Charles Dickens
Bilder aus Italien
Charles Dickens

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Nach Rom über Pisa und Siena

In ganz Italien gibt es für mich nichts Schöneres als den Weg zwischen Genua und Spezia an der Küste entlang. Auf der einen Seite, zuweilen tief unten, zuweilen fast auf gleicher Höhe mit dem Weg und oft von vielgestaltigen Felsentrümmern eingefaßt, erstreckt sich weithin das blaue Meer, auf dem hier und da eine malerische Felucca langsam dahingleitet; aber auf der andern Seite sind steile Hügel, Schluchten mit weißen Hütten, dunkle Olivenhaine, Dorfkirchen mit ihren lustigen offenen Türmen und heiter bemalte Landhäuser. An jedem Abhang und Erdhaufen neben der Straße wuchern der wilde Kaktus und die Aloë in üppiger Fülle; und die Gärten der freundlichen Dörfer längs der Straße erglühen in der Sommerzeit von den Trauben der Belladonna und duften im Herbst und Winter von der Fülle goldener Orangen und Limonen.

Einige Dörfer sind fast ausschließlich von Fischern bewohnt, und gar hübsch sieht es sich an, wenn ihre großen Boote auf den Strand gezogen sind und kleine schattige Flecken bilden, wo sie schlafend liegen oder wo die Weiber und Kinder spielen und auf die See hinaussehen, während sie am Ufer die Netze flicken. Die Stadt Camoglia liegt mit ihrem kleinen Hafen mehrere hundert Fuß unter der Straße. Dort wohnen Familien von Seeleuten, die seit unvordenklichen Zeiten hier Küstenfahrzeuge besessen haben und damit nach Spanien und andern Orten gefahren sind. Oben von der Straße aus gesehen, nimmt es sich aus wie ein niedliches Modell am Rande des funkelnden Meeres. Steigt man auf gekrümmten Maultierpfaden hinab, so ist sie ein wahres Miniaturbild einer Seestadt aus der Kindheit der Zivilisation, so recht der Ort für waghalsige Schiffer und Seeräuber. Große verrostete Eisenringe und Ankerketten, Schiffswinden und Stücke alter Masten und Spieren versperren den Weg; sturmgewohnte Boote stehen auf den sonnigen Steinen, und Matrosenkleider flattern im kleinen Hafen, um zu trocknen; auf der Mauer des kunstlosen Hafendamms haben sich ein paar amphibienartig aussehende Kerle zum Schlafen ausgestreckt, während ihre Beine an der Wand hinabhängen, als wäre ihnen Erde und Wasser ganz einerlei und als ob sie, wenn sie hineinrutschten, fortschwimmen und unter den Fischen ruhig weiterträumen würden. Die Kirche ist geschmückt mit Seetrophäen und Votivtafeln zum Gedenken an Rettungen aus Sturm und Schiffbruch. Zu den unmittelbar an den Hafen stoßenden Wohnungen gelangt man durch dunkle niedrige Torwege und winklige Treppen, als sollten sie an Dunkelheit und Schwierigkeit des Zugangs dem Schiffsraum oder den unbequemen Kajüten unter dem Wasser ähnlich sein; und überall herrscht ein Geruch von Fischen, Seetang und altem Tauwerk.

Die Straße, von der aus man Camoglia so tief unten erblickt, ist in der warmen Jahreszeit, vorzüglich in einigen Gegenden bei Genua, reich an Leuchtkäfern. Zuweilen sah ich die ganze dunkle Nacht von diesen schönen Insekten zu einem leuchtenden Firmament umgeschaffen, so daß die fernen Sterne gegen die tausend Funken, die in jedem Olivenhain und an jedem Abhang glänzten und die Luft erfüllten, erbleichten.

In solcher Jahreszeit fuhren wir jedoch diese Straße damals nicht. Wir waren kaum über die Mitte Januar hinaus, und es war sehr trübes und häßliches Wetter; außerdem sehr naß. Als wir den schönen Paß von Bracco überschritten, traf uns ein solches Unwetter von Nebel und Regen, daß wir den ganzen Weg in einer Wolke reisten. Nach dem, was wir vom Mittelmeer sahen, außer wenn ein plötzlicher Windstoß für einen Augenblick den Nebel zerriß und uns tief unten die aufgeregte Flut zeigte, wie sie gegen die Felsen in der Ferne anstürmte und wütend den Schaum in die Höhe spritzte, hätte es gar nicht vorhanden zu sein brauchen. Der Regen dauerte ohne Unterbrechung fort; jeder Bach und jedes Rinnsal war zum Überfluten angeschwollen, und ein so betäubendes Wogen und Brüllen und Donnern der Fluten herrschte ringsum, wie ich es in meinem Leben nie gehört habe.

