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II.

Mit jenem Tage fing sie nun doch an Bedenken zu hegen, ob sie nicht eine Sünde begehe, wenn sie sich ihrem Manne so ganz hingebe. Sie gedachte der Ansichten ihrer Mutter und der Andeutungen ihres Beichtvaters über die Keuschheit und Enthaltsamkeit, die in den Beziehungen zwischen Ehegatten walten sollten. Und es demütigte sie zu denken, daß Francesco ihren Leib besitze, ihre Seele aber noch nicht. Das Geheimnis, das sie ihm noch immer nicht bekennen mochte, trennte sie; und überdies schien es ihr ungerecht, daß sie genießen sollte, während jemand durch ihre Schuld litt. Ihr alter Aberglaube erfaßte sie wieder, sie war überzeugt, daß Unheil ihrer warte; ihr Schicksal stand immer noch aus der Lauer, bereit, sie die Freuden, denen sie sich hingab, büßen zu lassen. Und in dem Maße wie ihre Sinne erwachten, und die Küsse ihres Mannes sie ganz durchdrangen, sie für einen Augenblick alles andere vergessen ließen, verspürte sie eine moralische Depression, ein Verlangen nach Buße und eine unendliche Traurigkeit. Und sie begann Vorwände zu suchen, um sich Francesco zu versagen. Wenn er sie rief, so verging sie fast vor Verlangen zu ihm zu eilen, aber ihre Entsagungskraft war so groß, daß es ihr fast immer gelang, sich zu überwinden. Und wenn sie doch bisweilen nachgab, so empfand sie nachher Scham, ja Verachtung vor sich selbst.

Eines Tages kam ein zweiter, von Luca im Namen der Mutter geschriebener Brief. Er gab Nachricht von allem: das Wetter war schrecklich, der Ex-Frater war gestorben, Paska hatte die Influenza, und von Zio Sorighe wußte man noch immer nichts: einige hielten ihn noch immer für schuldig, andere traten für ihn ein, und die ganze Sachlage war somit unverändert.

Sie erblaßte und verharrte lange düster und regungslos am Fenster. Francesco schlief. Durch die Scheiben sah sie den Himmel wieder tiefblau, hin und wieder von silberhellen Wölkchen bedeckt, und trotz ihrer Unruhe mußte sie an die Frühlingstage in ihrem Garten denken und an die Stunden, in denen sie auf den Postboten wartete. Und es kam ihr vor, als sei sie damals glücklich gewesen: so sehr litt sie jetzt.

Ganz leise schlich sie sich in das Schlafzimmer und betrachtete Francesco als sähe sie ihn zum erstenmal. Er war blaß, seine Augenlider ein wenig bläulich, der Mund halb geöffnet. Ein Ausdruck, von Müdigkeit und von Trauer ließ seine Züge schlaffer erscheinen als sonst. Wären nicht die tiefschwarzen, glänzenden Haare gewesen, so hätte er jetzt, da die leuchtenden Augen von den müden Lidern bedeckt waren, wie ein alter Mann ausgesehen. Sie hatte Mitleid mit ihm – und doch mußte sie ihn aus seinem Traume wecken. Als hätte ihr bloßer Gedanke Macht über ihn, erwachte er; er lächelte sie an, sein Gesicht verwandelte sich und nahm alsbald den gewohnten heiteren Ausdruck wieder an.

»Was tust du da, Gavina?«

»Ich las den Brief meiner Mutter. Soll ich ihn dir vorlesen?«

»Warum nicht? Aber komm hierher!«

Er wollte, daß sie sich auf das Bett setzte, neben ihn, zog sie an sich und küßte sie: sie wehrte sich und wich seinen Lippen aus. Dann aber schien sie das zu bereuen, lehnte sich an seine Brust und sah ihn an: in seinen Augen webten Sehnsucht und Trauer einen Schleier, wie wenn in der Dämmerung Licht und Schatten sich bekämpfen, vermischen.

Sie richtete sich wieder auf, setzte sich auf den Bettrand und sagte leise, fast ängstlich: »Jetzt will ich dir den Brief vorlesen. Höre!«

Aber sie entschloß sich noch nicht, das Blatt zu entfalten; wie von Schlaf überwältigt saß sie da, in sich zusammengesunken.

»Lies doch, Gavina!«

Statt zu lesen, sagte sie zögernd: »Höre, kann ein eingeschriebener Brief verloren gehen?«

»Schwerlich, aber vorkommen kann es immerhin. Weshalb?«

»Höre ... ich muß dir etwas sagen ... Hörst du mich?« fing sie leise an, in dem demütigen, beklommenen Ton, mit dem sie früher zu ihrem Beichtvater gesprochen hatte. »Aber du mußt nicht sprechen, mich nicht unterbrechen, bis ich dir alles gesagt habe. Du sagtest letzthin, du wärest von Priamo Felix' Selbstmord überzeugt. Auch ich war davon überzeugt, das heißt, ich wußte es. Ja, er hat sich das Leben genommen und bevor er es tat, hat er es mir geschrieben. Ja, mir ... sei still! Höre! Du sollst mir – nicht verzeihen, aber mich verstehen. Ich erhielt den Brief eine Stunde vor unserer Abreise. Du warst so glücklich! Ich wollte deine Freude nicht stören, wollte warten, um dir dann alles zu sagen. Was hättest du getan? Ich hatte Anrecht, jetzt sehe ich es ein«, fuhr sie fort, ohne seine Antwort abzuwarten; und er hörte aufmerksam zu, sah ihr mit seinen glänzenden Augen fest ins Gesicht, schien aber weder erregt noch überrascht »Ja, ich habe immer Böses getan, aber ohne es zu wollen; ich glaubte, gut und richtig zu handeln. Letzthin also, nachdem ich gelesen hatte, man hätte Zio Sorighe im Verdacht ... du kennst ihn, den alten Mann, der bei uns im Dienst war ... da schickte ich das Briefchen, in dem Priamo mir sagte, er werde sich das Leben nehmen, eingeschrieben an den Kanonikus Belli«. Ich war gewiß, daß der Irrtum so aufgeklärt würde. Aber nein! ... Und warum das? Und nun ... du weißt vielleicht, daß Zio Sorighe verschwunden ist ... er ist flüchtig ... unter der falschen Anklage ...«

»Und du hattest ihnen geschrieben ... ach, die Elenden!« schrie Francesco und schlug mit der Hand auf die Decke.

Sie erbebte, als wenn er sie geschlagen hätte. In dem Ausrufe »die Elenden« fühlte sie sich einbegriffen. Und die vermeintliche Beleidigung gab ihr sofort ihren ganzen Stolz wieder: in ihrer alten Art warf sie den Kopf auf, und mit einemmale war es ihr, als hätte sie jenen Alp abgeschüttelt. Jetzt brauchte sie sich nur noch Francesco gegenüber zu verteidigen.

Sie sprang auf, trat hoch aufgerichtet und fest vor ihn hin und sah ihm ins Gesicht. »Du wußtest das nicht?« fragte sie.

