Charles Dickens
Denkwürdigkeiten des Pickwick-Klubs. Erster Teil
Charles Dickens

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Elftes Kapitel.

Klärt alle etwa vorhandenen Zweifel über Herrn Jingles Uneigennützigkeit auf.

In London gibt es verschiedene alte Wirtshäuser, die in einer Zeit, wo die Postkutschen ihre Fahrten in einer ernsteren und feierlicheren Weise als heutzutage zurücklegten, die Hauptquatiere der berühmtesten Postwagen waren, obgleich sie jetzt zu wenig mehr, als zu Warte- und Einschreiblokalen für Frachtfuhrleute heruntergesunken sind. Der Leser würde sich umsonst unter den Goldenen Kreuzen, Ochsen und Löwen, die in Londons verbesserten Straßen die Gasthöfe zieren, nach einem dieser alten Hotels umsehen, sondern müßte dazu seinen Schritt nach den obskureren Stadtteilen richten, wo er hin und wieder eines in einen düstern Winkel gedrückt antreffen könnte. Da bietet es mit einer Art finsterer Störrigkeit der Verschönerung der Umgebung Trotz.

In dem BoroughBoroughs (deutsch mit unserm »Burg« identisch) waren in alter angelsächsischer Zeit feste Verteidigungsplätze; später bedeuteten sie Ortschaften mit dem Recht einer Gemeinde. stehen noch ungefähr ein halb Dutzend solcher Häuser, die ihre äußere Form unverändert beibehalten haben und ebenso gut der modernen Verschönerungssucht, als den Eingriffen des Spekulationsgeistes entgangen sind. Es sind große, geräumige, wunderliche alte Gebäude mit Galerien, Hausfluren und Treppen, weit und altväterisch genug, um Stoff zu hundert Gespenstergeschichten zu liefern, falls wir je in die traurige Notwendigkeit versetzt werden sollten, solche zu erfinden. Ja, es würde bis an der Zeiten Ende währen, wollte man die unzähligen und wahrhaftigen Legenden erschöpfen, die sich an die alte Londoner Brücke und ihre nächste Nachbarschaft auf der Surreyseite knüpfen.

Auf dem Hofe eines dieser Wirtshäuser, das kein geringeres Schildzeichen, als das des weißen Hirschen führte, war an demselben Morgen, der Herrn Pickwicks und Herrn Wardles Unglücksnacht folgte, ein Mann emsig mit Bürsten eines schmutzigen Stiefelpaares beschäftigt. Er trug eine grobe, gestreifte Weste mit schwarzen Kalikoärmeln und blauen Glasknöpfen, braune Kniehosen und desgleichen Gamaschen. Ein hellrotes Taschentuch war lose und ungezwungen um seinen Hals geknüpft, und ein alter weißer Hut saß nachlässig auf dem einen Ohr. Er hatte zwei Reihen Stiefel – die eine gereinigt, die andere noch schmutzig – vor sich, und bei jedem Zuwachs der gewichsten Reihe hielt er einen Augenblick inne, um das Ergebnis seiner Tätigkeit mit Behagen zu überschauen.

Im Hof zeigte sich nichts von dem rührigen, lärmenden Treiben, das die charakteristische Eigenschaft eines von vielen Fuhrwerken besuchten Gasthauses ist. Drei oder vier schwerfällige Frachtwagen waren bis an die Decke des die Hofmauer von einer Seite überragenden leichten Daches beladen und reichten wohl bis zu den Fenstern des zweiten Stocks eines gewöhnlichen Hauses. Sie standen ruhig unter ihren Schuppen, während ein weiterer Wagen, der wahrscheinlich an diesem Morgen abfahren wollte, in den freien Raum hinausgezogen war. Eine doppelte Reihe von Galerien mit plumpen alten Geländern führte zu den Schlafzimmern und lief in der ganzen inneren Seite des Hauses herum. Eine gleichfalls doppelte Reihe von Klingeln, die mit den Schlafzimmern in Verbindung standen, hingen, durch einen kleinen Dachvorsprung gegen den Regen geschützt, über der Tür der Gaststube. Zwei oder drei Zweiradwagen und Kutschen hatten in den Schuppen ihr Unterkommen gefunden. Nur der schwere Huftritt eines Fuhrmannsgauls oder das Klirren einer Kette an dem hinteren Ende des Hofes verkündete hin und wieder einem Neugierigen, daß in jener Richtung der Stall läge. Fügen wir noch bei, daß einige Jungen in leinenen Kitteln auf dem schweren Gepäck, den Wollsäcken und andern Artikeln, die auf den Strohhaufen umherlagen, schliefen, so haben wir den Hof des Weißen Hirschen, High Street, Borough, wie er sich an diesem Morgen darstellte, so ausführlich wie möglich beschrieben.

Auf lautes Klingeln zeigte sich in der oberen Schlafzimmergalerie ein dralles Dienstmädchen, das an die Tür pochte, von innen einen Auftrag erhielt und über das Geländer rief:

»Sam!«

»Was ist?« versetzte der Mann mit dem weißen Hut.

»Nummer Zweiundzwanzig will seine Stiefel.«

»Frage Nummer Zweiundzwanzig, ob er sie gleich jetzt haben, oder ob er warten will, bis er sie kriegt«, war die Antwort.

