Charles Dickens
Bilder aus Italien
Charles Dickens

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Ein italienischer Traum

Ich war einige Tage unterwegs gewesen; hatte sehr wenig des Nachts und gar nicht am Tage gerastet. Die schnelle und ununterbrochene Reihenfolge von neuen Eindrücken, die ich gehabt, wachte gleich halb verkörperten Träumen wieder auf, und ein Gedränge von Gegenständen irrte in der größten Verwirrung durch meine Seele, als ich auf einer einsamen Straße dahinreiste. Zuweilen hielt das eine oder andere Bild inne in seinem rastlosen Hin- und Herschweben und gestattete mir, es ganz ordentlich zu betrachten und mit vollkommener Deutlichkeit zu sehen. Nach einigen Minuten zerging es dann wieder vor den Augen wie das Bild einer Zauberlaterne, und während ich ein Stück davon ganz deutlich, ein anderes unbestimmt und wieder ein anderes gar nicht erblickte, ließ es mich einen anderen der vielen neuerdings geschauten Orte dahinter und durchschimmernd und immer deutlicher werdend sehen. Aber kaum war dies Bild ganz sichtbar geworden, so verschmolz es auch schon wieder zu einem anderen.

Einmal stand ich wieder vor den braunen alten Kirchen Mantuas. Wie ich die wunderlichen Pfeiler mit den greulichen Ungeheuern als Sockel erkannte, kam es mir vor, als sähe ich sie für sich stehen auf dem ruhigen Platz von Padua, wo die ehrwürdige alte Universität war und hie und da Gruppen von Gestalten in dunklen weiten Talaren wallten. Dann wieder streifte ich im Freien bei dieser lieben Stadt herum und bewunderte das ungewöhnlich schmucke Aussehen der Wohnhäuser, Blumen- und Obstgärten, wie ich sie vor wenigen Stunden gesehen hatte. Gleich darauf erschienen an ihrer Stelle die beiden Türme von Bologna, und der hartnäckigste dieser Gegenstände konnte keine Minute standhalten vor dem dräuenden, grabenumringten Schloß von Ferrara, das wie ein Bild zu einer schauerlichen Sage wieder hervortrat im Morgenrot, herrisch über der einsamen, grasbewachsenen, verfallenen Stadt hervorragend. Kurz, in meinem Geiste herrschte jener angenehme Wirrwarr, der bei Reisenden sehr häufig ist und den sie gern ruhig gewähren lassen. Jeder Stoß des Wagens, in dem ich halbschlummernd im Finstern saß, schien eine alte Erinnerung von ihrem Platz zu werfen und eine neue hinzustellen; und in diesem Zustand schlief ich ein.

Das Stillhalten des Wagens weckte mich nach einiger Zeit auf (so glaubte ich). Es war jetzt ganz Nacht, und wir befanden uns am Rande des Wassers. Hier lag ein schwarzes Boot mit einer kleinen Hütte von derselben Trauerfarbe darauf. Als ich darin Platz genommen, wurde das Boot von zwei Männern zu einem großen Licht, das weit hinaus auf dem Meere glänzte, gerudert.

Dann und wann vernahm man ein schauerliches Seufzen des Windes. Er kräuselte das Wasser und wiegte das Boot und jagte die dunklen Wolken an den Sternen vorüber. Ich konnte nicht umhin zu bemerken, wie seltsam es sei, zu so einer Stunde hinauszuschwimmen, das Land hinter sich lassend und nach jenem Licht auf dem Meer steuernd. Bald fing es an, heller zu brennen; und aus einem Lichte wurde jetzt eine ganze Schar von Kerzen, die aus dem Wasser hervorfunkelten und schimmerten, wie sich das Boot ihnen auf einem traumhaften Pfad, bezeichnet mit Pfählen, näherte.

