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Zweiter Teil

Die große Jahresuhr war schon verschiedene Male mit Gleichmut abgelaufen, ihr Gewicht hatte sich öfters auf den Boden gesetzt, seit sich jene Dinge im holdseligen Wien begeben hatten. Die Bürger von Döbling schlugen im Kasino Zögernitz die Karten auf den Tisch wie früher, und die Liebespaare schlenderten auf die Nußdorfer Lände, wo der Salat bis an die Straße heranwuchs wie früher, im alten Kuglerpark überzog die grüne Algendecke den Teich noch dicker, und in der Krimm roch es noch immer nach Wäschwaschen.

Aber auf der Türkenschanze, wo einst die Sandg'stätten zum Schlafen gelegen waren, wurde eines Tags ein neuer Park sichtbar mit schöngesetzten Büschen und feinen weißen Wegen, und auf dem Pantzerfelde wirtschafteten die Krowoten mit Hacke und Schaufel und feindlicher Gesinnung wie die Janitscharen vor Wien: sie warfen Gruben zu und führten Wälle auf, sie legten den alten Nil auf den Erdboden, denn von der Währinger Seite sollte die Stadtbahn über die Pampas sausen und von der Döblinger Seite rückten neue Mörtelhäuser in bedenklichen Kolonnen heran.

Eine neue Zeit war allmählich aus der Stadt herausgewandert und stand auf den Weinhügel, und außer den Buben, denen neue Zeiten immer gefährlich sind, hatten nur wenige sie bemerkt.

Der Bürgermeister Doktor Krügl ging in jenen Tagen nachdenklicher als je durch die Hauptstraße, die große Ader des Döblinger Weltverkehrs; die Morgenzigarre schmeckte ihm nicht mehr. Er drehte sie zwischen den Fingern, prüfte sie mißtrauisch auf guten Zug, und dann kam es wohl vor, daß er sie wegwarf; aber die Zigarre war ganz unschuldig, und was Doktor Krügl wegwerfen wollte, blieb hübsch bei ihm, denn kein Mensch kann es mit seinen innerlichsten Gefühlen so machen wie mit seinen Zigarren. Er fühlte sich nicht wohl und tastete öfters nach dem Herzen, wo er einen Schmerz fühlte, von dem er nicht wußte, ob er vom Tabak komme oder vom Bilde einer hübschen rundgeformten Bürgermeisterin. Er sah die wohlige Dame so deutlich vor sich, daß er sie hätte malen können, besonders zur Vorfrühlingszeit, die eigens gegen die Junggesellen erfunden zu sein schien. Welchen prachtvollen Osterschinken brachte diese weicharmige Dame am Karsamstag-Abend auf den Tisch, welche Festlichkeit, wenn sie sich zu ihm auf den Divan setzte und die Schwarten löste, die zartesten Schnitten heraussäbelte: jede Schnitte ein duftendes Gedicht von Ostern und von Liebe.

Aber er verjagte diese Schinkenphantasien, denn sie waren es beileibe nicht, die ihn quälten. Gott behüte. In Bürgermeisterköpfen ist die Problematik männlicher. Da flog denn die Zigarre auf die Straße und er ging, den Stock auf dem Rücken, begleitet von seinem alten Mops und seinen eigentlichen Sorgen weiter.

Menschen, die mit sich uneins sind, wollen gern die Einigkeit bei andern abholen und so kam es, daß der Bürgermeister da und dort vor einer Ladentür ein »Standerl« machte, um der Zeiten Witterung zu erkunden: beim Hutmacher Listner, der immer mit aufgekrempelten Hemdärmeln stand und Filzdeckel zwischen den Fingern drehte, beim Branntweiner Pollak, der die neusten jüdischen Anekdoten wußte und auch beim Meister Schwerengang.

Beim Schwerengang war Doktor Krügl schon Stammgast geworden und machte sich's an Vormittagen auf dem Plüschstockerl neben dem Werktisch gern bequem. Zu seinen Füßen lag der Mops Pizzikato und schlummerte auf den Vorderbeinen, während sein Herr, das Kinn auf den Stock gestützt, langsam seine Gedankenlast vom Herzen wälzte. Er machte es dabei wie ein guter Fugenkomponist, der Subjekt und Gegensubjekt langsam nacheinander vorführt und dann beide durchführt, damit man immer wisse, was er meine: so sprach er von den neuen Zeiten, die da kommen und den neuen Männern, die sie bringe, – was auch umgekehrt sein könne – von der Stadt, die sie beherrschten indem sie sie verjüngten; dann kam er auf die neuen Zeitungen und zog auch eine aus der Tasche und erklärte die Wahlverwandtschaft der Ideen, indem gewisse Köpfe von gewissen Ideen eben angezogen würden, andre wieder nicht … er schlug mit dem Handrücken auf das Blatt und jetzt kam das zweite Thema: »was soll man machen, frag' ich Sie?« Schon hatten einige Vorstadtbürgermeister ihre Gesinnungen in altes Zeitungspapier gewickelt und sich zur neuen Partei hinübergerettet. Und warum nicht? Treue ist oft Trägheit. Wer gibt dem Menschen etwas für den sogenannten anständigen Menschen, der er bleibt? Soll man's zu gar nichts bringen dürfen in der Welt? »Vielleicht war ich gar nicht liberal? Vielleicht habe ich mich nur getäuscht? Wer kennt sich denn?« Der Bürgermeister blieb auf dem Gedanken stehen: es war der Orgelpunkt der Fuge. Dann schwieg er erwartend, denn er suchte die Zustimmung des Uhrmachers, um sich eine Brücke ins neue Lager hinüberzubauen. Er hätte gern als Stadtrat im neuen Regimente fortregiert, denn wer einmal regiert hat, legt nicht gern das Zepter ab.

Aber der Uhrmacher schwieg, er baute ihm keine Brücke. Verstimmt blieb Doktor Krügl am andern Ufer sitzen.

Frau Christel kam und stellte den neuen Apparat auf den Werktisch. Sie grüßte den Bürgermeister, dann zündete sie das Spirituslämpchen an und richtete alles, wie es der Doktor vorgeschrieben hatte. Denn der Meister hatte den kurzen Atem bekommen und der Apparat sollte nicht die Uhren, sondern den Uhrmacher reparieren. Schwerengang war auch etwas grau geworden und sah eigentümlich drein. Die Christel nannte ihn zuwiderer, der Bürgermeister philosophischer, was oft auf eins herauskommt. Der harzige Wasserdampf stieß alsbald fauchend aus der schwarzen Röhre und im Laden roch es nach Wald und Fichten. Der Meister beugte sich dicht heran und die Tropfen blinkten auf dem Halstuch.

Geduldig saß der Bürgermeister und wartete noch immer auf die Brücke. Allein der Meister sah ihn mißtrauisch an, und während er den Dampf einsog, brummte er: »Es ist zu wenig Luft in der Welt und es sind zu viel Leute da. Nimmt eins dem andern seine Freud' weg.«

Dann schwieg er wieder. Er hatte – jeder mußte es zugeben – das schönste Geschäft in Döbling; und dennoch sehnte er sich zurück nach einem kleinen unterischen Laden und nach den kleinen Zeiten, denn die Sorgen wachsen wie die Kinder und wer sehnt sich nicht in seiner Herrlichkeit manchmal ins Paradies der zerrissenen Stiefel-Zeit zurück? Er schalt auf das alte Wien, weil es gegen jede Unternehmung war und kein Geld unter die Leute brachte; er schalt auf das neue Wien, das sich in waghalsige Unternehmungen und wilde Schulden stürzte wie ein Abenteurer, und der Geschäftsmann war abhängig und unsicher und mußte die Zeche bezahlen. Als Frau Christel gegangen war, sagte er: »Unser Wien ist wie meine Frau: jahrelang dagegen, wenn man ihr von einem neuen Kleid red't – da möcht' sie einen jagen. Und dann beleidigt, wenn a andre Frau a schön's Kleid hat und womöglich an Verehrer dazu …«

