Charles Dickens
Denkwürdigkeiten des Pickwick-Klubs. Erster Teil
Charles Dickens

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Achtzehntes Kapitel.

Woraus zu ersehen, daß ein erfindsamer Geist unter Umständen durch einen Rheumatismus zu erhöhter Tätigkeit angespornt werden kann.

Herr Pickwick hatte eine starke Natur, die Strapazen und Anstrengungen aller Art ertragen konnte; allein in der denkwürdigen Nacht, wovon das letzte Kapitel handelt, war ihr doch gar zu viel zugemutet worden. In der Nachtluft gewaschen und sodann in einer dumpfen Ecke getrocknet zu werden, ist ein ebenso gefährlicher wie eigenartiger Prozeß. Kurz, Herr Pickwick hatte sich eine Erkältung zugezogen, die ihn in das Bett bannte.

Obgleich indessen die körperlichen Kräfte des großen Mannes dadurch ziemlich geschwächt waren, so behielten doch die Fähigkeiten seines Geistes durchaus ihre ursprüngliche Stärke. Er besaß viel Elastizität, und seine gute Laune stellte sich in Bälde wieder ein. Selbst der Ärger über sein letztes Abenteuer hatte sich nicht lange in seinem Gemüt zu behaupten gewußt, und er stimmte mit herzlicher Unbefangenheit in das schallende Gelächter ein, das Wardle bei jeder Anspielung aufschlug.

Ja, noch mehr. Während der zwei Tage, die Herr Pickwick das Bett hüten mußte, war Sam sein beständiger Wärter. Am ersten ließ sich dieser angelegen sein, seinem Herrn durch muntere Erzählungen und Gespräche die Langeweile zu vertreiben, am zweiten aber verlangte Herr Pickwick Tinte, Feder und Papier und schrieb vom Morgen bis zum Abend. Am dritten durfte er wieder aufstehen und entsandte seinen Diener an Herrn Wardle und Herrn Trundle mit der Botschaft, wenn sie auf den Abend ein Glas Wein bei ihm trinken wollten, so werde es ihm eine große Freude sein. Die Einladung wurde mit größtem Vergnügen angenommen, und als sie bei ihrem Weine saßen, zog Herr Pickwick unter mehrfachem Erröten beifolgende kleine Erzählung hervor, mit dem Bemerken, er habe sie während seiner letzten Unpäßlichkeit nach der kunstlosen Erzählung des Herrn Weller niedergeschrieben.

Der Dorfschulmeister.

Eine Erzählung von treuer Liebe.

In einem ganz kleinen Dörfchen, sehr weit von London entfernt, lebte vor Zeiten ein kleiner Mann, namens Nathaniel Pipkin, der Schulmeister des Ortes war. Er wohnte in einem kleinen Häuschen in der kleinen Hauptstraße, kaum zehn Minuten von dem Kirchlein entfernt, und beschäftigte sich tagtäglich von neun bis vier Uhr damit, den kleinen Knaben ein bißchen Gelehrsamkeit einzuimpfen. Nathaniel Pipkin war ein arg- und harmloses, gutmütiges Geschöpf, hatte eine aufgeworfene Nase, einwärts gebogene Beine, schielte ein bißchen und hinkte etwas. Seine Zeit teilte er zwischen Kirche und Schule, und dabei glaubte er steif und fest, es könne auf Gottes Erdboden keinen so gescheiten Mann wie den Pfarrer, kein so achtunggebietendes Gemach wie die Sakristei, und kein so wohlbestelltes Erziehungshaus wie das seinige geben.

Einmal, ein einziges Mal in seinem Leben hatte Nathaniel Pipkin einen Bischof gesehen, einen leibhaftigen Bischof, mit seinen Armen in den weiten Ärmeln und seinem Kopf in einer Perücke. Er hatte ihn bei einer Konfirmation gehen sehen und sprechen hören, und als der genannte Bischof bei diesem Anlaß die Hand auf seinen Kopf legte, da wurde Nathaniel Pipkin so übermannt von Ehrfurcht und heiliger Scheu, daß er geradezu in Ohnmacht fiel und vom Kirchendiener hinausgetragen werden mußte.

