Charles Dickens
David Copperfield - Teil 1
Charles Dickens

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Zwölftes Kapitel.

Da mir das Leben auf eigene Faust durchaus nicht mehr gefällt, fasse ich einen großen Entschluß.

Nach Ablauf der gehörigen Zeit kam Mr. Micawbers Petition zur Verhandlung, und das Gericht ordnete zu meiner großen Freude seine Freilassung an. Seine Gläubiger zeigten sich nicht unversöhnlich; und Mrs. Micawber erzählte mir, daß selbst der grimmige Schuhmacher öffentlich vor Gericht erklärt habe, er trage ihm nichts Böses nach, wünsche aber bezahlt zu sein, wenn man ihm Geld schulde. Er sagte, er glaube, das sei menschlich.

Mr. Micawber kehrte nach der Verhandlung nach Kings-Bench zurück, als seine Sache entschieden war, denn es waren noch Spesen zu bezahlen und einige Förmlichkeiten zu erfüllen, ehe er tatsächlich ganz frei wurde. Der Klub empfing ihn mit Begeisterung und gab diesen Abend ihm zu Ehren ein musikalisches Kränzchen; während Mrs. Micawber und ich, umgeben von der schlummernden Familie, privatim Lammbraten verspeisten.

»Bei dieser Gelegenheit will ich mit Ihnen, Master Copperfield,« sagte Mrs. Micawber, bei einem zweiten Glase Eierpunsch – wir hatten schon mehrere getrunken – »auf das Wohl von Papa und Mama trinken.«

»Sind sie tot, Madame?« fragte ich, nachdem ich mit ihr angestoßen hatte.

»Meine Mutter schied von dieser Welt,« sagte Mrs. Micawber, »bevor Mr. Micawbers Bedrängnisse anfingen, oder mindestens bevor sie so drückend wurden. Mein Papa lebte noch lange genug, um mehrmals für Mr. Micawber Bürgschaft zu leisten, und starb dann, beweint von einem zahlreichen Freundeskreis.«

Mrs. Micawber schüttelte den Kopf und ließ eine fromme Träne auf den Zwilling fallen, der gerade bei der Hand war.

Da ich schwerlich eine günstigere Gelegenheit zu einer Frage, die mir sehr am Herzen lag, finden konnte, sagte ich zu Mrs. Micawber:

»Darf ich fragen, Madame, was Sie und Mr. Micawber jetzt, wenn Mr. Micawber wieder frei ist, zu tun gedenken? Haben Sie schon einen Entschluß gefaßt?«

»Meine Familie,« sagte Mrs. Micawber, die diese Worte immer mit einem gewissen Stolze sprach, obgleich ich nie entdecken konnte, wer eigentlich darunter zu verstehen war, »meine Familie ist der Meinung, daß Mr. Micawber London verlassen und seine Talente in der Provinz verwenden soll. Mr. Micawber ist ein Mann von großem Talent, Master Copperfield!«

Ich sagte: »Daran zweifle ich nicht.«

»Von großem Talent«, wiederholte Mrs. Micawber. »Meine Familie ist der Meinung, daß für einen Mann von solcher Fähigkeit mit einiger Fürsprache etwas beim Zollamte erreicht werden kann. Da meine Familie einige Lokaleinflüsse hat, so soll Mr. Micawber nach Plymouth gehen. Sie halten es für unbedingt notwendig, daß er sich an Ort und Stelle begibt.«

»Damit er stets bereit ist«, meinte ich.

