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III.

Als Gavina am andern Morgen am Fenster stand, trat der Zwerg an Elias Tor und deutete ihr durch ein Zeichen an, er habe eine Botschaft für sie. Sie ging hinunter und er sagte ihr verstohlen, Zia Itria ließe sie bitten, auf der Stelle zu ihr zu kommen.

Sie folgte der Aufforderung, und der Zwerg schlich mit ängstlicher Miene hinter ihr her, machte jedoch an der Tür der Alten Halt. Sie saß in ihrem Höfchen, damit beschäftigt einen zerbrochenen Schemel zusammenzunageln.

Als sie Gavina erblickte, fragte sie: »Das kleine Scheusal steht da draußen? Warte nur, gleich werde ich dich zurichten wie diesen Schemel!« rief sie dem Zwerg zu, als dieser spähend zur Tür hereinschaute, und drohte ihm mit dem Hammer. »Setz dich, Nichte; ich muß dir etwas sehr Merkwürdiges sagen.«

Und ohne ihre Arbeit zu unterbrechen, wiederholte sie das sonderbare Gerede, das Paska bereits berichtet hatte.

»Du weißt,« fügte sie hinzu, »Michela ist halb verrückt, und das ist sie immer gewesen; jetzt sollte man sie aber wahrhaftig in ein Irrenhaus tun.«

Gavina tat als wüßte sie von nichts; doch sie verwahrte sich nicht dagegen und ärgerte sich auch nicht. Sie erwiderte nur: »Lassen wir sie doch reden! Aber was hat das Kind?«

»Nichts! Ein wenig Halsweh und ein wenig Fieber wie alle Kinder in der Nachbarschaft. Weißt du, wer an all diesem Geschwätz schuld ist? Das kleine Scheusal da, das Kerlchen, der Angeber, der Taugenichts! Ich hatte ihm doch eingeschärft nicht zu sagen, daß du hier wärest, als er das Kind holte.«

Gavina rief den Zwerg; er kam zum Vorschein, getraute sich aber nicht den Hof zu betreten, weil die Alte ihm mit dem Schemel drohte. »Der Teufel soll dich holen! Hast du nicht genug an den Ohrfeigen, die du schon bekommen hast, so komm nur her!«

»Ruhig!« sagte Gavina. »Laßt ihn doch hereinkommen; tut es mir zu Liebe!«

Die Alte setzte den Schemel nieder, und der Zwerg schlich sich näher. Gavina fragte ihn: »Was ist's mit dieser Geschichte?«

»Ich habe nichts gesagt! Ich schwöre es bei meiner Ehre!«

»Bei deiner Ehre? Der Ehre eines Zwergs!« schrie Zia Itria, und der Kleine fing an zu weinen.

»Tante!« bat Gavina und sah bald die Alte, bald den Zwerg an, »tut mir doch den Gefallen und laßt ihn reden! Er wird uns alles erklären. Nicht wahr, du wirst die Wahrheit sagen? Also: Heraus damit!«

Er rieb sich die Augen mit den Fäusten wie ein Kind und besann sich lange; endlich aber stotterte er: »Ja, es ist wahr! Ich habe ihr gesagt, daß die Kleine Zucker bekommen hat. Aber jene Frau versteht Einen auch gar nicht!«

»Aber hast du ihr gesagt, daß du den Zucker aus der Dose nahmst?«

»Ja ... nein ... So war es: Michela fragte: ›Hatte Gavina den Zucker?‹ Und ich ... ich weiß nicht mehr, was ich geantwortet habe.«

»›Ja‹, hast du gesagt, du Schurke!« schrie die Alte.

Er stöhnte vor Angst.

Gavina sagte gelassen: »Du hättest auf jeden Fall schweigen müssen, weil Zia Itria dich darum gebeten hatte. Aber jetzt ist es geschehen, und es kann nichts helfen, wenn du weinst: ein Mann muß nicht so weinen.«

»Ich bin ja kein Mann!« schrie er da, seinem Schmerz Luft machend. »Zu anderen Zeiten waren auch wir Männer; die Könige sogar suchten unsere Freundschaft, und wir hatten Häuser, die extra für uns gebaut waren ... Ja, der Kanonikus Sulis hat mir's erzählt. Aber jetzt! Jetzt will niemand mehr etwas von uns wissen ... Niemand!«

»Weil du ein Lügner bist, das ist das Ganze!« sagte die Alte gerührt. »Und nun komm her!«

»Aber was kann man tun?« fragte Gavina. »Diese Geschichte ärgert mich sehr und ich sehe, daß schon viele darum wissen.«

»Ich würde Michela drohen, sie zu verklagen«, riet der Zwerg. »Oder sie prügeln!«

Doch sein Vorschlag wurde nicht nur nicht abgenommen, sondern nicht einmal gehört. Zia Itria hatte den Schemel, den Hammer, die Nägel wieder zur Hand genommen und hämmerte wütend darauf los.

»Weißt du, was ich dir sage, meine Nichte?« äußerte sie alsdann. »Du mußt über diese ganze Kanaille lachen! Ich ließ dich rufen, weil ich beinahe vor Wut platzte, aber jetzt tut es mir leid, daß ich dir die dumme Schwätzerei wiedergesagt habe. Was kann dir an uns allen liegen? Du bist eine Dame – wir sind Lumpen! Und jene erst! Ein Weib, das ein Verhältnis mit einem Priester gehabt hat!«

»Wir sind alle gleich, Tante, und alle dem Irrtum unterworfen!«

Die Alte blickte ihr ins Gesicht und sagte scherzend: »Es war einmal ein Prediger ...«

»Aber Ihr, Tante, habt Ihr nicht immerfort den allererbärmlichsten Menschen Gutes erwiesen? Sie gerade bedürfen unserer Hilfe, und nicht die Guten, die Glücklichen. Warum lacht Ihr jetzt?«

»Ich habe nie jemand Gutes erwiesen«, wehrte die Alte ab. »Der Teufel soll sie holen, alle, vom ersten bis zum letzten; sie verdienen es nicht besser! Wenn die Schurken sich um meine Tür sammeln, so tun sie es nur, weil sie nicht wissen, wo sie sonst hin sollen. Oder sollten sie vielleicht an eure Tür klopfen? Es wäre freilich hübsch, wenn deine Mutter, meine Schwägerin, mit ihnen zu schwatzen anfinge. Das wäre wirklich zum Lachen.«

Auch Gavina mußte bei dieser Vorstellung lachen. »Nun,« sagte sie, sich erhebend, »es ist mir doch nicht recht, daß die Unglückliche so redet, und das um so weniger, weil sie selbst glaubt, was sie sagt. Ihr müßt mir den Gefallen tun, zu ihr zu gehen und mit ihr zu sprechen, Tante! Wollt Ihr? Wenn nicht, so gehe ich.«

Zia Itria antwortete nicht.