Das war ein großes Ereignis, eine erschreckende Epoche in Nathaniel Pipkins Leben, und so ziemlich der einzige Vorfall, der die glatte Oberfläche des Stromes seines ruhigen Daseins kräuselte. Aber an einem schönen Nachmittage wandte er in einem Augenblick der Geistesabwesenheit seine Augen von der Tafel weg, auf die er ein fürchterliches Addierexempel für einen unartigen Jungen zu malen beabsichtigte; und siehe da, sie hafteten auf dem blühenden Antlitz der Jungfrau Maria Lobbs, der einzigen Tochter des alten Lobbs, des großen Sattlers, der gegenüber wohnte. Nun hatten die Augen des Herrn Pipkin schon manchmal in der Kirche und anderwärts auf dem hübschen Gesicht der Maria Lobbs gehaftet, aber die Augen der Maria Lobbs hatten nie so glänzend gestrahlt, und ihre Wangen nie so rosig ausgesehen, wie gerade in diesem Augenblick! Kein Wunder, daß Nathaniel Pipkin nicht imstande war, seine Augen von dem Antlitz der Jungfer Lobbs abzuwenden; kein Wunder, daß Jungfrau Lobbs, als sie sich von einem jungen Manne angestarrt sah, ihren Kopf zu dem Fenster wieder hereinzog, aus dem sie hervorgeguckt hatte, es schloß und die Vorhänge zusammenzog; kein Wunder, daß Nathaniel Pipkin unmittelbar darauf über den kleinen Bösewicht herfiel, der vorhin gesündigt hatte, und ihn nach Herzenslust durchprügelte. Alles das war ganz natürlich und gibt nicht den mindesten Stoff zum Verwundern.

Das aber ist zum Verwundern, daß ein Mann von Nathaniel Pipkins Zurückgezogenheit, blöder Art und überaus kärglichem Einkommen von selbigem Tage an sich das Herz faßte, nach der Hand und Liebe der einzigen Tochter des trotzköpfigen alten Lobbs zu streben – des alten Lobbs, des reichen Sattlers, der mit einem einzigen Federstrich das ganze Dörfchen hätte kaufen können, ohne deshalb eine Lücke in seiner Kasse zu verspüren – des alten Lobbs, von dem alle Welt wußte, daß er Haufen von Geld in der Bank der nächsten Stadt angelegt hatte. Man erzählte sich von ihm, daß er zahllose unerschöpfliche Schätze besitze, die er in der kleinen eisernen Truhe mit dem großen Schlüsselloch auf dem Kamingesimse im hintern Zimmer aufbewahrte – und man wußte sehr wohl, daß er bei festlichen Gelegenheiten seinen Tisch mit einer Teekanne, einem Milchtopf und einer Zuckerbüchse aus echtem Silber schmückte, und daß er im Stolze seines Herzens zu prahlen pflegte, alle diese Dinge sollten das Eigentum seiner Tochter werden, sobald sie einen Mann nach ihren Wünschen gefunden hätte. Ich wiederhole es, es gibt Veranlassung zu tiefem Erstaunen und gewaltiger Verwunderung, daß Nathaniel Pipkin die Verwegenheit haben konnte, seine Augen nach dieser Richtung wandern zu lassen. Aber die Liebe ist blind, und Nathaniel hatte einen Fehler an den Augen, welche zwei Umstände zusammengenommen ihn vielleicht hinderten, die Sache in ihrem wahren Lichte zu sehen.