»Ganz recht«, erwiderte Mrs. Micawber. »Damit er stets bereit ist – im Fall sich etwas finden sollte.«

»Und begleiten Sie ihn, Madame?«

Die Ereignisse des Tages, die Zwillinge und vielleicht auch der Eierpunsch hatten Mrs. Micawber sehr weich gemacht, und sie gab mir weinend zur Antwort:

»Ich werde Mr. Micawber nie verlassen. Wenn er mir auch im Anfang seine Geldschwierigkeiten verhehlt hat, so mag ihn doch sein vertrauensseliger Charakter zu dem Glauben verleitet haben, er werde ihrer Herr werden können. Das Perlenhalsband und die Armbänder, die ich von Mama geerbt habe, sind allerdings weit unter der Hälfte ihres Wertes losgeschlagen worden, und die Korallengarnitur, mein Hochzeitsgeschenk von Papa, ist geradezu verschleudert worden. Aber ich werde Mr. Micawber nun und nie verlassen! Nein, nein, das werde ich nun und nimmer tun! Es ist ganz umsonst, das von mir zu verlangen!« fügte Mr. Micawber mit einem noch heftigem Ausbruche hinzu.

Mir wurde es ganz unbehaglich – das hatte gerade so geklungen, als ob ich derartiges von ihr verlangt hätte.

»Mr. Micawber hat ja seine Fehler. Ich leugne nicht, daß er allzu kühn ist. Ich leugne nicht, daß er mich betreffs seiner Hilfsquellen und Verbindlichkeiten im Dunkeln gelassen hat, aber ich werde Mr. Micawber« – und sie starrte dabei die Wand an – »nie verlassen!«

Da sich Mrs. Micawbers Stimme jetzt zu gellenden Tönen gesteigert hatte, so war ich so geängstigt, daß ich eiligst nach dem Zimmer rannte, wo der Klub seine Sitzung hatte, und Mr. Micawber als Präsidenten einer langen Tafelrunde störte, bei der er den Vorsänger eines fröhlichen Chorliedes machte.

»Steh' auf, Dobbin, steh' auf,
Steh' auf, Dobbin, steh' auf,
Steh' auf, Dobbin, steh' auf – a – u – auf!«

Als ich ihm den Zustand Mrs. Micawbers kurz meldete, brach er sogleich in Tränen aus, stand auf und eilte mit mir davon, die Weste noch ganz mit Schwänzen und Köpfen von den eben verzehrten Krabben bedeckt.

»Emma, mein Engel!« schrie er, als er ins Zimmer trat, »was gibt's?«

»Ich werde dich nie verlassen, Micawber!« rief sie aus.

»Mein teures Leben!« sagte Mr. Micawber, indem er sie in seine Arme schloß, »aber das weiß ich ja zur Genüge!«

»Er ist der Vater meiner Kinder! Er ist der Erzeuger meiner Zwillinge! Er ist der Gatte meiner Seele!« sagte Mrs. Micawber krampfhaft schluchzend, »und ich will Mr. Micawber nie, nie verlassen.«

Mr. Micawber war so tief gerührt von diesem Beweise ihrer Liebe – ich meinesteils war buchstäblich in Tränen aufgelöst –, daß er sich mit leidenschaftlicher Teilnahme über sie beugte und sie anflehte, ruhig zu sein, und ihn anzusehen. Aber je mehr Mr. Micawber bat, ihn anzusehen, desto mehr starrten ihre Augen ins Leere, und je mehr er sie bat, sich zu fassen, desto weniger gelangte sie dazu. Die Folge war, daß Mr. Micawber ebenfalls bald so gerührt wurde, daß er seine Tränen mit den ihrigen und meinigen vermischte, bis er mich bat, ihm die Liebe zu erweisen und mich auf einen Stuhl draußen auf die Treppe zu setzen, bis er sie zu Bette gebracht habe. Ich hätte gerne für die Nacht Abschied genommen, aber das wollte er vor der gesetzlichen Scheidestunde für Besucher nicht zulassen. So setzte ich mich an das Treppenfester, bis er mit einem zweiten Stuhl nachkam und mir Gesellschaft leistete.

»Wie befindet sich jetzt Mrs. Micawber, Sir?« fragte ich.