»O, auf die Christel laß ich nichts kommen,« unterbrach ihn der Bürgermeister, um sich einzuschmeicheln, »die ist noch immer g'stellt, a fesche Frau!« Und er malte mit dem Stock und der Hand das Bild einer behäbigen Lyra in die Luft. »Sie ist halt sparsam und zieht nur alle zehn Jahr a neues Kleid an. Wie unser liebes Wien.« Und nun führte er das Gegenthema fortissimo in allen Stimmen durch: wie die Neuen die Stadtbahn bauen und Groß-Wien, »heut' gibt es Arbeit, früher war nur Schlaf; jetzt ist ein Augenreiben in ganz Europa und eine schöne Leich' für den Herrn Liberalismus.«

Der Uhrmacher fuhr auf: »Und die Sonntagsruhe? Das ist der erste Segen dieser Heiligen, die jetzt Österreich regieren wollen!« Mit Stößen beider Hände erklärte er die Gefährlichkeit des drohenden Gesetzes. »Ich soll am Montag keine Zeitung mehr bekommen? Ich soll nichts verkaufen können, wann ich will? Das ist das Mittelalter! Fragt man unsereins, wann wir den Steuergulden haben? Und zu der Gesellschaft – Sie, Sie wollen zu ihr übergehen?«

Der Bürgermeister war auf diesen Ausfall nicht gefaßt. Immer sind sie elegisch, die Geschäftsleute, dachte er bei sich, immer Larghetto. Was will er denn? Hat einen großen Sohn, und das Geschäft geht gut. Jeden Sonntag bringt der Briefträger Postanweisungen der Schuldenabzahler, das Geld fällt ihm ins Bett. Und wer ist Schuld an diesem Glück? Ich. Und wer jammert wie Jeremias statt zu danken? Er. Doktor Krügl versuchte das in einen hübschen Kontrapunkt zu kleiden, doch seine Worte krochen steif herum: »Was schadet Ihnen denn die Sonntagsruhe? Der Herr Gehilfe geht spazieren, und die Kundschaft? Wer nicht Sonntag kauft, kauft halt am Samstag!«

»Der Herr Gehilfe … Kss.« Der Bürgermeister hatte Pech, denn er schien heute lauter wunde Stellen zu treffen. Bitter lächelnd schob Schwerengang den Apparat zurück und ging im Laden auf und ab. Er machte leise: »Kss …« Hinter ihm am zweiten Werktisch saß ein junger Herr und schaute so eifrig durch die Lupe, daß er gar nicht hörte, was der Bürgermeister mit seinem Freunde redete. Er trug einen feinen hohen Stehkragen und eine wunderbare Krawatte, sah nach dem Urteil seines Vaters wie ein Minister aus, nach dem Urteil Grazians wie ein Kunstpfeifer, und war der Wenzel Wlk, der Gehilfe. Er war verschwiegen, denn was er nicht wußte, pflegte er auch nicht zu sagen, und mit dem Horchen war es umgekehrt: was er schon wußte, darauf horchte er niemals.

Plötzlich brach Schwerengang aus: »Nein, schaden wird sie uns nicht, die vermaledeite Sonntagsruhe. Aber den Kragen dreht sie uns um. Ein Geschäft ist wie ein Durchhaus, das demoliert wird. Wenn sich die Leut' einmal verlaufen haben, dann findet keins den Weg zurück. Wer nur am Sonntag Zeit hat, kommt nur am Sonntag oder gar nicht. In einem Jahr, passens auf, werden wir ja sehen. Bitt' Sie, hörens mir auf. Davon haben Sie so wenig Ahnung wie … wie« Er mußte beinahe lachen. Er wickelte das Halstuch auf und trat unter die Tür. Draußen blinkte die Märzensonne im feuchten Pflaster. »Es ist zu wenig Luft …« flüsterte Schwerengang erschöpft und griff mit den Händen nach beiden Pfosten. Er kehrte seinem Gast den Rücken und machte ein Gesicht wie der Kaufmann zur Babenbergerzeit, der seine Waren von Bayern bis nach Wien elfmal verzollen mußte.

Der Bürgermeister, der sich alleingelassen sah, wollte in verminderten Akkorden zu seinem Thema sanft zurück, während Schwerengang schweigend die frische Luft einsog. Der Mops Pizzikato erhob sich aber und stieß ihn mit der Schnauze ans Bein, dann zog er sich in die Länge, riß die Schnauze auf und sah seinem Bürgermeister erwartend ins Auge. Denn ein Tier ist eben unvernünftig und fängt zu gähnen an, während Menschen selbst Bachsche Meisterfugen bekanntlich mit dem größten Eifer anzuhören pflegen. So erhob sich denn auch Doktor Krügl in der Hoffnung, sein Freund werde ein andermal zum Brückenbau gestimmt sein und empfahl sich.

Als er von der politischen Konferenz aus dem Laden trat, sah er vor dem Hause einen Möbelwagen halten. Das Haustor wurde aufgerissen und vier Athleten hoben unter Hoh und Heh Stück für Stück aus dem Wagen, es war eine scheckige Gesellschaft: einige übriggebliebene Aristokraten und einige dazugekaufte Plebejer, die sich schämten; und Certosastühle, Nachtkastel und Bilder verschwanden im gähnenden Schlund. Der Möbelwagen bewirkte zunächst in der Seele des Bürgermeisters einen Umzug, indem verschiedene Möbelstücke durcheinanderkollerten und dort, wo früher das Bild einer rundgeformten Bürgermeisterin gehangen hatte, die Schinken aufschnitt, plötzlich das Bild einer andern Dame hing, die auch Schinken aufschnitt. Diese zweite Dame war die Dame Clemy.

Doktor Krügl steckte eine Morgenzigarre an und blieb gefesselt von dem Schauspiel stehen. Er sah, wie die Athleten eine zarte weißlackierte Bettstatt neben das Haustor lehnten, und zärtliche Gedanken kribbelten ihm durchs Gebein. Er hatte sich geärgert, daß er dem Uhrmacher unterlegen war und hatte schon der Welt entsagen wollen, als er beim Betrachten dieses Damenbettes neuen Lebensmut verspürte. Es lief ihm durch die Glieder wie ein Viertel Grinzinger, den man am silberigen Maienmorgen im Henglgarten schlürft, wenn die Sonne ins Glas scheint. Und er konnte sich von dem Anblick nicht trennen. Der Ärger war verflogen wie der Vogelschwarm bei einem Schuß. Denn die Dame, die hier umzog, war Frau Clemy von Godler. Von Godler und nicht mehr: von Chiaramuzzi. Es war das einzige, was den Doktor Krügl an dem Umzug peinigte: daß auf dem neuen Türschild ein neuer Namen stand. Hätte sie nicht Frau Doktor Krügl heißen und des letzten Krügl Abendsonnenschein werden können? »Immer die andern!« seufzte er neidisch, »die schönen Frauen haben immer die andern!« Aber sie war ja da, und er war da! Und auf der langen Straße seiner Hoffnungen sah er noch ein paar Laternen brennen. Sie war ja da! Was hatte er zu kämpfen? Und für wen? Er war doch Junggeselle, ein Mann der süßesten Möglichkeiten! Als Advokat leben, das bürgerliche Gesetzbuch in Reimen herausgeben und im übrigen – warme Füße im Winter und eine schöne Frau am Abend! Das war seine eigentliche Problematik und von neuem entzündeten sich einige Laternen.

Entrüstet stieß er plötzlich mit dem Fuße nach dem Hunde Pizzikato, der sich während dieser Betrachtungen daran gemacht hatte, die neben dem Haustor lehnende zarte Bettstatt einer Wappenprobe zu unterziehen und nun durch Wendungen der Backbordseite die geeignete Stelle für ein amtliches Siegel zu erreichen suchte. Das Treiben dieses Biestes schien ihm tempelschänderisch zu sein und von des Lebens kühler Prosa angehaucht, verließ er würdevoll die Stätte eines Umzugs.