»Ach, sei kein Narr, Sam«, entgegnete das Mädchen begütigend: »der Herr will die Stiefel jetzt.«

»Wenn ich auch ein Narr bin, mein Jüngferchen, so tanze ich doch nicht nach deiner Pfeife«, sagte der Stiefelputzer. »Sieh mal diese Stiefel an – elf Paar und ein Schuh, der der stelzbeinigen Nummer Sechs gehört. Die elf Paar Stiefel sind bis halb neun und der Schuh bis neun Uhr bestellt. Wer ist Nummer zweiundzwanzig, daß er vor den andern etwas voraus haben will? Nein, nein: 's muß alles der Reihe nach gehen, wie Henkersmeister Knüpfauf sagt, wenn er einen heißen Arbeitstag hat. Tut mir leid, Sir, daß Sie warten müssen: die Reihe wird aber bald an Sie kommen.«

Mit diesen Worten nahm der Mann mit dem weißen Hut wieder seine Arbeit auf und bürstete auf einen Stulpenstiefel mit erneuter Wucht los.

Abermals Klingeln, und die geschäftige alte Wirtin im Weißen Hirsch erschien auf der entgegengesetzten Galerie.

»Sam!« rief die Wirtin. »Wo ist der faule Schlingel – Sam! Da seid Ihr ja! Warum gebt Ihr keine Antwort?«

»Wäre nicht höflich, zu antworten, ehe Sie gesprochen haben«, entgegnete Sam grämlich.

»Da; putze geschwind diese Schuhe für Nummer Siebzehn und bring sie dann in das Zimmer Nummer Fünf im ersten Stock.«

Die Wirtin warf ein Paar Schuhe in den Hof und ging weiter.

»Nummer Fünf«, sagte Sam, als er die Schuhe aufhob, eln Stück Kreide aus seiner Tasche langte und das Merkzeichen ihrer Bestimmung auf die Sohlen schrieb. »Damenschuhe und ein Extrazimmer. Denke mir, die ist nicht mit dem Botenwagen angekommen.«

»Sie kam erst diesen Morgen«, rief das Mädchen, die noch immer auf dem Galeriegeländer lehnte, »mit einem Herrn in einer Mietkutsche, demselben, der jetzt seine Stiefel will. Mach doch rasch; weiter hast du nichts mit der Sache zu schaffen.«

»Warum sagtest du mir das nicht gleich?« versetzte Sam unwillig, indem er die fraglichen Stiefel aus dem übrigen Haufen herauslangte. »Konnte ich's riechen, daß sie einem andern, als einem der gewöhnlichen Dreipfennigfuchser gehörten? Eigenes Zimmer und dazu eine Dame! Wenn er so etwas von einem hohen Tier ist, so trägt er doch des Tags einen Schilling ein, die sonstigen Aufträge abgerechnet.«

Angespornt durch diese begeisternde Aussicht bürstete Master Samuel so emsig drauf los, daß in ein paar Minuten Stiefel und Schuhe in einem Glanze dastanden, sogar das Herz des liebenswürdigen Herrn Warren mit Neid zu erfüllen (denn für den Weißen Hirsch lieferten Day und Martin den Wichsebedarf). Darauf verfügte sich der Stiefelputzer mit den Prachtproben seiner Kunst an die Tür von Nummer Fünf.

»Herein!« rief eine männliche Stimme auf Sams Klopfen.

Sam machte seinen besten Kratzfuß, als er einen Herrn und eine Dame beim Frühstück sitzen sah. Nachdem er diensteifrig die Stiefel des Herrn rechts und links, und die Schuhe der Dame rechts und links zu ihren Füßen niedergelegt hatte, zog er sich wieder zurück.

»Hausknecht!« sagte der Herr.

»Sir«, versetzte Sam, die Tür wieder schließend, während er die Hand auf der Klinke ruhen ließ.

»Wißt Ihr – nun, wie heißt's doch gleich – Doktor Commons?«

»Ja, Sir.«

»Wo ist es?«

»Pauls Kirchhof, Sir; niederer Bogengang nach der Straße zu, ein Buchladen an der einen, ein Gasthof an der andern Seite, und in der Mitte zwei Türsteher als LizenzagentenAgenten, die Heiratserlaubnis besorgten und zugleich den Heiratsvermittler spielten.«

»Lizenzagenten?« fragte der Herr.

»Lizenzagenten«, wiederholte Sam. »Zwei Kerle mit weißen Schürzen – greifen nach dem Hut, wenn man durchgeht – ›Lizenz, Sir, Lizenz?‹ Kurioser Leuteschlag – und ihre Herren auch – Anwälte von Old Bailey, Sir – fehlt nicht.«

»Und was wollen sie denn?«, fragte der Herr.

»Was sie wollen? Sie, Sir! Und das wäre erst noch nicht das schlimmste. Sie setzen allen Herren Dinge in den Kopf, von denen sie sich in ihrem Leben noch nichts träumen ließen. Mein Vater, Sir, ist ein Kutscher – war Witwer – ein dicker Mann – ungemein stark. Als seine Frau starb, hinterließ sie ihm vierhundert Pfund.

Er geht zu den Commons, den Anwalt aufzusuchen und das Geld einzustreichen – putzt sich heraus – Stulpenstiefel an – einen Strauß ins Knopfloch – breitkrempigen Hut auf – grünes Halstuch um – ganz wie so'n Kavalier. Geht durch den Bogengang, denkt an nichts, als wie er sein Geld anlegen will – kommt ein Agent auf ihn zu, langt an den Hut – ›Lizenz, Sir, Lizenz?‹ – ›Was ist das für ein Ding?‹ fragte mein Vater. – ›Lizenz, Sir!‹ – ›Nun, was soll's mit der Lizenz da?‹ sagt mein Vater. – ›Heiratslizenz›, versetzte der Agent. – ›Hol' mich der Henker, wenn mir so was einfällt‹, sagt mein Vater. – ›Ich denken, Sie könnten eine brauchen‹ – sagt der Agent. Mein Vater macht halt und besinnt sich ein bißchen. – ›Nein‹, sagt er, ›geht zum Kuckuck, ich bin zu alt und noch obendrein zu dick dazu.‹ – ›Nicht im geringsten, Sir‹, sagt der Agent. – ›Das wäre der Teufel‹, sagt mein Vater. – ›Können sich darauf verlassen‹, sagt der Agent: ›wir haben erst letzten Montag einen Herrn verheiratet, der zweimal so dick war wie Sie.‹ – ›Wie – ist das wirklich wahr?‹ sagte mein Vater. – ›Ganz bestimmt‹, sagte der Agent: ›Sie sind ein Schneider gegen ihn – hier herein, Sir, hier herein!‹