Wohl eine Meile waren wir so über das Wasser geschwommen, als ich es in meinem Traum gegen ein Hindernis in nächster Nähe rauschen hörte. Wie ich forschend hinaussah, erblickte ich durch das Dunkel etwas Schwarzes, Körperhaftes – wie ein Ufer, aber flach auf dem Wasser liegend wie ein Floß –, an dem wir vorüberglitten. Der Oberste der beiden Ruderer sagte, es sei ein Totenacker.

Erfüllt von der staunenden Aufmerksamkeit, die ein Friedhof hier draußen auf dem einsamen Meer erregen mußte, wandte ich mich zurück, um ihn zu betrachten, als er schnell unsern Blicken entrückt war. Ehe ich wußte, wie oder wodurch, entdeckte ich, daß wir durch eine Straße glitten – eine gespenstische Straße; zu beiden Seiten stiegen die Häuser aus dem Wasser, und das schwarze Boot glitt unter ihren Fenstern dahin. In einigen dieser Fenster glänzten Lichter, die die schwarze Flut mit dem Widerschein ihrer Strahlen besternten; überall aber tiefes Schweigen.

So gelangten wir weiter in die geisterhafte Stadt, immerfort durch enge Straßen und Gassen, alle mit strömendem Wasser angefüllt. Manchmal waren die Ecken, die wir zu umfahren hatten, so spitz und die Gäßchen so eng, daß es dem langen schmalen Boot fast unmöglich schien, hier zu wenden; aber mit einem leisen melodischen Warnungsruf ließen es die Ruderer ohne Pause weitergleiten. Zuweilen beantworteten die Ruderer eines andern schwarzen Bootes den Ruf und, ihre Schnelligkeit hemmend (was, glaubte ich, wir auch taten), schwebten sie an uns vorüber wie ein dunkler Schatten. Andere Boote, von derselben Trauerfarbe, lagen angekettet an bemalten Pfeilern in der Nähe dunkler, geheimnisvoller Tore, die unmittelbar aufs Wasser hinausgingen. Einige dieser Boote waren leer; in andern hatten sich die Ruderer zum Schlafen ausgestreckt; zu einem sah ich einige Gestalten durch einen finsteren Torweg aus dem Innern eines Palastes gehen – in festliche Tracht gekleidet und begleitet von Fackelträgern. Nur einen flüchtigen Anblick hatte ich von ihnen, denn eine Brücke, die so tief auf das Boot herabhing, als wollte sie auf uns herabfallen und uns zerschmettern – eine von den vielen Brücken, die durch diesen Traum spukten –, verdeckte sie sogleich wieder. Weiter fuhren wir, dem Herzen dieser wunderbaren Stadt entgegen – ringsum Wasser, wo man sonst kein Wasser sieht –, Gruppen von Häusern, Kirchen, Prachtgebäuden, mitten aus der Flut steigend – und überall dasselbe seltsame Schweigen. Jetzt schossen wir über einen breiten und offenen Strom, dann, wie mir träumte, an einem geräumigen gepflasterten Kai vorbei, wo die hellen Lampen, mit denen er erleuchtet war, lange Reihen von Bogen und Pfeilern von schwerer Masse und großer Stärke, aber doch dem Auge so leicht erscheinend wie Girlanden von Reif oder Sonnenfäden, zeigten – und wo ich zum erstenmal Menschen gehen sah –, und wir kamen an einer Treppe an, die vom Wasser hinauf zu einem großen Hause führte, wo ich mich, nachdem ich durch unzählige Korridore und Galerien gegangen war, zur Ruhe legte und die schwarzen Boote unter meinem Fenster über das leise plätschernde Wasser hin und her gleiten hörte, bis ich einschlief.

