Charles Dickens
Klein-Dorrit. Erstes Buch
Charles Dickens

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Siebzehntes Kapitel.

Niemandes Rival.

Morgens vor dem Frühstück ging Arthur aus, um sich die nächste Umgebung anzusehen. Da der Morgen schön war und er eine Stunde zur Verfügung hatte, setzte er mit der Fähre über den Fluß und ging einen Fußpfad entlang durch einige Wiesen. Als er wieder an den Rainweg kam, fand er die Fähre auf der andern Seite und einen Herrn, der dem Fährmann zurief, er solle ihn übersetzen.

Dieser Gentleman schien kaum dreißig Jahre alt zu sein. Er war gut gekleidet, von frischem und heiterem Aussehen, hübschem Wuchs und einer tiefen, dunklen Gesichtsfarbe. Als Arthur über die Stiege kam und nach dem Wasser hinabschritt, sah ihn der Müßiggänger einen Augenblick an und fuhr dann in seiner Beschäftigung, hoch aufspringende Steine mit dem Fuße in das Wasser zu schleudern, fort. Es lag in der Art, wie er sie mit dem Absatz von ihrem Platz stieß und in die gewünschte Lage brachte, etwas, das Clennam wie eine Grausamkeit erschien. Die meisten von uns haben mehr oder weniger aus der Art und Weise, wie jemand oft etwas sehr Unbedeutendes tut, als Blumen pflücken, ein Hindernis wegräumen oder sogar einen gefühllosen Gegenstand zerstören, einen ähnlichen Eindruck empfangen.

Die Gedanken des Gentleman waren, wie sein Gesicht zeigte, ganz und gar mit etwas anderem beschäftigt; er nahm keine Notiz von dem schönen Neufundländer Hunde, der ihn aufmerksam betrachtete und auch jeden Stein beobachtete, an den die Reihe kam, um ihm rasch in den Fluß nachzuspringen, wenn sein Herr das Zeichen gäbe. Die Fähre kam jedoch herüber, ohne daß er ein Zeichen erhielt, und als sie anlegte, nahm ihn sein Herr beim Halsband und ließ ihn einsteigen.

»Diesen Morgen nicht«, sagte er zu dem Hunde. »Du würdest nicht für Damengesellschaft passen, wenn du tropfnaß wärest. Kusch' dich.«

Clennam folgte dem Herrn und dem Hund in das Boot und nahm seinen Sitz ein. Der Hund tat, wie ihm befohlen worden. Der Herr blieb mit den Händen in den Taschen stehen und pflanzte sich zwischen Clennam und der Aussicht auf. Herr und Hund sprangen leicht heraus, sobald das Boot an das andre Ufer stieß, und gingen weg. Clennam war froh, ihrer los zu sein.

Die Kirchenuhr schlug die Frühstücksstunde, und er ging die kleine Allee hinauf, durch die man sich dem Gartentor näherte. Im Augenblick, als er die Glocke anzog, schlug ihm ein tiefes, lautes Gebell hinter der Mauer entgegen.

»Ich hörte doch verflossene Nacht keinen Hund«, dachte Clennam. Das Tor wurde von einem der rosigen Mädchen geöffnet, und auf dem Grasplatz vor dem Hause befanden sich der Neufundländer Hund und der Herr.

»Miß Minnie ist noch nicht unten, meine Herren«, sagte die errötende Pförtnerin, als sie alle in dem Garten zusammenkamen. Dann sagte sie zu dem Herrn des Hundes: »Mr. Clennam, Sir«, und trippelte fort.

»Seltsam, Mr. Clennam, daß wir uns gerade erst vorhin treffen mußten«, sagte der Herr, worauf der Hund still wurde. »Erlauben Sie, mich Ihnen vorzustellen – Henry Gowan. Ein hübscher Ort hier und sieht diesen Morgen wundervoll aus.«

Das Benehmen war leicht und die Stimme angenehm; aber Clennam dachte doch, wenn er nicht den entschiedenen Entschluß gefaßt, es zu vermeiden, sich in Pet zu verlieben, würde ihm dieser Henry Gowan mißfallen.