Warum der Bürgermeister bei der zarten Bettstatt stehen geblieben war, hatte seinen Grund: früher war Frau Clemy im ersten Frühling nach Döbling gezogen und blieb draußen bis zur Weinleszeit; dann war sie einige Jahre weggeblieben und kam diesmal zwar auch im ersten Frühling wieder, aber um für immer dort zu bleiben, bis zur allerletzten Lesezeit.

Warum jedoch Frau Clemy für immer nach Döbling zog, wo Döbling doch kein Hofoperntheater besaß und seine stillen Freuden nun gefährdet waren wie Schuberts Wandererphantasie, wenn nebenan Teppiche geklopft werden, das ist nicht so kurz zu sagen. Man muß vom Leben dieser Dame eine Schicht nach der andern heben, um auf den Grund zu sehen und dieser Grund – mein Gott, wenn Frauen Gründe haben, so können sie verschieden sein wie die drei Dinge, die Montecuccoli zum Kriegführen brauchte, aber sie sind einander geradeso ähnlich und heißen: die Liebe, die Liebe, die Liebe. Und gewöhnlich haben nicht die Frauen diese Gründe, sondern die Gründe haben die Frauen, weshalb keine drüber lächeln möge.

Zur letzten Lebensgeschichte der Frau Clemy – wir heben nun die erste Schicht ab – gehörte ein Traualtar, vor dem sie im zierlichen Rosenhütchen stand und das Hütchen saß reizend auf dem herbstbraunen Kopf. Vor dem Altar stand sie mit einem Reitersmann, dem Herrn Baron Godler, dem der Schnurrbart wie eine Sichel über den Mund hing. Und diese Heirat hatte eine lange böse Kriegsgeschichte, denn Vater Maxintsack wollte durchaus nicht haben, was seine Tochter haben wollte: den braunen Reitersmann. Edmund von Godler war in seinen Augen einer von den Herrn, »die über unsre Verhältnisse leben«, ein Hochstapler, ein Lebemann, kurz alles was bei Schwiegervätern beliebt ist, nur kein Ehemann; und da in Streitfällen zwischen Frauenherz und Vatershärte die kleinen Frauenherzen gewöhnlich siegen – denn es geschieht ja doch was sie wollen – so zog Vater Maxintsack die Hand von der ungeratenen Tochter und verweigerte den finanziellen Beistand, was für sie so viel bedeutete wie für Wien die Hochquellenleitung, wenn sie von nun an abgesperrt würde.

Wenn man nämlich die zweite Schicht von diesem Leben hebt, so stößt man auf eine Zeit, wo die Dame Clemy mit roten Augen vor einem Sarge stand … dann war ihr Goldgesicht von einem Trauerhut umrahmt, der ihr reizend stand und sie trug die schönen schwarzen Schleier, weil ein korrekter Engel plötzlich in den Himmel abgerufen worden war: der arme Herr von Chiaramuzzi, den sie aufrichtig beweinte. Da die Verwandten dieses guten Mannes, wie schon Verwandte sind, mißgünstigen Geistes waren, so griffen sie mit eiligen Händen nach dem Palais und dem Vermögen und Frau Clemy behielt außer seinem Namen nur, was er ihr sonst geschenkt: es war ein kleines Barvermögen. Daher kam es, daß sie die väterliche Hochquellenleitung dringender als je benötigte, zumal da sie eine Sache gemacht hatte, an denen die Liebe ach so reich ist: eine Dummheit hoch wie der Stefansturm. Auf Drängen des Barons, der es nicht für standesgemäß hielt, daß sie weitertanzte, hatte sie ihren Abschied als Königin des Balletts gefeiert, wozu sie außer vom Baron freilich auch von den Jahren etwas gedrängt wurde. Vater Maxintsack, dem nichts verdienende Verbraucher ein Scheuel und Greuel waren und der durch diese Ehe alle Familienüberlieferungen entweiht sah, erklärte, er habe die drei Döblinger Häuser seiner Lieblingstochter, dem Fräulein Herdrix Maxintsack, vermacht und wache drüber als Vormund, wie ein Posten vor dem Neugebäude. Von dem Vermögen, das er »spengelnder Weise« auf den Dächern sauer genug erworben habe, gebe er auch nicht einen »lucketen Heller« heraus. Die Frau Baronin könne, wenns ihr passe, im Eschenhause wohnen, das wolle er nicht hindern – aber mehr um keinen Preis: sie habe sich den Kopf aufgesetzt – gut! Was man wolle muß man mit allen Folgen wollen.

Die Dame Clemy, die hinterher an ihrem Stefansturm öfter seufzend hinaufsah, stand freilich zu ihm in einem ähnlichen Verhältnis wie Maria Theresia vor ihrem Regierungsantritt zu Kaiser Karl dem Sechsten: Sie bewunderte, wie der Geschichtsschreiber sagt, die Tugenden ihres Vaters, aber sie tadelte sein Benehmen und sah in ihm nur den Verwalter der Länder, die sie dereinst besitzen sollte.

Auch Herr von Godler tadelte Peter Maxintsacks Benehmen und hoffte im stillen auf einen Thronwechsel im Hause des geliebten Schwiegervaters. Denn als er vor dem Traualtar stand, besaß er einen Tropenhelm und einen Teppich, in den, wie er behauptete, Alis Rachehand gewoben sei. Gewiß ein hübscher Gegenstand, doch, wie jeder zugibt, gerade keine Lebensunterlage. Der Teppich und der Helm stammten von einer Reise, die er mit dem Erzherzog nach Abessinien machen durfte und da er, nach Wien zurückgekehrt, nicht mehr recht aufgelegt war auf der Schmelz den Prinzen Eugenius zu spielen, und da eine dunkle Geldgeschichte seinen Neigungen nachhalf, so feierte auch er den Abschied vom Schlachtfeld. Dann ließ er sich heiraten. Er tauschte, wie er seinen Kaffeehausfreunden auseinandersetzte, seine Freiheit gegen ein sicheres möbliertes Quartier ein, und da wir nun auch dieses Lebens Schichten abgehoben haben, merken wir: hier war der letzte Grund die Liebe nicht. Und das ist traurig, denn wenn die Wurzeln einer süßen Frauenseele von diesem Brunnen nicht getränkt werden, dann helfen alle Gewässer der Welt nicht: sie vertrocknet.

Godler war ein Schwimmer, die in Weltstädten immer auftauchen und die niemals untergehen. Sie werden Lebemänner genannt, führen aber mehr eine Existenz als ein Leben und mit der Männlichkeit sieht es gewöhnlich schlimm aus. Das war Seine Herrlichkeit, der Baron Godler, mit dem Frau Clemy nun schweren Herzens nach Döbling, in ihr Asyl zog.

Doch als sie ankam und aus dem Stellwagen stieg, waren ihre Sorgen auf einmal weg, denn man sollte nicht glauben, wie schwere Quadern ein schönes Wiener Lüftchen wegblasen kann und bläst doch mit ganz fein gespitztem Munde. Nun, es gibt auch keine schönern als die schönen Lüfte von Wien, die bis ins Herz hinein fühlbar werden, und Frau Clemy wurde gut und hielt still und ließ sich streicheln wie ein Schneeglöckchen. Dann sagte sie zu ihrer Schwester Herdrix: »Siehst, ich hab' doch recht gehabt! Entweder in Schönbrunn beim Kaiser wohnen, im gelben Schloß mit den lieben grünen Jalousien und die Gloriette sehen. Oder in Döbling, im Haus zur schönen Stunde. Wart' nur, wenn wir im Garten unter der Esche sitzen auf den alten Bankerln – da sitzen die Friedensengel um uns nur so herum und lachen, ja Döbling liegt näher unterm Himmel, und wirst sehen – der Vater gibt auch nach!«

Und Hand in Hand ging sie mit ihrer Schwester auf das alte Haus zu, da war links der Uhrmacher, rechts der Zuckerbäcker, wie man's im Leben braucht – und sie schritten durch das Haustor, durch das einige Stunden früher die zarte Bettstatt getragen worden war, auf der des Bürgermeisters Augen ruhten.