»Wenn du annahmst, ich wüßte es, warum hast du bis jetzt geschwiegen?«

»Ich glaubte ... ich wollte ... ich hoffte mich aus der Sache zu ziehen, ohne dir Verdruß zu bereiten ... Aber liest du denn nicht die Zeitungen?«

»Ich wiederhole dir ... aber nein: ich will dir nicht wiederholen ...«

»Werde nicht böse! Ich glaubte ... ich glaubte, du wüßtest es, und sprächest nicht davon aus dem selben Grunde, der mich abhielt, davon zu sprechen ... aus Zartgefühl. Jetzt muß ich dir alles erklären. Wenn du mich aber nicht mit Ruhe anhörst, so ... so sage ich dir nichts mehr. Ich glaubte ... ich glaubte«, sagte sie beharrlich, sank wieder in sich zusammen und stützte die Hand auf das Kissen, »ich glaubte, du müßtest es. Die Nachricht von dem Selbstmord wußtest du doch ... du selbst hast es mir gesagt ...«

»Ich hatte es durch Zufall gehört. Schon lange habe ich keine Zeitungen von der Insel mehr gelesen, du weißt, ich halte keine mehr.«

Sie schien überzeugt. Er hatte sich im Bett aufgerichtet, den Ellbogen auf das Kopfkissen gestützt, und hörte nicht einen Augenblick auf, sie anzusehen. Er war ruhig, aber von einer zu offensichtlichen Ruhe, als daß sie natürlich gewesen wäre. Jetzt fragte er: »Was enthielt Priamos Brief? Und wie schickte er ihn dir?«

»Eben durch Zio Sorighe ...«

»Weiß der Kanonikus Bellia das?«

»Ja.«

»Sage mir ...«

Sie wiederholte Wort für Wort die Zeilen Priamos. Ihr Gesicht bedeckte sich mit dunkler Nöte, und heiße Tränen trübten ihre Augen.

Francesco fragte: »Hatte er das Recht, dir so zu schreiben?«

»Ich weiß nicht ... ich glaube nicht! Nein, nein! Ich bin nicht schuldig, Francesco, ich schwöre es dir! Ich habe ihm nie etwas versprochen. Einmal, vor vielen Jahren, als wir fast noch Kinder waren, kam er zu uns in den Weinberg und sagte mir, er wolle nicht mehr Priester werden, weil er mich liebe. Ich erwiderte ihm, ich wolle auf ihn warten; aber ich war ja noch ein Kind! Später begriff ich, daß mein Versprechen eine Torheit war. Und dann geschah so vieles: mein Vater starb! ... Jenen Unglücklichen sah ich nie mehr allein, ich gab ihm keinerlei Hoffnung, ich ließ ihn wissen, daß ich nicht mehr an ihn dachte ... das übrige weißt du. Du selbst hast gesagt, er hätte ein solches Ende nehmen müssen.«

»Er hätte ein solches Ende nehmen müssen!« wiederholte Francesco; aber er schüttelte den Kopf und sein Ton klang spöttisch.

»Was hätte ich denn tun sollen?« fragte sie erregt. »Sage du mir, was ich hätte tun sollen! Der Kanonikus Belli« wußte alles, er beriet mich, und ich folgte seinem Rat, gewiß, damit das Rechte zu tun. Und nun verhält er sich so! Warum? Warum? Ich weiß es mir wirklich nicht zu erklären.«

»Und das ist doch so leicht! Ist es möglich, daß du das wirklich nicht verstehst? Der Kanonikus Bellia ist ein Fanatiker, einer von den Menschen, bei denen die religiöse Idee zu einer fixen Wahnvorstellung wird. Die Märtyrer und die Inquisitoren waren wie er; die einen ließen sich töten, die andern töteten selbst, und sie waren gleicherweise Verbrecher, denn auch der Selbstmord ist nur eine Art von Verbrechen, und die Märtyrer waren nichts anderes als Selbstmörder, krankhafter und schuldiger als die modernen Selbstmörder. Der Kanonikus Bellia hat mehr die Natur eines Inquisitors; er will eine Säule der christlichen Kirche sein und wird nie zulassen, daß ein Sünder sich der uralten Tyrannei entziehe. Umsoweniger wird er zugeben, daß ein Priester, und namentlich ein Priester wie Priamo, sich das Leben nehmen könne. Das wäre ja eine Schande für die Kirche! Mögen auch tausend Bettler wie Zio Sorighe umkommen – nur erspare man dem gläubigen Volk die Schmach und das Beispiel eines selbstmörderischen Priesters. Jetzt begreifst du!«

Sie hatte ja längst begriffen, aber sie empfand ein solches Entsetzen, einen solchen Abscheu, daß sie Francesco hätte widerlegen mögen, wie sie einige Tage zuvor den Sachverhalt sich selbst gegenüber bestritten hatte.

»Was du da sagst, ist nicht möglich! Ich kann es nicht glauben. Mein Brief muß verloren gegangen sein. Übrigens, wenn Zio Sorighe wirklich verhaftet werden sollte, so wird er doch die Wahrheit sagen. Darüber kann der Kanonikus Bellia sich nicht täuschen und er kann auch nicht glauben, ich würde schweigen.«

»Wer weiß? Jetzt, wo er den Brief in Händen hat ...«

»Aber nein, sei still«, schrie sie, »bringe mich nicht noch mehr auf! Vielleicht hat er auch gar nicht Unrecht, sich nicht in diese Sache einzumischen. Denn sie geht mich an. Ich muß handeln und das sofort. Sofort, Francesco!«

»Was kannst du jetzt machen, ohne Beweise? Was willst du sagen? Was willst du tun? Man könnte ja auch annehmen, du tätest es, um Zio Sorighe zu retten; er ist bei Euch in Dienst gewesen, kann dir Gefälligkeiten erwiesen haben ...«

»Francesco! So sprichst du? Du?«

»Ich spreche nur Mutmaßungen aus.«

»Und das tust du mit solcher Ruhe? Das heißt, daß dir nichts an mir liegt ...«

»O, mir liegt mehr an dir als du dir vorstellen kannst!«

»Und warum sprichst du dann so? Du mußt mir helfen! Du mußt, verstehst du? Wenn ich bis jetzt Böses getan habe, so war es, weil ich niemanden hatte, der mir half, ... weil ich allein stand ...«

»Aber seit dem Tage, an dem wir uns heirateten, standest du nicht mehr allein! Doch ich will dir keinen Vorwurf machen. Beruhige dich nur! Niemand kann dich besser verstehen als ich. Erinnere dich, was ich dir bei unserer ersten Unterrednng sagte. Weißt du es noch? Worte sind unnütz, nur die Wandlungen zählen.«

»Aber die Handlungen werden durch Worte veranlaßt! Und wenn du mir jetzt nicht rätst, wenn du mir jetzt nicht hilfst ...«

»Wirst du denn tun, was ich dir rate? Ja? Wir wollen sehen!« sagte er, stand auf und kleidete sich an: »Im übrigen wirst du von nun an keines Rates mehr bedürfen! Das war eine bittere Lehre, gesteh' es nur. Du sagst, du hättest immer allein gestanden. Wäre es doch so gewesen, wahrhaftig! Dann wärest du wohl eine andere geworden! Aber gerade, weil du jemand hattest, der dich lenkte, bist du bis dahin gekommen.«

»Nun ist es aber genug! Quäle mich nicht so!« rief sie aus und preßte ihre Stirn mit den Händen. »Davon wollen wir später reden! Laß uns jetzt an das denken, was zu tun ist. Sag' es mir, gleich! Gleich!«

»Vor allem sage ich dir nochmals, du mußt dich beruhigen. Fange nur jetzt nicht wieder mit deinen zwecklosen Selbstvorwürfen an! Du weißt, ich kenne dich!«