Und mein Vater läuft ihm richtig nach, wie ein zahmer Affe einem Leierkasten, in eine kleine Schreibstube, wo ein Kerl hinter besudeltem Papier und blechernen Kapseln sitzt und gewaltig beschäftigt tut. ›Bitte, nehmen Sie Platz, während ich die Urkunde ausfertige, Sir‹, sagt der Advokat. ›Danke, Sir‹, sagt mein Vater, setzt sich, reißt Mund und Augen auf und glotzt die Namen an den Kapseln an. – ›Wie ist Ihr Name?‹ fragte der Advokat. ›Tony Weller‹, sagt mein Vater. – ›Kirchspiel?‹ sagt der Advokat. – ›Belle Savage‹, sagt mein Vater; denn da pflegte er sein Fuhrwerk einzustellen. Was man mit einem Kirchspiel wollte, wußte er nicht. – ›Der Name des Frauenzimmers?‹ sagte der Advokat. Mein Vater ist wie aus den Wolken gefallen. ›Hol mich der Henker, wenn ich's weiß‹, sagt er. – ›Wie, Sie wissen's nicht?‹ sagt der Anwalt. ›So wenig wie Sie‹, sagt mein Vater: ›kann man ihn nicht nachher hineinschreiben?‹ – ›Unmöglich‹, sagt der Anwalt. – ›Auch recht‹, sagt mein Vater: ›so schreiben Sie Frau Clarke.‹ – ›Was weiter?‹, sagt der Advokat und tunkt seine Feder in die Tinte. – ›Susanna Clarke im Marquis von Granby zu Dorting‹, sagt mein Vater: ›sie wird mich nehmen, wenn ich sie darum angehe – Hab' zwar noch nichts davon zu ihr gesagt: aber ich weiß, sie nimmt mich.‹ Die Lizenz wird ausgestellt und sie nimmt ihn – und was noch mehr ist, sie hat ihn jetzt, und ich habe von den vierhundert Pfund nicht ein einziges zu sehen gekriegt. Doch bitte um Verzeihung, Sir«, fügte Sam zum Schlusse bei; »aber wenn ich auf diese verdrießliche Geschichte komme, so geht's bei mir fort wie bei einem frischgeschmierten Karren.«

Sam harrte noch einen Augenblick, ob nichts weiteres gewünscht werde, und verließ, als das nicht der Fall war, das Zimmer.

»Halb zehn – gerade die rechte Zeit – brechen wir auf«, sagte der Gentleman, den wir dem Leser wohl kaum als Herrn Jingle vorzustellen brauchen.

»Zeit – wofür?« fragte die Jungfer Tante kokettierend.

»Lizenz, teuerster Engel – Meldung an den Geistlichen – Sie die Meinige nennen – morgen –« versetzte Herr Jingle, indem er der Jungfer Tante die Hand druckte.

»Die Lizenz?« sagte Rachel errötend.

»Die Lizenz«, wiederholte Herr Jingle. –

»Hopphopp – geschwinde die Lizenz,
Hopphopp – geschwind zurücke.«

»So eilen Sie doch nicht so«, sagte Fräulein Rachel.

»Eilen? – Stunden – Tage – Wochen – Monate – Jahre sind nichts, wenn wir vereinigt sind – können kommen dann – mit Wagen – Eisenbahn – tausend Pferdekräfte – ficht uns nimmer an.«

»Könnte – könnte unsere Trauung nicht heute noch vollzogen werden?« fragte Rachel.

»Unmöglich – kann nicht sein – Meldung an den Geistlichen – Lizenz heute – Trauung morgen.«

»Ich fürchte nur, mein Bruder könnte uns finden«, sagte Rachel.

»Finden? Pah – zu sehr durchgeschüttelt vom Wagensturz – zudem – außerordentliche Vorsicht – Postkutsche aufgegeben – zu Fuß gegangen – Mietkutsche genommen – in Borough Quartier gemacht – letzter Platz in der Welt, wo gesucht wird – ha! ha! – kapitaler Einfall das – wahrhaftig.«

»Aber bleiben Sie nicht lange aus«, sagte die alte Jungfer zärtlich, als Herr Jingle den zerknüllten Hut auf seinen Kopf pflanzte.

»Lange entfernt bleiben von Ihnen? – Grausame Zauberin!«

Und Herr Jingle hüpfte scherzhaft auf die alte Jungfer zu, drückte einen keuschen Kuß auf ihre Lippen und tänzelte aus dem Zimmer.

»Der liebe Mann!« rief Fräulein Rachel, als sich die Tür hinter ihm schloß.

»Verwünschte alte Schachtel!« sagte Herr Jingle, als er den Hausflur erreichte.