Daher fanden wir, als wir nach Spezia kamen, daß die Magra, ein Fluß ohne Brücke auf der Straße nach Pisa, zu sehr angeschwollen war, um sicher mit der Fähre darüber zu kommen, und wir mußten daher bis zum Nachmittag des nächsten Tages warten, wo sie wieder etwas gefallen war. Spezia ist jedoch ein ganz guter Ort zum Rasten: erstens wegen seiner schönen Bucht; zweitens wegen seiner spukhaft aussehenden Schenke; drittens wegen des Kopfputzes der Frauen, die auf der einen Seite des Kopfes einen kleinen Puppenstrohhut tragen, gewiß der wunderlichste und schelmischste Kopfputz, der je erfunden wurde.

Nachdem wir mit der Fähre glücklich über die Magra gelangt waren – die Überfahrt ist keineswegs angenehm, wenn der Strom angeschwollen und reißend ist –, kamen wir in wenigen Stunden in Carrara an. Am nächsten Morgen in der Frühe mieteten wir einige Ponys und machten uns auf den Weg, um die Marmorbrüche in Augenschein zu nehmen.

Vier oder fünf große Schluchten laufen eine hohe Hügelkette hinauf, bis sie nicht weiterkommen können und die Natur ihrem Lauf durch plötzliches Erwürgen ein Ende macht. Die Steinbrüche sind Öffnungen auf beiden Seiten dieser Schluchten, wo sie den Marmor brechen, der gut oder schlecht ausfallen, einen Mann schnell reich machen oder ihn durch die großen Kosten eines Bruchs, der nichts wert ist, zugrunde richten kann. Einige dieser Brüche sind schon von den alten Römern angelegt worden und sind noch so, wie diese sie verlassen haben. Viele andere werden jetzt ausgebeutet; andere sollen morgen, nächste Woche, nächsten Monat erschlossen werden. Andere sind noch unverkauft und unberücksichtigt; und überall liegt noch Marmor genug für mehr Jahrhunderte, als seit der Entdeckung der Brüche verflossen sind, versteckt und harrt geduldig der Zeit seiner Entdeckung.

Wenn man langsam eine dieser steilen Schluchten hinaufklimmt, hört man dann und wann in den Hügeln den tiefen Ton eines melancholisch hallenden Hornes, ein Signal für die Steinbrecher, sich zu entfernen. Dann kracht ein Donner und hallt von Hügel zu Hügel wider, und vielleicht fliegen auch große Felsentrümmer durch die Luft; und wieder klimmt man weiter, bis neue Hornklänge aus einer anderen Richtung erschallen und man sogleich stehenbleibt, um nicht in den Bereich der neuen Explosion zu kommen.

Hoch oben in diesen Schluchten sah man viele Leute damit beschäftigt, die zertrümmerten Steine und Erdmassen wegzuräumen und hinabzurollen, um den Marmorblöcken, die man entdeckt hatte, Platz zu machen.

Bei der Art, wie diese in das enge Tal von unsichtbaren Händen hinabgerollt werden, mußte ich an die tiefe Schlucht denken, wo der Vogel Rock den Schiffer Sindbad zurückließ und wo die Kaufleute von den Höhen darüber große Stücke Fleisch hinabwarfen, damit die Diamanten daran hängenblieben. Hier waren keine Adler, welche die Sonne mit ihrem Flug hätten verdunkeln und über sie herfallen können; aber es war so wild und unwirtlich hier, als ob Hunderte dagewesen wären.

Aber der Weg – der Weg, auf dem man den Marmor herunterschafft, wie groß auch immer die Blöcke sein mögen! Der Genius des Landes und der Geist seiner Institutionen haben diesen Weg geschaffen, bessern ihn aus, überwachen ihn, erhalten ihn gangbar! Man denke sich ein felsiges Flußbett, bedeckt mit großen Haufen von Steinen von jeder Form und jeder Größe, das sich in der Mitte dieses Tales hinabwindet; das ist der Weg – weil er es vor fünfhundert Jahren war! Man denke sich, die plumpen Karren – von vor fünfhundert Jahren – würden noch zu dieser Stunde gebraucht und wie vor fünfhundert Jahren von Ochsen gezogen, deren Vorfahren vor fünfhundert Jahren, wie ihre unglücklichen Nachkommen jetzt noch, von der Anstrengung und Qual dieser schweren Arbeit in einem Jahre sich zu Tode mühten! Zwei Paare, vier Paare, zehn Paare, zwanzig Paare an einem Block, je nach seiner Größe, müssen diesen Weg hinab. Während sie sich mit ihren ungeheuren Lasten hinter sich von Stein zu Stein schleppen, sterben sie oft auf der Stelle, und nicht sie allein, denn ihre leidenschaftlichen Treiber, die in ihrer Wut zuweilen unter den Wagen geraten, werden zu Tode gerädert. Aber es war gut vor fünfhundert Jahren und muß jetzt noch gut sein, und eine Eisenbahn von den Höhen herab (die leichteste Sache von der Welt) wäre offenbar Blasphemie.