»Er ist Ihnen vermutlich neu?« sagte dieser Gowan, als Arthur den Ort gepriesen.

»Ganz neu. Ich lernte ihn erst gestern nachmittag kennen.«

»Ah! Es ist natürlich nicht die beste Zeit. Im Frühjahr bot er einen reizenden Anblick, ehe man das letztemal wegging. Ich wünschte, Sie hätten ihn damals gesehen.«

Wenn Clennam nicht den oft erwähnten Entschluß gefaßt hätte, so würde er ihn sicher in den Krater des Ätna für diese Höflichkeit gewünscht haben.

»Ich hatte das Vergnügen, diesen Besitz unter mancherlei Umständen während der drei letzten Jahre zu sehen, und es ist – ein Paradies.«

Es glich (wenigstens wäre es möglich gewesen, abgesehen natürlich von dem klugen Entschluß) seiner listigen Unverschämtheit, es ein Paradies zu nennen. Er nannte es bloß ein Paradies, weil er sie zuerst kommen sah, und erklärte sie auf diese Weise so laut, daß sie es hören konnte, für einen Engel. Verderben ihm!

Und ach, wie strahlend sah sie aus und wie heiter! Wie liebkoste sie den Hund und wie kannte sie der Hund! Wie ausdrucksvoll diese glühendere Röte ihres Gesichts, dieses verlegene Benehmen, diese niedergeschlagenen Augen, dieses schüchterne Glück! Wann hatte Clennam sie so gesehen! Nicht daß ein Grund vorhanden gewesen, weshalb er sie hätte so wie jetzt gesehen haben sollen, können, mögen, oder daß er je gehofft, sie so zu seinen Gunsten zu sehen wie jetzt; und doch – wann hätte er sie so gesehen!

Er stand in einiger Entfernung von ihnen. Als dieser Gowan von einem Paradies gesprochen, war er auf sie zugegangen und hatte ihre Hand ergriffen. Der Hund hatte seine großen Pfoten auf ihren Arm gelegt und seinen Kopf an ihre teure Brust gelehnt. Sie hatte gelacht und sie bewillkommt und viel zu viel Wesens mit dem Hund gemacht, viel, viel zu viel – das heißt, vorausgesetzt, es war eine dritte Person zugegen, die sie geliebt hätte.

Sie machte sich jetzt los, kam auf Clennam zu, legte ihre Hand in die seine, wünschte ihm guten Morgen und gab ihm auf anmutige Weise zu verstehen, daß sie seinen Arm zu nehmen und in das Haus geführt zu werden wünsche. Dieser Gowan machte keine Einwendung. Nein, er wußte sich zu sicher.

Es zog eine Wolke über Mr. Meagles' aufgeräumtes Gesicht, als sie alle drei (vier, den Hund mit eingerechnet; mit Ausnahme eines andern waren gegen ihn die meisten Einwendungen zu machen) zum Frühstück eintraten. Weder diese Wolke noch der leichte Verdruß, den Mrs. Meagles empfand, als sie ihre Blicke auf sie richtete, blieben von Clennam unbemerkt.

»Nun, Gowan«, sagte Mr. Meagles, sogar einen Seufzer unterdrückend: »wie geht es Ihnen diesen Morgen?«

»Ganz wie immer, Sir. Lion und ich, entschlossen, nichts von unserem wöchentlichen Besuch zu verlieren, machten uns frühzeitig auf den Weg und kamen von Kingston herüber, meinem gegenwärtigen Hauptquartiere, wo ich einige Skizzen mache.« Dann erzählte er, wie er mit Mr. Clennam auf der Fähre zusammengetroffen und sie miteinander herübergekommen seien.

»Mrs. Gowan befindet sich doch wohl, Henry?« sagte Mrs. Meagles (Clennam wurde aufmerksam).