»Und du, komm mit mir, ich will dir etwas zu trinken geben«, sagte Gavina zu dem Zwerg.

Sie nahm ihn mit nach ihrem Hause und behielt ihn fast den ganzen Vormittag bei sich. Mit herunterbaumelnden Beinen saß er auf einem hohen Stuhl und blickte mit Bewunderung auf Gavina; um sie zu unterhalten, trug er ihr die Predigten vor, die der Kanonikus Sulis »für Männer allein« gehalten hatte. Ab und zu ging Paska durch das Zimmer und betrachtete ihn mit feindseligen Blicken.

Vor Mittag schickte Gavina ihn zu Zia Itria. »Nun gib wohl acht!« schärfte sie ihm ein. »Du sollst sagen: ›Signora Gavina läßt fragen, ob es etwas Neues gibt, und ob sie kommen soll oder nicht.‹«

Und er brachte die Antwort: »Zia Itria sagt, ›wenn Signora Gavina kommen will, so soll sie kommen, wenn nicht, nicht.‹«

»So geh' noch einmal hin und bestelle Zia Itria: ›Signora Gavina sagt. Eure Antwort wäre keine rechte Antwort. Sie will etwas Bestimmtes wissen‹.«

Und die Antwort lautete: »Zia Stria sagt ›sie muß jetzt ihre Makkaroni kochen und will in Frieden essen.‹«

Darauf verabschiedete Gavina den Zwerg und ging nach Mittag selbst noch einmal zu Zia Itria hinüber, traf sie aber nicht an. An dem Tischchen im Hofe saß der Zwerg und verschlang den Rest der Makkaroni, die die Alte in Frieden essen wollte. Er wußte nicht, wohin sie gegangen war, vermutlich aber zu einem Kranken, denn sie hatte einen Topf Fleischbrühe mitgenommen.

»Ob sie wohl zu Michela gegangen ist?« fragte Gavina.

»Wahrscheinlich.«

Sie trat wieder an die Haustür und blickte die drei Straßen auf und ab, die von hier ausliefen: um diese Stunde lagen sie völlig verödet da. Die Sonne brannte noch heiß auf die Dächer der armen Nachbarschaft und die stille Luft roch nach verbranntem Unrat. Wie von einer Macht getrieben, die stärker war als ihr Wille, lenkte Gavina in die ihr so bekannte Gasse ein, deren elende Bewohner sich um diese Tageszeit in ihren Höhlen hielten. Sie nahm ihr Kleid auf und schritt mit gesenktem Blick über den Staub und Schmutz dahin.

Als sie das Ende der Gasse erreicht hatte, hörte sie plötzlich das Weinen eines Kindes und eine zornige Frauenstimme, und hielt an, um zu lauschen: das Kind jammerte herzzerreißend, die Frau schlug es und schrie und fluchte lauter als zuvor. Gavina schauderte: jene klägliche Kinderstimme und das wilde Geschrei einer barbarischen Mutter klangen gleichsam wie der Schrei und die Klage dieser Nachbarschaft, jenes schmutzigen Trümmerhaufens auf dem Boden eines dahingestorbenen Riesengeschlechts.

Tiefe Trauer über die Ohnmacht ihres Mitleids bewegte Gavina. Sie machte einige Schritte, blieb vor dem offenen Haustor Michelas stehen und blickte zu dem halbgeöffneten Fensterchen hinauf: graugrünes Nelkengerank hing von der Brüstung herab, zwischen dem rote Blüten leuchteten wie Glut unter der Asche. Sie durchschritt den Torweg und das Höfchen, ohne zu rufen, und schaute in die Küche hinein. Niemand war darin – sie aber fühlte ihr Herz pochen bei den Erinnerungen, die hier auf sie eindrangen. Auf dem Treppengeländer hing gelbliche Wäsche zum Trocknen; die Tür oberhalb der Treppe war nur angelehnt. Gavina stieg hinauf und öffnete den Mund, um Michela zu rufen: aber nur matt kam der Name von ihren Lippen. Sie klopfte an die Tür, ein schleppender Schritt kam durch das Zimmer, und Michela öffnete. Als sie Gavina erblickte, fuhr sie zusammen und starrte sie beinahe mit dem gleichen Ausdruck von Staunen und Schrecken an, mit dem sie an einem längst vergangenen Abend Gavinas Mitteilung gelauscht hatte. Auch diese verspürte eine Regung des Staunens: jene alte, abgemagerte Frau mit dem gelben Gesicht und den tiefliegenden, wilden Augen, die da vor ihr stand, kam ihr wie eine Fremde vor, die eine entfernte Ähnlichkeit mit ihrer alten Freundin hätte, und deren grünliche Augen sie ansahen wie die eines in seiner Höhle überraschten Tieres. Da begriff sie, welch ein Abstand jetzt zwischen ihnen lag, doch sie wich nicht zurück. Sie reichte Michela ihre Hand hin, die diese nicht nahm, und sagte: »Wie geht es dir? Ich glaubte Zia Itria wäre hier ... Wie geht es der Kleinen?«

Michela zog sich zurück, und sie trat ein. Es war das selbe Stübchen, das Francesco als Student beherbergt hatte. Die Wände und die hölzerne Decke waren getüncht. Sieben Bildchen, jedes von einem schwarzen Kreuze überragt, hingen oben an den Wänden und stellten die Leidensgeschichte Jesu Christi dar. Auf dem mit einem gelben Tuch bedeckten Bett tag eine schwarze Katze, zusammengerollt wie ein Tragkissen. Durch die offenstehende Tür sah man in das größere und besser ausgestattete Nebenzimmer. Dort stand ein Bett mit einer grünen Decke und zwischen diesem und der Wand eine niedrige hölzerne Wiege, so plump, als wäre sie einfach aus einem Baumstamm ausgehöhlt. Das Fenster war geschlossen. Gavina hörte das beklommene Atmen des Kindes, das in der Wiege lag.

