsen ist, als stünde er schon drei Monate – der Kutscher dagegen frisch, wie aus dem Lädchen, und eigentlich schön durch den Gegensatz: – so viel Rührigkeit, so viele Dinge in Bewegung, so viele Abwechslung in allem – wann gab es je eine so vergnügliche Reise, als jene Reise in dem Frachtwagen?

Bisweilen ging Nell eine oder zwei Meilen zu Fuß und ließ ihren Großvater im Wagen fahren, und hin und wieder vermochte sie auch den Schulmeister, ihren Platz einzunehmen und ein wenig auszuruhen. So ging es denn ganz lustig weiter, bis sie in eine große Stadt gelangten, wo der Frachtwagen Halt machte, um zu übernachten. Sie kamen an einer großen Kirche vorbei und in den Straßen war eine Anzahl von alten Häusern, die aus einer Art von Lehm oder Mörtel gebaut und nach allen Seiten mit schwarzem Gebälk durchkreuzt waren, was ihnen ein merkwürdig alterthümliches Ansehen gab. Auch die Thüren, welche sehr niedrig waren, bildeten Spitzbogen und hatten zum Theil eigene Portale mit wunderlichen Bänken, auf denen die früheren Bewohner an Sommerabenden zu sitzen pflegten. Die Fenster bestanden aus kleinen rautenförmigen Scheibchen und schienen auf die Vorübergehenden herabzublinzeln, als sei ihr Gesicht trübe geworden.

Unsere Reisenden waren schon eine geraume Weile aus dem Bereich des Rauches und der Ofen gekommen, denn nur hin und wieder trafen sie noch auf ein einzelnes Fabrikgebäude im freien Felde, welches den Raum um sich her wie ein Vulkan verödete. Sobald sie die Stadt hinter sich hatten, kamen sie in's offene Land und näherten sich jetzt mehr und mehr dem Orte ihrer Bestimmung.

Dieser war jedoch keineswegs so nahe, daß sie nicht noch eine zweite Nacht unterwegs hätten zubringen müssen. Freilich wäre dieß nicht so ganz nöthig gewesen; aber als der Schulmeister in die Nähe seines Dorfes kam, so bemächtigte sich seiner ein so beunruhigendes Gefühl seiner neuen Küsterswürde, daß er seinen Einzug nicht in staubigen Schuhen und Kleidern, die von der Reise gelitten hatten, feiern wollte. Es war ein schöner, klarer Herbstmorgen, als sie auf dem Schauplatze seiner Beförderung anlangten; sie blieben stehen, um dessen Schönheiten zu betrachten!

»Sieh' – da ist die Kirche!« rief der entzückte Schulmeister mit gedämpfter Stimme, »und ich wollte darauf schwören, daß jenes alte Gebäude dicht daneben das Schulhaus ist. Fünfunddreißig Pfund jährlich an diesem schönen Orte!«

Sie bewunderten Alles – das altergraue Portal, die mit Steinkreuzen versehenen Fenster, die ehrwürdigen Grabsteine, welche den grünen Kirchhof betüpfelten, den alten Thurm und sogar den Wetterhahn; die gebräunten Strohdächer der Hütten und Scheunen, welche zwischen den Bäumen hervorsahen, das Flüßchen, das bei der fernen Wassermühle sich kräuselte, und das entlegene, blaue Walisergebirg. Nach einem solchen Orte hatte sich Nell in den dichten, dunklen, armseligen Löchern der Fabrikarbeit gesehnt. Auf ihrem Bette von Asche und mitten unter dem unflätigen Entsetzen, durch welches sie sich den Weg bahnen mußte, hatten sich Traumbilder von solchen Scenen – allerdings schön, aber nicht schöner als diese süße Wirklichkeit – ihrem Geiste vergegenwärtigt. Freilich schienen sie in trüber, neblichter Entfernung zu entschwimmen, je schwächer die Aussicht war, sie je schauen zu können; aber je mehr sie zurücktraten, desto mehr liebte sie dieselben, und desto mehr schmachtete sie darnach.

»Ich muß euch auf etliche Minuten irgendwo unterbringen,« sagte der Schulmeister, der endlich das durch die Freude erzeugte Schweigen brach. »Ihr könnt euch denken, daß ich einen Brief vorzuzeigen und Nachfragen anzustellen habe. Wo soll ich euch hinführen? In das kleine Wirthshaus dort?«

»Oh, lassen Sie uns hier warten,« versetzte Nell. »Die Kirchenthüre ist offen. Wir wollen uns unter das Portal setzen, bis Sie wieder zurückkommen.«

»Nun, der Platz ist auch gut,« sagte der Schulmeister, indem er sie nach demselben hinführte, dort sein Felleisen abwarf und es auf die Steinbank legte. »Verlaßt euch d'rauf, ich komme mit guten Neuigkeiten zurück und werde nicht lange aussein.

Der glückliche Schulmeister zog nun ein paar nagelneue Handschuhe an, welche er den ganzen Weg über, hübsch mit Papier umwickelt, in der Tasche nachgetragen hatte, und eilte voll Glut und Aufregung von hinnen.

Nell sah ihm von dem Portale aus nach, bis ihn das Laub der Bäume ihren Blicken verbarg, und dann ging sie leise hinaus auf den alten Kirchhof – er war so feierlich ruhig, daß ihr jedes Rauschen ihres Kleides auf den gefallenen Blättern, die den Weg überstreuten und ihre Fußtritte tonlos machten, wie eine Entweihung des hehren Schweigens vorkam. Es war ein sehr alter, gespensterhafter Ort: die Kirche war vor vielen Jahrhunderten gebaut worden und hatte einmal zu einem Kloster gehört, denn Ruinen von Spitzbogen, Ueberreste von Vorhallenfenstern und Bruchstücke von geschwärzten Mauern standen noch, während andere Theile des alten Gebäudes, welche zerbröckelt heruntergefallen waren, sich mit der Kirchhoferde vermischten und dem üppigen Grase Nahrung boten, als forderten sie auch ihren Begräbnißplatz und als suchten sie ihren Staub mit der Asche von Menschen zu vermengen. Hart neben diesen Grabsteinen erstorbener Jahre befanden sich zwei einen Theil der Ruine bildende Wohnungen, die man in neueren Zeiten bewohnbar zu machen gesucht hatte; ihre Fenster und eichenen Thüren waren jedoch eingesunken, und die Häuser selbst, öde und leer, eilten ihrem Verfall entgegen.

Auf diese Wohnungen war die Aufmerksamkeit der Kleinen ausschließlich geheftet. Sie wußte nicht, warum? Die Kirche, die Ruinen und die alten Gräber hatten mindestens doch gleiche Ansprüche auf die Berücksichtigung eines Fremden, aber von dem ersten Augenblicke an, als sie dieser paar Hütten ansichtig wurde, konnte sie auf nichts Anderes mehr achten. Selbst nachdem sie um die Kirchhofmauer herumgegangen und wieder zu dem Portale zurückgekommen war, wo sie in gedankenvollem Brüten ihren Freund erwartete, wählte sie ihre Stellung so, daß sie danach hinsehen konnte, und es kam ihr vor, als würden ihre Blicke wie durch einen Zauber an den Ort gefesselt.



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