»Meine Mutter befindet sich ganz wohl, ich danke (Clennam wurde unaufmerksam). Ich habe mir die Freiheit genommen, Ihnen einen Zuwachs zu Ihrem heutigen Familiendiner einzuladen, der Ihnen und Mr. Meagles hoffentlich nicht unangenehm sein wird. Ich konnte der Sache nicht wohl ausweichen«, erklärte er, sich an Mr. Meagles wendend. »Der junge Mann schrieb deshalb an mich, und da er von guter Familie ist, so dachte ich, Sie würden nichts dagegen haben, wenn ich ihn hierherbringe.«

»Wer ist der junge Mann?« fragte Mr. Meagles mit eigentümlicher Gefälligkeit.

»Es ist einer von den Barnacles, Tite Barnacles Sohn, Clarence Barnacle, der in seines Vaters Departement arbeitet. Ich kann zum mindesten garantieren, daß der Fluß nichts von seinem Besuche leiden wird. Er wird ihn nicht in Flammen setzen.«

»Ah, ah!« sagte Meagles. »Es ist ein Barnacle? Wir kennen diese Familie, nicht wahr, Dan? Bei St. Georg, sie sind oben auf dem Baume! Lassen Sie mich hören. Wie wird dieser junge Mann mit Lord Decimus verwandt sein? Seine Lordschaft heiratete im Jahre siebenzehnhundertsiebenundneunzig Lady Jemina Bilberry, die die zweite Tochter dritter Ehe – nein! Da bin ich im Irrtum! Das war Lady Seraphina – Lady Jemina war die erste Tochter aus der zweiten Ehe des fünfzehnten Earl von Stiltstalking mit der ehrenwerten Clementine Toozellem. So ist es richtig. Dieses jungen Menschen Vater nun heiratete eine Stiltstalking, und sein Vater heiratete seine Base, die eine Barnacle war. Der Vater des Vaters, der eine Barnacle heiratete, heiratete eine Joddleby – Ich gehe etwas zu weit zurück, Gowan; ich möchte herausbringen, wie dieser junge Mann mit Lord Decimus verwandt ist.«

»Das ist leicht festgestellt. Sein Vater ist ein Neffe von Lord Decimus."

»Neffe – von – Lord – Decimus«, wiederholte Mr. Meagles mit einem gewissen Behagen und geschlossenen Augen, um nichts von dem vollen Duft dieses Stammbaumes zu verlieren. »Bei St. Georg, Sie haben recht, Gowan. So ist es.«

»Folglich ist Lord Decimus sein Großonkel.«

»Aber, warten Sie einen Augenblick!« sagte Mr. Meagles, seine Augen mit einer neuen Entdeckung öffnend. »So ist Lady Stiltstalking mütterlicherseits seine Großtante.«

»Allerdings.«

»Ah, ah, ah!« sagte Mr. Meagles mit großem Interesse. »Wirklich, wirklich? Wir werden uns freuen, ihn zu empfangen. Wir wollen ihn so gut unterhalten, wie wir bei unsern beschränkten Mitteln können; jedenfalls soll er hoffentlich nicht bei uns verhungern.«

Bei Beginn des Gesprächs hatte Clennam einen großen harmlosen Ausbruch von Mr. Meagles erwartet, wie den im Circumlocution Office, als er Doyce am Kragen hielt. Aber sein guter Freund hatte eine Schwäche, die festzustellen keiner von uns nur in die nächste Straße zu gehen braucht, und die keine auch noch so gewichtige Erfahrung im Circumlocution Office lange unterdrücken konnte. Clennam sah Doyce an; aber Doyce wußte alles im voraus, sah auf seinen Teller, machte kein Zeichen und sagte kein Wort.

»Ich bin Ihnen sehr verbunden«, sagte Gowan, um der Sache ein Ende zu machen. »Clarence ist ein großer Esel, aber er ist einer der liebenswürdigsten und besten Jungen von der Welt.«