In dem ersten Stübchen war es drückend heiß: man hätte meinen können, der unter dem tiefblauen Himmel aschgrau erscheinende Berg hätte den heißen Hauch seiner von der Mittagsonne glühenden Felswände zu dem halboffenen Fenster hereingeströmt. Gavina setzte sich an das Fenster, Michela ein wenig weiter hin im Halbdunkel, die Hände unter der Schürze, und mit ihrem beunruhigenden Blick den Besuch unausgesetzt anstarrend.

»Es geht dem Kindchen also besser?« sagte Gavina. »Das freut mich herzlich. Ich wollte schon früher kommen ... und hatte auch schon zu Luca davon gesprochen und zu Zia Itria ... ich dachte, ich würde sie hier treffen; man hatte mir gesagt, sie wäre zu einem Kranken gegangen ...«

»Wir hier, in dieser Nachbarschaft, sind alle krank!« erwiderte Michela. Dann fing sie plötzlich an zu lachen, daß man all ihre weißen, vorstehenden Zähne sah; und auf ihren Wangen, um die Mundwinkel herum, bildeten sich kleine Falten. Gleich aber ward ihre Miene wieder düster. »Wie dick du geworden bist, Gavina! Wie hast du das nur angefangen? Du siehst jetzt aus wie Luca.«

Obwohl der Vergleich nicht sehr schmeichelhaft war, lächelte Gavina.

»Und du bist so mager!« sagte sie. »Geht es dir nicht gut? Gehst du nie aus? Seit ich wieder hier bin, habe ich dich nie gesehen.«

»Weiber wie ich müssen sich verstecken.«

»Aber warum denn?«

»Du selbst hast das gesagt, heute vor zwei Jahren.«

»Michela!«

»And jetzt bist du jedenfalls gekommen, um es mir noch einmal zu sagen. Wie oft hast du schon laut gelacht, wenn du hier vorübergingst. Alle haben es gehört, auch Luca, dein Bruder.«

Gavina wurde verwirrt. »Sie ist wirklich verrückt!« dachte sie, erwiderte indes so ruhig wie möglich: »Du hast dich geirrt, Michela! Warum sollte ich wohl lachen? Hat Luca dir das in den Kopf gesetzt?«

»Was hat Luca damit zu tun? Laß ihn in Frieden! Er ist schon unglücklich genug, und ich bin unglücklich genug. Also laß uns in Ruhe und setze deinen Fuß nicht auf den Hund, der schläft!«

»Du sprichst genau so wie er. Die selben Worte.«

»Nun, wir sind ja deiner Meinung nach alle beide verrückt; da müssen wir wohl auch auf die gleiche Art sprechen. Du bist klug, du bist glücklich, du bist schön dick ... Ach, was mischest du dich in unsere Angelegenheiten? Bleibe du bei deinem Glück – und wir bleiben bei unserem Elend. Wir haben nichts mehr miteinander zu schaffen ... ich habe nichts mehr mit dir zu schaffen!«

Gavina verstand die traurige Anspielung. Nein, sie hatten nichts mehr miteinander gemein! Sie senkte den Kopf und blickte auf ihre im Schoß gefalteten Hände: es sah aus, als erbäte sie, die Glückliche, eine Gnade von der, die sich selbst unglücklich und elend nannte.

»Nein, ich bin nicht hierhergekommen, um dich so reden zu hören, Michela«, sagte sie nach einer Weile. »Ich bin gekommen, dich zu besuchen. Wenn alles das wahr wäre, was du denkst, so säße ich nicht hier. Und ich bin ja nicht zum erstenmal hier ...!«

»Aber hoffentlich zum letztenmal! Habe ich dich vielleicht gerufen? Nein, du bist von selbst gekommen, hast dich dahin gesetzt ... und bist nur gekommen, um dich über mich lustig zu machen, sonst wärest du nicht gekommen. Ja, ich kenne dich wohl! Du gingst nur hier vorüber, um mich zu sehen oder dich zu zeigen. Und da dir das nicht gelang, kamst du her. Und nun, da du mich gesehen und dich gezeigt hast, nun freue dich nur! Du bist dick und glücklich – ich ein Gerippe, wie du siehst.« Sie streifte ihren langen Hemdärmel auf und zeigte ihren mageren, gelben, blaugeäderten Arm. »Die bösen Zungen haben mir das Fleisch vom Leibe genagt ... und nun, da du dir Genüge getan hast: geh! Geh weg!«

Sie knöpfte den Bund ihres Ärmels wieder zu, ohne Gavina aus dem Auge zu lassen; ihr Gesicht wechselte beständig die Farbe, als ob alles Blut ihr in den Kopf stiege und sogleich wieder zum Herzen zurückströmte, und ihre Hände zitterten. Gavina bereute, daß sie gekommen war, aber sie empfand Mitleid mit Michela.