»Du kennst mich? Das glaubst du? Den Irrtum mußt du aufgeben! Ich bin böse, ich bin hochmütig, ich habe immer die Unwahrheit gesprochen und noch soeben habe ich dir nicht die ganze Wahrheit gefügt. Du hast mich gefragt, ob er ein Recht gehabt hätte, mir zu schreiben, wie er mir geschrieben hat; ich habe dir erwidert: nein. Und vielleicht hatte er doch das Recht dazu. Er ist durch meine Schuld gestorben, weit ich ihn zurückgewiesen habe, obgleich ich ihn liebte, und weil ich ihm nicht Wort hielt ... Und er ist um meinetwillen so tief gesunken. Denn er ging zu Michela, um mit ihr von mir zu sprechen; er hat Michela und sich selbst ins Unglück gebracht aus Kummer, nicht aus Liebe zu ihr. Und du sagst, du kenntest mich? Siehst du, so bin ich: von der selben Familie wie Luca, von der selben Art wie Michela.«

Während sie sprach, war sie an das Fenster getreten, ihr Gesicht in den Vorhängen verbergend. Francesco hatte sich angekleidet; sein Gesicht war sehr blaß, aber seine Augen folgten Gavina mit ruhigem, kaltem Blick, mit einem Ausdruck, dem ähnlich, den er in seinem Arbeitszimmer bei seinen Experimenten hatte.

»Luca und Michela!« sagte er leise, wie für sich. »Aber weißt du, daß du Unsinn redest? Laß Luca und Michela nur aus dem Spiel: wer die sind, das wirst du ein anderesmal begreifen!«

»O, das begreife ich auch jetzt! Zwei Unglückliche, nicht wahr? Zwei Opfer! Meine Opfer. Das willst du sagen!«

»Ach, laß uns aufhören! Laß dich doch nicht wieder von deinem Hang hinreißen, dir selbst Böses zuzufügen. Wir haben jetzt an anderes zu denken. Komm' mit mir!«

Er ging in sein Arbeitszimmer hinüber und setzte sich an den kleinen Schreibtisch. Sie folgte ihm und schien ruhiger zu werden. Er schrieb einige Worte und zeigte ihr das Geschriebene:

»Erbitte Antwort ob meinen Eingeschriebenen erhalten. Sonst komme selbst Brief Felix zurückfordern und Nötiges veranlassen. Gavina.«

»Gut!« sagte sie.

Er ging sogleich, das Telegramm aufzugeben.

Und von dem Augenblick an war Gavina anscheinend ruhig. Sie nahm sich vor, Francesco nicht mit unnützen Fragen zu belästigen, auch um ihm ihr volles Vertrauen zu zeigen.

Später begleitete sie ihn zur Poliklinik. Auch er war ruhig, wie gewöhnlich, aber schweigsam. Langsam und still gingen sie unterhalb der hohen roten Stadtmauer hin, die von einem melancholischen Wildwuchs gekrönt war. Die einsame Straße mit ihren stillen Villen und den steifen kahlen Bäumen, die aussahen, als wären sie auf den hellen Himmel gemalt, schien sich bis zu dem dunstigen Horizont auszudehnen; hier und da war an hohen Stangen eine geheimnisvolle Inschrift zu lesen wie an den Toren der Paläste im Märchen: »Die Berührung ist lebensgefährlich.« Die Stadt schien weit weg; auf einmal aber, bei einer Biegung der Straße, tauchte gleichsam ein Zauberland auf. Palastartige, helle Säufer, von eleganten Säulengängen umgeben, erhoben sich inmitten von Gärten, deren Gänge mit goldgelbem Kies bedeckt waren; Statuen und Reliefs schmückten die Fassaden und Stirnfelder; die weißen Terrassen leuchteten in der Sonne, und zwischen den Zwergpalmen und Koniferen hindurch ging der Blick auf die weite Campagna und auf die sie begrenzenden blauen Berge.

Francesco und Gavina betraten diesen Ort, der wie das Asyl glückseliger Poeten erschien und statt dessen die Stadt der Schmerzen war. Als sie in einen der Pavillons hineingingen, verspürte Gavina alsbald den selben unangenehmen Geruch, der die Luft in Francescos Arbeitszimmer so bedrückend machte. Sie empfand Widerstreben und Furcht. Nie zuvor hatte sie ein Krankenhaus gesehen: sie erwartete Geschrei und Stöhnen zu hören – und war erstaunt, als sie auf der Marmortreppe Lachen und jugendliches Geplauder vernahm. Es waren die Studenten, die geräuschvoll die Treppen erstiegen, und mitten unter ihnen befand sich ein großes, blasses junges Mädchen in einem grau und weiß karierten Mantel, das, ebenfalls lachend, eilig hinaufging, umgeben, beinahe gedrängt von seinen Gefährten.

Gavina betrachtete es mit Mißtrauen und Neugier. Das war also eine zukünftige Ärztin, eine von den Frauen, die wie Männer unter Männern leben, und an deren Existenz sie früher nicht einmal geglaubt hatte: so unwahrscheinlich war sie ihr vorgekommen. Die Studentin erwiderte Francescos Gruß, und gleich darauf erkannte Gavina den tarierten Mantel zwischen den Mänteln der Studenten, die auf dem warmen, dämmerigen Korridor hingen. Unter all jenen Mänteln, die – fast wie Menschen – ihre eigene Physiognomie hatten und die Armut, den Reichtum, die Bescheidenheit oder die Eleganz ihrer Besitzer verrieten, bewahrte der karierte Mantel seine Individualität, aber es war, als überließe er sich vertrauensvoll dem Kontakt mit seinen Ruhegenossen.

Trotz ihrer Beklommenheit sah und beobachtete Gavina aufmerksam, und jener einfache Mantel offenbarte ihr vieles! –

Francesco öffnete eine große Glastür, und sie sah ein weißes, in der Mitte von einer Säule gestütztes Zimmer. Die Kranken in ihren kleinen weißen Betten wendeten die Augen nach der Tür; sie waren ruhig und schweigsam, als ob sie jemand erwarteten. Nur die Rekonvaleszentinnen, die an den Fenstern saßen, durch die man auf den sonnenbeschienenen Garten sah, arbeiteten und lachten und kümmerten sich nicht um die Besucher: sie erwarteten niemanden mehr, die Gesundheit war wiedergekehrt.

Francesco trat an das Bett eines Mädchens mit weißem, glattem Gesicht, das von dichtem, rotem Haar eingerahmt war. »Wie geht es?« fragte er. »jener ist meine Frau.«

Das Mädchen versuchte sich aufzurichten und zu sprechen, aber in ihrer Kehle entstand ein Rasseln, dem ein harter, rauher Husten folgte. Dann machte sie Gavina Zeichen mit den Händen, als wollte sie sich entschuldigen; aber Francesco drückte ihren Kopf auf das Kissen nieder und sagte streng: »Still gelegen! Wenn du nicht bald wieder gesund wirst, dann nehme ich mir ein anderes Mädchen.«

Gavina aber lächelte der Kranken zu und sagte mitleidig: »Glaube das nicht; wir wollen auf dich warten, mach nur, daß du bald wieder besser wirst.«

In dem Bette daneben lag eine junge Frau, deren gerötetes Gesicht aus einer Masse schwarzer, krauser Haare hervorglühte; ihre großen dunkeln Augen glänzten und hatten einen freundlichen Ausdruck; ein Lederstreifen mit einem silbernen Plättchen umgab ihren nackten Hals. Während Gavina sie betrachtete, wurde die erst vor wenigen Tagen an einer Kehlkopfgeschwulst operierte Kranke von einer leichten Nervenkrise befallen und Francesco war der Wärterin behilflich, die Platte von der offenen Kehle zu nehmen und die Kanüle zu wechseln. Gavina sah das dunkle Loch und meinte, sie müsse selbst ersticken; eilends verlief? sie das Zimmer und sah neue und immer neue Kranke; in einem Operationssaal sah sie, daß der Fußboden sich nach den Ecken zu senkte, wie damit das Blut der Unglücklichen besser abfließen könne. Eine unendliche Trauer kam über sie, und den ganzen Abend mußte sie an die junge Frau denken, auf deren Hals gleichsam der Schmerz sein furchtbares Siegel gedruckt hatte.