Es schien, noch ehe das Frühstück vorüber, daß jeder Mensch, den dieser Gowan kannte, mehr oder minder ein Esel, oder mehr oder minder ein Spitzbube war. Aber sie waren alle nichtsdestoweniger die liebenswürdigsten, einnehmendsten, einfachsten, wahrsten, freundlichsten, teuersten, besten Jungen, die jemals existiert haben. Der Gedankengang, durch den dieses Resultat stets erzielt wurde, mochte bei Henry Gowan folgender sein: »Ich habe ein Recht darauf, über jedes Menschen Taten mit größter Genauigkeit Buch zu führen und sorgfältig sein Gut und Böse aufzunotieren. Ich tue das so gewissenhaft, daß ich mich glücklich schätze. Ihnen auseinandersetzen zu können, wie die unwürdigsten Menschen zugleich die liebenswürdigsten Jungen sind. Ich bin in der Lage, Ihnen die erfreuliche Mitteilung zu machen, daß weit weniger Unterschied zwischen einem Ehrenmann und einem Schurken ist, als Sie glauben.« Die Folge dieser erfreulichen Entdeckung war die, daß, während er peinlich besorgt zu sein schien, in den meisten Menschen gute Eigenschaften zu finden, er diese aber, wo sich solche wirklich fanden, herabsetzte und sie wiederum steigerte, wo sie nicht vorhanden waren; das war jedoch der einzige unangenehme oder gefährliche Zug an ihm.

Dies schien jedoch Mr. Meagles keineswegs so viel Befriedigung zu gewähren wie die Genealogie der Barnacles. Die Wolke, die Clennam nie vor diesem Morgen auf seinem Gesicht gesehen, zog wieder häufig darüber hin, und derselbe Schatten von Mißbehagen lag auf dem freundlichen Gesicht seiner Frau, wenn sie ihn beobachtete. Mehr als ein- oder zweimal, wenn Pet den Hund liebkoste, kam es Clennam vor, als ob ihr Vater darüber unglücklich wäre; und namentlich einmal, als Gowan auf der andern Seite des Hundes stand und sich zu gleicher Zeit herabbeugte, glaubte Arthur Tränen in Mr. Meagles' Augen treten zu sehen, während er aus dem Zimmer eilte. Es war ferner entweder Tatsache, oder er bildete es sich wenigstens ein, daß Pet nicht gleichgültig gegen diese kleinen Zwischenfälle war; daß sie mit mehr als gewöhnlicher Zärtlichkeit ihrem Vater auszudrücken suchte, wie sehr sie ihn liebe; daß sie sowohl bei dem Gang nach der Kirche wie auf dem Heimweg hinter den übrigen zurückblieb und seinen Arm nahm. Er hätte schwören mögen, daß, als er später allein in den Garten ging, er sie flüchtig in ihres Vaters Zimmer gesehen hatte, wie sie mit der größten Zärtlichkeit ihre beiden Eltern umarmt und an ihres Vaters Brust geweint hatte.

Da der spätere Teil des Tages regnerisch wurde, so war man halb gezwungen, zu Hause zu bleiben, sich die Sammlung Mr. Meagles' anzusehen und die Zeit mit Plaudern zu verscheuchen. Gowan wußte eine Menge von sich zu sagen und sagte es in ungezwungener und amüsanter Weise. Er schien ein Künstler von Beruf und einige Zeit in Rom gewesen zu sein; – aber sowohl seine Liebe zur Kunst als seine Talente hatten etwas Oberflächliches, Flüchtiges, Liebhaberartiges – sie hinkten sichtlich –, was auf Clennam befremdend wirkte.

Er wandte sich an Daniel Doyce, mit dem er zusammen zum Fenster hinaus schaute, um Aufklärung.

»Sie kennen Mr. Gowan?« sagte er leise.

»Ich habe ihn hier gesehen. Er kommt jeden Sonntag hierher, wenn sie daheim sind.«

»Ein Künstler, vermute ich, nach dem, was er sagt?«

»Etwas der Art«, sagte Daniel Doyce in mürrischem Tone.

»Was der Art?« fragte Clennam lächelnd.