Als wir zur Seite traten, um einen dieser Karren, mit nur einem Paar Ochsen bespannt (denn es lag nur ein sehr kleiner Marmorblock darauf), vorüberzulassen, da begrüßte ich in meinem Herzen den Mann, der auf dem schweren Joch saß, um es auf dem Hals der armen Tiere festzuhalten, und der rückwärts blickte, nicht vorwärts, als den leibhaftigen Teufel des echten Despotismus. Er hatte einen langen Stock mit einer eisernen Spitze in der Hand, und wenn die Tiere sich durch das felsige Flußbett nicht länger einen Weg bahnen konnten und stehenblieben, stieß er ihn ihnen in den Leib, schlug ihn ihnen um den Kopf, bohrte ihn in ihre Nasenlöcher und trieb sie so im Wahnsinn ausgesuchtester Qual ein paar Ellen weiter. Diese Überredungskünste wiederholte er noch eindringlicher, wenn sie wieder stillhielten, bewegte sie wieder zum Weitergehen, zwang und stachelte sie bis zu einem steileren Punkt des Weges, und wenn ihr Schmerz und die Last hinter ihnen sie in einer Wolke von Wasserstaub den Abgrund hinabzog, schwang er den Stab über den Kopf und ließ ein lautes Hallo erschallen, als ob er etwas Großes geleistet hätte und gar nicht daran dächte, daß sie auf dem Höhepunkt seines Triumphes ihn abwerfen und zerschmettern könnten.

In einer der vielen Bildhauerwerkstätten von Carrara – denn der Ort ist eine einzige große Werkstatt voll schön gearbeiteter marmorner Kopien von fast allen bekannten Statuen und Büsten – kam es mir sehr seltsam vor, daß diese auserlesenen Gestalten voller Anmut und herrlicher Ruhe aus diesen Mühen, diesem Schweiß und dieser Qual entstehen sollten. Aber ich fand bald ein Seitenstück und eine Erklärung dazu in jeder Tugend, die auf kärglichem Boden entsprießt, und in jedem Guten, das in Kummer und Elend geboren wird. Und wie ich aus dem großen Fenster des Bildhauers hinaus auf die Marmorberge sah, die so rot und glühend im Sonnenuntergang, aber bis zuletzt feierlich und ernst dalagen, da dachte ich: Mein Gott! wie viele Steinbrüche menschlicher Herzen und Seelen, viel schönerer Früchte fähig, bleiben verschlossen und vermodern, während vergnüglich durchs Leben Reisende beim Vorübergehen das Gesicht abwenden und über die Rauheit und das Dunkel darin zusammenschaudern.

Der damals regierende Herzog von Modena, dem diese Gegend zum Teil gehörte, beanspruchte die große Auszeichnung, der einzige von allen Herrschern in Europa zu sein, der Louis Philippe nicht als König der Franzosen anerkannt hatte! Er war kein Spaßvogel, sondern ein ernster Mensch. Er war auch ein großer Feind der Eisenbahnen; und wenn verschiedene von anderen Fürsten projektierte Linien in seiner unmittelbaren Nachbarschaft ausgeführt worden wären, so hätte er gewiß die Freude gehabt, über sein ganzes nicht allzu großes Gebiet einen Omnibus fahren zu sehen, um Reisende von einer Grenze zur andern zu bringen.

Carrara liegt in seiner Umgebung von hohen Bergen sehr malerisch und wild. Wenige Touristen verweilen dort; und die Einwohner haben fast alle auf die eine oder die andere Weise mit dem Marmor zu tun. Auch Dörfer gibt es in den Brüchen, wo die Arbeiter wohnen. Die Stadt besitzt ein hübsches, kleines, vor kurzem erbautes Theater; den Chor bilden Arbeiter aus den Marmorbrüchen, die sich selbst unterrichten und nach dem Gehör singen. Ich hörte sie in einer komischen Oper und in einem Akt der Oper »Norma«, und sie machten ihre Sache sehr gut, ganz und gar nicht wie sonst das gewöhnliche Volk in Italien, das mit einigen Ausnahmen unter den Neapolitanern ganz abscheulich falsch singt und sehr unangenehme Stimmen hat.

Vom Gipfel eines hohen Hügels jenseits Carraras ist der erste Anblick der fruchtbaren Ebene in welcher die Stadt Pisa liegt und Livorno, ein purpurner Fleck in der flachen Ferne –, wirklich bezaubernd. Auch macht nicht nur die Entfernung den Anblick schön; denn das fruchtbare Land und die dichten Wälder von Olivenbäumen, durch welche sich die Straße hernach windet, sind reizend.