Als sie nach Hause kamen, fragte Francesco, ob ein Telegramm für seine Frau gekommen sei.

»Nichts!«

Am andern Morgen klingelte Signor Zanche vergebens an der Tür der kleinen Wohnung. Gavina sich ihn, aber sie öffnete nicht. Sie erwartete die Antwort des Kanonikus Bellia und es war ihr, als könne jetzt nichts anderes auf der Welt für sie Interesse haben. Am Fenster ihres Schlafzimmers sitzend, blickte sie auf die Villa gegenüber und die weitere Reihe gelblicher und rötlicher Häuser. Verworrenes Geräusch hallte durch die durchsichtig klare Luft und drang bis zu ihr, doch als käme es aus einer weit entlegenen Stadt. Am sie her war alles rein und klar – und doch war es ihr mitunter, als müßte sie ersticken; dann kam ihr die Kranke von gestern in den Sinn, deren Leben von der gleichmütigen Wärterin abhing, und sie meinte, es ginge ihr ebenso: auch ihr war die Kehle wie eingeschnürt, und ein Gespenst stand neben ihr, das ihr kaum erlaubte, das bißchen Atem zu holen, dessen sie bedurfte, um nicht zu sterben.

Francesco fand sie blaß, mit trüben Augen. Auch er war in Sorge. Heute warf er sich angekleidet auf das Bett, aber er schlief nicht, und als die Türhüterin klingelte und die Post brachte, sprang er auf und eilte, sie durchzusehen.

Nichts!

Gavina hielt eine Ansichtskarte von einer Anverwandten in der Hand und betrachtete sie traurig. Auch er nahm die Karte und sah starr darauf. Dann blickte er auf und begegnete den Augen Gavinas. Sie sagten einander nichts, aber sie erkannten wechselseitig ihre wachsende Unruhe. Wie jedoch die Stunden hingingen, fühlten beide, daß ihre Spannung nachließ: sie erwarteten nichts mehr!

Am folgenden Morgen nahm Francesco, sobald er aufgestanden war, sein Portemonnaie zur Hand und zählte seinen Inhalt.

»Hast du genug Geld?« fragte er. »Jetzt bleibt doch nichts anderes übrig, als hinzureisen. Was meinst du?« Sie antwortete nicht: sie stellte sich die Überraschung, den Schrecken vor, den ihre Mutter haben würde, wenn sie sie so bald wiedersähe, die spöttischen Bemerkungen des Onkels Kanonikus und das Gerede in der Stadt.

Francesco steckte das Portemonnaie ein und fragte: »Du wirst dich doch nicht fürchten allein?«

»Wie, allein? Gehe ich nicht mit?«

»Was willst du da?« sagte er gelassen. »Der Kanonikus Bellia, das merkst du wohl, macht sich nichts aus deiner Drohung, du würdest selbst kommen. Laß mich also allein zu ihm gehen: du hast ja versprochen, meinem Rat zu folgen.«

»Tu, was du für gut hältst. Aber er kann sagen, er habe mit dir nichts zu tun.«

»Denke nicht an das, was er sagen kann! Du sollst mir nur versprechen, ruhig zu sein während der vier Tage, die ich fort sein werde. Fürchtest du dich?«

Ja, sie fürchtete sich, aber sie hütete sich wohl, es zu sagen. Statt zu antworten, fragte sie: »Und was wirst du meiner Mutter sagen?«

»Ich hätte mein Taschentuch vergessen und käme es zu holen.«

»Scherze nicht, Francesco. Sage mir, was du ihr sagen willst.«

»Denke jetzt nicht daran, ich werde schon eine Ausrede finden. Ich kann ihr ja sagen, ich hätte als Zeuge zu erscheinen. Und wäre das nicht die Wahrheit? Ich muß ja zum Richter gehen. Und nun laß mich gehen; um elf bin ich wieder hier, und dann können wir noch das Nötige besprechen.«

Er ging, nachdem er sie geküßt und ihr zugewinkt hatte. Er war ganz ruhig und schien der Sache gar keine Bedeutung beizulegen. Seine Ruhe übertrug sich auf Gavina, und sie sagte sich immer wieder: In fünf Tagen ist er wieder da und dann ist alles in Ordnung!

Er kam erst nach Mittag und entschuldigte sich, er habe nicht früher abkommen können. »Wir hatten drei Operationen zu machen, und eine Frau war wie besessen: sie biß und schrie noch nachdem sie chloroformiert war.«

Es war das erstemal, daß er von dem sprach, was er in der Klinik zu tun gehabt, und er schien müde. Sie hörte ihm zu und wagte nicht, von der Reife zu sprechen. Doch kaum war er mit dem Essen fertig, so stand er auf und sah nach der Uhr.

»Wenn du irgend etwas nötig haben solltest, so brauchst du nur an die Klinik zu telephonieren. Die Türhüterin soll jeden Augenblick nach dir sehen und wird hier schlafen, wenn du es willst. Fürchtest du dich wirklich nicht, die paar Tage allein zu sein?«

»Warum sollte ich mich fürchten? Eher werde ich mich um dich sorgen!«

»Das Meer wird diese Nacht ruhig sein, und ich werde gut schlafen. Ich hatte einmal eine kleine Reisetasche: was mag wohl daraus geworden sein?«

Sie holte die Tasche, er tat einiges Notwendige hinein und sah dann wieder auf die Uhr.

»Ich habe noch eine Stunde Zeit. Und die Post? Kommt sie heute nicht?«

Er ging hinunter, nachzusehen: es war nichts da. Er kam wieder herauf, warf sich auf das Bett und zog Gavina an sich.

»Was soll ich deiner Mutter sagen? Daß Rom dir gefällt? Daß du zufrieden bist? Nein? Warum weinst du jetzt? Bist du nicht gern in Rom? Nicht gern bei mir? Heraus mit der Sprache! Reut es dich?«

»Francesco ... Francesco«, sagte sie schluchzend; »du tust so viel für mich ... und du fragst, ob ... dich könnte es reuen ... nicht mich!«

»Mich? Warum?« sagte er ruhig. »Um nichts?«

*

Als sie allein war, warf sie sich auf das Bett und blieb lange liegen, von einem nervösen Zittern erfaßt. Das Kopfkissen roch nach Francescos Haar: sie drückte die Lippen darauf und sprach im Geist zu ihrem Manne: »Du sagst, es reue dich nicht. Das kann nicht wahr sein. Täusche mich nur nicht! Du bist nun unterwegs und weißt, daß du einer argen Demütigung entgegengehst, und denkst vielleicht, ›mit einer anderen Frau wäre mir das nicht passiert; ich wäre glücklich und ruhig gewesen, während ich mit ihr nur Ärger und Verdrießlichkeiten habe ...‹«