»Nun, er schlenderte mit langsamem Spazierschritt unter den Künsten umher«, sagte Doyce, »und ich glaube kaum, daß sie sich gerne so kalt behandeln lassen.«

Durch fortgesetzte Nachforschungen bekam Clennam heraus, daß die Familie Gowan ein sehr entfernter Zweig der Barnacles war, und daß der Vater Gowans anfänglich einer auswärtigen Gesandtschaft beigegeben und als Kommissar keiner bestimmten Ortschaft pensioniert worden, sondern auf seinem Posten mit der bezogenen Besoldung in der Hand gestorben war und diese bis zu seinem Ende tapfer verteidigt hatte. In Anbetracht dieses eminenten Dienstes für den Staat hatte der Barnacle, der damals am Ruder war, der Krone empfohlen, der Witwe eine Pension von zwei- bis dreihundert Pfund jährlich auszusetzen. Dazu hatte der nächste Barnacle, der ans Ruder kam, gewisse schattige und stille Zimmer im Palast von Hampton Court gefügt, wo die alte Dame noch lebte und über die Entartung der Zeiten mit mehren andern alten Weibern beiderlei Geschlechts klagte.

Ihr Sohn, Mr. Henry Gowan, von seinem Vater, dem Kommissar, die äußerst zweifelhafte Unterstützung im Leben, ein sehr kleines Vermögen, erbend, war schwer unterzubringen gewesen, um so weniger, als nicht viele öffentliche Stellen gerade zu vergeben waren, und sein Genie war während seines früheren Mannesalters von jenem ausschließlich ländlichen Charakter, der sich der Kultur des wilden Hafers widmet. Endlich hatte er erklärt, daß er Maler werden wolle; teils, weil er immer ein unbedeutendes Talent für die Malerei gehabt, und teils, um den Herzen der Barnacles-en-chef, die nicht für ihn gesorgt, einen Schmerz zu bereiten.

So war es nach und nach gekommen, erstens, daß verschiedene Damen von Rang furchtbaren Ärger empfanden, dann daß Mappen mit seinen Arbeiten bei Abend herumgegeben und mit Begeisterung für vollkommene Claudes, vollkommene Cuyps, vollkommene Phänomene erklärt worden waren; ferner, daß Lord Decimus sein Gemälde gekauft, den Präsidenten und den akademischen Rat auf einmal zum Diner eingeladen und mit der ihm eigenen Gravität gesagt hatte: »Wissen Sie, es scheint mir wirklich ein bedeutendes Verdienst in diesem Werk zu sein.« Kurz, daß Leute von Rang sich ausdrücklich vorgenommen hatten, ihn in die Mode zu bringen, aber Gott weiß, wie das alles fehlgeschlagen war. Das vorurteilsvolle Publikum hatte sich hartnäckig dagegen gestemmt. Es hatte sich vorgenommen, Lord Decimus' Bild nicht zu bewundern. Es hatte sich vorgenommen zu glauben, daß ein Mann sich bei jedem Beruf, mit Ausnahme ihres eignen, auszeichnen müsse, wenn er früh und spät ringe, mit Herz und Seele und mit allen Kräften arbeite. So hing Mr. Gowan jetzt wie der abgenutzte alte Sarg, der nie Mohammed, noch sonst jemandem gehört hatte, zwischen zwei Angeln: scheelsüchtig und eifersüchtig in bezug auf das eine, was er aufgegeben; scheelsüchtig und eifersüchtig in bezug auf das andere, was er nicht erreichen konnte.

Das war das Wesentliche von dem, was Clennam an jenem regnerischen Sonntagnachmittag und später über ihn erfuhr.

Ungefähr eine Stunde nach der Essenszeit erschien der junge Barnacle in Begleitung seines Monokels. Zu Ehren seiner Familienbeziehungen hatte Mr. Meagles die hübschen Stubenmädchen für diesen Tag entlassen und an ihrer Statt zwei schmutzige Männer in Pflicht genommen. Der junge Barnacle war im höchsten Grad erstaunt und verlegen, als er Arthurs ansichtig wurde, und murmelte unwillkürlich: »Sehen Sie! – Auf Ehre! wie gesagt!« ehe er seine Fassung wiedergefunden.

Auch dann war er noch genötigt, die nächste Gelegenheit zu ergreifen, seinen Freund in ein Fenster zu nehmen und in näselndem Tone, der ein Teil seiner allgemeinen Schwäche war, zu sagen:

»Ich muß Sie sprechen, Gowan. Hören Sie mal. Sagen Sie, wer ist der Mensch?«

»Ein Freund von unsern Wirten. Keiner von mir.«

»Er ist ein sehr heftiger Radikaler, müssen Sie wissen«, sagte der junge Barnacle.