»Ich sage dir nochmals, du irrst dich«, wiederholte sie nachdrücklich. »Ich möchte dich gesund und zufrieden sehen, und du kannst es auch wieder werden. Wenn ich irgend etwas für dich tun kann ... wenn du und Luca ...«

»Luca! Dein Bruder hat nichts mit mir gemein. Auch er soll sich nur um seine Sachen kümmern. Zwischen mir und dir steht nicht Luca. O nein! Da war ein anderer ... aber jetzt ist er nicht mehr da! ... Nein, nein, nein!« sagte sie, erregt den Kopf schüttelnd, »wir haben nichts mehr miteinander zu schaffen! Dir alles Gute – mir alles Böse! Und wohl bekomm es dir! Ich beneide dich nicht. Ich möchte nicht an deiner Stelle sein. Ist es aber deine Mutter, die dich herschickt, oder eure Magd, so sag ihnen nur, sie könnten ruhig sein, ich will ihn gar nicht, euren Luca, ich will ihn nicht. Was sollte ich wohl mit ihm anfangen? Er kommt hierher, wie die Bettler und Diebe zu Zia Itria gehen: ihr jagt ihn aus dem Hause, gerade wie man den Kehricht wegfegt, und es ist darum nur recht, daß er hierhin kommt, in dieses Haus, das für euch ein unreines Haus ist! Denn ihr seid seine Leute! Ach, ihr seid so sauber wie Becher aus Kristall. Und er kommt zu uns, weil er nicht weiß, wo er hin soll. Aber zum Mann will ich ihn nicht haben. Du kannst dich beruhigen: sein Erbe wird dir bleiben!«

»Ich wüßte nicht, was ich damit tun sollte.«

»O, sage das nicht! Reichtum ist jedem lieb«, entgegnete Michela mit wachsendem Groll. »Mit Geld kann man alles erlangen, oder man ist wenigstens nicht unglücklich. Mitunter freilich ... Du zum Beispiel, mit deinem Geld kannst du dir doch kein Kind verschaffen, wie gerne du auch eins hättest ... Mit deinem Geld ...«

»Genug!« sagte Gavina und stand auf. »Ich sage dir noch einmal, daß ich nicht hierher kam, um mit dir zu streiten. Ich dachte, du würdest mich anders aufnehmen. Aber ereifere dich nicht, rege dich nicht auf. Ich gehe nun. Und entschuldige!«

»Ja, geh, geh! Du bist nur gekommen, um mir Böses zuzufügen: du kannst nichts anderes als Böses tun ...«

Ach, immer die selbe Geschichte! dachte Gavina und schritt zur Tür. Aber noch einmal kehrte sie um, stützte die Hand auf den Stuhl, auf dem sie gesessen, und blickte voll Mitleid auf die Unglückliche.

»Es ist leider umsonst! Mit dir ist ebensowenig zu reden wie mit Luca ... und anderen! Es ist also besser, es aufzugeben. Aber höre wohl, Michela, und denke an das, was ich dir jetzt sage! Ich habe dir kein Leid zugefügt! Eher könnte ich sagen, du, du hast mir etwas zu leide getan, aber ...«

»Ach, du Arme!« schrie die andere und sprang wild in die Höhe.

»Genug, genug, Michela! Angenommen selbst, ich hätte dir Böses zugefügt: hier stehe ich und möchte dir Gutes tun.«

»Was kann das mir helfen? Wenn du mich tot gemacht hast, mich wieder lebendig machen kannst du nicht. Ach! ...«

Dieses Ach klang wie der Weheruf physischen Schmerzes, wie der Schmerzensschrei eines todwunden Tieres. Und Gavina begriff, daß im Vergleich zu dem, was Michela gelitten hatte, ihr eigenes Leid und ihre Selbstvorwürfe nur bedeutungslose, leicht zu verwindende Gemütserregungen gewesen waren. Sie konnte genesen, war vielleicht schon genesen; die andere war, wie sie mit Recht gesagt hatte, tot, und die Toten stehen nicht wieder auf.

Und von da an ward ihr Beisammensein tragisch. Sie hätte gehen mögen, aber sie konnte nicht. Michelas Augen blickten immer sonderbarer und schienen sie auf ihren Platz zu bannen.

»So, du willst also fort!« sagte Michela und schien völlig vergessen zu haben, daß sie selbst sie geheißen hatte zu gehen. »Warte! Bleib' noch einen Augenblick. Da du einmal hier bist ... möchte ich dich etwas fragen ...«

Sie stockte, schlug die Augen nieder und flüsterte dann: »Ist es wahr, daß er dir schrieb bevor er starb?«

»Ja.«

»Ist es wahr, daß Francesco diesen Brief dem Richter übergeben hat?«

»Es ist wahr.«

»Und von mir sprach er nicht?«

»Nein.«

»Auch nicht von dem Kinde?«

»Das Kind war noch nicht geboren.«

»Aber er wußte, daß es zur Welt kommen sollte. Und er hätte daran denken müssen, nicht wahr!«

Wieder heftete sie ihre Augen mit drohendem Ausdruck auf die Gavinas und drängte: »Habe ich nicht recht? Sag', habe ich nicht recht?«

»Du hast recht ...«

»An mich dachte er nicht mehr! Nie, nie mehr! Nur an dich dachte er, als er sich den Tod gab. Immer hat er nur an dich gedacht ... und darum hat er ein solches Ende genommen!«

»Er mußte so enden! Es war sein Los!« sagte Gavina und seufzte.

»Es war sein Los! Die Toten sind tot ... und die Lebenden leben!« sagte Michela, ging hin und machte die Tür zu, wie Luca am Abend zuvor das Fenster geschlossen hatte.

Das Stübchen empfing nur noch von dem kleinen Fenster her ein trübes Licht, und Gavina war es plötzlich als befände sie sich in einem Grabe. Vergeblich wäre es, wollte sie gegen die Wände schlagen: sie würden sich nicht auftun. Und in wachsender Angst sagte sie leise: »Höre, Michela, sei vernünftig. Du darfst dich nicht so der Verzweiflung überlassen. Tausende und tausende Frauen auf der Welt sind in der gleichen Lage wie du. Glaubst du, sie alle verzweifelten? Aber durchaus nicht: sie leben weiter, lieben wieder und finden jemand, der mit ihnen fühlt und sie liebt. Die Toten sind tot, ja, und die Lebenden leben. Und wir alle, alle haben das Recht zu leben, auch die Schuldigsten. Manchmal meinen wir wohl, wir wären tot und könnten vor den Lebenden nicht mehr die Augen aufschlagen. Aber dann kommt wieder ein Augenblick, in dem wir aufwachen und dann erscheint die ganze Vergangenheit uns wie ein Traum. Du sollst sehen, auch dir wird es so gehen. Du wirst vergessen, du wirst wieder zum Leben erwachen, einen rechtschaffenen Mann finden, der dich lieber hat als eine andere, weil er weiß, daß du gelitten hast ...«

Michela hörte ihr zu und schwieg; auf einmal aber schien ihr ein Gedanke zu kommen: rückwärts ging sie bis zu einem Tischchen, auf dem Tassen, Gläser und andere Dinge standen, und ohne sich umzuwenden, zog sie die Schublade auf und fing an, hinter ihrem Rücken etwas zu suchen. Als Gavina von dem rechtschaffenen Manne sprach, der sie trotz ihres Fehltrittes lieben würde, lachte sie noch einmal auf, aber dann ward sie ganz finster.