Hätte der alte Lobbs auch nur die entfernteste Ahnung vom Zustand der Gefühle Pipkins gehabt, er hätte ohne weiteres das Schulhaus bis auf den Grund niedergerissen, oder dessen Beherrscher vom Erdboden vertilgt, oder sonst eine Handlung wilder Raserei begangen: denn der alte Lobbs war ein schrecklicher Mensch, wenn sein Stolz gekränkt oder sein Blut in Wallung gebracht war. Um's Himmels willen, welche donnernden Flüche schallten nicht über die Straße, wenn er sich manchmal über die Trägheit seines knöchernen Lehrlings mit den dünnen Beinen ärgerte, so daß Nathaniel Pipkin vor Angst und Entsetzen in den Schuhen erbebte und seinen Schülern vor Schaudern die Haare zu Berge standen.

Trotz alledem setzte sich Nathaniel Pipkin alle Tage, wenn die Schule vorüber und die Jungen entlassen waren, an das vordere Fenster. Er tat, als lese er in einem Buche, und warf dabei seine Blicke seitwärts über die Straße, um die glänzenden Augen der Maria Lobbs zu suchen; auch hatte er nicht viele Tage so gesessen, als die glänzenden Augen sich an einem oberen Fenster zeigten, gleichfalls, wie es schien, sehr mit Lesen beschäftigt. Das war Labsal und Wonne für das Herz Nathaniel Pipkins. Es war schon keine Kleinigkeit, stundenlang dazusitzen und das hübsche Gesicht anzuschauen, wenn er seine Augen niedergesenkt hatte. Aber wenn Maria Lobbs ihre Augen vom Buche aufzuschlagen begann und ihre Strahlen in der Richtung gegen Nathaniel Pipkin schießen ließ, da war seine Wonne und seine Anbetung wirklich grenzenlos. Eines Tages endlich, als er wußte, daß der alte Lobbs ausgegangen war, hatte Nathaniel Pipkins die Verwegenheit, der Maria Lobbs eine Kußhand zuzuwerfen, und Maria Lobbs, statt das Fenster zuzuschlagen und die Vorhänge zusammenzuziehen, warf ihm ebenfalls eine Kußhand zu und lächelte. Darauf beschloß Nathaniel Pipkin, möge daraus entstehen, was da wolle, ohne weiteren Aufschub ihr den Zustand seiner Gefühle zu entdecken.

Ein hübscherer Fuß, ein fröhlicheres Herz, ein holdseligeres Grübchengesicht und eine schlankere Gestalt schwebte niemals über die Erde hin, um sie zu zieren, als die der Maria Lobbs, der Tochter des alten Sattlers. Ihre funkelnden Augen blitzten schelmisch und hätten auch in eine minder empfängliche Brust, als es die Nathaniel Pipkins war, ihren Weg gefunden. Beim lustigen Schall ihres fröhlichen Gelächters hätte sich das Gesicht des finstersten Menschen-Hassers aufheitern müssen. Sogar der alte Lobbs selbst vermochte auch in der höchsten Wut den Schmeicheleien seines hübschen Töchterleins nicht zu widerstehen. Hatte sie zum Beispiel in Verbindung mit ihrer Base Kätchen, einem wilden, mutwilligen, bezaubernden kleinen Mädchen, einen wirklichen Plan auf den Alten, was, aufrichtig gestanden, nicht selten vorkam, so vermochte er ihnen nichts abzuschlagen, und wenn sie einen Teil der zahllosen, unerschöpflichen Schätze verlangt hätten, die dem Lichte des Tages durch die eiserne Truhe entzogen waren.