»Wirklich? Woher wissen Sie das?«

»Gewiß, Sir, er bestürmte unsere Leute in den letzten Tagen auf die schrecklichste Weise. Er kam sogar nach unserer Wohnung und bestürmte meinen Vater in solchem Grad, daß es notwendig wurde, ihn hinauszuschaffen. Sehen Sie, Sie haben noch keinen solchen Kameraden gesehen.«

»Was wollte er denn?«

»Nun, Sir«, erwiderte der junge Barnacle, »er sagte, er möchte wissen. Sie wissen schon. Drang durch unser Departement – ohne eine Anweisung zu haben – und sagte, er möchte wissen –!!«

Der starre Blick der Entrüstung, mit dem der junge Barnacle diese Enthüllung begleitete, würde seine Augen schrecklich verrenkt haben, wenn nicht glücklicherweise das Essen ihn davon befreit hätte. Mr. Meagles (der außerordentlich begierig war zu erfahren, wie sich sein Onkel und seine Tante befanden) bat ihn, Mrs. Meagles in das Speisezimmer zu führen. Und als er auf Mrs. Meagles' rechter Seite saß, sah Mr. Meagles so befriedigt aus, als wenn seine ganze Familie dort säße.

Der ganze natürliche Reiz des vorhergehenden Tages war vorbei. Die Essenden wie das Essen selbst waren lauwarm, unschmackhaft, abgestanden – und an alledem war der miese, kleine, schale, junge Barnacle schuld! Von je gesprächlos, war er nun das Opfer einer besondern Schwäche, die der Augenblick herbeiführte und an der nun Clennam schuld war. Er mußte unwillkürlich beständig diesen Gentleman ansehen, was die Veranlassung war, daß sein Monokel in seine Suppe, sein Weinglas, in Mr. Meagles' Teller fiel, daß seine Monokel-Klingelschnur hinten hinabhing und mehr als einmal von einem der schmutzigen Männer ihm zu seinem Ärger wieder auf die Brust herumgehängt werden mußte. Durch seine häufigen Verluste dieses Instruments außer Fassung gebracht, da es fest entschlossen schien, nicht im Auge steckenzubleiben, wurde er immer verlegener, sooft er dem geheimnisvollen Clennam ins Gesicht blickte, und brachte Löffel, Gabeln und andere zum Tischgedeck gehörende Gegenstände ans Auge. Die Entdeckung dieser Mißgriffe vermehrten seine peinliche Lage, aber befreiten ihn nicht von der Notwendigkeit, Clennam anzusehen. Und sooft Clennam sprach, wurde dieser unglückliche junge Mann von der Besorgnis erfaßt, er möchte durch irgendeine künstliche List auf den Punkt kommen, »wissen zu wollen, Sie wissen schon.«

Es mag deshalb die Frage entstehen, ob irgend jemand außer Mr. Meagles viele Freude von dieser Zeit hatte. Mr. Meagles jedoch freute sich des jungen Barnacle aus voller Seele. Wie eine einfache Flasche von dem goldnen Wasser im Märchen ein voller Springbrunnen wurde, wenn man sie ausgoß, so schien Mr. Meagles dieses kleine Gewürz von Barnacle seinem Tisch den Duft des ganzen Stammbaumes mitzuteilen. In seiner Gegenwart erblaßten seine offnen, feinen, natürlichen Eigenschaften; er war nicht so ungezwungen, er war nicht so einfach, er suchte noch etwas, das ihm nicht eigen war, er war nicht er selbst. Welch eine seltsame Eigenheit auf seiten Mr. Meagles', und wo sollten wir einen ähnlichen Fall finden?

Endlich löste sich der nasse Sonntag in eine nasse Nacht auf, und der junge Barnacle fuhr schwach rauchend in einem Cab nach Hause; der fatale Gowan ging zu Fuß weg in Begleitung des fatalen Hundes; Pet hatte sich den ganzen Tag auf das liebenswürdigste bemüht, freundlich gegen Clennam zu sein; aber Clennam war seit dem Frühstück etwas zurückhaltend – das heißt, er wäre es gewesen, wenn er sie geliebt hätte.