»Such' ihn doch, diesen Mann!« rief sie. »Sie sind nicht alle wie Francesco Fais! Nur du konntest einen solchen finden! Aber du bist ja die Glückliche, du! Du lebst, ich bin tot! Es gibt keinen Mann auf der Welt, außer einem Narren wie dem Bruder, der nicht vor einem Frauenzimmer wie ich ausspuckt!«

»Genug, Michela! Du bist wahrhaftig verrückt.«

»Das weiß ich, das weiß ich, und du magst es ganz laut sagen. Und wäre ich nicht verrückt gewesen, so hätte ich nicht getan, was ich getan habe. Er kam hierher und weinte um dich, und ich Törin weinte mit ihm! Wer sonst konnte das tun, als eine Verrückte? Du, die Kluge, jagtest ihn fort, und aus Verzweiflung kam er zu mir ... ebenso wie jetzt Luca ... Aber er ... aber er ...«

»Mein Gott, mein Gott! Es ist genug, Michela, sprich nicht weiter!«

»Nein, es ist nicht genug!« schrie die andere wild. »Nun, da du hier bist, will ich dir alles sagen! Warum bist du gekommen, du Verfluchte? Bist du gekommen, um über mich zu lachen, nun dann will ich dich lachen machen ...«

Gavina begriff, daß es hohe Zeit sei, zu gehen. Sie wendete sich nach der Tür und sagte: »Mir ist durchaus nicht zum Lachen zu Mute ... Auf Wiedersehen!«

Wiederum lachte Michela ihr entsetzliches Lachen und schrie: »Ach, du gehst? Es scheint, du hast Angst!«

Erschrocken hob die Katze den Kopf, riß die großen, grünen Augen auf und sprang vom Bett nach dem Fenster hin. Das Kind in seiner Wiege stöhnte.

»Angst? Wovor?« fragte Gavina zurück und suchte ihren Schrecken zu beherrschen. »Aber schrei doch nicht so! Du weckst ja das Kind ...«

»Was liegt dir daran? Willst du ihm noch einmal Gift geben?«

»Aber geh doch! Mit dir ist gar nicht mehr zu reden! Addio! Auf Wiedersehen ...«

Sie ging nach der Tür – mit einemmale aber sprang sie zurück: wie ein wütender Stier, mit vorgestrecktem Kopf, die Hände auf dem Rücken, stürzte Michela auf sie los und schrie: »Du kommst nicht mehr von hier fort! Du kommst nicht mehr von hier fort.«

Sie ahnte die schreckliche Wahrheit, sie begriff, daß die Unglückliche unter dem Zwange einer verbrecherischen Wahnidee stand, und ohne zu wissen wie, vom bloßen Instinkt der Notwehr getrieben, stand sie in dem Nebenzimmer, zwischen der Wiege und dem Bett.

Doch die andere eilte ihr nach, keuchend wie ein wildes Tier: sie hielt ein Messer in der Hand, das Heft krampfhaft umfassend, die Klinge nach unten. Gavina durchfuhr ein furchtbarer Schreck; ihre Augen trübten sich, aber wie von einem Blitz erhellt, zogen in einem Augenblick tausend Erinnerungen an ihr vorüber. Sie dachte an Francesco, an Lucas Prophezeiung »du wirst nur Böses tun, deinem Mann, allen«, und mehr als die Angst vor dem drohenden Tode empfand sie den Schmerz, dem Einzigen, der sie noch liebte, Leid zu bereiten.

Sie schrie auf und hörte ihren eigenen Schrei wie den eines andern, der ihr von fern Mut machte; und bevor Michela sie noch erreicht hatte, bückte sie sich, riß das Kind aus der Wiege und hielt es vor sich wie einen Schild.

»Wenn du mich anrührst, werfe ich dir das Kind an den Kopf!« schrie sie.

Das Kind wand und krümmte sich, trat ihr mit den Füßchen gegen den Leib und streckte die Ärmchen nach der Mutter aus: sein ersticktes Weinen, sein Geschrei vermehrten noch Michelas Wut.

»Laß sie los!« sage ich dir. »Laß sie los! Du Verderb meines Hauses!« schrie sie mit heiserer Stimme und drohender Miene. Gavina jedoch fühlte sich nunmehr in Sicherheit: das Kind immer vor sich haltend, drückte sie sich an der Wand vorbei, um den Ausgang zu gewinnen. Auf einmal aber schien Michela zu straucheln; sie sank in die Knie und streifte Gavinas Bein wie um sich daran zu halten; diese ließ das Kind los, das der Mutter in die Arme fiel, stürzte in das vordere Zimmer, riß die Tür auf und war im Nu auf der Treppe: da erst ward sie gewahr, daß ihr Kleid mit Blut befleckt war.

Sie fühlte, wie ihre Knie knickten, doch gewaltsam hielt sie sich aufrecht, hob ihre Röcke in die Höhe und sah, wie ihr helles rotes Blut ein wenig oberhalb dem Knie hervorquoll und in großen Tropfen auf ihre hellen Schuhe fiel. Und von neuem empfand sie einen wahnsinnigen Schrecken; sie fürchtete, sie könnte fallen, die andere sie verfolgen und nochmals treffen. Und in diesem Augenblick dachte sie an niemanden mehr: sie fühlte nur den Trieb sich zu retten, das Verlangen zu leben. So schnell sie konnte, eilte sie ihrem Hause zu, und ihr Blut netzte die steinige Gasse des Armenviertels.