Das Erscheinen der Dame Clemy weckte die verschiedensten Gefühle in der Brust verschiedener Leute. Der Bürgermeister pfiff in einem fort die Pastoralsymphonie, denn das Erwachen heiterer Empfindungen bei der Ankunft auf dem Lande hatte für ihn eine süße Nebenbedeutung gewonnen. Der alte Maxintsack lag mürrisch im Bauchfenster und stützte seinen schweren Kopf, worin es von Sorgen wimmelte wie von Zwetschken in Bosnien. Auch Freund Feuerschein hatte seine Empfindungen. Der alte Schlachtenlenker gedachte es besser zu machen als der Erzherzog Karl, der den Napoleon von der Insel Lobau entwischen ließ, denn Orions Empfindungen galten nicht der Dame Clemy, sondern aus bestimmten Gründen bloß dem Gatten Herrn von Godler, dessen er habhaft zu werden wünschte, weshalb er seine Cellobeine in Bewegung setzte und das Haus zur schönen Stunde aufmerksam umkreiste.

Grazian aber war, wie das die Jahre mit sich bringen, der schönen Graziosodame seiner ersten Jugend längst untreu geworden. Denn es schossen so viel überschöne Frauen in Wien herum wie Schützen im Land Tirol, und sein Herz war von hundert Funkelblicken schon so durchlöchert wie die Schützenscheibe vor der Preisverteilung. Er war wütend, denn er konnte sich nicht entscheiden. Und wer kann sich auch in Wien entscheiden, wenn er vierundzwanzig Jahr ist und ein paar schwarze Musikantenaugen hat! Heute schoß ihn eine Maestosodame an mit einem Busen wie der Kobenzl, morgen ein Scherzofräulein mit einem Mariahilfer Staccatolächeln, dann wieder … Gott, es ist ja nicht zu sagen … man muß ein Mozart sein, um es in einer Arie auszudrücken, was einem Jünglingsmenschen im lieben Wien tagtäglich zustößt; nein, nein, der Mann, der die Registerarie sang, war ein Wiener, und der Grazian bedauerte nur, daß er kein Genie und, Wolfgang Amadeus ihm zuvorgekommen war, Kruzitürken! … er hatte ganz das gleiche zu gestehen. In jeder Musik muß die Königin Liebe begraben liegen wie im Busento König Alarich, pflegte er zu sagen. Ach, daß er seine Liebeswut nicht in eine Symphonie, in eine Oper auszupressen vermochte, diese Melodien des Frauenganges, die Melodie der Gesichtersüßigkeit, die Melodie der eignen Herzenswut – ach diesen Riesenwalzer hätte ja die Polizei verboten! Und er fand nur einen Ausweg: seine ganze kiloschwere Liebe zusammenpacken und sie einer schenken: einer für alle! Das war sein Wahlspruch, wobei er heimlich den dritten Fall, weiblich, Einzahl meinte, während der fortschrittliche Staatsbürger gewöhnlich den ersten, Einzahl, männlich meint. Einer für alle! Oder er wollte einmal ein Orchester dirigieren, so aufmischerisch und wütend, daß die begrabene Königin in goldenem Glanze auferstand und die ganze Bande in die Knie sank. Das war der zweite Ausweg. Und er konnte sich halt wieder nicht entscheiden.

Insoweit wäre es nun mit Grazian und Clemy ganz in Ordnung gewesen, denn er hatte keine Gefühle, die der Gatte der Dame nicht zu wissen brauchte. Allein dennoch bestand etwas, das diese Ordnung störte, Godler wußte es und Grazian noch viel besser, und dieses Etwas war eine unerfüllte Dankbarkeit. Grazian hatte fünf Jahre auf dem Konservatorium zugebracht, sich als Geiger weidlich umgetan, in die Geheimlehre der Theorie geschaut und vom Observatorium der Musikgeschichte das ganze unermeßliche Gebiet überblickt, so daß er auch erkannte, was er alles nicht wußte und daß zum Genie eine Menge Dinge gehörten, die er leider nicht besaß, und das ist allemal die wichtigste Erkenntnis. Genies blühen alle hundert Jahre wie die dalmatinischen Agaven, und damit fand er sich wohl ab. Jedoch es bohrte etwas andres in seiner Seele herum, es wühlte wie der Wurm in der Nuß und das war: er hatte alles auf Kosten der Frau Clemy gelernt. Diese gute mildtätige Dame wirkte, so lang sie reich war, mit der Hingebung des heiligen Severinus, der Getreidespeicher und Kleidermagazine anlegte, aus denen er im Winter austeilte. Sie hatte sich's nicht nehmen lassen und setzte fort, was sie mit der schönen Geige einst begonnen. Die Eltern hatten wohl auch im Anfang keine Überschüsse, und was sie erst abwehrend zugaben, gaben sie schließlich stillschweigend zu. So hatte Frau Clemy ihrem Schützling fünf Studienjahre ermöglicht, über tausend Gulden ausgelegt, was mit Zinsen eine schöne Summe machte! Seit Grazian aber wußte, daß Clemy selbst jemanden gebraucht hätte, der ihr die Studienjahre ihrer unglückseligen zweiten Ehe bezahlte, fiel ihm immer der offene Getreidespeicher ein, und er wurde nachdenklicher und nachdenklicher, denn er war von unerfüllter Dankbarkeit gequält, was auf dasselbe hinauskommt, wie eine erfüllte Undankbarkeit. Er war ein Mensch, der noch die Glocke des Gewissens hörte, nicht wie sein Jugendfreund, der Wenzel Wlk, der in diesem Punkte das Gehör verloren hatte und nie was läuten hörte. Frau Clemy brauchte höchstwahrscheinlich diese Summe, da sie jede Summe brauchen konnte und Grazian, der gerade daran die Tiefe ihres Sturzes ermaß, dachte in mancher unruhigen Nacht: auf welchem Wege komme ich zu tausend Gulden? Ein altes Sofa stand da wieder in Sorge wie es schon einmal gestanden hatte, und seufzte: diese Tausendgulden-Schulden bleiben wohl in der Familie … Damals, zu Zeiten Gabesams war es leichter, da lag das Geld noch auf der Gasse; aber heute? Im lieben Wien von heute? Von einer Schuld gedrückt, die umso schwerer war, als sie sich nicht auf Schein und Pfand gründete, beschloß Grazian den weiten Weg durch alle Gassen zu gehen, koste es was es wolle: Es war sein Alexanderzug.

Aber wie? Wie sollte er's beginnen? Was war er? Violinlehrer. Und hatte nichts als seine Zeugnisse, und ein Musiker, der nur auf seine Zeugnisse pochen kann, bekommt so sicher eine Stelle wie der Großvater Köckeis damals einen Parkettsitz in der Oper, als er dem Türsteher seine Visitkarte vorzeigte. Mehr als alle Zeugnisse gelten in der innern Stadt und auf der Wieden, wo die Stellen wachsen, gewisse unsichtbare Hände, die einen hier- und dorthin schieben, gewisse unsichtbare Schultern, die einen aufwärts heben, bis man selbst zur eignen Verwunderung bemerkt: man ist schon oben. Und diese zauberhaften Hände – meist sind es Damenhände und heißen Hanterln – diese Schultern, die man Beziehungen nennt, sie zu finden war Grazians erste Aufgabe und er ging einmal zum Onkel Wahnfriedrich.