Den prächtigen Tag, der mich in jenem Traum erweckte, seine Frische, seine Bewegung, seine Wonnigkeit, das Funkeln der Sonne auf dem Wasser, den klaren blauen Himmel und die kühle Luft – das alles können die Worte eines Wachenden nicht beschreiben. Aber von meinem Fenster aus sah ich auf Boote und Barken hinab; auf Masten, Segel, Tauwerk und Flaggen; auf Gruppen von rührigen Matrosen, beschäftigt mit der Ladung jener Fahrzeuge; auf geräumige Kais voll von Ballen, Fässern, Waren aller Art; auf große Schiffe, unfern von mir in stolzer Ruhe ankernd; auf Inseln, mit prächtigen Kuppeln und Türmen gekrönt, wo in der Sonne goldene Kreuze schimmerten, hoch oben auf wunderbaren Kirchen, die aus dem Meere emporstiegen! Dann als ich hinabging an den Rand des grünen Meeres, das vor der Türe floß und alle Straßen erfüllte, gelangte ich auf einen Platz von so wunderbarer Schönheit und Großartigkeit, daß er alles andere im Vergleich mit seiner überwältigenden Anmut armselig und alltäglich erscheinen ließ.

Es war eine große Piazza, träumte mir, wie alles übrige im tiefen Meer ankernd. Auf seiner geräumigen Fläche stand ein Palast, majestätischer und prächtiger in seinem greisen Alter als alle Gebäude der Erde in der Kraft und Blüte ihrer Jugend. Klöster und Galerien, so zierlich leicht, als wären sie das Werk von Elfen, so fest, daß Jahrhunderte vergebens sie bestürmt hatten, umgaben rings diesen Palast und schlossen eine Kirche ein, die in der ganzen üppigen Phantastik des Orients prunkte. Nicht weit von ihrer Pforte reckte ein einzeln stehender Turm sein stolzes Haupt empor in den Himmel und schaute auf das Adriatische Meer hinaus. Nahe am Rande des Wassers standen – reich an bösen Erinnerungen – zwei Säulen von rotem Granit; auf dem Gipfel der einen eine Gestalt mit Schwert und Schild, auf der andern ein geflügelter Löwe. Nicht weit von diesen trug ein zweiter Turm – in seinem Schmuck der reichste der reichen, selbst hier, wo alles reich war – auf seiner Spitze eine große Kugel, goldig und tiefblau glänzend; die zwölf Himmelszeichen waren darauf gemalt, und um sie drehte sich eine Sonne, während darüber zwei eherne Riesen die Stunden auf einer tönenden Glocke anschlugen. Ein längliches Viereck hoher Häuser vom weißesten Marmor, umgeben von einer leichten, schönen Arkade, bildete einen Teil des bezaubernden Schauspiels, und hie und da stiegen buntbemalte schlanke Flaggenmasten aus dem immer wechselnden Boden.

Mit träumte, ich träte in den Dom und wanderte durch seine vielen Bogengänge von einem Ende seines Raumes bis zum andern. Ein großartiger, traumhafter Bau von ungeheueren Dimensionen; golden von alten Mosaiken, duftend von Wohlgerüchen, verdüstert von den Wolken des Weihrauchs, reich an Schätzen von kostbaren Steinen und Metallen, die durch eiserne Gitter strahlen, geheiligt mit den Reliquien verstorbener Heiligen, regenbogenfarbig von gemalten Glasfenstern, dunkel von geschnitztem Holz und buntem Marmor, düster oben in seinen Höhen und weiten Fernen, schimmernd mit Silberlampen und flackernden Kerzen, überirdisch, phantastisch, feierlich, unbegreiflich durch und durch. Mir träumte, ich träte in den alten Palast und wandelte durch verödete Gänge und Ratszimmer, wo die alten Regenten dieser Herrscherin der Meere finster von den Wänden herabblickten und wo ihre Galeeren, noch immer siegreich auf der Leinwand, kämpften wie ehemals. Mir träumte, ich wandelte durch die Prunkhallen – jetzt kahl und leer! –, und wie ich über der Stadt alten Glanz und alte Macht, die jetzt verschwunden, nachdachte, da hörte ich eine Stimme sagen: »Einige Wahrzeichen ihrer alten Herrschaft und einige tröstende Gründe für ihren Sturz kann man hier noch sehen!«

Mir träumte dann, ich würde in ein paar unheimliche Gemächer geführt, die mit einem Gefängnis neben dem Palast in Verbindung standen – in Verbindung durch eine hoch über einer Straße sich wölbende Brücke, die man, träumte mir, die Seufzerbrücke nannte.