»Sehr geschwächt,« sagte Mr. Micawber, und schüttelte den Kopf; »der Rückschlag. Ach, das ist ein schrecklicher Tag! Wir stehen jetzt allein, – alles hat uns verlassen!«

Mr. Micawber drückte mir die Hand, seufzte und fing an zu weinen. Ich war sehr gerührt und enttäuscht zu gleicher Zeit, denn ich hatte erwartet, wir würden bei dieser glücklichen und lange gehofften Gelegenheit sehr heiter sein. Aber Mr. und Mrs. Micawber waren wohl so an ihre alten Bedrängnisse gewöhnt, glaube ich, daß sie sich jetzt, wo sie von ihnen befreit waren, ganz unglücklich fühlten. Die ganze Elastizität ihres Gemüts war verschwunden, und ich habe sie noch nie halb so niedergedrückt gesehen, wie an diesem Abend, und als die Glocke läutete und Mr. Micawber mich bis an das Portierhäuschen begleitete und dort mit einem Segensspruch von mir Abschied nahm, fürchtete ich mich fast, ihn allein zu lassen, so unglücklich war er.

Aber auf meinem Nachhauseweg an jenem Abend und in den schlaflosen Stunden im Bett, die ihm folgten, kam mir zuerst der Gedanke, der sich später zu einem festen Entschluß ausbildete.

Ich hatte mich so sehr an die Micawbers gewöhnt, war mit ihnen in ihren Nöten so vertraut geworden, und war so ohne alle Freunde, wenn sie mir fehlten, daß mir die Aussicht, die ich nun schon genügend aus Erfahrung kannte, wieder unter fremde Leute hinausgestoßen zu werden, ganz unerträglich war. Alle die Gefühle, die mir die Welt so grausam verwundet hatte, das Schamgefühl und die Qual, die sie beständig in meiner Brust wach erhielt, schmerzten mich mehr als je bei diesem Gedanken; und ich sagte mir, dies Leben sei unerträglich.

Ich wußte jetzt recht gut, daß ich mich nur auf eigene Hand aus meinem Jammerleben erlösen konnte. Ich hörte nur selten etwas von Miß Murdstone und niemals von ihrem Bruder; aber zwei oder drei Pakete neuer und geflickter Kleider waren für mich an Mr. Quinion gekommen, und in jedem lag ein Zettel, worauf J. M. hoffte, daß D. C. in seinem neuen Geschäft fleißig und gehorsam sei, aber nicht die geringste Andeutung, die eine Änderung in meinem Schicksal erhoffen ließ.

Schon der nächste Tag zeigte mir, während mein Gemüt noch von dem neu aufgetauchten Entschluß beunruhigt war, daß Mrs. Micawber nicht ohne Grund von ihrem Weggehen gesprochen hatte. Sie mieteten sich in dem Hause, wo ich wohnte, für eine Woche ein, um sich nach Ablauf dieser Zeit nach Plymouth zu begeben. Mr. Micawber kam nachmittags selbst auf das Kontor und sagte zu Mr. Quinion, daß mit dem Tage seiner Abreise mein Mietsverhältnis zu ihm aufhören müsse, und er stellte mir das beste Zeugnis aus, das ich auch sicher verdiente. Dann rief Mr. Quinion Tipp, den Rollkutscher herein, der ein verheirateter Mann war und eine Stube zu vermieten hatte, und bestellte mir bei ihm Quartier, – unter unserer beiderseitigen Zustimmung, wie er voraussetzen mußte – denn ich sagte nichts; aber mein Entschluß war gefaßt.

Während der letzten acht Tage, die ich noch unter demselben Dache mit Micawbers hauste, brachte ich meine Abende bei Mr. und Mrs. Micawber zu, und ich glaube, wir gewannen uns jeden Tag lieber. Am letzten Sonntag luden sie mich zu Tische ein; wir hatten eine Schweinskeule mit Apfelsauce und Pudding. Am Abend vorher hatte ich als Abschiedsgeschenk dem kleinen Wilkins Micawber einen hölzernen Apfelschimmel gekauft und eine kleine Puppe für die kleine Emma. Der stockschnupfigen Waise, die aus dem Dienste entlassen wurde, schenkte ich einen Schilling.