Der Mond schien, als wir uns Pisa näherten, und sehr lange konnten wir hinter seinen Mauern den schiefen Turm im Mondlicht sehen, das schattenhafte Original der Bilder in den Schulbüchern, welche die Weltwunder darstellen. Wie die meisten mit den ersten Erinnerungen in Schulbücher und Schulzeit verknüpften Dinge war er zu klein. Ich fühlte es lebhaft; er ragte gar nicht so hoch über die Mauer hinaus, wie ich gehofft hatte. Es war nur eine von den Täuschungen mehr, die Mr. Harris, Buchhändler an der Ecke des St.-Pauls-Kirchhofes in London, verübt hat. Sein Turm war eine Phantasie, dieser aber eine Wirklichkeit, – und vergleichsweise eine sehr weit zurückbleibende Wirklichkeit. Dennoch nahm er sich sehr gut aus und entfernte sich genausoweit von der senkrechten Linie, wie ihn Mr. Harris dargestellt hatte. Auch das stille Aussehen von Pisa, das große Wachthaus am Tore, in dem nur zwei kleine Soldaten waren, die Straßen fast ganz menschenleer, und der Arno, der mitten durch die Stadt floß, waren vortrefflich. So hegte ich denn keinen Groll gegen Mr. Harris (ich nahm Rücksicht auf seine guten Absichten), sondern vergab ihm vor dem Mittagessen und machte mich am nächsten Morgen vertrauensvoll auf den Weg, um mir den Turm anzusehen.

Ich hätte es besser wissen können; aber – wie es kam, weiß ich nicht – ich hatte erwartet, er werde seinen langen Schatten über eine Straße werfen, wo den ganzen Tag über Leute kamen und gingen. Es war mir eine Überraschung, ihn an einem stillen, abgelegenen Ort zu finden, entfernt vom allgemeinen Verkehr und überzogen von weichem grünem Rasen. Aber die Häusergruppe auf diesem grünen Teppich – nämlich der Turm, das Baptisterium, der Dom und die Kirche des Campo Santo – ist vielleicht die merkwürdigste und schönste auf der ganzen Welt und erhält dadurch, daß sie entfernt ist vom alltäglichen Verkehr der Stadt, einen ganz eigentümlichen, ehrwürdigen Charakter. Es ist die architektonische Essenz einer alten reichen Stadt, aus der die gewöhnlichen Wohnungen und das Alltagsleben herausgepreßt und verdunstet sind.

Sismondi vergleicht den Turm mit der gewöhnlichen Darstellung des babylonischen Turmes in Kinderbüchern. Das ist ein glückliches Bild und gibt einen bessern Begriff von dem Gebäude als ganze Kapitel ausführlichster Beschreibung. Nichts kann die Anmut und Leichtigkeit des Baues übertreffen; nichts kann merkwürdiger sein als seine allgemeine Erscheinung. Während man hinaufsteigt, fällt die Neigung nicht sehr auf; aber oben erfaßt einen das Gefühl, als befände man sich auf einem Schiff, das sich durch die Wirkung der Ebbe auf die Seite gelegt hat. Die Wirkung auf der geneigten Seite, wenn man von der Galerie hinabblickt und den Fuß des Turmes zurückweichen sieht, ist sehr auffallend, und ich sah, wie ein Reisender unwillkürlich sich gegen den Turm stemmte, als wollte er ihn stützen. Und innen vom Boden aus die schiefe Wand hinauf ist der Anblick sehr merkwürdig. Der Turm hängt jedenfalls so sehr, wie es sich der anspruchsvollste Tourist nur wünschen kann. Der natürliche Trieb von neunundneunzig Leuten unter hundert, die sich auf dem Grase darunter zum Ruhen ausstreckten, wäre wahrscheinlich der, sich nicht unter die hängende Seite zu legen; denn er ist gar zu schief.

Die mannigfaltigen Schönheiten des Domes und des Baptisteriums brauche ich nicht zu wiederholen, obgleich es mir in diesem Falle, wie in hundert anderen, schwer wird, meinen eigenen Genuß bei ihrer Wiedergabe von der Langeweile zu trennen, die diese Wiedergabe bei euch erzeugen würde. Im ersteren ist ein Gemälde der heiligen Agnes von Andrea dei Sarto und im letzteren eine Fülle schöner Säulen, die mich sehr in Versuchung bringen.