Aber zuerst kam ich an zwei zackigen Spalten in einer steinernen Mauer vorüber, dem Löwenrachen – jetzt zahnlos –, wo, glaubte ich im Fieberspuk meines Traumes, voreinst viele Anklagen Unschuldiger, wenn finstere Nacht war, hineingeworfen wurden. Wie ich dann das Zimmer sah, wohin Gefangene zum Verhör gebracht wurden, und die Tür, zu der sie hinausgingen, wenn sie verurteilt waren – eine Tür, die sich nie hinter einem Menschen schloß, der noch Leben und Hoffnung vor sich hatte –, da war es mir, als sollte mir das Herz im Leibe erstarren.

Aber noch tiefer wurde es getroffen, als ich mit der Fackel in der Hand aus dem heitern Tag hinab in zwei Reihen schauerlicher Steinzellen stieg. Sie waren ganz finster. In der dicken Mauer einer jeden war ein Loch, wo man einst – träumte mir – alltäglich eine Fackel hineinsteckte, um dem Gefangenen für eine halbe Stunde zu leuchten. Beim Schimmer dieses kärglichen gespendeten Lichtes hatten die Eingekerkerten Inschriften in die geschwärzten Gewölbe gekritzelt und gegraben. Ich sah sie. Denn ihr Mühen mit einem rostigen Nagel hatte ihre Qual und sie durch viele Geschlechter überlebt.

Eine Zelle sah ich, wo kein Mensch länger als vierundzwanzig Stunden blieb; denn er war dem Tode verfallen, wenn er hier eintrat. Gleich daneben eine andere, wohin um Mitternacht der Beichtiger kam – ein Mönch in brauner Kutte und verhüllender Kapuze –, grauenhaft schon bei Tage und in der hellen Sonne, aber in der tiefen Nacht dieses Kerkers der Vernichter der Hoffnung und der Herold des Todes. Ich stand auf der Stelle, wo um dieselbe schauerliche Stunde der Gefangene – nachdem er gebeichtet – erdrosselt wurde, und legte meine Hand auf die niedrig überwölbte Pforte, durch welche der schwerfällige Sack in ein Boot getragen, fortgerudert und dort versenkt wurde, wo ein Netz zu werfen ein todeswürdiges Verbrechen war.

Um diese Kerkerveste und über einem Teil derselben – außen die rauhen Wände bespülend, innen sie mit Schleim und Moder überziehend, abgerissene Wasserpflanzen und allerlei Abfall in Spalten und Ritzen stopfend, als müßte auch den Steinen und Riegeln der Mund gestopft werden: ein stets bereiter, glatter Weg, um die Leichen der geheimen Opfer des Staates fortzuschaffen, ein so bereitwilliger Weg, daß er mit ihnen ging und vor ihnen herlief wie ein grausamer Beamter – floß dasselbe Wasser, welches diesen Traum erfüllte und es selbst damals als einen erscheinen machte.

Als ich vom Palast eine Treppe hinabstieg – die Riesentreppe, glaube ich, genannt –, überkam mich eine traumhafte Erinnerung eines abdankenden Greises, der immer langsamer und schwächer hinabging, als er die die Einsetzung seines Nachfolgers verkündende Glocke läuten hörte. In einer der schwarzen Barken glitt ich weiter, bis wir zu einem alten Arsenal kamen, bewacht von vier marmornen Löwen. Um meinen Traum noch wunderbarer und unwahrscheinlicher zu machen, zeigte einer derselben auf seinem Leib Worte und Sätze, die zu unbekannter Zeit und in unbekannter Sprache, so daß ihre Bedeutung allen Menschen ein Geheimnis war, dort eingegraben worden waren.