Wir hatten einen sehr vergnügten Tag, obgleich wir alle über unsere nahe Trennung sehr weich gestimmt waren.

»Nie werde ich an die Zeit, wo Mr. Micawber in Bedrängnis war, zurückdenken, Master Copperfield,« sagte Mrs. Micawber, »ohne mich Ihrer zu erinnern. Ihr Benehmen war immer von der zartesten, verbindlichsten Art, Sie waren für uns niemals ein Mietsmann, Sie waren uns stets ein Freund.«

»Meine Teuerste,« sagte Mr. Micawber, »Copperfield« (denn so nannte er mich in der letzten Zeit) »hat ein Herz für die Leiden seiner Mitmenschen, das es mitfühlt, wenn sie die Wolken des Unglücks beschatten, einen Kopf, der ersinnt, und eine Hand, die – kurz, eine allgemeine Fähigkeit, alles verfügbare Eigentum, das zu verwerten war, unterzubringen.«

Ich drückte meine Erkenntlichkeit für diese Empfehlung aus, und sagte, es tue mir sehr leid, daß wir uns trennen müßten.

»Mein lieber junger Freund,« sagte Mr. Micawber, »ich bin älter als Sie; ein Mann von meiner Lebenserfahrung und – von einiger Erfahrung in Not und Bedrängnissen, im allgemeinen zu sprechen – vorderhand und bis sich etwas findet (was ich stündlich erwarte), habe ich nichts zu geben als guten Rat. Aber mein Rat ist wenigstens insofern der Beachtung wert, als – kurz, als ich ihn nie selbst beachtet habe, und jetzt« – hier machte Mr. Micawber, der bis hierher mit strahlendem Gesicht dagesessen hatte, eine Pause und wurde ganz finster – »der elende Mensch bin, den Sie vor sich sehen.«

»Lieber Micawber!« flehte seine Gattin.

»Ich sage,« entgegnete Mr. Micawber und vergaß sich ganz und lächelte wieder, »der elende Mensch, den Sie vor sich sehen. Mein Rat also ist, tun Sie nie morgen, was Sie heute tun können. Zaudern und Aufschub ist der Dieb der Zeit. Fassen Sie sie beim Schopf!«

»Das war auch meines armen Papas Maxime«, bemerkte Mrs. Micawber.

»Meine Teuerste,« sagte Mr. Micawber, »dein Papa war vortrefflich in seiner Art, und der Himmel verhüte, daß ich ihm etwas Übles nachsagen sollte. Nehmt ihn in allem, wie er war, und niemals werden wir – mit einem Worte, die Bekanntschaft eines Mannes machen, der in seinen Jahren noch so ansehnliche Waden zu Gamaschen hatte und so kleine Schrift ohne Brille lesen konnte. Aber er wendete diese Maxime auch bei unsrer Hochzeit an, meine Liebe, und diese war insofern zu übereilt gefeiert, als ich seitdem niemals wieder auf die Kosten kam.«

Mr. Micawber blickte Mrs. Micawber von der Seite an, und fügte hinzu: »Nicht daß es mich deshalb gereute. Ganz im Gegenteil, meine Liebe.« Hierauf beobachtete er ein paar Minuten ein ernstes Schweigen.

»Meinen zweiten Rat«, fuhr Mr. Micawber fort, »kennen Sie schon. Jährliches Einkommen 20 Pfund. Jährliche Ausgabe 19 Pfund 19 Schilling 6 Pence. Fazit: Wohlstand. Jährliches Einkommen 20 Pfund. Jährliche Ausgabe 20 Pfund und 6 Pence. Fazit: Dürftigkeit. Die Blüte ist getötet, das Laub ist verwelkt, der Gottestag verbirgt sich vor der trüben Szene in – mit einem Wort, Sie sind lebenslang zum Teufel. Wie ich zum Exempel!« Micawber trank mit einer Miene großer Befriedigung ein Glas Punsch und pfiff, um den Eindruck seiner Worte auf mich noch zu verschärfen, den »lustigen Kesselflicker«.