*

Der Zwerg, der noch in Zia Itrias Höfchen saß, sah Sabina vorübereilen und stürzte heraus. Doch sie hatte schon ihre Tür erreicht und klopfte so laut mit der eisernen Hand, daß die Schläge durch das Haus tönten. Von krampfhaftem Zittern befallen, preßte sie ihre Röcke auf das verletzte Knie, aber das Blut lief immer noch herunter und tropfte auf die Erde. Und Paska öffnete nicht!

Erschrocken blickte der Zwerg auf das Blut und sagte: »Signora Gavina ... Signora Gavina ... was ist geschehen? Den Doktor ... den Doktor ...«

»Sei still!« sagte sie rauh. »Geh! Ich bin gefallen. Geh, sage ich dir!«

»Soll ich den Doktor rufen? Oder Zia Itria?« fragte er beharrlich. »So viel Blut ...«

»Es ist nichts, gar nichts! Und du sollst niemand etwas davon sagen. Und nun geh ...«, wiederholte sie und hielt sich an dem Klopfer aufrecht; denn wieder fürchtete sie hinzufallen: der Boden schwankte ihr unter den Füßen. Endlich kam Paska, sah das Blut und schrie laut auf; aber Gavina drängte sie mit Gewalt zurück, trat ein und verriegelte die Tür.

Der Zwerg schlich gebückt den Weg zurück, den Gavina gekommen war, scharrte den Staub von der Straße zusammen und streute ihn über die Blutspuren – bis zu Michelas Tor. Hatte er erraten, was geschehen war? Niemand erfuhr es, denn zum erstenmal in seinem Leben bewahrte er ein Geheimnis.

Von Paska gefolgt, die vor Schrecken schrie, stieg Gavina unterdes in das Zimmer im ersten Stock hinauf, in dem Francesco seine Kranken empfing; und ohne eine Wort zu sagen, ohne Hilfe zu erbitten, wusch und verband sie die Wunde. Noch ganz erschüttert von dem ausgestandenen Schrecken, zitterte sie so, daß ihre Zähne zusammenschlugen; aber auf Paskas Fragen antwortete sie nicht. Sie erkannte, daß die Wunde nicht schwer war – aber hätte sie sich auch in Lebensgefahr befunden, sie hätte dennoch geschwiegen: jenen gleich, die eine nicht einzugestehende Mitschuld auf sich geladen haben, die sie nötigt, den Namen des Schuldigen zu verschweigen. Als sie kein Blut mehr rinnen sah, beruhigte sie sich. Sie schrieb einige Worte auf ein Rezeptformular Francescos, und dann legte sie sich, von Paska unterstützt, auf das mit Wachstuch bezogene kleine Bett, das vor dem Fenster stand: und da erst schien sie die Verzweiflung der alten Magd zu bemerken.

»Aber sei doch still!« sagte sie ärgerlich, »siehst du nicht, daß ich gefallen bin? Hilf mir lieber: du könntest Wasser heiß machen, mir ein wenig Kognak geben und mir die Schuhe ausziehen. Ach, geh' nur und rufe Zia Itria, geh! Du bist zu nichts gut. Geh und hole sie!«

Dieser Befehl erhöhte Paskas Verzweiflung.

»Ich habe dich zur Welt kommen sehen ... und in der Stunde der Gefahr stößest du mich zurück ...« schluchzte sie.

»Ja, du hast mich zur Welt kommen sehen und jetzt willst du mich wohl auch sterben sehen«, sagte Gavina. »Geh! Du mußt ein Telegramm an Francesco aufgeben: soll ich so lange allein bleiben? Geh und schweige, sonst rufe ich jemanden aus dem Fenster.«

Da nahm Paska sich zusammen; sie gab ihr Kognak, sie rieb ihr die Füße und wickelte sie in eine wollene Decke; und endlich entschloß sie sich auch, Zia Itria zu rufen. Und sehr bald stieg die dicke Alte keuchend die Treppe herauf: seit Jahren und Jahren hatte sie das Haus ihrer Schwägerin nicht betreten, und doch drückten ihr behäbiges Gesicht, ihre kleinen, lebhaften Augen weder Groll, noch Betrübnis, noch Genugtuung aus, als sie nun auf das Bettchen zuschritt, auf dem Gavina lag. Mit ihrer warmen, weichen Hand strich sie der Nichte über die Wange; dann bückte sie sich, sah ihr in die Augen, hob ihr die Oberlippe empor und betrachtete ihr Zahnfleisch.

»Ich bin verwundet«, sagte Gavina. Doch da sie über Zia Itrias Schulter hinweg das trostlose Gesicht Paskas sah, fügte sie hinzu: »Ich bin gefallen ... ich bin eine Treppe heruntergefallen und ich muß Francesco benachrichtigen. Geh, Paska, nimm das Stück Papier da und gehe auf das Telegraphenamt.«

Kaum hatte Paska das Zimmer verlassen, so sagte Zia Itria: »Siehst du? Siehst du? Warum bist du auch hingegangen? Sie konnte dich umbringen ... Und was willst du jetzt tun? Sie anzeigen?«

»Nein!«

Die Stunden vergingen. Zia Itria blieb bis gegen Abend. Sie hatte mehr als einem Nachspiel eines Dramas beigewohnt: Wunden und Blut und Schmerzgestöhn, die Mysterien des Hasses und die Erbärmlichkeiten der menschlichen Leidenschaften schreckten sie nicht mehr. Es wunderte sie nicht einmal, daß auch Gavina, diesem reichen und nicht gewöhnlichen Geschöpf, ein Abenteuer dieser Art widerfuhr.

Ihre Ruhe, die Gelassenheit, mit der sie die Tatsachen hinnahm, übten schließlich auch auf Paska ihre Wirkung: auch sie wurde still, und im Hause herrschte tiefes Schweigen, ein scheinbarer Frieden, wie wenn nichts geschehen wäre.