»Ja,« sagte Wahnfriedrich und schaute zu seinen blauen Gebirgen hinaus, »da hast du recht. Das Leben, weißt du, ist wie eine Aufgabe aus der Harmonielehre. Eine Melodie schreiben ist leicht; aber eine Melodie mit gegebenem Baß schreiben – siehst du, das ist die Kunst! Und das verlangt das Leben von uns: … mit gegebenem Baß! Versuch es nur. Übrigens, warum nennst du das deinen Alexanderzug?«

»Lieber Onkel, schau, ich hab' schon fast zwei Jahr' verplempert. Ich hab' da die großen Rosinen im Kopf gehabt und meine Kapelle gegründet. Und beim Heurigen hat's geheißen: Der g'hört hinein zu den Philharmonikern! Und im Musikvereinssaal haben sie gesagt: Der g'hört hinaus zum Heurigen. Man kann eben nicht als Imperator, man muß als Leutnant anfangen. Aber bis man auf die Weisheit kommt, siehst, das dauert halt zwei Jahr'. Ich hab' auf dich nicht g'hört, und so sind diese Jahre meine Vorgeschichte, die Geschichte eines Irrtums. Jetzt wollen wir's aber angehen! Nun muß ich, zum Teufel hinein, zu meinen tausend Gulden kommen, und dann will ich, zum Teufel hinein, einmal in die Hofoper kommen. Da hab' ich mir gedacht: wenn man ausrechnet, wie lang einer dazu auf dem Wiener Pflaster herumlaufen muß, die Gänge in die Vorzimmerln und in die Kanzleien, so kommen sicher sechszehntausend Kilometer heraus. So lang war der Alexanderzug. Meine Versuche werden also sechszehntausend Kilometer lang sein!«

Der Alte legte ihm die Hand auf die Schulter und seine Augen blitzten unter dem Haarbusch. » Recte loquasti sagt Bismarck. Du hast ein frisches Herz, gesunde Füße und der Mensch hat seine Füße nicht nur zum Tanzen. Geh nur fleißig alexandern!«

Grazian beschloß als ersten Kilometer den Weg zu einem sichern Herrn Pflichtenhahn zu machen. Als zweiten aber den Weg zu Frau Clemy, um nachzusehen, wie es stehe, und aufrichtig gesagt – junge Leute sind in solchen Dingen gerne ungenau – auch um zweier Augen willen, die er je nach Stimmung ganz verschieden nannte: Traumaugen oder Siriusaugen, auch Kirschaugen, meist aber Teufelsaugen, je nachdem … Er war sehr freigebig mit Namen und diese Augen gehörten einem lieben Mädchen, das die eine war, die für alle büßen sollte.


Mit einer großen Salamistange bewaffnet war Grazian früher öfter zu einem zierlichen Manne gewandert, der Pflichtenhahn hieß, was einem Schüler wie einem Lehrer nicht übel ansteht. Sie waren Konservatoriumsfreunde gewesen und da Grazian ein gutes Herz, Pflichtenhahn aber gewöhnlich nichts zu beißen hatte, so trug der Freund dem Freunde manchen Bissen aus Mutter Christels Küche zu, und fand damit immer reißenden Absatz, ja Pflichtenhahn erblickte nach und nach in der christlischen Küche ein ähnliches Lieferungsunternehmen, eine Bürgerversorgung wie der alte Sokrates im Prytaneion der Athener: der Künstler mußte von der Allgemeinheit erhalten werden. Nur blieb es unklar, ob er die christliche oder die christlische Küche meinte, denn auf dem Scheitel seiner Mutter hatte einst die Sonne Welschtirols gebrannt und vom Vater hatte er ein kleines Hölzl geerbt, das er im Munde trug und worüber seine deutsche Zunge stolperte.

Die Freundschaft war in den letzten Jahren etwas krank geworden, und die Lieferungen hatten langsam aufgehört, denn Pflichtenhahn, der in den Jahren war, hatte sich eine Pflichtenhenne zugelegt und von deren Mitgift eine Musikschule errichtet, die er »Döblinger Konservatorium« nannte.

Das Konservatorium war im großen Stil angelegt, Pflichtenhahns Sinn war eben fürstlich und zwecklich zugleich, es tat seine Pforten in einem Jagdschloß auf, das die große Kaiserin Maria Theresia noch vor Schönbrunn erbaut hatte und dessen Gänge jetzt hallten, weil es leer stand wie Pflichtenhahns Geldschrank, das aber immer noch den schönen Namen Maria-Theresienschlössel führte. Freilich hatte der Bewohner seine gute Frau, die magere Henne nach einiger Zeit mit lautem Kss! Kss! wieder verjagt, denn sie hieb mit dem Schnabel den ganzen Tag auf den hübschesten Dienstmädchen herum, warf die schon weißgescheuerten Schaffeln zur nochmaligen Prozedur mit Schwung auf den Hof, und gackerte unaufhörlich: lauter Eigenschaften, die unmöglich waren, weil sie einen Künstler im Schaffen stören und nervös machen. So war der Hahn jetzt wieder in seinem Schlosse allein, aber nicht verlassen, denn ganze Hühnerschwärme junger Damen trippelten um den Befreiten liebkosend und piepsend und wenn er zwischen den Sandsteinfiguren auf der Parkwiese spazieren ging, ging er wie der Fürst in der cour d'honneur.

Weil Pflichtenhahn reich an Beziehungen war und Grazian im Stillen auf Vergeltung für manche gute Salamistange hoffte, ging er zu dem Maestro in das Schlössel, das in der Alleegasse Nr. 9 lag.

Er stieg ehrfürchtig in den ersten Stock und klopfte an die Tür, worüber ein großes Schild verkündend hing: Döblinger Konservatorium. Keine Antwort. Er klopfte noch einmal und es widerhallte im leeren Vorsaal, über dessen Schachbrettboden einst die Dames des kaiserlichen Corteggio in hohen Turmfrisuren schwebten, wenn die Herrschaften en grand compagnie sich zu Döbling erlustierten. Und sei es nun, daß diese Dames, wie das in alten Schlössern üblich ist, noch immer herumgeisterten, sei es daß ein Musiker geschichtliche Erinnerungen auch hören kann – kurz Grazian vernahm hinter der Pforte des Konservatoriums ein Zischeln und Rauschen wie es auch in neueren Schlössern üblich ist, wenn die Dames vor einem Besuch davonfahren. Wie dem nun war, Grazian klopfte weiter, es schlürften endlich Schritte heran, die Tür ging vorsichtig auf und heraus schob sich ein neugieriger schwarzer Kopf mit Hängehaar, worauf ein roter Fez saß: Herr Pflichtenhahn.

»Madonna,« rief er aus, »du bist da? Amico mio? Ho! Graziano!« Und sichtlich erleichtert, denn er war auf schlimmeres gefaßt, fragte er: »was für ein Wind weht dich zu mir? In aller Früh?« Eine entzückte Lächelfalte wurde in seinem Antlitz sichtbar und da Grazian nicht den Eindruck machte, als wollte er seine Lebensgeschichte zwischen Tür und Angel erzählen, ließ Pflichtenhahn ihn unter Verbeugungen durch den Spalt herein und sauste selbst in das Wohngemach voran. Die Märzensonne legte sich voll herein, wärmte und erhellte den Saal mit seiner alten Stuckdecke, dennoch war Pflichtenhahn in einen langen Winterrock wie in eine Kutte gehüllt und warf sich damit längelang aufs Bett. Es war offenbar seine Überraschungstoilette. Das Bett aber beherrschte den Raum: es stand halb in einer Nische, von einem Lorbeerkranz überhangen, und machte den Eindruck des Thrones im Audienzsaal. Ein alter Frack lag darauf, eine Cakesdose, eine Zeitung; das Nachtkastel war mit einem Teegeschirr geschmückt und zwischen diesen Dingen des gemeinen Lebens lag Pflichtenhahn, die Beine auf der Lehne. Und da er mit aufgelegten Beinen auch Unterricht erteilte, so muß man sagen: das Bett hatte die Bedeutung des Katheders im Hörsaal, ja es war der Mittelpunkt der Pflichtenhahnschen Tätigkeit überhaupt: von hier aus lenkte er sein Leben.

Er fuhr in den Hosensack, wo seine Tabaktrafik zu sein schien, denn er brachte eine fast fertig gedrehte Zigarette zum Vorschein, und während er kostend den Rauch von sich blies, fragte er, was Grazian wollte.