Ich verfehlte nicht, ihm zu versichern, daß ich mir seine Vorschriften tief einprägen würde, obgleich ich das gar nicht zu tun brauchte, denn sie rührten mich damals ohnehin sichtbarlich. Den nächsten Morgen begleitete ich die ganze Familie nach der Landkutsche, und sah mit betrübtem Herzen, wie sie ihre Außenplätze einnahmen.

»Master Copperfield,« sagte Mrs. Micawber, »Gott segne Sie! Ich kann es nie vergessen, wissen Sie, und möchte nicht, wenn ich es könnte.«

»Leben Sie wohl, Copperfield«, sagte Mr. Micawber. »Alles mögliche Glück und Gedeihen! Wenn ich mich im wechselnden Lauf der Jahre überreden könnte, daß mein verlornes Leben für Sie eine Warnung gewesen ist, so würde ich fühlen, daß ich auf Erden nicht ganz vergeblich einen falschen Platz eingenommen hätte. Wenn sich etwas finden sollte (worauf ich ziemlich fest vertraue), so werde ich mich außerordentlich glücklich schätzen, wenn ich etwas für Ihr Vorwärtskommen tun kann.«

Ich glaube, als Mrs. Micawber auf dem Rücksitz des Wagens saß, die Kinder auf dem Schoß, und ich betrübt von unten zu ihr heraufsah, sank es ihr wie Schuppen von den Augen und sie merkte erst, was für ein kleiner Junge ich noch war. Ich schließe es daraus, daß Mrs. Micawber mir ein Zeichen machte, aufzusteigen, ihren Arm mit wahrhaft mütterlichem Gebaren um meinen Hals schlang und mich wie ihr eigenes Kind küßte. Ich hatte kaum Zeit, wieder hinabzugelangen, bevor sich der Wagen in Bewegung setzte, und ich konnte die Familie kaum sehen vor den Taschentüchern, mit denen sie winkten. Im nächsten Augenblick war der Wagen entschwunden; die Waise und ich sahen einander verdutzt an, mitten auf der Straße, schüttelten uns dann die Hand und trennten uns; sie ging vermutlich in das St. Lukasarbeitshaus zurück, ich an mein saures Tagewerk bei Murdstone und Grimby.

Aber mit der Absicht, nicht lange mehr dort auszuhalten. Nein. Ich hatte mir vorgenommen, fortzulaufen, und auf irgend eine Weise die einzige Verwandte die ich noch hatte, aufzusuchen und meiner Tante Miß Betsey meine Leiden zu erzählen.

Ich habe schon erwähnt, daß ich nicht weiß, wie mir dieser verzweifelte Gedanke in den Kopf kam. Aber einmal entstanden, blieb er drin stecken und wurde allmählich zu einem so festen Vorsatz, wie ich ihn später im Leben kaum jemals gefaßt habe. Ich glaube durchaus nicht, daß ich den Plan damals für sehr hoffnungsvoll ansah, aber ich war davon so durchdrungen, daß er trotzdem ausgeführt werden müsse.

Wieder und wieder, und hundertmal seit der Nacht, in der mir der Gedanke zuerst aufgestiegen war und mir den Schlaf verscheuchte, hatte ich an die alte Erzählung meiner Mutter über meine Geburt gedacht, die zu hören mir die größte Wonne gewesen war und die ich auswendig wußte. Die Tante trat in die Geschichte und wandelte hindurch als gestrenge, furchteinflößende Erscheinung, aber es war doch ein Zug in dem Bericht, bei dem ich gern verweilte und der mir einen schwachen Schimmer von Ermutigung bot. Ich konnte nicht vergessen, daß meine Mutter gemeint hatte, die Tante hätte ihr mit leiser freundlicher Hand über das schöne Haar gestrichen, und obwohl das ja auch nur eine durch gar keine Tatsachen begründete Einbildung von ihr gewesen sein mochte, malte ich mir dennoch ein hübsches Bild aus. Die gestrenge Tante sei von der Lieblichkeit und Schönheit, deren ich mich noch so deutlich erinnerte und die ich so zärtlich geliebt hatte, gerührt gewesen, und dadurch bekam die ganze Geschichte eine andere Färbung. Möglich, daß diese Vorstellung schon lange in meinem Gemüt geschlummert und allmählich meinen Entschluß zur Reife gebracht hatte.