Und drei Tage lang begleitete sie ihn mit ihren Gedanken unausgesetzt, ohne ihn einen einzigen Augenblick zu verlassen. »Jetzt ist er angekommen. Er geht direkt zum Hause des Kanonikus Bellia. Es ist Abend: der Kanonikus sitzt am Kamin und liest sein Brevier. Auf einmal sagt man ihm, verwundert und neugierig, der Doktor Francesco Fais wünsche ihn zu sprechen. Er sieht auf: bei ihm ein Zeichen großer Erregung; aber sogleich schlägt er seine Augen wieder nieder, steht auf und geht in das Besuchzimmer.« Gavina sieht das trübselige kleine Besuchzimmer vor sich, mit seinen unzähligen Heiligenfiguren, seinen kleinen Bildern, den künstlichen Blumen unter Glasglocken. Vom Fenster sieht man in den dunklen Garten mit seinen kahlen Bäumen und den Felsen, hinter denen Priamo sie einst geküßt ... Vielleicht sieht Francesco, während er wartet, gerade dorthin und weiß nicht, daß dort das Drama begonnen hat, dem er ein Ende machen will. Er weiß es nicht; er weiß nicht, wie schlecht und verlogen sie gewesen ist: wüßte er's, so würde er sich nicht so für sie bemühen. Aber bei seiner Rückkehr will sie ihm alles beichten, sich vor ihm anklagen, wie sie es einst vor ihrem Beichtvater tat ...

Und während ihr alter Hang, sich zu demütigen, zu büßen, sie wieder erfaßt, sucht sie sich vorzustellen, was jetzt in Kanonikus Bellias Besuchzimmer geschieht: er kommt herein, ruhig, streng, die bläulichen Augenlider gesenkt und die Brauen gerunzelt. Er tut als ob ihn Francescos Kommen nicht im geringsten überrasche, und nach kurzer Unterredung gibt er ihm den Brief zurück.

»Ich wollte ein Ärgernis vermeiden, einen ernsten Nachteil für unsere liebe Gavina. In zwei, drei Tagen wird der Alte für unschuldig erklärt werden, denn sein Alibi ist jetzt nachgewiesen. Niemand dachte daran, ihn ernstlich zu beschuldigen, und er hat sich nur verborgen, weil ihm das Spaß machte. Er ist ein alter Abenteurer: in ein paar Tagen wird er zu seinem Kirchlein zurückkehren, zu seinen Schwätzereien, und es wird ihm vielleicht gar leid tun, daß das Abenteuer zu Ende ist. Warum ihm so viel Bedeutung beilegen? Ja, ich verstehe wohl: das gute Kind hat ein so zartes Gewissen! Und wie geht es ihr? Ist sie gern in Rom? Aber jetzt wird sie sich um Sie sorgen! Der Zwischenfall tut mir recht leid, recht leid! Hier ist der Brief! Aber ich bitte Sie: wir wollen doch keinen unnützen Skandal machen ...«

Francesco nimmt den Brief und geht, ohne zu antworten. Und nun ist er da, in ihrem großen, düsteren Eßzimmer: Paska weint, als sie ihn sieht, und die Mutter sieht ihn ganz erschrocken an. Er küßt sie lachend, beruhigt sie und fragt, wie es Luca geht. Luca ist betrunken. Als er Francesco sieht, grinst er und fragt, ob er sich schon mit Gavina gezankt und sie ihn davongetrieben habe ...

Selbst im Traum war sie bei Francesco; mit ihm war sie im Garten des Kanonikus Bellia, hinter den Felsen; zusammen lasen sie die Zeilen Priamos, und sie bemerkte, daß die Handschrift verändert war.

Am Donnerstag war Francesco abgereist. Am Sonnabend erhielt sie ein Telegramm:

»Brief bekommen. Reise morgen früh zurück.«

Und am folgenden Tage ein zweites Telegramm:

»Reise jetzt ab. Alles in Ordnung. Sei ruhig.«

Ja, nun fühlte sie sich wirklich beruhigt. Wenn er abreiste, so war alles abgetan, und für sie fing ein neues Leben an. Sie war fast glücklich, wenigstens voller Hoffnung und guter Vorsätze, wie eine Genesende. Gegen Sonnenuntergang ging sie aus und wanderte lange umher, von einem Verlangen nach Lust und Bewegung getrieben. Es war ein lauer Spätnachmittag. Sie ging durch Via Venti Settembre, an den Quattro Fontane vorüber und weiter durch Via Veneto. Aus der Ferne drang Lärm und Wasserrauschen herüber, aber die breite Straße war fast einsam; an dem purpurfarbenen Himmel, zwischen dem kahlen Gezweig der Bäume, erschienen allmählich grünlich schimmernde Sterne. Auf einmal sah sie vor sich auf dem Trottoir einen grünen Stein funkeln, der das Licht der Sterne widerzuspiegeln schien; sie hob ihn auf und legte ihn auf ihre Handfläche: er sah aus wie ein Leuchtkäfer. Es war ein Stein, der vermutlich aus einem Ring herausgefallen war, vielleicht ein Smaragd. Dieser Zufall erschien ihr als eine gute Vorbedeutung und heiterte sie vollends auf.

Als sie nach Hause kam, übergab die Türhüterin ihr ein geschlossenes Kuvert, das »der Herr, der alle Tage käme«, für sie zurückgelassen hatte. Sie fühlte ihr Herz klopfen, betastete den Umschlag, und es schien ihr, als sei eine Zeitung darin. Schwer atmend stieg sie die Treppe hinauf und machte Licht; zögernd, ängstlich öffnete sie das Kuvert, und als sie die darin enthaltene Zeitung entfaltete, fiel ihr Blick auf eine rot angestrichene Notiz: » Leichenfund. Hirten fanden heute in der Gegend Annotta 'a bidda genannt, fast auf der Höhe des Monte S. Teodoro, eine halb von den Geiern verzehrte Leiche. Sie wurde als die des alten Küsters der Kirche S. Teodoro identifiziert, des selben, der des Mordes an dem jungen Geistlichen Priamo Felix verdächtig erschien. Der Tod des Alten muß bereits vor vier Tagen erfolgt sein und ist, wie es scheint, auf einen Herzschlag zurückzuführen: der Unglückliche litt an einem Herzleiden. Auf jeden Fall ist die Annahme eines Verbrechens ausgeschlossen.«

Gavina fühlte, daß ihre Füße den Dienst versagten und sank auf einen Stuhl; ihre Arme hingen schlaff herab, und sie neigte den Kopf, als ob sie nunmehr die Schläge eines mitleidlosen Verfolgers wehrlos hinzunehmen bereit sei.

Am folgenden Morgen kam Francesco zurück. Er brauchte sie nur zu sehen um zu wissen, daß die Nachricht ihr schon zugekommen war; sie war leichenfahl und fieberte, und in ihren Augen lag Entsetzen.

Er nötigte sie, sich sogleich niederzulegen und fühlte ihren Puls.

»Du hast diese Nacht nicht geschlafen, nicht wahr? und hast jetzt ein wenig Fieber. Nun, was willst du tun? Da ist nichts mehr zu wollen.«

»Aber warum haben sie das getan? Sage mir nur das, Francesco!«

»Ich weiß es nicht! Ich weiß es nicht! Was soll ich dir sagen? Der Kanonikus Bellia hielt Priamos Brief für gefälscht. Die Handschrift sei nachgeahmt gewesen. Glaubte er das wirklich? Ich weiß es nicht! Er sagte, er habe ihn nicht vorlegen wollen, aus Sorge, die Lage des Verdächtigen noch zu verschlimmern ...«

Sie atmete schwer, fast röchelnd und sah Francesco in die Augen; und wieder verstanden sie einander.