Grazian huldigte ihm, wie Bittsteller gewöhnlich tun, bevor sie in die Brusttasche greifen, wo die Bitte sitzt, er sprach von alter Freundschaft, weckte Küchen-Erinnerungen, dann griff er sachte hin und zog das Anliegen nach und nach, nicht ohne Verlegenheit hervor: Ob Pflichtenhahn nichts wisse …

Aber Pflichtenhahns Lächelfalte wurde jetzt noch entzückter als früher, er spielte gar nicht den Fürsten beim Lever, sondern schrie hingerissen: »Wozu? Wozu denn andre? Das trifft sich herrlich! Dio mio! Ich suche ja schon lange einen – no, wie sagt man? – einen Tierbändiger!« und er machte peitschende Bewegungen wie Renz, wenn er einen wilden Gaul vorführte.

»Tierbändiger?«

»Ja, ja, kann ich mich abgeben mit die ragazzi …? Mit die Violinstrizzi, wie man sagt? Oh! Maestro di canto! Ich habe mich auf die Gesang gesmissen! Stimmbildung! Resonanz durch Nase, mio caro! Filar di tuono! Bei diese Methode wird die Schülerin schön! Du sollst die Viecher bändigen! Errlich!« Er warf die Zigarette auf den Boden, sprang aus dem Bett heraus und lief im Saal auf und ab. »Er wird die Tiere bändigen!«, rief er aus und war elektrisiert. »Hundertfünfzig Gulden monatlich! Das geb' ich dir. Hundertfünfzig Gulden! Aber du muß' fleißig sein!« Er schrie, er schwor, er ließ ein Feuerwerk von Worten in die Luft, er drehte eine neue Zigarette aus der Hosentasche und bezahlte noch einmal die hundertfünfzig Gulden.

Grazian hatte sich ans Klavier gesetzt, aus dessen Bauch ein Knäuel von gesprungenen Saiten hervorstand, das Eingeweide des armen verstaubten Kastens, und ließ ihn schwören, feuerwerken und bezahlen. Er wurde immer mehr von diesem sonderbaren Maestro belustigt, der schon auf der Schule als Genie gegolten hatte, aber erst im Tremolo des Lebens seine volle Meisterschaft entfaltete, und glaubte nicht die Hälfte von allem, was Pflichtenhahn beim Haupte seiner Lieben zusammenschwor: den Schwur vom glänzenden Schülermaterial, den Schwur von einer Goldgrube. Auch von den hundertfünfzig Gulden glaubte er nur noch die Hälfte und dachte im stillen, während sein Freund weiterschwor: wenn ich nur einmal warm bin, dann will ich in dem Schloß schon Ordnung machen. Abwarten. Auslaufen lassen, heißt's beim Kegelschieben!

Er stand auf und schlug ein. »Sag einmal«, unterbrach er den immer entzückter krähenden Pflichtenhahn, »aber auf Deinem Türschild steht doch, fällt mir ein, gar nicht Dein Name? Du bist doch –«

»Natürlich bin ich! Ich bin der Padrone! Wer sonst? Amandi stehen auf die Tür! Ercole Amandi! Künstlername. Meine Mutter war geborene Amandi. Das gehört zu die Geschäft! Ercole Amandi …!« Und er ließ den Ercole Amandi durch die Lippen rollen wie der Troubadour im dritten Akt, wenn er die Stretta anstimmt.

Plötzlich fuhr er an eine hohe Tür und schlug dröhnend mit dem Fuß daran. »Komm nur heraus, angiolino! Is' nur gute Freund da!« Erstaunt folgte Grazian seinem Blick, die Tür ging langsam auf und eine goldblonde Person trat heraus, die aus ihrem schwarzen Spitzentuch durch den Saal lächelte. In ihrem Sünderinnengesicht trug sie eine Himmelfahrtsnase, die einladend aussah wie der Buschen vor dem Heurigen, so daß jeder wußte: hier wird ausg'schänkt; und ihr kurzes lichtes Tanzkleid schien die äußerste Anstrengung zu machen, über den Armen und andern Gebirgsgegenden nicht zu platzen. Sie hielt ihr Täschchen mit beiden Händen auf dem Rücken, schlenkerte heran und spielte einen erfolgreichen Auftritt, indem sie eine Verbeugung machte und zu Amandi sagte: »Alstern, da bin i« und zu Grazian: »mir san nämli' die Goscherl!«

»Fräulein Gosserl – Herr Graziano« stellte Amandi vor, »meine Lieblingsschülerin …« und da er Grazians Augenbrauen merkwürdig in die Höhe steigen sah, wisperte er ihr etwas ins Ohr und wies sie dann in stummem Einverstehen mit einem Schwung der Hand in die Mitte. Er stürmte zum Klavier, wühlte aus den Tasten ein schäumendes Tremolo auf und gab mit dem Kopf das Zeichen zum Anfang. Das schäumende Tremolo war seine einzige Spielart: mit seiner Hilfe schwamm er um die schwierigsten Klippen der Klavierauszüge und des Lebens überhaupt, er hudelte sich durch – wenn er nur weiter kam – und so schäumte er auch jetzt etwas, was der Sängerin nicht klar zu werden schien, denn sie stellte einen Fuß vor, stemmte die Fäuste in die Hüften und begann zu schmettern:

»Bei der Gigeritschen, bei der Gageratschen –«

Entsetzt fuhr Amandi in die Höhe, riß den Fes vom Kopf und warf ihn nach der Künstlerin, während Grazian sich umdrehte und sich am Tische auslachte.

»Trovatore, Trovatore! ›Ick leckle unter Tränen …‹ Gosserl, aber Gosserl!« Er tippte verzweifelt auf die Stirn und Fräulein Goscherl warf ihm einen halb hilflosen halb zur Würde mahnenden Blick über die Schminkränder ihrer schwarzen Augen zu und fing nun unter Tränen zu lächeln an, daß die Fensterscheiben klirrten. Grazian konnte sich nicht mehr halten, er hörte in einem fort die neuen Lokomotiven, die zur Probe auf der Stadtbahn hin und her fuhren. Amandi aber warf sich am Klavier wie hingerissen, er sah den Freund mit einem Blicke an, der ihm die Bestätigung aller Hoffnungen abforderte und schleuderte den Blick mit diesen Hoffnungen nach seiner Lieblingsschülerin. Als sie zu Ende war stürzte er mit gespitztem Munde auf sie zu: »– m – m –« er schien die zärtlichsten Worte im Munde zu zermalmen, eine elektrische Welle durchzitterte ihn und er drückte seine Lippen an die Backe der Goldhaardame, als wolle er ein Stück abbeißen. »Jetzt is' sie noch bei die Ronacker,« erklärte er, »aber in eine Jahr sein sie in die Hofoper! Hat sie nicht Augen wie Madonna in die Grotte?«

Und entflammt von ihrer lionardesken Schönheit kam er ins Prophezeien, schwor ihr eine Laufbahn zu wie die der Materna, mußte lachen, als Grazian ihm ins Gesicht schaute, schwor wütend weiter und mußte wieder lachen, sei es über die Gigeritschen, sei es über sich selbst. Aber mitten im Prophezeien wurde er unterbrochen, denn die Glocke tönte. Amandi fuhr hinaus und ein kleiner Knabe erschien unter der Tür, der einen Geigenkasten trug. »Aha, das Schülermaterial« dachte Grazian, und während Amandi ärgerlich war und das Schülermaterial wieder bei der Tür hinausdrehen wollte, rief Grazian: »So laß' ihn doch herein! Ich kann ihm ja gleich die Stunde geben! Eine Probestunde, nicht? Magst, Bürscherl?«

Der kleine Künstler nickte und war sehr erstaunt, daß sein Meister heute nicht im Bette lag, die Beine auf der Lehne, daß überhaupt ein andrer, blonder Herr da war, der ihm die Wange streichelte, die Geige stimmte und ihm gute Worte gab. Er fing zu kratzen an, doch Grazian kreischte nicht tenoristisch, warf ihm auch keinen Fes ins Gesicht, sondern nickte ermunternd, erklärte, wie er's machen solle und spielte ihm ein bißchen vor. Dann erzählte er die Geschichte von dem Knaben, der im Mondlicht heimlich Noten abschrieb und so fleißig war, daß er ein berühmter Mann wurde, und Grazian spielte ihm den Namen des Berühmten gleich auf der Geige vor, denn der hieß B–a–c–h. Die Augen des Knaben Ferdl hingen an dem neuen Lehrer und als der gute Lehrer erklärte, daß der Ferdl schon sehr gut spielen könne, nur die Finger wollen nicht immer, denn das sind vornehme Herren, die lassen sich lang bitten, bis sie niederfallen wie, wie – »was is' denn dein Vater?« »der Vater is' Tapezierer!« – »na siehst, wie beim Tapezierer der Hammer, wenn er Nägel einschlägt, das hast ja schon g'sehen?« – da war das kleine Tapeziererlein ganz Feuer und Flamme, fing seine Fiorillo-Etüde von vorn an und schlug Nägel ein wie zu einer Girlande für den neuen Lehrer. Das Lob ist ja allemal der feinste Rückenwind für den, der vorwärts kommen soll, und als der Ferdl fertig war und wegging, ging er mit dem Rücken voran bei der Tür hinaus, denn er wollte diesen lieben Lehrer noch einmal sehen, so lang wie möglich, damit er zu Haus von ihm erzählen könne.