Gavina lag unbeweglich auf dem Rücken; doch das Gesicht dem Fenster zugekehrt konnte sie die Steineiche sehen, die Berge, den Himmel, der sich allmählich mit Purpur färbte. Der Gedanke an den Schmerz, den Francesco empfunden haben würde, wenn sie gestorben wäre, auf so tragische Weise gestorben, verdrängte in ihr jede andere Sorge.

Nach und nach ward auch sie ruhiger. Sie spürte, wie nach dem ausgestandenen Schrecken und der Todesangst in ihr ein Gefühl erwachte, das ihr bis dahin unbekannt gewesen war: die Freude zu leben. Sie lebte! Sie lebte! Selbst der Schmerz der Wunde war ihr angenehm, weil er ein Zeichen von Leben war.

Da Luca in der Regel gegen Abend aus dem Weinberg zurückkehrte, bat Gavina um diese Zeit Zia Itria, nach Hause zu gehen, und Paska, ihm zu sagen, sie sei nicht ganz wohl.

Sie blieb dann eine Zeitlang allein, sah den Mond aufgehen und dachte an die schwermütigen Abende ihrer Kindheit zurück, wenn sie mit grausamer Wollust ihren Geist marterte und Gott bat, ihr Leid zu schicken, Und dann dachte sie an ihre letzte Unterredung mit Priamo, an die Weissagung des Unglücklichen, an das Leben, das er für sie erträumt hatte im Angesicht der lichtstrahlenden Stadt und des Tibers, der all jene Pracht widerspiegelte. Und tausend andere Erinnerungen zogen an ihr vorüber, alle miteinander verknüpft wie die Glieder einer Kette: doch anstatt daß dieses Zurückrufen der Vergangenheit sie, wie sonst, erregt hätte, versenkte es sie in eine wohlige Ermattung, in eine die Glieder lösende Träumerei. Es war ihr, als läge sie irgendwo auf dem harten Erdboden, an einsamem Ort, sähe den Mond am Himmel heraufziehen und hörte von fernher den Tritt eines Pferdes. Und wie ein auf dem Schlachtfeld zurückgelassener Verwundeter nach der Schlacht, in die er gegen seinen Willen geführt worden, aber in der er sich tapfer gehalten hat, so fragte auch sie sich nicht, warum sie da läge, allein und verwundet; sie empfand auch keinen Groll gegen die Feinde; sie wartete nur darauf, daß jemand komme, ihr zu helfen und sie zu pflegen. Und wieder konnte ihr Arzt und ihr Retter nur Francesco sein. Er kam: jener ferne Hufschlag, den sie zu hören meinte, war der Tritt seines Pferdes. Durch die duftige Abenddämmerung ritt er bergab, über die Hochebene dahin und kam zu ihr wie der Waffengefährte zu dem Kameraden in Gefahr ...

»Und ich, was werde ich für ihn tun? Was werde ich für ihn tun?« fragte sie sich. Und dann sagte sie sich selbst und sagte es sich immer wieder: »Leben, leben!«

Es war ihr, als verstände sie endlich den ganzen Wert und Sinn des Lebens. Sie machte keine Pläne, wie sie ein früheresmal, während der Genesung von schwerer Krankheit, flüchtig an ihrem Geiste vorübergegangen waren; nein, sie begriff, daß ihr Leben sich äußerlich kaum ändern würde. Aber sie sagte sich: »Ich bin bis an die Grenze gekommen und habe dem Tod ins Auge gesehen; jetzt muß ich umkehren und den Weg noch einmal machen ...«

Und dann gedachte sie der Worte, die Francesco ihr bei ihrer ersten Unterredung, unter der Eiche im Weinberg, gesagt hatte: »Leben, einfach leben! Als ein Tropfen im Strom der Menschheit sich dem Lauf der kleinen wie der großen Ereignisse der eigenen Zeit überlassen« – andere Pläne machte sie nicht.

Die Rückkehr Zia Itrias entriß sie ihrer Träumerei; die beugte sich über Gavina und sagte leise: »Ich bin dagewesen! War dir das recht?«

»Ja, gewiß! Sagt mir ...«

»Das Tor war verschlossen; ich habe zwei-, dreimal geklopft, aber sie tat es nicht auf. Vielleicht hatte sie Angst. Da rief ich sie und schrie solange, bis sie ans Fenster kam. Sie war leichenblaß und ihre Augen rot und geschwollen, sie mußte wohl geweint haben. Wie ich auch bat, sie wollte nicht öffnen. Da sagte ich ihr: ›Gavina ist gefallen und hat sich das Knie verletzt. Aber du bist schuld daran! Warum hast du das getan?‹ Sie antwortete nicht, aber sie fing wieder an zu weinen, und dann fragte sie, ob Francesco zurückgekommen wäre. Es scheint, sie fürchtet sich vor ihm.«

»Er wird ihr nicht einmal einen Vorwurf machen«, sagte Gavina. Und als Zia Itria sich anschickte, wieder zu gehen, rief sie sie zurück und bat: »Geht noch einmal zu ihr und sagt ihr, sie solle keine Angst haben; ich würde es ihr nicht nachtragen.«

Gegen neun kam Luca nach Hause. Gavina wartete mit Neugier darauf, daß er nochmals ausgehen und wiederkommen würde, nachdem er ohne Zweifel bei Michela gewesen; er ging auch, kam wieder und stieg die Treppe hinauf, ohne bei ihrer Tür nur anzuhalten.

»Hat er nicht nach mir gefragt? Hat er gar nichts gesagt?« fragte sie Paska.

»Nichts!« entgegnete die Alte und legte sich zu Füßen ihres Bettchens nieder.

Die Erwartung, die Aufregung, die Wunde verursachten Gavina ein wenig Fieber; immerzu glaubte sie den Tritt von Francescos Pferd zu hören. Bald nach Mitternacht schlief sie ein, und sie meinte, kaum die Augen geschlossen zu haben, als das Fenster nach der Straße vom Rollen eines Wagens erzitterte. Mit einem Male hörte das Geräusch auf und die Stimme Francescos klang durch die nächtliche Stille: »Gavina? Gavina?«

Es war, als fürchtete er, sie könnte ihm nicht mehr antworten. Und kaum hatte Paska ihm geöffnet, so stürzte er die Treppe hinauf, sah Licht in seinem Krankenzimmer, eilte zu Gavina und beugte sich erschrocken über sie. Seine Augen waren ungewöhnlich trübe.