Doch sie drang in ihn: »Aber du, du hast den Brief vorgelegt?«

»Ich habe alles getan, was zu tun war. Sei ruhig!«

Und er fing an, ihr seine Reise zu erzählen, Signora Zoseppas Überraschung, Paskas Fragen, seinen Besuch beim Kanonikus Bellia und seine Bestürzung, als er am selben Abend von Zio Sorighes Tod gehört habe.

»Ich ahnte, daß auch du die Nachricht noch vor meiner Rückkehr erfahren würdest; gern hätte ich an Zanche telegraphiert, aber ich wußte seine Adresse nicht. Du hast seitdem schlimme Stunden verbracht, nicht wahr? Aber nun ist alles vorüber; du mußt ruhig sein und dich nicht so aufregen ...«

»Es ist alles vorüber? Das sagst du? Und der alte Mann? Auch er ist durch meine Schuld umgekommen.«

»O Gott, laß uns nur nicht wieder anfangen!« flehte Francesco. »Du hast mich doch lieb, nicht wahr? Dann quäle mich auch nicht mehr! Wir haben unsere Pflicht getan: liegt ein Verbrechen vor, dann ist jetzt die Schuld nicht die unsrige. Und damit ist es genug! Du könntest dich geradezu krank machen, dich quälen und mich quälen unser Leben lang; aber damit würdest du nur aufs neue Böses tun, angenommen, das bisher geschehene Böse sei dein Werk. Du mußt damit ein Ende machen, das mußt du einsehen!«

»Ja, ich sehe es ein, ich sehe es ein! Verzeihe mir!« sagte sie, drückte ihr Gesicht in das Kissen und weinte.

Er schwieg. Er begriff sehr wohl, daß das Drama, statt zu Ende zu sein, nun vielleicht erst anfing. Um sie zu zerstreuen, erzählte er ihr weiter von seinen kleinen Reiseerlebnissen, von zu Hause, von des Onkels Kanonikus Reden. Sehr ermüdet aber warf er sich endlich auf das Bett und tat, als schliefe er.

Gavina, der der Rücken weh tat, als hätte sie selbst eine weite Reise hinter sich, wollte aufstehen und unterdes ein wenig Ordnung schaffen; aber es war, als verwehre die Hand Francescos ihr, sich zu regen. Jene Berührung teilte ihr eine Glut mit, die ihr durch alle Glieder drang. Francescos Ruhe, sein Schlummer ärgerten sie, ja verletzten sie beinahe: wie konnte er schlafen, nach allem, was geschehen? Da fiel ihr ein, wie er gegen die Kranken gewesen war, und sie dachte: was zählen zwei oder drei Menschenleben für einen Arzt? Zio Sorighe war alt, verschlissen, elend – und der andere mußte so enden!

Doch es schien ihr, als sagte sie sich das mehr zu eigenem Trost, als um Francescos Ruhe zu entschuldigen: und von neuem fing sie an sich anzuklagen, die trübsten, weit zurückliegenden Erinnerungen hervorzusuchen, die ihr Leid bereiten konnten. Sie stellte sich den alten Weinberghüter vor, wie er so vergnügt sang und immer wieder sein Verslein an sie richtete. Er hatte sie gern gehabt – und durch ihre Schuld war er umgekommen. Dann dachte sie daran, wie Luca sie mörderischer Absichten beschuldigt hatte: was würden ihre Mutter und Paska jetzt wohl denken, wenn sie wüßten? Vielleicht würden sie noch einmal Luca rechtgeben ...

Sie fing an zu phantasieren. Ihr Puls war erregt und unregelmäßig und die Augen glänzten trübe.

Auf einmal begann sie mit heiserer, unsicherer Stimme zu singen:

Su sordadu in sa gherra

Francesco war auf eine Krise gefaßt gewesen, fast wie jener Soldat im Kriege, der der Gefahr gegenüber selbst Gott vergaß. Als er sie singen hörte, erblaßte er.

Sie sah nach der Tür hin und sagte leise: »Sieh doch nach, ob sie fort sind.«

»Wer?« fragte er, sich über sie beugend.

»Die zwei! Zio Sorighe und der andere! Der langweilige Signor Zanche hat sie mitgebracht. Geh und sieh nach! Wie, du glaubst es nicht?« sagte sie lauter und drängte ihn fort. »Ich bin eine Lügnerin, ja, aber jetzt glaubst du mir auch nicht, wenn ich die Wahrheit sage!«

Dann lachte sie laut, aber wie im Traum. »Ach, wie dumm! Du tust nur so, als wären sie nicht da, ja, du verstellst dich immer. Ich lese in deinen Augen wie du in den meinen ...«

Traurige Tage kamen. Es entwickelte sich eine Gehirnentzündung und zur größeren Pein Francescos sah sie vollkommen wohl aus, mit glänzenden Augen und lachendem Gesicht. Eine sehr merkwürdige Erscheinung nahm er wahr: sie ahmte die Kehlkopfkranke nach, die sie bei ihrem Besuch in der Poliklinik gesehen hatte.

Er war sehr unruhig, hatte überdies für die kleinen häuslichen Obliegenheiten zu sorgen und konnte sich doch nicht entschließen, eine Wärterin herbeizurufen, weil Gavina fortwährend von dem Vorfall sprach, der ihre Gesundheit erschüttert hatte. Sie erzählte ihre ganze Vergangenheit und erinnerte sich jeder Einzelheit mit überraschender Klarheit; nur meinte sie, noch die Verlobte Francescos zu sein und flehte ihn an, sie nicht zu heiraten.

»Du kennst mich nicht!« sagte sie ihm immer wieder.

Und er horchte auf, still und ernst, als stände er am Bett eines Schwerkranken, der ihn nur seiner Krankheit wegen interessiere; aber ein Schatten lag über seinen Augen: er fragte sich, ob sie nicht unbewußt traurige Wahrheit spräche?

»Du kennst mich nicht!«

Und vor dieser Frau, die er so lange, so beharrlich geliebt, hatte er jetzt die Empfindung, er stände einer Unbekannten gegenüber ...

Doch das waren nur flüchtige Augenblicke, Schatten, die er verjagte, ohne sie nur näher ins Auge zu fassen. Er bereute nicht: angesichts der Gefahr faßte er wieder Mut – vielleicht auch aus angeborener Tapferkeit – und er wußte, wohin er gelangen wollte: wie auf manchem rauhen Boden nur aromatische Kräuter wachsen, so vermochten nutzloser Schmerz und Mitleid mit sich selbst, diese kraftlosen und giftigen Gewächse, in ihm nicht Wurzel zu schlagen.

Am dritten Tage seit Gavinas Erkrankung, als er sich gerade anschickte, dennoch eine Wärterin zu rufen, kam – diesmal wirklich zu guter Stunde – der Signor Zanche.

»Gavina ist krank«, sagte Francesco, als er ihm öffnete.

Der Mann regte sich nicht darüber auf und verlor sich nicht in zwecklose Fragen. Er nahm den Hut ab, trug seinen nassen Regenschirm in die Küche und spannte ihn zum trocknen auf.

»Wenn ich irgend etwas tun kann«, sagte er und schaute sich unbewegt um. Er zündete das Gas an, brachte alles in Ordnung und drang endlich sogar bei der Kranken ein, um sich nützlich zu machen.

Gavina erkannte ihn nicht, aber zu Francescos Überraschung hörte sie momentan auf zu sprechen. Sie richtete sich nur von Seit zu Seit in den Kissen auf, sah nach der Tür hin und murmelte: »Die Zeitungen ...« Dann versank sie wieder in ihre Fieberträume.