Man vernahm wenig Hämmergepoch in dieser Werft und sah nur wenig Arbeit im Werke: denn die Größe der Stadt war nicht mehr, wie ich bereits gesagt habe. Ja, sie erschien wie ein Wrack, das man treibend auf dem Meer gefunden hat; eine fremde Flagge weht über ihm, und Fremde stehen an seinem Steuer. Eine prächtige Barke, in der ehemals das Oberhaupt mit Prunk hinausgefahren war, um sich mit dem Meer zu vermählen, war, träumte ich, nicht mehr vorhanden; aber an seiner Stelle ein zierliches Modell nach der Erinnerung wie die Größe der Stadt; und es sprach von dem, was gewesen (so vermischt sich Starkes und Schwaches im Staube) fast so beredt wie die gewaltigen Pfeiler, Bogen und Dächer, gebaut, um stattliche Schiffe zu überschatten, von denen kein Schatten mehr auf Erden noch auf dem Wasser übrig war.

Ein Zeughaus war noch da, geplündert und beraubt, aber ein Zeughaus. Eine blutrote, den Türken entrissene Fahne trauerte in der dumpfen Luft ihres Kerkers. Reichverzierte Harnische großer Krieger waren dort aufbewahrt; Armbrüste und Bolzen, Köcher und Pfeile, Speere, Schwerter, Dolche, Streitkolben, Schilder und schwere Äxte; Platten von geschmiedetem Stahl; Eisen, um das edle Roß zu einem mit metallenen Schuppen bedeckten Ungeheuer zu machen, und eine Waffe mit kunstreichen Federn (man konnte sie bequem in der Brust tragen), bestimmt, ihr Werk geräuschlos zu tun und Menschen mit vergifteten Pfeilen zu töten.

Einen Schrank sah ich voll fluchbeladener Marterwerkzeuge: entsetzlich ersonnen, um zu foltern und des Menschen Knochen zu zerquetschen und zu zerbrechen und sie mit allen Qualen eines tausendfachen Todes zu zerreißen und zu verrenken. Davor standen zwei eiserne Helme mit Bruststücken, eingerichtet, um sich fest und knapp um das Haupt lebender Opfer zu schließen, und an jedem befand sich ein kleiner Vorsprung, auf den der Folternde sich bequem mit dem Ellbogen stützen und dem Jammern und den Bekenntnissen des Unglücklichen im Helme lauschen konnte. So ähnlich menschlicher Gestalt starrten ihre Züge, so von Schmerz durchkrampft war ihr künstliches Antlitz, daß es einem schwer wurde, sie sich leer zu denken; und schreckliche in ihnen spukende Gesichter schienen mir zu folgen, als ich wieder das Boot bestieg und nach einer Art Garten oder Promenade in dem Meer fuhr, wo Gras und Bäume waren. Aber ich vergaß sie, wie ich am äußersten Ende der Insel stand – ich stand dort in meinem Traum – und über die kräuselnden Wellen in die untergehende Sonne blickte: vor mir am Himmel und über der Tiefe eine purpurne Glut, und hinter mir die ganze Stadt, auf dem Wasser sich in goldene und purpurne Streifen auflösend.

Im Hochgenuß der Wunder eines so köstlichen Traumes achtete ich nur wenig der Zeit und merkte ihr Verstreichen kaum. Aber er hatte Tage und Nächte; und wenn die Sonne hoch stand und wenn die Strahlen der Laternen auf dem fließenden Wasser glitzerten, fuhr ich immer noch – träumte mir –, und die Wellen spülten und plätscherten an den schlüpfrigen Mauern und Häusern, wenn meine schwarze Barke durch die Straßen schwamm.

Zuweilen stieg ich an der Pforte von Kirchen und großen Palästen aus und wanderte durch Gemächer und Kreuzgänge, durch Labyrinthe reicher Altäre und alter Denkmäler, durch verfallene Zimmer, wo der Hausrat, halb schauerlich und halb grotesk, dem Untergang entgegenmoderte. Gemälde waren da von solcher Schönheit und solchem Ausdruck, von so viel Leidenschaft, Wahrheit und so mächtigem Eindruck, daß sie wie lauter jugendliche und frische Wirklichkeiten in einem Heer von Gespenstern aussahen. Ich träumte sie mir oft zusammen mit den alten Tagen der Stadt, mit ihren Schönheiten, Tyrannen, Kriegern, Patrioten, Kaufleuten, Hofleuten, Priestern, ja selbst mit ihren Steinen, Ziegeln und öffentlichen Plätzen – und alles dieses lebte wieder vor mir an den Wänden. Dann schritt ich eine marmorne Treppe hinab, wo das Wasser gegen die untersten Stufen plätscherte, stieg wieder in mein Boot und träumte meinen Traum fort.