Ich hoffe, es ist keine Verletzung meines Versprechens, mich nicht in ausführliche Beschreibungen einzulassen, wenn ich des Campo Santo gedenke, wo grasbewachsene Gräber in Erde, die vor mehr als sechs Jahrhunderten aus dem Heiligen Lande gebracht wurde, angelegt sind und wo rundum Klöster mit spielenden Lichtern und Schatten, die durch das zierliche Gitterwerk auf den steinernen Fußboden fallen, sich erheben, wie sie gewiß auch das schlechteste Gedächtnis nicht vergessen könnte. An den Wänden dieses feierlichen und lieblichen Ortes sind alte Fresken, sehr verwischt und verblichen, aber sehr eindrucksvoll. Wie gewöhnlich in jeder italienischen Gemäldesammlung, die viele Porträts enthält, ist eines davon Napoleon auffallend ähnlich. Früher ergötzte sich meine Phantasie an dem Gedanken, ob wohl die alten Maler bei ihrer Arbeit eine prophetische Ahnung von dem Manne gehabt hätten, der eines Tages aufstehen würde, um solche Zerstörung unter Kunstwerken anzurichten, dessen Soldaten Schießscheiben aus großen Gemälden machten und für ihre Pferde Prachtwerke der Baukunst in Ställe verwandelten. Aber dasselbe korsische Gesicht ist noch heute in einigen italienischen Gegenden so häufig, daß eine weniger poetische Lösung des Rätsels viel mehr Wahrscheinlichkeit hat.

Wenn Pisa das siebente Weltwunder wegen seines Turmes ist, so kann es wenigstens den zweiten oder dritten Rang wegen seiner Bettler beanspruchen. Sie harren auf den unglücklichen Reisenden an jeder Ecke, geleiten ihn zu jeder Tür, in die er geht, und lauern mit beträchtlicher Verstärkung auf ihn vor jeder Tür, durch die er herauskommen muß. Das Knarren der Pforte in ihren Angeln gibt das Zeichen zu einem allgemeinen Schrei, und sowie er erscheint, überfallen und umdrängen ihn Haufen von Lumpen und Gebrechen. Die Bettler scheinen den ganzen Verkehr von Pisa darzustellen. Nichts regt sich außer der warmen Luft. Geht man durch die Straßen, so sehen die Vorderseiten der schläfrigen Häuser wie Rückseiten aus; sie sind so ruhig und still und bewohnten Häuser so unähnlich, daß der größere Teil der Stadt aussieht wie eine Stadt bei Tagesanbruch oder während der allgemeinen Siesta der Bevölkerung.

Anders Livorno (berühmt durch Smollets Grab), eine aufblühende, geschäftige, prosaische Stadt, wo die Faulheit durch den Handel zum Tore hinausgedrängt wird. Die Maßregeln der Regierung in bezug auf den Handel und die Kaufleute sind sehr liberal, und die Stadt gewinnt natürlich dadurch. Livorno steht in schlechtem Ruf wegen seiner Banditen, und man muß gestehen, nicht ganz zu Unrecht; denn vor einigen Jahren war hier ein Meuchelmörderklub, dessen Mitglieder gegen keinen Menschen besondern Haß spürten, aber Leute (welche ihnen ganz und gar fremd waren) nachts auf der Straße erstachen, bloß der Lust und der Aufregung dieser Unterhaltung wegen. Ich glaube, der Präsident dieser liebenswürdigen Gesellschaft war ein Schuhmacher. Er wurde jedoch eingesperrt und der Klub löste sich auf. Er wäre wahrscheinlich auch im natürlichen Lauf der Ereignisse vor der Eisenbahn von Livorno nach Pisa verschwunden; eine gute Bahn, die bereits begonnen hat, Italien mit einem Beispiel der Pünktlichkeit, der Ordnung, der Ehrlichkeit und des Fortschritts in Erstaunen zu setzen – das gefährlichste und ketzerischste Wunder, das es gibt. Gewiß muß man im Vatikan eine leise Erschütterung, wie bei einem Erdbeben gespürt haben, als die erste italienische Eisenbahn eröffnet wurde.

Nachdem wir nach Pisa zurückgekehrt waren und einen freundlichen Vetturino und vier Pferde gemietet hatten, um uns nach Rom zu bringen, reisten wir den ganzen Tag durch hübsche toskanische Dörfer und heitere Umgebungen. Die Kreuze an den Straßen in diesem Teil von Italien sind merkwürdig; selten hängt eine Gestalt am Kreuz, obgleich man zuweilen ein Gesicht erblickt; aber bemerkenswert sind sie durch kleine hölzerne Nachbildungen jedes Gegenstandes, der nur in entfernter Beziehung zum Tode des Heilandes steht. Der Hahn, welcher krähte, als Petrus seinen Herrn dreimal verleugnet hatte, sitzt gewöhnlich ganz oben auf der Spitze und ist in der Regel ein ornithologisches Phänomen. Unter ihm ist die Inschrift. Am Querholz hängt dann der Speer, das Rohr mit dem Schwamm, der ungenähte Rock, um den die Soldaten würfelten, der Würfelbecher, der Hammer, der die Nägel einschlug, die Zange, die sie wieder herauszog, die Leiter, die am Kreuze lehnte, die Dornenkrone, die Geißel, die Laterne, mit welcher (vermutlich) Maria zum Grabe ging, und das Schwert, mit dem Petrus den Knecht des Hohenpriesters schlug – ein vollständiger Kramladen kleiner Sächelchen, der sich alle fünf Meilen, die ganze Straße entlang, wiederholt.