Als er auf sein Zimmer gegangen und sich wieder in seinen Stuhl vor dem Feuer geworfen, pochte Mr. Doyce an die Tür, das Licht in der Hand, um ihn zu fragen, wie und um welche Stunde er morgen zurückzukehren gedenke? Nachdem dies erledigt war, sagte er zu Mr. Doyce ein Wort über diesen Gowan, – der ihn noch mehr beunruhigt hätte, wenn er sein Rival gewesen wäre –:

»Das sind keine guten Aussichten für einen Maler.«

»Nein«, versetzte Doyce.

Mr. Doyce stand, den Leuchter in der Hand, die andere Hand in seiner Tasche, starr in die Flammen seines Lichtes sehend, mit dem ruhigen Ausdruck im Gesichte da, als ob sie sich noch etwas zu sagen hätten.

»Unser guter Freund schien etwas verändert und nicht sehr aufgeräumt, als er heute morgen kam?« sagte Clennam.

»Ja«, versetzte Doyce.

»Aber seine Tochter nicht?« sagte Clennam.

»Nein«, sagte Doyce.

Es entstand eine Pause auf beiden Seiten. Mr. Doyce, der immer in die Flamme blickte, sagte langsam:

»Die Sache ist die, er hat zweimal seine Tochter ins Ausland geschickt, in der Hoffnung, sie von Mr. Gowan zu trennen. Er glaubt, sie liebe ihn, und ihn quälen deshalb peinliche Zweifel (ich muß ihm ganz zustimmen, und, wie ich zu sagen mich erkühne, auch Sie) wegen der Hoffnungslosigkeit einer solchen Heirat.«

»Na –« stotterte Clennam und hustete und hielt wieder inne.

»Ja, ja, Sie haben sich erkältet«, sagte Daniel Doyce.

»Es besteht ein Verhältnis zwischen ihnen, nicht wahr?« sagte Clennam angeregt.

»Nein. Wie man mir sagte, wirklich nicht. Von des Gentlemans Seite ist ein solches anzuknüpfen versucht worden, aber es ist nicht zustande gekommen. Seit ihrer kürzlichen Rückkehr hat unser Freund zu einem wöchentlichen Besuch seine Zustimmung gegeben, aber das ist das äußerste. Minnie würde ihren Vater und ihre Mutter nicht hintergehen. Sie sind mit ihnen gereist, und ich glaube, Sie wissen, welch inniges Band sie verknüpft, das sich selbst über dieses Leben hinaus erstrecken wird. Alles, was zwischen Miß Minnie und Mr. Gowan vorgeht, daran zweifle ich nicht, sehen wir.«

»Ach, wir sehen genug!« rief Arthur.

Mr. Doyce wünschte ihm in dem Tone eines Mannes, der einen düstern, wir wollen nicht sagen, verzweifelnden Ausruf gehört und der dem Gemüt desjenigen, der diesen Seufzer ausgestoßen, etwas Mut und Hoffnung einzuflößen wünscht: Gute Nacht! Dieser Ton war vermutlich ein Teil seiner Wunderlichkeit als eines Menschen, der zur Schar der Sonderlinge zählt, denn wie konnte er etwas der Art hören, ohne daß es Clennam auch hörte?

Der Regen fiel schwer auf das Dach und plätscherte auf den Boden und tröpfelte unter dem Immergrün und den blattlosen Zweigen der Bäume. Der Regen fiel schwer und traurig. Es war eine Nacht voll Tränen.

Wenn Clennam nicht fest entschlossen gewesen, sich nicht in Pet zu verlieben; wenn er die Schwachheit gehabt, es dennoch zu tun; wenn er sich nach und nach überredet hätte, allen Ernst seiner Natur, alle Macht seiner Hoffnung und allen Reichtum seines gereiften Charakters auf diesen Wurf zu setzen: wenn er dies getan und gefunden, daß alles verloren sei, wäre er diese Nacht unaussprechlich elend gewesen.

So wie die Sachen standen, fiel nur der Regen schwer und traurig herab.

 


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