Enge Gassen ging es hinab, wo Zimmerleute, die mit Hobel und Stemmeisen in ihren Werkstätten arbeiteten, die leichten Späne unmittelbar ins Wasser warfen, wo sie wie Seekraut lagen und in verwirrtem Haufen vor mir her schwammen. Vorbei an offenstehenden Türen, zerfallen und verfault in der Feuchtigkeit, und dahinter hellgrün und glänzend ein kleiner Rebstock, der mit seinen zitternden Blättern ungewohnte Schatten auf den Fußboden zeichnete. Vorbei an Kais und Terrassen, wo anmutig verschleierte Damen vorübergingen und Herumlungerer in der Sonne auf Steinplatten und Treppen ruhten. Unter Brücken hindurch, wo auch Leute untätig standen und in das Wasser hinabsahen. Unter steinernen Söllern vorbei, die in schwindelnder Höhe vor den höchsten Fenstern der höchsten Häuser hingen. Vorbei an Gärten, Theatern, Heiligennischen, wunderbaren Gebäudemassen – gotisch – maurisch – phantastisch geschmückt mit den Phantasien aller Zeiten und Völker. An Gebäuden vorbei, die hoch waren und niedrig, schwarz und weiß, gerade und krumm, ärmlich und großartig, gebrechlich und fest. Langsam durch einen wirren Haufen von Booten und Barken, und endlich in den großen Kanal hinein! Da sah ich im launischen Wechsel meines Traums den alten Shylock hin und her gehen auf der Brücke, die ganz bebaut war mit Läden und laut vom Gesumm vieler Menschenzungen, und eine Frauengestalt – mein Traum sagte mir, es sei Desdemona – beugte sich aus einem Gitterfenster, um eine Blume zu pflücken. Und im Traum glaubte ich, Shakespeares Geist müßte hier irgendwo über dem Wasser schweben und durch die Stadt irren.

Nachts, wenn zwei Votivlampen vor einer Madonna in einer Galerie dicht unter dem Dach des großen Domes brannten, träumte mir, die große Piazza des geflügelten Löwen sei erhellt von heiterem Licht und die Arkaden seien gedrängt voll von Menschen, während ganze Scharen sich in den prächtigen Kaffeehäusern am Platze – die nie geschlossen wurden, sondern die ganze Nacht geöffnet blieben – unterhielten. Wenn die ehernen Riesen Mitternacht an der Glocke anschlugen, da, träumte mir, sei hier alles Leben und aller Verkehr der Stadt vereinigt; und wie ich längs der öden Kais wieder wegruderte, sah ich dort nur einzelne schlafende Gondoliere, die sich in ihre Mäntel gehüllt hatten und ausgestreckt auf dem steinernen Fußboden lagen.

Aber dicht bei den Kais und Kirchen, Palästen und Kerkern, an den Mauern nagend und in die geheimen Winkel der Stadt schleichend, wogte das Wasser; geräuschlos und lauernd, mit seinen vielen Ringen sich rundumschlingend wie eine alte Schlange, der Zeit harrend, träumte mir, wo die Menschen in seinen Tiefen nach einem einzigen Stein der alten Stadt, die einst seine Herrin sein wollte, suchen würden.

So trug mich das Wasser dahin, bis ich auf dem alten Marktplatz von Verona erwachte. Viele, viele Male habe ich seitdem wieder an diesen wunderbaren Traum auf dem Wasser gedacht, und ich habe mich halbverwundert gefragt, ob er noch dort liege und ob sein Name Venedig sei.

 


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