Es ist eine schmerzliche Aufgabe, Betrachtungen über die Treulosigkeit des menschlichen Geschlechts anzustellen. Wir unterlassen es daher, den Faden von Herrn Jingles Gedanken weiter zu verfolgen, die ihn auf seinem Wege zu Doktor Commons beschäftigten. Es reicht für den Zweck unserer Erzählung hin, wenn wir melden, daß unser Ehrenmann glücklich den Schlingen der beiden Drachen mit den weißen Schürzen, die den Eingang dieses Zauberschlosses hüteten, entging und wohlbehalten in dem Bureau des Generalvikars anlangte. Dort wurde ihm im Namen des Erzbischofs von Canterbury ein höchst schmeichelhaftes Dokument mit der Aufschrift: »Dem lieben und getreuen Alfred Jingle und der lieben getreuen Rachel Wardle unsern Gruß«, ausgefertigt. Er steckte das geheimnisvolle Pergament sorgfältig in seine Tasche und kehrte triumphierend nach Borough zurück.

Er war noch nicht in seinem Quartier angelangt, als drei Herren – zwei wohlbeleibte und ein magerer – in den Hof des Weißen Hirschen traten und sich daselbst umsahen, als suchten sie jemand, an den sie einige Fragen stellen konnten. Master Samuel Weller war gerade beschäftigt, ein Paar Stulpen, das Eigentum eines Pächters, der sich eben nach den Mühseligkeiten des Boroughmarktes bei einem kleinen LunchMahlzeit zwischen dem Frühstück und dem in England spät in den Nachmittag fallenden Mittagessen. an etlichen Pfunden kalten Rindfleisches und einigen Kannen Bier erlabte, blank zu reiben, als der magere Herr auf ihn zuging.

»Mein Freund«, begann der magere Herr.

»Das ist auch einer, der umsonst etwas will«, dachte Sam; »sonst würde er mich nicht seinen Freund nennen. – Was steht zu Diensten, Sir?« sagte er laut.

»Mein Freund«, versetzte der magere Herr mit einleitendem Räuspern – »logieren gegenwärtig viele Leute im Hause? Sehr geschäftig, wie ich sehe.«

Sam warf einen verstohlenen Blick auf den Frager. Es war ein kleiner, ausgetrockneter Mann mit einem dunklen, runzligen Gesicht und kleinen, unruhigen schwarzen Augen, die zu jeder Seite der kleinen inquisitorischen Nase hervorblinzelten, als ob sie fortwährend mit diesem Teile seines Antlitzes Verstecken spielten. Er war ganz in Schwarz gekleidet und trug Stiefel, so glänzend wie seine Augen, eine schmale, weiße Halsbinde und ein feines Hemd mit einem Brusteinsatz. Eine goldene Uhrkette mit Petschaften hing an seiner Weste, und in den Händen, die er beim Sprechen mit der Miene eines geübten Examinators unter die Frackschöße steckte, hielt er ein Paar schwarze Lederhandschuhe.

»Viel zu tun, wie ich sehe?« sagte der kleine Mann.

»O, 's geht an, Sir«, versetzte Sam. »Wir machen nicht Bankrott, werden aber auch nicht reich. Wir essen unsern Schöpsenbraten ohne Kapern und kümmern uns wenig um Meerrettich, wenn wir Ochsenfleisch kriegen können.«

»Ah«, sagte der kleine Mann, »Ihr seid ein Durchtriebener, wie ich merke – nicht wahr?«

»Mein ältester Bruder war mit dieser Krankheit geplagt«, entgegnete Sam. »Vielleicht habe ich auch etwas davon aufgefangen, da wir miteinander in einem Bette zu schlafen pflegten.«

»Das ist ein wunderliches, altes Haus«, sagte der kleine Mann, sich umsehend.

»Hätten Sie uns nur durch ein Wort zu wissen getan, daß Sie kommen wollten, so würden wir es haben ausbessern lassen«, versetzte der unerschütterliche Sam.

Der kleine Mann schien etwas verblüfft über diese ausweichenden Antworten, und er besprach sich nun mit den beiden beleibten Herren. Dann holte sich der kleine Mann eine Prise Schnupftabak aus einer silbernen Dose und war augenscheinlich im Begriff, seine Fragen wieder aufzunehmen, als ihm einer der beleibten Herren, der in einem gutmütigen Gesicht eine Brille hatte und ein Paar schwarze Gamaschen trug, zuvor kam.

»Es handelt sich nämlich darum«, sagte der Herr mit dem gutmütigen Gesichte, »daß mein Freund hier (er deutete dabei auf den andern beleibten Herrn) Euch einen halben Goldfuchs geben will, wenn Ihr auf zwei oder drei Fragen genü –«

»Ei, mein lieber Herr – mein lieber Herr«, unterbrach ihn der kleine Mann: »ich bitte, erlauben Sie mir, mein lieber Herr. Der erste Grundsatz in der Behandlung solcher Fälle besteht darin, daß man sich in keiner Weise darein mengt, wenn man die Sache einmal einem Geschäftsmann übertragen hat, da dieser mit Recht unbedingtes Vertrauen verlangen kann. In der Tat, Herr –« er wandte sich an den andern beleibten Gentleman und fügte bei, »– ich habe den Namen Ihres Freundes vergessen.«

»Pickwick«, sagte Herr Wardle, denn es war kein anderer als dieser Ehrenmann.

»Ah, Pickwick: richtig, Herr Pickwick. Mein lieber Herr, entschuldigen Sie – ich werde mich glücklich schätzen, Ihre Privatansichten als die eines Freundes des Hauses entgegenzunehmen. Aber Sie müssen einsehen, wie wenig sich die Einmengung eines derartigen Arguments, einer goldenen Schmeichelei, wie sie das Anbieten einer halben Guinee ist, mit meinen Grundsätzen verträgt. Gewiß, lieber Herr, gewiß!«

Und der kleine Mann nahm eine beweisende Prise Tabak, wozu er das Gesicht in ungemein gelehrte Falten legte.