Am Abend des zweiten Tages nach unserer Abreise von Pisa kamen wir in die schöne alte Stadt Siena. Hier war ein sogenannter Karneval im Entstehen; aber da sein Geheimnis in ein paar Dutzend trübselig aussehender Leute bestand, die in der Hauptstraße in ganz gewöhnlichen Masken auf und ab gingen und noch trübseliger waren als dieselbe Art Leute in England, wenn dies möglich ist, so erzähle ich weiter nichts davon.

Wir gingen am nächsten Morgen beizeiten zum Dom, der innen und außen wunderbar malerisch ist, dann zum Markt, einem großen viereckigen Platz mit einem halbverfallenen Springbrunnen, ein paar originellen gotischen Häusern und einem hohen viereckigen Turm, an dessen Außenseite hoch oben – ein seltsamer Zug in der Physiognomie italienischer Städte – eine ungeheure Glocke hängt. Es ist ein Stück Venedig, ohne das Wasser. In der Stadt, die sehr altertümlich ist, sind noch einige sehr merkwürdige Paläste, und obgleich sie für mich nicht so viel Anziehendes hat wie Verona oder Genua, so ist sie doch sehr malerisch und höchst interessant.

Sobald wir diese Dinge gesehen hatten, fuhren wir weiter durch eine etwas öde Gegend (wir hatten bis jetzt nur Rebenstöcke gesehen: bloße Spazierstöcke in der jetzigen Jahreszeit) und hielten wie gewöhnlich zwischen ein und zwei Uhr mittags an, um die Pferde ausruhen zu lassen; denn diese Bedingung macht jeder Vetturino. Dann reisten wir weiter durch eine immer öder und wilder werdende Gegend, bis sie so kahl und wüst wurde wie die wüsteste schottische Moorlandschaft. Bald nach Dunkelwerden machten wir in der Osteria La Scala halt, einem ganz einsam stehenden Hause, wo die ganze Familie in der Küche um ein Feuer versammelt saß, welches auf einem drei oder vier Fuß hohen steinernen Herd brannte und groß genug war, um einen Ochsen daran zu braten. In dem oberen einzigen Stockwerk des Hauses befand sich ein großer runder Saal mit einem einzigen sehr kleinen Fenster in einer versteckten Ecke und vier schwarzen Türen, die in vier verschiedene schwarze Schlafzimmer führten. Ich schweige noch von einer fünften großen schwarzen Tür, durch die man in einen zweiten dunklen großen Saal gelangte, wo die Treppe ganz unvermutet durch eine Art Falltür in den Boden kam und oben die Dachbalken herabdämmerten, von einem verdächtigen kleinen Schrank in einer finstern Ecke und von allen Messern des Hauses, die allenthalben umherlagen. Der Kamin war von der reinsten italienischen Bauart, so daß es ganz unmöglich war, ihn vor lauter Rauch zu sehen. Die Aufwärterin sah aus wie eine Theaterräuberbraut und trug ganz denselben Kopfputz. Die Hunde bellten wie toll, der Widerhall erwiderte die ihm gespendeten Komplimente; zwei, drei Meilen weit im Umkreise war kein zweites Haus, und alles hatte ein unheimliches und banditenmäßiges Aussehen.