Nathaniel Pipkins Herz pochte gewaltig, als er an einem Sommerabend dieses reizende Pärchen einige hundert Schritte vor sich auf dem gleichen Felde wandeln sah, auf dem er selbst so manches Mal bis zum Einbruch der Nacht herumgestreift war und über die Schönheit der Maria Lobbs nachgesonnen hatte. Aber so oft er auch schon daran gedacht hatte, wie keck er vor Maria Lobbs treten und ihr von seiner Leidenschaft erzählen wollte, wenn er ihr nur einmal begegnen könnte, so fühlte er doch jetzt, da er sie so unerwartet vor sich sah, daß ihm alles Blut ins Gesicht stieg, offenbar zum großen Nachteil seiner Beine, die ihrer gewöhnlichen Versorgung beraubt, unter ihm zitterten. Wenn die Mädchen stehen blieben, um eine Blume zu pflücken oder auf einen Vogel zu lauschen, so stand Nathaniel Pipkin ebenfalls still und stellte sich, als wäre er in tiefes Nachsinnen versunken, wie es auch in der Tat der Fall war. Er dachte unaufhörlich darüber nach, was er wohl tun solle, wenn sie, was unfehlbar bald geschehen mußte, umkehrten, und dann von Angesicht zu Angesicht vor ihn träten.

Aber obgleich er zu blöde war, sich ihnen anzuschließen, so konnte er es doch nicht über sich gewinnen, sie aus den Augen zu lassen. Wenn sie daher schneller gingen, so ging auch er schneller, schlenderten sie langsam, so schlenderte er auch, und blieben sie stehen, so blieb er ebenfalls stehen. So würden sie es vielleicht bis zum Einbruch der Nacht getrieben haben, hätte nicht Kätchen schelmisch zurückgeblickt und Nathaniel aufmunternd zugewinkt, daß er näher kommen sollte. Kätchen hatte etwas schlechterdings Unwiderstehliches in ihrem Wesen, und so folgte Nathaniel Pipkin der Einladung.

Nach vielem Erröten von seiner Seite und einem unmäßigen Gekicher seitens der gottlosen kleine Base ließ sich Nathaniel Pipkin auf dem betauten Grase auf seine Knie nieder und erklärte, daß er fest entschlossen sei, hier auf immer zu bleiben, wenn man ihm nicht erlaube, als der angenommene Liebhaber der Maria Lobbs aufzustehen. Jetzt drang das lustige Gelächter der Maria Lobbs durch die ruhige Nachtluft – ohne jedoch dieselbe, wie es schien, zu beunruhigen, denn es klang so überaus lieblich – und das gottlose kleine Bäschen kicherte noch unmäßiger als zuvor, und Nathaniel Pipkin errötete tiefer als je.

Endlich, als Maria Lobbs von dem liebekranken kleinen Manne immer heftiger bestürmt wurde, wandte sie ihr Haupt ab und flüsterte ihrer Base zu, sie solle sagen (oder Kätchen tat wenigstens, als hätte sie so gesagt), daß sie sich durch Herrn Pipkins Bewerbung hochgeehrt fühle; freilich habe ihr Vater über ihre Hand und ihr Herz zu verfügen, aber gegen Herrn Pipkins Verdienst könne niemand unempfindlich sein. Da das alles mit großer Ernsthaftigkeit gesagt wurde, und da Nathaniel Pipkin mit Maria Lobbs nach Hause ging und ihr beim Abschied beinahe einen Kuß geraubt hätte, so legte er sich als glücklicher Mann zu Bett und träumte die ganze Nacht davon, wie der alte Lobb erweicht, die große Truhe geöffnet und Maria heimgeführt wurde.

Am andern Tag sah Nathaniel Pipkin den alten Lobbs auf seinem alten grauen Klepper ausreiten. Nachdem die gottlose kleine Base am Fenster eine Menge Zeichen gemacht hatte, deren Gegenstand und Bedeutung er keineswegs verstehen konnte, sprang der knöcherne Lehrjunge mit den dünnen Beinen zu ihm herüber und sagte ihm, sein Herr werde die ganze Nacht nicht nach Hause kommen, und die Damen erwarten Herrn Pipkin Schlag sechs Uhr zum Tee. Wie an diesem Tage Schule gehalten wurde, wußte weder Nathaniel Pipkin noch seine Zöglinge. Aber auch diese Stunden gingen einmal vorüber, und als die Jungen heimgegangen waren, wandte Nathanicl Pipkin alle übrige Zeit bis sechs Uhr dazu an, sich zu seiner Zufriedenheit anzukleiden. Nicht als ob er sich lange hätte besinnen müssen, welchen Anzug er an diesem Tage tragen solle, da ihm hierin überhaupt keine Wahl zustand, aber die unendlich wichtige und schwierige Aufgabe war, seinen Anzug so anzuziehen, daß er darin aufs Vorteilhafteste erscheinen mußte.