»Ich wollte weiter nichts«, sagte Herr Pickwick, »als die höchst mißliebige Angelegenheit zu einem möglichst schleunigen Ende bringen.«

»Ganz recht – ganz recht«, sagte der kleine Mann.

»In dieser Absicht«, fuhr Herr Pickwick fort, »machte ich Gebrauch von einem Argumente, das mir meine Erfahrung als das förderlichste für alle Fälle bezeichnet.«

»Ja, ja«, sagte der kleine Mann: »sehr gut, sehr gut – in der Tat. Aber Sie hätten mir das mitteilen sollen. Ich bin überzeugt, mein lieber Herr, daß Sie über den Umfang des Vertrauens, den ein Geschäftsmann zu beanspruchen hat, nicht im Unklaren sein können. Wenn über diesen Punkt eine Autorität nötig sein sollte, möchte ich Sie auf den wohlbekannten Fall von BarnwellAnspielung auf Lillos Schauspiel »Der Kaufmann von London«, in dem ein junger Kaufmann Georg Barnwell um eine Dirne zugrunde gerichtet war. Dieses Werk ist das Muster des bürgerlichen Trauerspiels geworden. Unter seinem Einfluß schrieb Lessing seine »Miß Sara Sampson«. und –«

»Was geht uns Georg Barnwell an«, fiel Sam ein, der diesem kurzen Zwiegespräch verwundert zugehört hatte. »Jedermann weiß, was das für ein Fall war, und es ist immer meine Ansicht gewesen, daß das junge Weibsbild den Strick eher verdiente als er. Doch das gehört nicht hierher. Sie wollen mich für einen halben Goldfuchs ausfragen. Gut, ich habe nichts dagegen – kann ich mehr tun, Sir? (Herr Pickwick lächelte.) Nun ist aber die zweite Frage, was zum Teufel Sie von mir wollen, wie der Mann sagte, als er den Geist sahAnspielung auf Shakespeares »Hamlet« – die Geister-Szene.«

»Wir wünschen zu wissen –« sagte Herr Wardle.

»Ei, mein lieber Herr – mein lieber Herr«, fiel der geschäftige kleine Mann ein.

Herr Wardle zuckte die Achseln und schwieg.

»Wir wünschen zu wissen«, sagte der kleine Mann feierlich, »und wir fragen deshalb gerade Euch, um im Hause keine Besorgnisse zu erregen – wir wünschen zu wissen, sage ich, wer gegenwärtig im Wirtshause logiert.«

»Wer im Hause logiert?« versetzte Sam, in dessen Geist sich die Bewohner stets in der Form des Artikels vergegenwärtigten, der seiner unmittelbaren Besorgung anheimgegeben war. »Da ist ein Stelzfuß in Nummer Sechs«, ein Paar hessische Stiefel in Nummer Dreizehn, zwei Paar Halbstiefel in dem Krämerstübchen, diese gelben Stulpen in dem Kämmerchen neben dem Schenktisch, und fünf weitere Stulpenstiefel in dem Gastzimmer.«

»Weiter nichts?« fragte der kleine Mann.

»Halt, einen Moment«, versetzte Sam, sich plötzlich entsinnend. »Ein Paar ziemlich abgetragene Wellingtonstiefel und ein Paar Damenschuhe in Nummer Fünf.«

»Was sind das für Schuhe?« fragte Wardle hastig, den Sams wunderliche Aufzählung der Wirtshausgäste ebensosehr, wie Herrn Pickwick verwirrt hatte.

»Machwerk aus der Provinz«, entgegnete Sam.

»Und der Name des Meisters?«

»Brown.«

»Woher?«

»Von Muggleton.«

»Sie sind's!« rief Herr Wardle. »Beim Himmel, wir haben sie gefunden.«

»Pst!« sagte Sam. »Die Wellingtonstiefel sind zu Doktors Commons gegangen.«

»Unerhört«, sagte der kleine Mann.

»Ja, er holt eine Lizenz.«

»Wir kommen gerade noch zur rechten Zeit«, rief Herr Wardle. »Zeigt uns das Zimmer: wir dürfen keinen Augenblick verlieren.«

»Bitte, lieber Herr – bitte«, sagte der kleine Mann: »nur vorsichtig – vorsichtig.«

Er zog aus seiner Tasche eine rotseidene Börse, sah Sam fest an und zog ein Goldstück heraus.

Sam verzog sein Gesicht zu einem ausdrucksvollen Grinsen.

»Führt uns rasch nach dem Zimmer, aber ohne uns anzumelden, und das Goldstück ist Euer«, sagte der kleine Mann.

Sam warf die gelben Stulpen in eine Ecke und ging durch einen dunklen Gang und ein weites Treppenhaus voran. Am Ende des zweiten Ganges hielt er inne und streckte seine Hand aus.

»Hier«, flüsterte der Sachwalter, als er das Geld in die Hand ihres Führers legte.

Sam trat noch einige Schritte weiter vor, wobei ihm die beiden Freunde und ihr rechtskundiger Ratgeber folgten: dann blieb er an einer Tür stehen.

»Ist dies das Zimmer?« fragte der kleine Herr leise.

Sam nickte bejahend.

Der alte Wardle öffnete die Tür, und alle drei traten in demselben Augenblick ins Zimmer, als Herr Jingle, der eben zurückgekehrt war, der Jungfer Tante die Lizenz vorlegte.