Das gewann eben nicht durch Gerüchte von Räubern, welche sich vor wenig Abenden gezeigt und nicht weit von hier die Post angehalten hatten. Nicht lange vorher hatten sie ein paar Reisende auf dem Vesuv angefallen und waren der Gegenstand des Gesprächs in allen Schenken an der Straße. Da wir uns jedoch nicht um sie zu kümmern hatten, denn wir hatten sehr wenig zu verlieren bei uns, machten wir uns darüber lustig und befanden uns bald so gemütlich, wie man nur wünschen konnte. Wir nahmen in diesem einsamen Haus das gewöhnliche Mittagessen ein, und es ist ein sehr gutes Mahl, wenn man einmal daran gewöhnt ist. Zuerst kommt etwas mit Gemüse oder Reis darin, eine Art abgekürztes oder willkürliches Zeichen für Suppe, was gut schmeckt, wenn man es reichlich mit geriebenem Käse, viel Salz und Pfeffer gewürzt hat. Dann kommt das halbe Huhn, aus dem die Suppe gemacht ist; dann eine gedämpfte Taube mit dem eigenen Magen und der eigenen Leber und denen anderer Vögel belegt. Dann ein Stück Rinderbraten, so groß wie ein Brötchen; dann ein Stückchen Parmesankäse und fünf kleine welke Äpfel, alle auf einen kleinen Teller zusammengehäuft und sich drängend, als wollte jeder sich vor der Möglichkeit, gegessen zu werden, retten. Dann kommt der Kaffee und dann das Bett. Ihr kümmert euch nicht um den mit Ziegelsteinen gepflasterten Fußboden, nicht um klaffende Türen oder um zufliegende Fenster; ihr kümmert euch nicht darum, daß die Pferde unter dem Bett ihren Stall haben, so dicht bei euch, daß ihr allemal aufwacht, wenn ein Pferd hustet oder niest. Wenn ihr freundlich gegen die Leute seid und mit ihnen sprecht und kein mürrisches Gesicht macht, so gebe ich euch mein Wort, daß ihr in der allerschlechtesten italienischen Schenke gut und stets auf die höflichste Weise bewirtet werdet und von einem Ende des Landes bis zum andern reisen könnt (trotz aller Geschichten, die das Gegenteil behaupten), vor allem wenn ihr solchen Wein bekommt wie den Orvieto und den Monte Pulciano.

Das Wetter war schlecht, als wir das Haus am Morgen verließen, und wir fuhren zwölf Meilen durch eine so kahle, steinige und wilde Gegend wie Cornwall in England, bis wir nach Radicofani kamen, wo eine gespenstische spukhafte Schenke ist – einst ein Jagdschloß der Herzöge von Toskana. Sie ist so reich an labyrinthischen Korridoren und unheimlichen Zimmern, daß alle Mord- und Gespenstergeschichten, die jemals geschrieben wurden, hier in diesem Hause hätten geschehen sein können. Es gibt ein paar schauerliche alte Palazzi in Genua, einen vorzüglich, der von außen diesem Hause nicht unähnlich sieht, aber dieses Radicofani-Hotel hat etwas so Zugiges, Knarrendes, Wurmzerfressenes, Raschelndes, Türaufspringendes, Halsbrecherisches an sich, wie es mir nie und nirgend sonst vorgekommen ist. Die Stadt klebt über und vor dem Hause an einem Hang; die Einwohner sind alle Bettler, und sobald sie einen Wagen kommen sehen, stürzen sie auf ihn wie Raubvögel.

Als wir den Gebirgspaß jenseits dieses Ortes erreichten, war der Sturm (sie hatten es uns im Wirtshaus vorausgesagt) so heftig, daß ich meine eine Hälfte aus dem Wagen hängen lassen mußte, damit sie nicht samt dem Wagen umgeblasen werde, und daß wir selbst (so gut wir es konnten) uns an der Sturmseite daran klammern mußten, damit er nicht der Himmel weiß wohin entführt werde. An Kraft konnte dieser Landorkan mit einem Seesturm auf dem Atlantischen Ozean wetteifern und hatte alle Aussicht, Sieger zu bleiben. Er kam durch große Schluchten einer Gebirgswand zu unserer Rechten herniedergefahren, so daß wir mit wirklichem Schauer einen großen Morast links ansahen, wo auch nicht ein einziger Busch oder Zweig war, an dem man sich hätte festhalten können. Es war, als müßten wir, wenn die Füße einmal den Halt verloren, hinab in das Meer oder hinaus in den leeren Raum. Es gab Schnee und Hagel und Regen und Blitz und Donner und dazu Nebelwolken, die mit unglaublicher Schnelligkeit vor uns vorüberwallten. Es war dunkel, schauerlich und im höchsten Grade öde, Berge über Berge, verhüllt von zürnenden Wolken, und ein so wildes, stürmisches, verwirrtes Eilen überall, daß das ganze Schauspiel unaussprechlich erschütternd und großartig wurde.

Dennoch war es eine Erleichterung, es hinter sich zu lassen und selbst die häßliche, schmutzige päpstliche Grenze zu erreichen. Nachdem wir durch zwei kleine Städte gefahren waren – in einer derselben, in Acquapendente, war auch ein Karneval im Gange, bestehend aus einem als Frau verkleideten maskierten Mann und aus einer als Mann verkleideten Frau, die beide still und trübselig durch den tiefen Schmutz der Straßen wateten –, bekamen wir bei einbrechender Dämmerung den See von Bolzena zu Gesicht, an dessen Ufer eine kleine Stadt desselben Namens, berühmt wegen der Malaria, liegt. Mit Ausnahme dieses armseligen Ortes steht keine einzige Hütte am Ufer des Sees oder in seiner Nähe (denn niemand wagt hier zu schlafen); kein Boot schwimmt auf seiner Fläche; nicht einmal ein Pfahl ist zu erblicken, und nichts unterbricht die öde Eintönigkeit der Gegend. Wir langten erst spät an, da der Weg vom Regen sehr schlecht geworden war; und nach Dunkelwerden wurde die kahle Einförmigkeit fast unerträglich.