Es war eine allerliebste kleine Gesellschaft zusammen, bestehend aus Maria Lobbs, ihrer Base Kätchen und drei oder vier mutwilligen, muntern, rosenwangigen Mädchen. Nathaniel Pipkin überzeugte sich durch den Augenschein, daß die Gerüchte von den Schätzen des alten Lobbs nicht übertrieben waren. Die Teekanne, der Milchtopf und die Zuckerbüchse, alles von echtem Silber, standen wirklich auf dem Tisch, ebenso echt silberne Löffelchen, um den Tee umzurühren, desgleichen echte Porzellantassen, um daraus zu trinken, und echte Porzellanplatten, worauf die Kuchen und Weißbrotschnitten lagen. Das einzige Unangenehme im ganzen Hause war ein Vetter von Maria Lobbs, ein Bruder von Kätchen, den Maria Lobbs ›Heinrich‹ nannte, und der Maria Lobbs an der einen Seite des Tisches für sich allein in Beschlag genommen zu haben schien. Es ist ja gewiß etwas Herrliches, bei Familien Zuneigung und Liebe zu erblicken, aber man muß nichts übertreiben. Nathaniel Pipkin konnte sich des Gedankens nicht erwehren, daß Maria Lobbs eine ganz besondere Zärtlichkeit für ihre Verwandten hegen müsse, wenn sie ihnen allen so viele Aufmerksamkeit schenke, wie diesem Vetter. Nach dem Tee, als die gottlose kleine Base das Blindekuhspiel vorschlug, geschah es auf die eine oder andere Art, daß Nathaniel Pipkin fast immer der Blinde war, und wenn er einmal den Vetter anrührte, so mußte er gewiß auch bemerken, daß Maria Lobbs ganz in der Nähe war. Und obgleich die gottlose kleine Muhme und die andern Mädchen ihn zwickten, bei den Haaren zupften, ihm Stühle in den Weg stellten und manche Possen spielten, so schien doch Maria Lobbs niemals ihm nahe zu kommen, und einmal – einmal hätte Nathaniel Pipkin darauf schwören können, er vernehme den Schall eines Kusses, gefolgt von einem leisen Schmälen der Maria Lobbs und einem halb unterdrückten Kichern ihrer Freundinnen. Alles das war sonderbar – sehr sonderbar, und man kann nicht sagen, was Nathaniel Pipkin deswegen getan oder nicht getan haben würde, wenn seine Gedanken nicht plötzlich in einen neuen Kanal abgeleitet worden wären.

Was seinen Gedanken die neue Richtung gab, war ein neues Klopfen an der Haustür, und die Person, die so laut an der Haustür klopfte, war niemand anders, als der alte Lobbs selbst, der unerwartet zurückgekehrt war und wie ein Sargtischler darauf loshämmerte, denn es verlangte ihn nach dem Abendessen. Diese schreckliche Kunde war nicht so bald von dem knöchernen Lehrjungen mit den dünnen Beinen überbracht worden, als die Mädchen schnell die Treppe hinauf in Maria Lobbs Schlafzimmer huschten. Der Vetter aber und Nathaniel Pipkin wurden in Ermangelung besserer Schlupfwinkel in ein paar Wandschränke gesteckt. Nachdem Maria Lobbs und die gottlose kleine Base alles auf die Seite geschafft und im Zimmer aufgeräumt hatten, öffneten sie die Haustür dem alten Lobbs, der andauernd gehämmert hatte.