Verworrene Bilder zogen an ihrem Geiste vorüber. Immer aber weilte sie an dem Orte, wo das Drama sich abgespielt hatte. Als Kind war sie einmal zum Kirchenfeste in San Teodoro gewesen und erinnerte sich noch ganz genau der felsigen Landschaft, die sie jetzt mit Schnee bedeckt und in Wolken gehüllt sah. Die beiden Opfer standen ihr beständig vor Augen, bald lebend und aufrecht, bald als unförmliche Leichen zu ihren Füßen liegend: sie erhoben sich, stürzten, richteten sich wieder auf und tanzten einen Totentanz, wie Kinder eine Schlacht aufführen. Ein Nebelkreis umschloß die traurige Szene, und jenseits jener grauen Scheidewand ertönte das Rauschen des vom Wind bewegten Waldes und das Krächzen der Geier, die, gleich Banditen, zwischen den Felsen lauerten.

Plötzlich aber erkannte sie, daß dieses Gesicht nur eine quälende Traumvorstellung war, und erinnerte sich des Geschehenen; sich zu ermuntern vermochte sie aber trotz aller Bemühungen nicht. In ihrem Halbschlummer sah sie das Zimmer und merkwürdige Dinge darin: der Signor Zanche saß auf einem Felsen, und Francesco, der sich über sie beugte, war mit Schnee bedeckt. Sie dachte: Das macht das Fieber, und versuchte sich zu beruhigen und ihre Gedanken zu ordnen.

Es war ihr, als ob ihr Kopf, ihr ganzer Körper leichter würden, fast durchsichtig, aber so schwach, daß sie sich nicht zu rühren wagte, aus Furcht, sich etwas zu zerbrechen. Sie dachte an das, was sie tun wollte, wenn sie wieder genesen sein würde, und ihre ganze Zukunft kam ihr anders vor, als sie sie sich bis jetzt vorgestellt hatte. Sie fühlte ein unbestimmtes Verlangen zu leben, ein Bedürfnis sich zu regen, ja zu genießen. Sie wollte sich schöne Kleider und Hüte anschaffen, sie wollte in ein elegantes Bad reisen, und dann wieder einmal in ihre Heimat, um bei den Landsmänninnen Staunen und Neid zu erregen. Ihre religiösen Bräuche wollte sie entschieden ausgeben. Sie meinte, sie könne nun nicht mehr an Gott glauben, und statt ihr Schrecken zu bereiten, verlieh dieser Gedanke ihr gewissermaßen Erleichterung. Aber eines Morgens, nachdem sie die ganze Nacht tief geschlafen hatte, wachte sie auf und blickte verwundert um sich. Es war ihr, als hätte sie sich am Abend zuvor niedergelegt und viele häßliche Träume gehabt. Sie war allein, in dem großen, behaglichen Bett. Dicke Regentropfen schlugen an die Scheiben, aber der Himmel war grau und blau und hell. Sie wollte aufstehen, aber kaum setzte sie die Füße auf den Teppich, als sie ein sonderbares Kribbeln verspürte, das von den Beinen zum Kopfe herauflief, wie wenn Metalldrähte in ihrem Körper schwängen. Ihre Augen trübten sich, und in diesem Augenblick erinnerte sie sich ihrer Gesichte, ihrer Träume, der Pläne, die sie in ihrem Fieberwahn gemacht; sie erinnerte sich, Francesco die ganze Geschichte ihrer Liebe zu Priamo erzählt zu haben, und sie sehnte sich zu sterben. Sie glitt zu Boden, ihr Kopf sank gegen das Bett, und ihre Augen schlossen sich.

So fand sie Francesco. Er schrie auf, beugte sich über sie und hob sie auf; er schalt sie und gab ihr zugleich die süßesten Namen. Und in diesem Augenblick empfand sie ein ihr neues, tiefes, süßes Wohlgefühl. Sie erkannte, daß ihr Mann sie liebte, trotz der Vergangenheit, und sie war ihm dankbar.

Als sie aufblickte, sah sie, wie der Himmel sich hinter den noch nassen Scheiben aufklärte: die ganze Welt dünkte sie schön und alles um sie her weich und warm wie die Kissen, in denen sie lag. Sie fühlte sich glücklich. Sie fing an zu beten, sie bat Gott um Verzeihung, daß sie an ihm gezweifelt; sie empfand die Freude zu leben, an das Leben zu glauben und dennoch den Glauben an ein schöneres Leben als dieses zu bewahren. Es war einer der schönsten Augenblicke ihres Lebens, fast dem Entzücken gleich, das sie eines Abends, vor vielen Jahren, unter ihrer Steineiche empfunden hatte. Aber wie jener, so währte auch dieser Augenblick nur kurz. Indem sie betete, fingen ihre Lippen wie aus physischer Gewohnheit wieder an, die requiem aeternam herzusagen, mit denen sie all ihre Gebete begleitete. Die zwei Schatten traten wieder vor sie hin, sie betete auch für sie und versank wieder in ihre Traurigkeit und in ihre Zweifel.

So verlief ihre Genesung in einem Wechsel von Hoffnungen, Besorgnissen und Gewissensbissen. Häufig dachte sie an den Kanonikus Bellia und wunderte sich selbst, daß sie ihn nicht haßte. Sie verspürte die stumme Verzweiflung des Landmannes vor seinem vom Unwetter verwüsteten Acker, aber gleich dem Landmann fluchte sie nicht dem Unwetter. Unwillkürlich stiegen aus der Tiefe ihres Herzens selbst die Worte ihres ehemaligen Beichtvaters auf: »Die Ratschlüsse Gottes sind unerforschlich.« Manchmal lehnte sie sich wohl dagegen auf und legte sich selbst Fragen vor, die sie früher mit Schrecken erfüllt haben würden; doch ihre Antworten waren unbestimmt, schüchtern, nicht überzeugend. Es war, als ständen in ihr verschiedene Kräfte gegeneinander: Vernunft, Lebenslust und Instinkt. Fortwährend kämpften sie – doch keine blieb Siegerin. Mitunter auch steigerte sich ihr Seelenleben bis zur Schwärmerei: sie nahm sich vor, ein neues Leben anzufangen, gerade wie der schwer geschädigte Landmann daran denkt seinen Acker intensiver zu bebauen. Ihre so lange unterdrückten weiblichen Neigungen strebten zum Licht – doch bevor sie noch bei sich selbst ihren Wünschen Gestalt verliehen hatte, sanken die nunmehr durch die Gewohnheit verkümmerten wieder in sich zusammen. Und regte sich nun in ihr der sehnliche Wunsch nach einem Kind, so erwachten damit zugleich die Befürchtungen, die jene andere Lehre der christlichen Kirche veranlaßt: »Die Sünden der Väter werden an den Kindern heimgesucht!«