Am nächsten Abend, bei Sonnenuntergang, erreichten wir ein ganz anderes und schöneres Schauspiel der Verödung. Wir waren durch Montefiascone (berühmt wegen seines Weines) und Viterbo (berühmt wegen seiner Brunnen) gefahren und hatten eben einen langen Hang erklommen, als sich unsern Augen plötzlich ein einsamer See zeigte, an der einen Seite sehr schön, mit üppigem Wald, an der andern sehr öde und von kahlen vulkanischen Hügeln eingeschlossen. Wo jetzt der See ist, da stand ehemals eine Stadt; sie wurde eines Tages verschlungen, und an ihrer Stelle stieg dieses Wasser empor. Alte Sagen (vielen Teilen der Welt gemeinsam) erzählen, wie die Trümmer der Stadt bei klarem Wasser unten gesehen worden seien; aber wie dem immer sein mag, von diesem Fleck der Erde ist sie verschwunden. Der Boden stürzte über ihr zusammen und das Wasser auch; und hier stehen die Berge wie Geister, denen sich die andere Welt plötzlich verschlossen und die kein Mittel haben, wieder zurückzugelangen. Sie scheinen durch den Verlauf von Jahrhunderten auf das nächste Erdbeben auf diesem Platze zu warten, und dann werden sie beim ersten Auftun der Erde sich hinabstürzen und nicht mehr gesehen werden. Die unglückliche Stadt unten ist nicht verlorener und öder, als die verbrannten Felsen und das stille Wasser oben aussehen. Die rote Sonne sah sie seltsam an, als wüßte sie, daß ihre wahre Heimat unterirdische Höhlen und Finsternis sei, und das melancholische Wasser schlich sich still durch das Sumpfgras und das Schilf, als läge der Untergang der alten Türme und Giebel und der Tod der Leute, die dort geboren und erzogen worden, noch schwer auf seinem Gewissen.

Eine kurze Reise auf diesem See brachte uns nach Ronciglione, einer kleinen Stadt, gleich einem großen Schweinestall, wo wir über Nacht blieben. Am nächsten Morgen um sieben Uhr machten wir uns auf den Weg nach Rom.

Sowie wir aus dem Schweinestall heraus waren, kamen wir in die Campagna Romana, eine wellenförmige Ebene, wo nur wenige Menschen wohnen können und wo meilenweit nichts zu erblicken ist, was die schreckliche düstere Öde unterbricht. Von allen Gegenden, die möglicherweise vor den Toren Roms liegen könnten, ist diese die beste und geeignetste Begräbnisstätte für die tote Stadt. So trauervoll, so still, so trübe, so geheimnisvoll als Gruft unendlicher Trümmermassen; so ähnlich den Wüsten, wo in den alten Tagen von Jerusalem die Besessenen hingingen und heulten und sich zerrissen. Wir mußten dreißig Meilen durch diese Campagna fahren; und auf den ersten zweiundzwanzig sahen wir nichts als dann und wann ein einzelnes Haus oder einen räubermäßig aussehenden Hirten, dem das wirre Haar über das ganze Gesicht hing und der sich bis an das Kinn in einen langhaarigen braunen Mantel gehüllt hatte.

Nachdem wir diese Strecke zurückgelegt hatten, hielten wir, um die Pferde ausruhen zu lassen und ein Nachfrühstück einzunehmen, an einem elenden, von der Malaria geschüttelten hinfälligen Wirtshaus, wo inwendig jeder Zoll Mauer und Balken so jämmerlich bemalt war, daß jedes Zimmer aussah wie die verkehrte Seite eines andern Zimmers, und seine erbärmlich gemalten Draperien und windschiefen Leiern schienen hinter den Kulissen einer reisenden Kunstreitertruppe weggestohlen zu sein.

Als wir wieder auf dem Wege waren, fingen wir an, uns in fieberhafter Erwartung nach Rom umzuschauen; und als endlich nach ein paar Meilen die Ewige Stadt in der Ferne erschien, sah sie aus – ich fürchte mich fast, das Wort niederzuschreiben – wie London!!!

Dort lag sie, unter einer dicken Wolke mit zahllosen Spitzen und Türmen und Dächern in den Himmel getürmt, und hoch über allem schwebte eine Kuppel. Ja, ich schwöre, so tief ich auch die scheinbare Absurdität des Vergleichs fühle, sie sah in dieser Entfernung London so ähnlich, daß ich, wenn ich es in einem Spiegel hätte sehen können, es für nichts anderes gehalten hätte.

 


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