Unglücklicherweise war der alte Lobbs wie gewöhnlich, wenn er großen Hunger verspürte, abscheulich schlechter Laune. Nathaniel Pipkin konnte ihn deutlich knurren hören, wie einen alten Hofhund mit heiserer Kehle, und so oft der unglückliche Lehrjunge mit den dünnen Beinen ins Zimmer kam, so begann der alte Lobbs ganz türkisch zu fluchen und zu donnern; dabei natürlich aus keinem andern Grunde, als um seine Brust von der Last überflüssiger Flüche zu befreien. Endlich wurde das Abendessen, das man aufgewärmt hatte, auf den Tisch gestellt, und nun griff der alte Lobbs wie ein hungriger Wolf zu: nachdem er sodann in möglichster Bälde aufgeräumt hatte, küßte er die Tochter und verlangte seine Pfeife.

Die Natur hatte Nathaniel Pipkins Knie nicht sehr nahe zusammengestellt: als er aber den alten Lobbs nach seiner Pfeife verlangen hörte, da schlugen sie gegeneinander, als ob sie sich zu Pulver reiben wollten, denn in dem nämlichen Schrank, in dem er sich befand, hing an ein paar Nägeln die Pfeife mit dem großen, silberbeschlagenen, braungerauchten Kopfe, die er seit den letzten fünf Jahren regelmäßig jeden Nachmittag und Abend im Munde des alten Lobbs gesehen hatte. Die beiden Mädchen sprangen dieser Pfeife wegen treppauf und treppab. Sie suchten nach ihr überall, nur nicht da, wo sie, wie ihnen sehr wohl bewußt, zu finden war. Der alte Lobbs aber tobte inzwischen ganz schrecklich. Endlich fiel ihm der Schrank ein, und er ging auf ihn zu. Ein kleiner Mann, wie Nathaniel Pipkin, konnte nicht mit Erfolg die Tür innen festhalten, wenn ein großer, starker Mann, wie der alte Lobbs, sie nach außen riß. Der alte Lobbs tat nur einen Ruck: sie flog auf und enthüllte Nathaniel Pipkin, der aufrecht darin stand und vom Kopf bis zu den Füßen zitterte. Lieber Himmel, mit welchem schrecklichen Blick der alte Lobbs ihn ansah, ihn beim Kragen herausriß und auf Armlänge vor sich hinhielt!

»Wie zum Teufel kommt Ihr da hinein?« schrie der alte Lobbs mit furchtbarer Stimme.

Da Nathaniel Pipkin keine Antwort zu geben vermochte, so schüttelte ihn der alte Lobbs zwei oder drei Minuten lang hin und her, um ihm seine Gedanken in Ordnung zu bringen.

»Was macht Ihr hier?« brüllte Lobbs von neuem; »ich glaube beinahe, Ihr seid meiner Tochter wegen gekommen?«

Der alte Lobbs sagte dies nur zum Hohn, denn er glaubte nicht, daß menschliche Frechheit so weit gehen könnte, um Nathaniel Pipkin zu einem solchen Schritte zu verführen. Wie groß war sein Zorn, als das arme Männlein erwiderte:

»Ja, Herr Lobbs, das bin ich – ich bin Ihrer Tochter wegen gekommen. Ich liebe sie, Herr Lobbs.«

»Wie, Ihr triefnäsiger, schiefmäuliger kleiner Knirps!« keuchte der alte Lobbs, bei diesem verwegenen Geständnis wie vom Donner gerührt. »Was soll das bedeuten? Ihr könnt mir so etwas ins Gesicht sagen? Hol' mich der Teufel, wenn ich Euch nicht den Hals umdrehe.«