Sobald sie vollständig genesen war, nahm sie ihre früheren Gewohnheiten wieder auf. Sie ging zur Kirche und eines Tages auch zur Beichte. Der neue Beichtiger, an den sie zufällig geraten war, hielt sich nicht lange mit ihr auf: er schien eilig. Sie beichtete, daß sie einen Smaragd gefunden und nicht zurückgegeben hätte. Aber von den traurigen Ereignissen ihres Lebens sagte sie nichts und getraute sich auch nicht ihre Bedenken über ihren Verkehr mit ihrem Manne zu äußern. Zum erstenmal in ihrem Leben fühlte sie die eigene Würde einem Fremden gegenüber; dennoch erschien ihr nun ihre Beichte so unvollständig, daß sie nicht wagte, zu kommunizieren, und statt der gewohnten trunkenen Erhebung empfand sie eine dumpfe Unruhe, und ihre bisherigen religiösen Zweifel wurden nun von der Vermutung abgelöst, daß etwas Anormales in ihr vorgehe. Sie mußte wieder an Michela denken, an Francescos Aufsatz und an seine Reden. Sie hätte wissen mögen – doch ihr Stolz gestattete ihr noch nicht, sich an ihren Mann zu wenden. Eines Tages nahm sie ein Buch und las es heimlich, wie wenn im Nebenzimmer der Onkel Kanonikus und Signora Zoseppa gewesen wären. Es war eine Abhandlung über hysterische Erscheinungen und religiösen Wahnsinn. Dann fand sie einen Roman, dessen Titel sie betroffen machte: »Die Besessenen«. Und nun fuhr sie fort, wissenschaftliche Werke zu lesen, Studien Über kriminelle Anthropologie und Gesellschaftslehre, vor allem aber Romane. Francesco befaß ihrer nicht viele, doch es waren die besten der europäischen Literatur. Und das war nun, als hätte sie eine verbotene Frucht gekostet: eine ganze unbekannte Welt tat sich vor ihr auf, und sie meinte endlich das Leben zu begreifen. Sie verglich ihre eigenen Erlebnisse mit denen, die sie las, sie vermengte sie damit, und manchmal schien es ihr, als wäre sie nur einem gemeinsamen Gesetz gefolgt. Am Fenster lehnend, las sie und betrachtete von Zeit zu Zeit die Vorübergehenden und stellte sich vor, wie ein jeder von ihnen heimlich sein eigenes Drama mit sich herumtrage, gleichsam nach allgemeinem Brauch, wie man ein Hemd trägt.

Und die Tage gingen hin.

Außer dem Signor Zanche hatten Fais keinen andern näheren Bekannten, keinen andern Freund, auf den sie in einem Augenblick der Not hätten zählen können. Francesco kannte die ganze wechselnde, leidende, gleichgültige, eilige oder resignierte Menge, die die Poliklinik belebt; er war geselliger Natur, und wo er sich befand, im Tram, im Theater, an irgendeinem öffentlichen Ort, knüpfte er mit seinem Nachbar gern ein Gespräch an. Aber intime Freunde hatte er nicht, hatte er nie gehabt. In der ersten Zeit nach ihrer Heirat bemühte er sich, Gavina einige Bekanntschaften zu vermitteln, weil er es für seine Pflicht hielt, ihren ungeselligen Hang zu bekämpfen, statt ihn zu begünstigen; bald aber mußte er sich überzeugen, daß seine Bemühungen nutzlos waren. Unter andern Leuten langweilte Gavina sich. Sie schwieg, nicht weil sie nichts zu sagen wußte, sondern weil sie jenen nichts zu sagen hatte, und antwortete nur mit einem spöttischen Lächeln, wenn man ihr etwas Angenehmes sagte.

Für ihre eigene Person hatte sie stets eine wahre Nichtachtung genährt, sich für häßlich und antipathisch gehalten, sich nie darum gesorgt, ihre natürlichen Gaben zur Geltung zu bringen, ihre Fehler zu verbergen. Und zu dieser Gewöhnung, die seit den tragischen Ereignissen, dem Selbstmord Priamos und dem Tod Zio Sorighes, von Tag zu Tag mehr zu einem Naturtrieb geworden war, fügte sie nun noch direkte Verachtung ihrer selbst. Ihr religiöser Glaube schwand mehr und mehr, aber statt darüber stolz zu sein oder ein Gefühl der Erleichterung zu empfinden, dachte sie, sich selbst erniedrigend: »Das ist die Folge meiner Unwissenheit. Was weiß ich? Weil ein Mensch irrte, weil mein Unverstand und mein Charakter ein Unglück herbeigeführt haben – muß ich daraus schließen, daß von meinem Traum nichts übrig bleibt? Was war denn mein Glaube, wenn er so, bei der ersten Erschütterung, zusammenstürzen konnte? Und was ist der Zweifel, der mich jetzt heimsucht? Er wird, wie mein Glaube, nur ein Kartenhaus sein! Morgen werde ich wieder glauben, übermorgen von neuem zweifeln. Ich bin eben ein unwissendes Wesen!«

So wuchs das Verlangen nach Wissen in ihr, und sie las nun alles, was ihr unter die Hände kam. Und alles erschien ihr als Wahrheit: als um so tiefere Wahrheit, je mehr sie alle dem entgegengesetzt war, was ihren Glauben ausgemacht hatte. Nach einer Weile aber erregte auch diese Leichtgläubigkeit Zweifel in ihr, und unwillkürlich gedachte sie der Worte des Onkels Kanonikus: »Die Wahrheit ist in uns. Nur die Ignoranten lassen sich durch die Meinungen anderer überzeugen.«

Doch vergebens spürte sie mit ihrer immer schärferen Begriffsentwicklung in sich selbst der Wahrheit nach. Es kam ihr vor, als wäre alles in ihr Lüge; und doch erkannte sie deutlich, daß diese Verachtung ihrer selbst kein Aufschwung ihres Geistes war, sondern ein herabsteigen: das Verlangen, sich zu peinigen.

*

Bei alledem ging das Leben ruhig und anscheinend friedlich seinen Gang. Der Frühling kam, und Francesco war, wie immer, freundlich, liebevoll. Sie arbeitete den ganzen Tag und fand immer etwas zu tun, fühlte indes, daß sie mehr tun könnte, und phantastische Pläne gingen ihr durch den Kopf. Doch da fiel ihr Luca mit seinen Plänen, mit seinem wunderlichen Tun ein. Sie wußte nicht weshalb, aber seit einiger Zeit trat die Erinnerung an Luca zu den übrigen sie bedrückenden Vorstellungen, und in den Augenblicken, wo sie mit Sehnsucht an die Heimat dachte, tauchten auch die übrigen auf: die um Zia Itria versammelten jungen Leute, der Ex-Frater, der Zwerg, der Invalide, der Sohn der Witwe, alle die Gestalten aus der ärmlichen Nachbarschaft und auch Michela, und sie sah sie jetzt in einem andern Licht. Sie empfand für sie ein neues Gefühl: Mitleid, fast Zuneigung, als hätte sie ein Band zwischen sich und ihnen aufgefunden.

Von Tag zu Tag ließ dieses Gefühl, das ihr manchmal unbequem war wie ein neues Kleid, namentlich die Gestalt Zio Sorighes größer erscheinen. Bisweilen sah sie den Alten wieder, wie er sich mit seinem schäbigen Anzug und dem sarkastischen Gesicht eines Philosophen von dem Hintergrund des Weinbergs abhob. Öfter aber erschien er ihr auf einem dunkeln Felsen wie eine aus dem Stein selbst herausgehauene Figur: zwischen den schwärzlichen Lumpen, die um feinen Leib hingen, zeigten sich hier und da Fetzen bläulichen Fleisches und Klümpchen geronnenen Blutes. Große dunkle Vögel flatterten umher; und es war, als sähe er aus den von den Geiern ausgehackten Augen nach ihnen, und sein fleischloses Gesicht bewahrte seinen sarkastischen Ausdruck.

Und Phantasie zu Phantasie fügend, baute sie sich mitleidvoll das ganze Drama in den Bergen auf.


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