»Na, war ich fleißig?« fragte Grazian seinen neuen Direktor. Allein die Frage war vergebens, denn Amandi war schon längst verschwunden, ebenso die Madonna in der Grotte, und Grazian vermutete, daß er die Zeit benützte, um seiner Lieblingsschülerin nachträglich die Lektion zu geben, die vorhin unterbrochen worden war, als die Tür aufflog und Amandi, noch immer ohne Hemdkragen hereinblitzte.

»Was sagst du? Die Voce is' wie Blechröhre, aber die Ansatz! Die hat sie von mir! Da kannst du lernen!« Er schnalzte mit der Zunge, als habe er soeben eine Flasche Marsaletta ausgetrunken. »Sie sein schon fort. Sie laßt dich grüßen. Oh, meine Lieblingssülerin …!«

Grazian lächelte ihm unverschämt in die Augen, als bezweifle er die rein erziehliche Grundlage des Verhältnisses. »Na, na …« sagte er; aber Amandi fuhr entrüstet auf: »Also bitte, bitte! Ausgeschlossen! In meine Cherzen sind zwei Zimmer: da is' Kunst, da is' Madonna! Da bin ich streng. Oh! Oh! Eine Kinstler muß – wie sagt man? – keisch sein. Keisch sein muß die Kinstler!« Und in strengem Tone fragte er besorgt: »Du wills' – anbandeln mit die Gosserl?« Denn daß die Lieblingsschülerin draußen gesagt hatte, es komme ihr so vor, als sei sie mit Grazian weitschichtig verwandt, das erregte Amandis heftigen Verdacht.

Grazian schwieg und betrachtete nachdenklich die Strohmatten an den Wänden, woraus die schönsten Damenbilder lächelten, die alle in die zweite Kammer des keuschen Kinstlers zu gehören schienen. Der Bilderharem umfaßte offenbar lauter Lieblingsschülerinnen und die meisten waren nur mit der Schamhaftigkeit bekleidet, mit der sich Frauen immer am wirksamsten zu bekleiden pflegen … Aber hundertfünfzig Gulden! Grazian war allerdings schon auf hundert und von hundert auf fünfzig gesunken – sie waren ein liebliches Geläute der Verheißung, wenn man sich entschlossen hatte, auf eine Tausendgulden-Note loszugehen. Also anpacken! Nur warm werden! Auslaufen lassen!


Als wohlbestallter Lehrer des Konservatoriums Amandi verließ er endlich den Saal. An der Tür kam ihm Amandi nach. »Du, amico mio, noch eine gleine Sacke. Kannst du … hast du … ich meine: Angabe, Kaution – wo weiß man, ob du wieder – kommst? – also …« Er sah ihm treuherzig in die Augen, als wolle er mit dem Blick die fünf Gulden aus der Brusttasche ziehen, die er mit süßer Stimme verlangte. Aber der Blick versagte. »Naa, mei Lieber«, meinte Grazian blinzelnd und löschte mit dem Zeigefinger alle Hoffnungen aus, »die gleine Sacke hab ich nicht. Eine Salami als Angab', wanns du willst – sag nur, genier di net – die bring ich mit. Sei nur ruhig, ich komm schon wieder!«

Dann ging er, kehrte aber wieder um und sagte zu Amandi, als ob er sich besinnen müßte: »Du, richtig, noch etwas!« Amandi stand noch immer mit der offenen Hand auf der Schwelle und erneuerte für alle Fälle seinen treuen Blick. »No, was denn? Was?«

»Ich mein' nur,« sagte Grazian verschmitzt, »laß dich net aufhalten! Verstehst! Sollst dich net aufhalten lassen! Servus! Servus!«

»Ja,« sagten die Döblinger Bürger, wenn sie in den folgenden Wochen vor dem Schlössel spazieren gingen und die Geigen aus den Fenstern schallten, »das ist der Mozart von anno dazumal.« Und wenn die Töne über die Wiesen fuhren wie junge Tauben, blieben die Bürger stehen und erzählten die Geschichte vom Sonnenaufgang und bekamen es mit den Döblinger Damen zu tun, die mehr zur Macht des Gesanges neigten und einem schwarzen Minnesänger zärtlich nachblickten wie dem Mondaufgang. Doch auch die Damen zerfielen bald in weitere Parteiungen, es sonderte sich ein besonderer Zweig von Sonnenanbeterinnen ab und der alte Köckeis sagte, es wundere ihn nicht. Denn als er mit dem Bürgermeister dort stand und Doktor Krügl mit wohlwollendem Bartstreichen urteilte: »Das Zusammenspiel ist pröchtig …«, legte der alte Köckeis die Hand ans Ohr und versicherte: »Jo, jeder Eunzelne spült pröchtig zusammen.« Wie dem nun war, und ob die Sonnen- oder die Mondpartei die Oberhand gewann, gewiß ist, daß Weinhändler Krenn seinen Pepi ins Schlössel schickte, weil der Tapezierer Kremser seinen Ferdl hingeschickt hatte, und daß der kaiserliche Saal von Ferdln, Pepis, Poldis, Franzis bald wimmelte, wie der Donaustrom von Karpfen.

Amandis Konservatorium kam durch den neuen Lehrer in die Mode und der glückliche Besitzer machte sich jetzt einen Beethovenkopf, mit dem er noch größere Erfolge hatte als mit der Nasenresonanz. Er konnte eben in seinem Cherzen Platz schaffen, es war wie eine Wohnung, in die immer neue Familienmitglieder hineingeboren werden und die darum noch nicht eng wird. »Ja!«, fluchte der Bürgermeister und machte ein eifersüchtiges Gesicht wie Hallstatt bei Regenwetter, wenn's in Aussee schön ist. »Bei dem ist das wie bei den Krapfen. Ein Krapfen macht sich breit im Magen und is' gar nix drinnen. Zwölf muß man essen – die rucken schön zusammen. Er frißt halt zwölfe auf einmal!«

Und nicht genug daran, es machte sich im Orte, und zwar ausgehend von den Mondanbeterinnen, eine eigentümliche Bewegung bemerkbar. Aus den verschiedenen Häusern bewegten sich nämlich zu gewissen Zeiten dicke Fettpakete, alle in der Richtung nach dem verliebten Schlössel hin. Es wurde für die Ferdln und Peperln nicht bloß in Gold gezahlt, nein – an Sonntagen gab es einen wahren Ansturm kalter Tafelspitze, dicker Karbonadeln, Hieferschwanzeln, Wuchteln und Weinflaschen, die nach Amandis Tür strebten, den Tisch erkletterten und sich zu einer Riesenpyramide stauten, hinter der Amandis zierliche Figur verschwand wie die holde Freya hinter dem Golde, das Fafner und Fasolt häuften. Er stand gerührt und fraß es auf. Und soweit er das nicht tat, lag er im Bett und minnesängerte und förderte von seinem Throne aus die italienische Gesangskunst, während Grazian die »Tiere« bändigte.