Da ich nicht einmal wußte, wo Miß Betsey sich aufhielt, so schrieb ich einen langen Brief an Peggotty und fragte sie beiläufig, ob sie es wisse; ich gab vor, ich hätte von einer Dame dieses Namens in einer Stadt, die ich aufs Geratewohl nannte, gehört und möchte gern wissen, ob es meine Tante wäre. In demselben Briefe sagte ich Peggotty, daß ich zu einem besondern Zweck eine halbe Guinee brauche, bat sie recht sehr, mir diese zu leihen, und versprach ihr, später ihre Verwendung mitzuteilen.

Peggottys Antwort ließ nicht lange auf sich warten und war, wie gewöhnlich, voll zärtlicher Hingebung. Sie legte die halbe Guinee bei (ich fürchte, sie hat sie erst nach unendlicher Mühe aus dem Kasten von Mr. Barkis herausgelockt) und sagte mir, daß Miß Betsey in der Nähe von Dover wohne, aber ob in Dover selbst, in Hythe, Sandgathe oder Folkstone, konnte sie nicht sagen. Als ich einen unserer Leute nach diesen Orten fragte, erfuhr ich, daß sie alle dicht beieinander lagen; deshalb hielt ich Peggottys Auskunft für genügend und beschloß, mich Ende der Woche auf den Weg zu machen.

Da ich ein sehr ehrlicher kleiner Kerl war und keinen schlechten Ruf bei Murdstone und Grimby zurücklassen wollte, hielt ich mich für verpflichtet, bis Sonnabend abends zu bleiben, und da ich bei meinem Antritt einen Wochenlohn im voraus erhalten, mir diesmal keinen auszahlen zu lassen. Aus diesem Grunde hatte ich mir die halbe Guinee geborgt, damit ich einiges Reisegeld hätte. Als daher Sonnabend abend kam und wir alle in der Niederlage auf unsern Lohn warteten, und Tipp, der Rollkutscher, der stets der erste war, hineinging, um sich sein Geld zu holen, schüttelte ich einem andern Genossen die Hand, bat ihn, wenn die Reihe an ihn käme, Mr. Quinion zu sagen, daß ich fortgegangen sei, um meinen Koffer zu Tipp zu bringen, und rannte fort, nachdem ich dem Kartoffelkloß eine letzte gute Nacht geboten hatte.

Mein Koffer stand in meiner alten Wohnung jenseits der Themse; ich hatte auf die Rückseite einer der Geschäftsadressen, die wir auf unsere Fässer nagelten, als Adresse geschrieben: »Master David, Postkutschen-Bureau, Dover; wird abgeholt.« Ich hatte den Zettel in der Tasche, um ihn auf dem Koffer zu befestigen, sobald ich aus dem Hause war, und während ich mich nach meiner Wohnung begab, sah ich mich nach jemand um, der mir das Gepäck nach dem Einschreibebureau bringen könnte.

Nicht weit von dem Obelisken am Blackfriars-Road fiel mein Auge auf einen langbeinigen Burschen vor einem niedrigen, mit einem Esel bespannten leeren Karren. Als sich unsere Augen begegneten, fragte er, ob ich ihn jetzt kenne – wahrscheinlich weil ich ihn so fest ansah. Ich versicherte ihm, daß ich ihm nicht zu nahe treten wolle, sondern nur jemand für eine kleine Besorgung suche.

»Was für eine?« sagte der langbeinige Mann.

»Einen Koffer fortzuschaffen«, antwortete ich.