Die Jungfer Tante stieß einen lauten Schrei aus, warf sich in einen Sessel und bedeckte das Gesicht mit ihren Händen. Herr Jingle knüllte die Lizenz zusammen und steckte sie in seine Rocktasche. Die unwillkommenen Gäste traten in die Mitte des Zimmers.

»Ha – Sie elender – heilloser Schurke!« rief Herr Wardle, fast atemlos vor Zorn.

»Lieber Herr – lieber Herr«, sagte der kleine Mann, seinen Hut auf den Tisch legend. »Bitte, bedenken Sie doch – bitte. Großer Skandal, Ehrenkränkung, Entschädigungsklage. Beruhigen Sie sich, lieber Herr, bitte –«

»Wie konnten Sie sich unterstehen, meine Schwester aus meinem Hause zu entführen?« fragte der alte Mann.

»Ja – ja – sehr gut«, sagte der kleine Gentleman. »Das können Sie fragen. Wie konnten Sie sich unterstehen, Sir? – Antwort, Sir.«

»Wer zum Teufel sind denn Sie?« fragte Herr Jingle mit einer Heftigkeit, daß der kleine Herr unwillkürlich um einige Schritte zurücktrat.

»Wer er ist, Sie Halunke«, rief Herr Wardle dazwischen. »Mein Rechtsbeistand ist er – Herr Perker von Grans Inn. Perker, ich will, daß dieser Kerl gerichtlich verfolgt – zur Strafe gezogen wird – ja, ich will – ich will – Gott verdamme mich – ich will den Elenden zugrunde richten. Und du«, fuhr Herr Wardle, sich plötzlich an seine Schwester wendend, fort, du, Rachel, was soll das heißen, daß du in einem Alter, wo du doch einmal hättest klug werden sollen, mit einem Landstreicher davonläufst, Schande über deine Familie bringst und dich selber unglücklich machst? Setze deinen Hut auf und komm mit. Geschwind eine Mietkutsche, und bringt die Rechnung dieser Dame, hört Ihr – hört Ihr?«

»Sofort Sir«, versetzte Sam, der Herrn Wardles ungestümem Klingeln voll Eile Folge geleistet hatte. Jedem mußte das als ein Wunder erscheinen, der nicht gerade wußte, daß Ehren-Sam während des ganzen Vorgangs vor der Tür gestanden und durch das Schlüsselloch zugesehen hatte.

»Nimm deinen Hut«, wiederholte Wardle.

»Wird nichts gereicht«, sagte Jingle. »Das Zimmer verlassen, Sir – nichts zu schaffen hier – Dame ist frei – kann nach Gutdünken handeln – über einundzwanzig Jahre.«

»Über einundzwanzig?« rief Herr Wardle verächtlich. »Jawohl – über einundvierzig.«

»Das bin ich nicht«, sagte die Jungfer Tante, deren Entrüstung über den Entschluß, in Ohnmacht zu fallen, die Oberhand gewann.

»Allerdings«, versetzte Herr Wardle. »Es fehlt keine Stunde zu den Fünfzig.«

Hier stieß Jungfer Tante einen lauten Schrei des Entsetzens aus und sank besinnungslos zusammen.

»Ein Glas Wasser!« rief der menschenfreundliche Pickwick der Wirtin zu.

»Ein Glas Wasser?« sagte der leidenschaftliche Wardle. »Bringt einen Zuber und gießt ihn über sie. Es wird ihr gut bekommen, sie hat eine solche Abkühlung reichlich verdient.«

»Pfui – Sie Unmensch!« rief die empfindsame Wirtin, »Die arme Dame.«

Und mit noch einigen andern Ausrufen, als da waren: »Kommen Sie, meine Liebe – trinken Sie ein wenig – es wird Ihnen gut tun – nehmen Sie sich's nicht so zu Gemüt – das ist die Liebe« und dergleichen, benetzte die Wirtin, von ihrem Dienstmädchen unterstützt, die Schläfen der ohnmächtigen Jungfer Tante mit Essig, rieb ihr die Hände, kitzelte ihr die Nase, löste ihr Korsett und wandte die sonstigen üblichen Belebungsmittel an, mit denen mitleidige Frauen Damen beizuspringen pflegen, die sich bemühen, in Krämpfe und Ohnmacht zu fallen.

»Die Kutsche ist bereit, Sir«, sagte Sam, sich in der Tür zeigend.

»So kommt!« rief Herr Wardle. »Ich will sie die Treppe hinuntertragen.«

Bei diesem Vorschlage erneuerten sich die Krämpfe mit verdoppelter Heftigkeit.

Die Wirtin war eben im Begriff, einen sehr heftigen Protest gegen dieses Verfahren einzulegen, und hatte sich auch bereits durch die unwillige Frage, ob sich Herr Wardle für den Herrn der Schöpfung halte, Luft gemacht, als Herr Jingle sich ins Mittel legte.

»Hausknecht«, sagte er, »holt einen Polizeibeamten herbei.«

»Halt! halt!« sagte der kleine Herr Perker. »Überlegen Sie, Sir – überlegen Sie.«

»Ich will nichts überlegen«, versetzte Herr Jingle. »Sie ist ihr eigener Herr – will sehen, wer sich untersteht, sie fortzunehmen – gegen ihren Willen.«

»Ich will nicht fort«, flüsterte die Jungfer Tante; »mit meinem Willen gewiß nicht.«

Hier trat ein schrecklicher Rückfall ihres Zustandes ein.