»Aber was ist? Warum bist du hier? Und deine Mutter? Und Luca?«

Sie erkannte, daß er, obwohl das Telegramm nur eine leichte Unpäßlichkeit gemeldet hatte, die Wahrheit ahnte.

»Ich bin verwundet«, sagte sie leise.

»Luca?«

»Nein, sie.«

Mit einem Griff schlug er die Decke zurück, nahm den blutgetränkten Verband ab und bückte sich, um die Wunde zu untersuchen. Als er sich wieder aufrichtete, war der Ausdruck seines Gesichts verändert, die Züge hatten sich gleichsam verhärtet. Mit kaltem Blick untersuchte er Gavinas Pupillen, dann sagte er beinahe hart: »Ich muß es nähen, sofort.«

Sie fing an zu weinen, weil sie das Gefühl hatte, er betrachte sie mit Haß. Und sie stammelte: »Ich will dir sagen ... so war es ...«

Während sie, ziemlich verworren, von ihrem Besuch bei Michela erzählte, von ihrem Gespräch und dem darauf folgenden furchtbaren Auftritt, zündete er, ohne viel auf sie zu hören, die Spirituslampe an, die ihm dazu diente, seine Instrumente zu desinfizieren, rief Paska und hieß sie, Wasser zum Kochen zu bringen. Dann stieg er selbst in die Küche hinab, brachte einen Topf mit heißem Wasser herauf und goß es in das Waschbecken.

Gavina verstummte, wie eingeschüchtert, und fragte sich, ob er ihr diese letzte Unbesonnenheit jemals verzeihen würde!

Eine Weile hörte man im Zimmer nur das Summen der Spirituslampe. Dann trat Paska wieder ein und brachte zwei Lichter, von denen Francesco eines auf das Tischchen zu Füßen des Bettes stellte; das andere gab er der Alten in die Hand, faßte sie bei den Schultern, schob sie an das Bett und zeigte ihr, wie sie das Licht halten solle.

»Und kein Geplärre, das sage ich dir!«

Ihre Lippen zitterten wie die eines Kindes, das nicht weinen möchte, aber in ihren noch immer schönen Augen glänzten Tränen, und der Ausdruck fürchterlicher Angst verzerrte ihr Gesicht. Gavina hatte Mitleid mit ihrem stummen Leid; sie streckte ihre Hand aus und winkte Paska, ihr die ihrige zu geben. Und nun weinten beide, Dienerin und Herrin, still vor sich hin.

Francesco betrachtete durch die Flamme des Lichtes hindurch den gelblichen Faden, mit dem er die Wunde vernähen wollte und, ohne sich umzukehren, sagte er ärgerlich: »Wenn ihr nicht aufhört, kann ich nicht anfangen.«

Und von neuem hörte man in dem vom Geruch des Spiritus erfüllten Zimmer nur noch das leise Summen der Lampe. Francesco trat an das Bett und beugte sich darüber; Gavina rührte sich nicht, klagte nicht. Sobald er die Wunde vernäht hatte, machte er ihr eine Morphiumeinspritzung, und nachdem er Paska fortgeschickt, sagte er, als nähme er ein unterbrochenes Gespräch wieder auf: »Ich sagte es dir ... du kannst sicher sein: eher wirst du sterben, als sie!«

Er öffnete das Fenster, damit der Geruch von Spiritus und Äther sich verflüchtige und brachte seine Instrumente wieder sorgfältig in Ordnung.

»Wie fühlst du dich jetzt?« fragte er laut.

»Gut!« erwiderte Gavina mit verschleierter Stimme. Das Morphium tat bereits seine Wirkung und befreite sie von allem Schmerz und aller Unruhe. Im Rahmen des Fensters sah sie die noch vom untergehenden Mond beschienenen, in Duft gehüllten Berge, und über die höchsten Gipfel breitete der schon den Anbruch des Tages verkündende lichtere Himmel gleichsam einen silbernen Glorienschein. Im beschatteten Garten empfing nur der Wipfel der Steineiche noch das Mondlicht.

Ihr kamen die Morgen in den Sinn, da sie früh aufstehen mußte, um beim Brotbacken zu helfen: wie sie sich alsdann von der Arbeit fort in den Garten schlich und von dem Verlangen erfaßt war, in eine Ferne zu ziehen, in der alles Glück und Herrlichkeit wäre – und diese Erinnerung verursachte ihr ein Gefühl unsagbarer Freude: die schöne Ferne, die sie in den mystischen Verzückungen ihrer Mädchenjahre erträumt, lag vor ihr: sie brauchte nur aufzustehen und sich dorthin aufzumachen ...

Allmählich umhüllten durch das Morphium hervorgebrachte phantastisch schöne Traumbilder ihre Sinne; doch sie schlief nicht: sie fühlte, daß sie träumte, und wie verlockend diese Träume auch waren, sie überließ sich ihnen nicht völlig. Ein leises, schleichendes Geräusch, das ihr von weit her zu kommen schien, hielt sie in der Welt des Wirklichen zurück. Das war der Schritt Francescos. Er ging im Zimmer umher; doch als er alles in Ordnung gebracht hatte, setzte er sich an ihr Bettchen und nahm ihre Hand in die seinen. Nachdem er ihr Arzt gewesen, ward er wieder ihr Gefährte, der Kamerad, auf den sie gewartet hatte bis zu diesem Augenblick, und sie schloß die Augen und meinte, mit ihm zusammen eine von ungewohntem Licht erhellte Straße zu wandern ...

Über der kleinen Stadt neigte sich der Mond zum Untergang; über den Bergen erstrahlte das Morgenrot. Auf dem Felsen oberhalb des Brunnens sang eine Lerche, und es war als begrüße ihr Getriller mit der gleichen Freude die schwindende Nacht und den anbrechenden Tag.


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