»Was für einen Koffer?« fragte der langbeinige Bursche.

Ich sagte ihm, meinen Koffer, der in der nächsten Straße abzuholen sei, und den er mir für 6 Pence nach dem Bureau der Dover-Landkutsche bringen sollte.

»Abgemacht, für sechs Pence!« sagte der langbeinige Bursche, sprang auf seinen Karren und fuhr so rasch davon, daß ich nur mit größter Mühe mit dem Esel Schritt halten konnte.

Der Bursche hatte etwas Frechtrotziges in seinem Wesen, und vorzüglich in der Art, wie er Stroh zerbiß, während er mit mir sprach, was mir nicht gefiel; da aber der Handel abgeschlossen war, nahm ich ihn mit in meine Stube, und wir brachten zusammen den Koffer herunter und setzten ihn auf den Karren. Um nicht von meinen Wirtsleuten entdeckt zu werden, wollte ich die Adresse hier nicht darauf befestigen, und sagte deshalb dem Burschen, er solle einen Augenblick an der Mauer der Kings Bench halten. Kaum waren die Worte aus meinem Munde, so fuhr er auf und davon, als ob er, mein Koffer, der Karren und der Esel, alle gleich verrückt wären, und ich war ganz außer Atem von Nachlaufen und Rufen, als ich ihn an dem verabredeten Platze einholte.

In meiner Aufregung riß ich die halbe Guinee aus der Tasche, als ich die Adreßkarte hervorholte. Ich steckte sie der Sicherheit wegen in den Mund, und obgleich meine Hände sehr zitterten, hatte ich die Adresse eben zu meiner Zufriedenheit festgemacht, als der langbeinige Bursche mich heftig unter das Kinn stieß und ich meine halbe Guinee aus dem Mund in seine Hand fliegen sah.

»Was!« rief der Bursche und packte mich beim Kragen. »Das gehört vor die Polizei. Du willst fortlaufen, he? Auf die Polizei, du Knirps, auf die Polizei!«

»Gib mir mein Geld zurück«, sagte ich sehr erschrocken, »und laß mich in Ruhe.«

»Auf die Polizei!« sagte der Bursche. »Du sollst auf der Polizei nachweisen, daß es dein ist.«

»Gib mir meinen Koffer und mein Geld!« rief ich und brach in Tränen aus.

Der Bursche rief immer noch: »Auf die Polizei!« und zerrte mich nach dem Esel hin, als ob dieser der Vertreter der Polizeibehörde wäre, bis er sich plötzlich anders besann, auf den Karren sprang, sich auf meinen Koffer setzte und mit den Worten: »Ich fahre gleich nach der Polizei!« auf und wilder als vorher davonfuhr.

Ich rannte ihm nach, so schnell ich konnte, hatte aber keinen Atem mehr, um ihm nachzurufen, und hätte es auch gar nicht gewagt. Wohl zwanzigmal in einer Viertelstunde wäre ich fast überfahren worden, jetzt verlor ich ihn aus den Augen, jetzt sah ich ihn wieder, jetzt verlor ich ihn nochmals, jetzt erhielt ich einen Peitschenhieb, jetzt schrie mir jemand nach, jetzt lag ich unten in der Gosse, jetzt war ich wieder aufgestanden, jetzt stürzte ich jemand in die Arme, schließlich rannte ich gegen einen Laternenpfahl. Endlich gab ich, ganz verwirrt von Aufregung und Hitze und in der Furcht, halb London könnte schon zu meiner Verfolgung auf den Beinen sein, meinen Koffer und mein Geld auf und machte keuchend und weinend, aber nie stillstehend, Kehrt nach Greenwich, der ersten Station nach Dover, wie ich gehört hatte. Ich nahm wenig mehr aus der Welt mit mir mit, als ich auszog, meine Tante Miß Betsey zu suchen, als ich an dem Abend in die Welt mitgebracht hatte, wo ihr meine Ankunft so ungelegen gewesen war.


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