»Meine lieben Herren«, sagte der kleine Mann leise, indem er Herrn Wardle und Herrn Pickwick beiseite nahm: »meine lieben Herren, wir sind da in einer verdrießlichen Lage. Es ist allerdings ein Unglück – gewiß; ein Unglück, wie mir nie eins vorgekommen. Aber in der Tat, meine lieben Herren, wir haben durchaus kein Recht, den freien Willen dieser Dame zu beschränken. Ich habe Sie im voraus darauf aufmerksam gemacht, lieber Herr, daß wir uns auf einen Vergleich gefaßt machen müßten.«

Es trat eine kurze Pause ein.

»Und welche Art von Vergleich würden Sie vorschlagen?« fragte Herr Pickwick.

»Je nun, lieber Herr, unser Freund ist in einer unangenehmen – in einer sehr unangenehmen Lage. Wir dürfen zufrieden sein, wenn wir mit einem Geldopfer davonkommen,«

»Ich will lieber alles über mich ergehen lassen, als diese Schmach geduldig hinnehmen und meine Schwester, so sehr sie es auch durch ihre Torheit verdient, einem lebenslänglichem Unglück preisgeben«, sagte Herr Wardle.

»Nun, ich denke fast, daß es gehen wird«, entgegnete der geschäftige kleine Mann. »Herr Jingle, wollen Sie einen Augenblick mit uns ins nächste Zimmer treten?«

Herr Jingle ließ sich's gefallen, und die vier begaben sich in ein leeres Zimmer.

»Nun, Sir«, sagte der kleine Mann, nachdem er sorgfältig die Tür geschlossen hatte, »es gibt da keinen andern Weg, die Angelegenheit zu bereinigen – treten Sie einen Augenblick hierher, Sir – hierher, ans Fenster, wo wir uns allein besprechen können, Sir – so, Sir – ich bitte, nehmen Sie Platz, Sir. Unter uns gesagt, lieber Herr, wir wissen, daß Sie mit dieser Dame nur um ihres Geldes willen davongegangen sind. Runzeln Sie nicht die Stirn, Sir – runzeln Sie nicht die Stirn: wir sprechen ja unter uns, und unter dem wir verstehe ich nur Sie und mich. Wir sind beide Weltmänner und wissen recht wohl, daß dies bei unsern Freunden dort nicht der Fall ist – wie?«

Herrn Jingles Gesicht heiterte sich allmählich wieder auf, und etwas, das einem Blinzeln des Einverständnisses ähnlich sah, zuckte für einen Moment um sein linkes Auge.

»Sehr gut, sehr gut«, sagte der kleine Mann, als er den Eindruck, den er gemacht hatte, gewahrte. »Die Sache verhält sich indessen so, daß die Dame, ein paar hundert Pfund abgerechnet, vor dem Tode ihrer Mutter über wenig oder nichts zu verfügen hat, und diese ist noch eine sehr gesunde und rüstige Frau, mein lieber Herr.«

»Alt«, versetzte Herr Jingle kurz, aber mit nachdrücklicher Betonung.

»Nun ja«, sagte der Sachwalter mit einem leisen Husten. »Sie haben recht, lieber Herr, sie ist ziemlich alt. Aber sie stammt aus einer alten Familie, mein lieber Herr, alt in jedem Sinne des Worts. Der Gründer dieser Familie kam nach Kent, als Julius Cäsar in Britannien einfiel – und seitdem ist, mit Ausnahme eines einzigen, der unter einem der Heinriche enthauptet wurde, kein Glied dieser Familie vor dem fünfundachtzigsten Jahr gestorben. Die alte Dame ist jetzt dreiundsiebzig, lieber Herr.«

Der kleine Mann hielt inne und nahm eine Prise Tabak.

»Was weiter, lieber Herr? – Darf ich Ihnen keine Prise anbieten? Nicht? Ah, um so besser – kostspielige Angewohnheit. Nun, lieber Herr, Sie sind ein hübscher, junger Mann – ein Weltmann – könnten Ihr Glück machen, wenn Sie Vermögen hätten – nicht wahr?«

»Wozu das?« entgegnete Herr Jingle.

»Begreifen Sie mich nicht?«

»Nicht ganz.«

»Meinen Sie nicht – nun, lieber Herr, ich stelle es Ihnen nur anheim, aber meinen Sie nicht, daß fünfzig Pfund und die Freiheit besser wären, als Fräulein Wardle und ein langes Warten?«

»Geht nicht – nicht halb genug!« sagte Herr Jingle aufstehend.

»Besinnen Sie sich doch, mein lieber Herr«, wandte der kleine Sachwalter ein, indem er Jingle beim Rockknopf faßte, »'s ist eine schöne runde Summe – ein Mann wie Sie könnte sie in ganz kurzer Zeit verdreifachen. Mit fünfzig Pfund läßt sich was Schönes anfangen, lieber Herr.«

»Aber noch mehr mit hundertfünfzig«, entgegnete Herr Jingle kaltblütig.

»Nun, lieber Herr, wir wollen die Zeit nicht mit Strohdreschen verlieren«, nahm der kleine Mann wieder auf. »Sagen Sie – sagen Sie siebzig.«

»Reicht nicht«, versetzte Herr Jingle.

»Bleiben Sie doch, mein lieber Herr – bitte, eilen Sie nicht so sehr«, erwiderte der kleine Mann. »Achtzig? Kommen Sie – ich schreibe Ihnen auf der Stelle die Anweisung.«

»Ist nicht genug«, sagte Herr Jingle.