Es ist keineswegs unwahrscheinlich, daß der alte Lobbs in seiner grenzenlosen Wut diese Drohung ausgeführt hätte, wäre sein Arm nicht durch eine neue höchst unerwartete Erscheinung gelähmt worden, nämlich durch den Vetter, der aus seinem Schrank hervortrat, auf den alten Lobbs zuging und sagte:

»Ich kann nicht zugeben, Sir, daß dieser harmlose Mensch, den die Mädchen zum Spaß eingeladen haben, so edelmütig das Verbrechen (wenn es nämlich ein Verbrechen ist) auf sich nimmt, dessen ich selbst schuldig bin und das ich jetzt bekennen will. Ich liebe Eure Tochter, Sir, und ich bin hierher gekommen, um sie zu sehen.«

Der alte Lobbs riß seine Augen weit auf, aber nicht weiter, als Nathaniel Pipkin.

»Du?« fragte Lobbs, als er endlich wieder zu Atem gekommen war.

»Ja, ich.«

»Aber ich habe dir doch schon lange mein Haus verboten.«

»Allerdings, sonst würde ich nicht verstohlen bei Nacht gekommen sein.«

Es tut mir leid, von dem alten Lobbs sagen zu müssen, daß er den Vetter wahrscheinlich zu Boden geschlagen hätte, wäre nicht seine hübsche Tochter mit ihren glänzenden, in Tränen schwimmenden Augen fest an seinem Arme gehangen.

»Wehre ihm nicht, Marie«, sagte der junge Mann; »wenn er mich schlagen will, so laß ihn. Ich möchte um alle Reichtümer der Welt kein Haar seines grauen Alters verletzen.«

Bei diesem Vorwurf senkte der Alte die Augen und sie begegneten denen seiner Tochter.

Ich habe bereits ein- oder zweimal gesagt, daß es sehr glänzende Augen waren, und obgleich sie jetzt voll Tränen standen, so wurde doch ihre Macht dadurch keineswegs geschwächt. Der alte Lobbs blickte weg, als wolle er verhüten, sich von ihr überreden zu lassen. Aber der Zufall fügte es, daß seine Blicke dem Gesicht der gottlosen kleinen Base begegneten, die halb für ihren Bruder zitternd, halb über Nathaniel Pipkin lachend, so schelmisch und bezaubernd aussah, daß kein Mann, weder alt noch jung, sie ungestraft anschauen konnte. Sie schob schmeichelnd ihren Arm in den des Alten, flüsterte ihm etwas ins Ohr, und der alte Lobbs mochte machen, was er wollte, er mußte lächeln, während ihm zu gleicher Zeit eine Träne die Wange hinabrollte.

Nach fünf Minuten wurden auch die Mädchen aus dem Schlafzimmer herabgeholt und erschienen mit mädchenhaftem Gekicher. Während nun das junge Volk wieder ganz lustig wurde, nahm der alte Lobbs die Pfeife, zündete sie an und, komisch – daß gerade diese Pfeife Tabak die lieblichste und angenehmste war, die er jemals geraucht hatte.

Nathaniel Pipkins hielt es fürs beste, sein Geheimnis für sich zu behalten, und stieg dadurch bei dem alten Lobbs, der ihn mit der Zeit das Rauchen lehrte, zu hoher Gunst empor. So saßen sie denn noch manches Jährlein an schönen Abenden draußen im Garten und schmauchten und tranken mit vielem Behagen. Nathaniel Pipkin erholte sich bald von den Wirkungen seiner Liebe, denn wir finden im Kirchenbuche seinen Namen als Zeugen bei der Hochzeit der Maria Lobbs mit ihrem Vetter. Auch geht aus anderen Urkunden hervor, daß er in der Hochzeitnacht in das Gefängnis des Dorfes gesperrt wurde, weil er in einem Zustand gänzlicher Trunkenheit allerlei Exzesse auf den Straßen begangen, wobei der knöcherne Lehrling mit den dünnen Beinen ihm treulich Beistand geleistet hatte.

 


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