»Wohlan, lieber Herr«, entgegnete der kleine Mann, ihn noch immer zurückhaltend, »so sagen Sie mir geradezu, wieviel Sie haben wollen.«

»Kostspielige Angelegenheit«, versetzte Herr Jingle. »Geld aus meiner Tasche – Post, neun Pfund – Lizenz, drei – macht zwölf – Entschädigung hundert – hundertzwölf – Ehrenkränkung – Verlust der Dame –«

»Nun, nun, lieber Herr«, sagte der kleine Mann mit einem schlauen Blick, »die beiden letzten Punkte wollen wir aus dem Spiel lassen. Hundertzwölf – sagen Sie hundert.«

»Und zwanzig«, fügte Herr Jingle bei.

»Kommen Sie: ich will Ihnen die Anweisung schreiben«, entgegnete der kleine Mann, der sich in dieser Absicht an den Tisch setzte.

»Übermorgen zahlbar«, sagte der kleine Mann mit einem Blick auf Herrn Wardle; »und wir können inzwischen die Dame mitnehmen.«

Herr Wardle nickte verdrießlich seine Zustimmung.

»Hundert?« sagte der kleine Mann.

»Und zwanzig«, ergänzte Herr Jingle.

»Mein lieber Herr«, entgegnete der kleine Mann in einem Tone, der ihm die Sache richtig vorstellen sollte.

»Schreiben Sie«, fiel ihm Herr Wardle ins Wort, »daß wir den sauberen Zeisig loswerden.«

Der kleine Mann schrieb die Anweisung, und Herr Jingle steckte sie in seine Tasche.

»Aber jetzt verlassen Sie dieses Haus augenblicklich!« rief Herr Wardle auffahrend.

»Mein lieber Herr«, wandte der kleine Mann ein.

»Und merken Sie sich's«, fuhr Herr Wardle fort, »daß mich nichts – nicht einmal die Rücksicht für die Ehre meiner Familie – veranlaßt haben würde, diesen Vergleich einzugehen, wenn ich nicht wüßte, daß Sie mit dem Geld in der Tasche womöglich noch früher dem Teufel in den Rachen laufen werden, als es ohnedem der Fall wäre –«

»Mein lieber Herr«, suchte der kleine Mann aufs neue zu beschwichtigen.

»Beruhigen Sie sich, Perker«, versetzte Herr Wardle. »Verlassen Sie das Zimmer, Sir.«

»Soll augenblicklich geschehen«, erwiderte der unverschämte Komödiant. »Gott befohlen – Gott befohlen – Pickwick.«

Wenn ein leidenschaftsloser Zeuge zuletzt während der erwähnten Besprechung das Gesicht dieses ausgezeichneten Mannes hätte sehen können, den der Titel unseres Buches als den Haupthelden gegenwärtiger Blätter bezeichnet, so würde er sich wohl nicht wenig gewundert haben. Denn die Glut der Entrüstung, die aus den Augen des Ehrenmannes leuchtete, und die nicht zuletzt seine Brillengläser schmolz – ließ ihn geradezu majestätisch erscheinen in seinem Zorn. Seine Nasenlöcher zitterten und seine Fäuste ballten sich unwillkürlich, als er sich in der erwähnten Weise von dem Schurken begrüßen hörte. Aber er hielt wieder an sich – er rieb ihn nicht zu Staub.

»Da«, fuhr der verhärtete Bösewicht fort, indem er Herrn Pickwick die Lizenz vor die Füße warf: »Namen ändern lassen – alte Jungfer nach Haus nehmen – gut für Tuppy.«

Herr Pickwick war ein Philosoph; aber Philosophen sind im Grunde doch weiter nichts als geharnischte Menschen. Der Pfeil war gut gezielt und hatte durch den Panzer der Philosophie seinen Weg in das innerste Herz des Mannes gefunden. In der Überfülle seiner Wut schleuderte er Jingle das Tintenfaß nach und rannte wie toll hinter ihm her. Aber dieser war bereits verschwunden, und Herr Pickwick fand sich plötzlich von Sams Armen aufgehalten.

»Holla, Schreibgerät muß wohlfeil sein, wo Sie herkommen«, sagte der vortreffliche Stiefelgeneral. »Eine Tinte, die selber schreibt und überall ihre Zeichen an die Wand malt, alter Herr! Halten Sie – halten Sie, Sir! Was nützt es, einem Menschen mit so langen Beinen nachzurennen, der schon am andern Ende des Borough ist?«

Herrn Pickwicks Geist war – wie der aller wahrhaft großen Männer – jedem vernünftigen Grunde zugänglich. Er war ein rascher und tiefer Denker, und die Überlegung eines Augenblicks war genügend, ihn an die Machtlosigkeit seiner Wut zu erinnern. Sie dämpfte sich daher so schnell wieder, wie sie losgebrochen war. Er verschnaubte und warf wohlwollende Blicke auf seine Freunde.

Sollen wir den Leser mit den Wehklagen unterhalten, die nun folgten, als sich Fräulein Wardle von dem treulosen Jingle verlassen sah? Sollen wir einen Auszug aus Herrn Pickwicks meisterhafter Beschreibung dieser herzzerbrechenden Szene geben? Sein Tagebuch, mit Tränen teilnehmender Humanität bekleckst, liegt offen vor uns. Ein Wort, und es ist in den Händen des Druckers. – Doch nein! wir sind entschlossen. Fern sei es von uns, die Empfindungen unserer Leser mit der Schilderung eines so herben Schmerzes peinlich zu berühren.

Langsam und traurig kehrten andern Tags die beiden Freunde nebst der verlassenen Jungfrau mit der schwerfälligen Muggletoner Postkutsche nach Hause. Düster und trübe lagerte der schwarze Mantel einer Sommernacht auf den Fluren, als sie Dingley Dell erreichten und an dem Portale von Manor Farm aus dem Wagen stiegen.

 


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