»Nein«, sagte Wahnfriedrich, als er davon hörte, und pflügte mit beiden Händen durch den Haarurwald wie ein Farmer, wenn er das Dickicht entwurzeln will: »Na, du alexanderst schön! Herr Pflichtenhahn, oder wie der Kerl jetzt heißt – das ist ja ein Musikfilou allerersten Ranges. Du wirst arbeiten, er wird im Bett liegen und das Geld einstecken. Sein Papa, ich bitt' dich, hat die berühmtesten Nachmittagsschläfe von Wien gehalten, denn er war Nachtkafetier. Na, und wenn die Kinder ihren Vater immer schnarchen hören, kannst dir denken, wie die auf die Arbeit fliegen. Da bist du an den Richtigen gekommen. Gratuliere. Warum hast mich nicht früher gefragt?«

Er schaute bei seinen lichten Fenstern verzweifelt hinaus wie Kurwenal aufs Meer, und die lachenden Berge, die ihm seit dreißig Jahren immer besser gefielen, schienen ihn heute auszulachen. Damals hatte ja auch ganz Döbling gelacht, die Bäume bogen sich, vom Nil bis zum Himmel, als Herr Juricek versuchte Herrn Pflichtenhahn wegen zwei Gulden zu pfänden. Denn am nächsten Tag war Juricek verzweifelt und erzählte: »Denkans Ihnen, der Kerl hat mi' an'pumpt um fünf Gulden. Was hab i machen können? Geben hab' ichs ihm, den Lumpen, denn er hat mich so lieb in Augen g'schaut!« Das war eine Glanzleistung und wenn seitdem einer angebohrt wurde, hieß es: dem hat der Pflichtenhahn ins Aug' geschaut. Wahnfriedrich dachte daran, als er brummte: »Ein wahres Glück, daß du ihm wenigstens die fünf Silberlinge nicht gegeben hast – sonst aber wird's dir ganz so gehen wie dem Juricek: er wird dir in die Augen schauen!«

»Aber Onkel, an einem Zipfel muß man das Leben doch anfassen«, entgegnete Grazian und lehnte sich, die Hände in den Hosentaschen ans Klavier. »Und dann: es dürfte dir nicht ganz unbekannt sein – das Leben verlangt Melodien mit gegebenem Baß. Mir scheint, du hast das gesagt … Glaubst du, man beruft mich gleich ins Konservatorium als Professor? Einem Wiener passiert das nicht so leicht. (Nicht einmal wenn er der Neffe des Herrn Wahnfriedrich ist.) Wie soll ich zu meinen tausend Gulden kommen? Oder weißt du mir was Besseres?«

»Ja, ich weiß was Besseres,« entgegnete Wahnfriedrich ruhig und blieb vor ihm stehen. Nach einer Pause sagte er mit Nachdruck: »Wackler!« Grazian setzte sich in Bewegung. »Wackler? Was ist das für eine Pflanze?« »Wackler, Wackler …? Wo hab ich denn den Namen schon gehört?«

Heinrich Wackler, der Gegenstand dieses Nachdenkens war so etwas wie der Statthalter des lieben Gottes, denn er war Chordirektor in der Kirche zu den Chören der englischen Stimmen und Leiter des Cölestinusvereines. Seiner eignen Meinung nach kam er gleich hinter der obersten Allmächtigkeit, obwohl er nicht gerade ein Sinnbild gotterschaffener Männlichkeit war und ein Magenleiden in seinem Leibe sitzen hatte, das ihm öfters bei den Augen herausschaute, woher es kam, daß er die ganze Welt für unverdaulich hielt. Er führte auf dem Chor ein strammes Regiment, alles mußte nach seinem Kopfe gehen; allein der Kopf der Regierungen will oft so, der Arm will so, und die Arme waren bei Wackler wie bei der Taaffeschen Regierung oft im unklaren, was der Kopf wollte, er war ein Zitterich, und beim Dirigieren kamen dann Dinge heraus, die der Volksmund Palawatsch nennt. Auch sonst hatte der Statthalter einige Eigenheiten, die nicht nach dem Geschmacke Wahnfriedrichs waren – in künstlerische Gespräche ließen sie sich verabredetermaßen nicht ein – aber da er ein Schüler des sagenhaften Tomaschek in Prag war, wie Wahnfriedrich, und da die Kirche gleich bei den Tuchlauben lag, so lag es nahe, daß Wahnfriedrich sich für seinen Neffen verwendet hatte. »Sein Geschäft liegt dort, wo meins liegt, bei den Tuchlauben, da bin ich halt hingegangen. Er braucht jetzt einen Sologeiger«, sagte er, und der sollst du werden. Machst halt ein Probespiel. Groß ist die Sache nicht: na, 400 Gulden jährlich. Aber sicher, sicher! Denn die Gehälter zahlt die k. k. Statthalterei, mein Lieber, nicht der Herr von Amandi! Kirchenstipendium! Verstehst?«

»Wackler, Wackler …? Du Onkel sag, Wackler, ist das nicht der Herr, bei dem die – bei dem das Fräulein Herdrix den Gesangskurs macht? Der Perückenmensch? Der mit dem Ziegengesicht?«

»Ja, ja, das ist er, ein guter Musiker alten Stils«, und sah seinen Neffen mit weiten Augen an.

»Gut! Aha! Ich werde hingehen und Probespielen. Versuchen kann man alles. Wenn nur der Fall Wackler nicht auch eine Melodie mit gegebenem Baß ist … hm?« Wahnfriedrich zuckte die Achseln und sagte, den Stich erwidernd: »No, anpumpen wird er dich nicht« und wollte weitere Verhaltungsmaßregeln geben, denn Wackler war ein schwieriger Herr, aber Grazian schüttelte ihm plötzlich stürmisch beide Hände. – »Onkel, ich danke dir!« – rief er aus, dann sprang er bei der Tür hinaus, die Krawatte flatterte um seine Ohren, tausend Gedanken tanzten in seinem Kopf Tornado, er hatte keine Zeit, er mußte den nächsten Kilometer seines Alexander-Zuges laufen. »Hojotohoh!«

Diesmal war es nicht Wahnfriedrich, der den Ruf ausstieß, aber er schaute dem Rufer mit einem stillen Lächeln nach.

»Nein!« riefen Vater Schwerengang und die Mutter Christel ein ums andre Mal, »nein! Wie kann man so was tun!« und sahen ihren Sohn an, wie wenn er aus der Leidesdorfschen Heil-Anstalt entsprungen sei. Aber Grazian bestritt das und ließ sich nicht abbringen. Amandi hin – Amandi her – Söhne haben es nicht gerne, wenn Eltern in ihre Angelegenheiten blicken, und im übrigen gedachte er durch dick und dünn, über Berg und Tal auf seine tausend Gulden loszustürmen. »Man muß einmal aufs Roß, wenn man reiten will. Besser ein krummer Gaul, als gar keiner«, rief er und war davon.

Er galoppierte zu Wackler, in die Kirche zu den Chören der englischen Stimmen, und was seinen Gaul beflügelte, war eine junge Sängerin, die alle Sonntag dort vom Chor sang, und diese Sängerin war ihm augenblicklich – man kann's nur oberflächlich schätzen – so viel wert wie tausend Gulden! Aber, wie gesagt, er hatte keine Zeit, es andern Leuten zu erklären.


»Ja«, sagte der alte Wlk zu seinem Sohne, als sie neugierig am Schlössel vorbeistrichen, »nimm dir a Beispiel dran!« Und weil der Neid von allen Fressern der leckerste ist, denn er frißt nur Herzen und zuletzt sein eigenes, so spürte der junge Wlk ausnahmsweise in der Brustgegend etwas, wo er sonst nie etwas spürte. Und er hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, denn das fröhliche Geigen des einen ist des andern Trauermarsch. Es war Sonntag und die beiden Wlke, senior und junior, gingen auf die Türkenschanze. Dort brütete ein altes Gasthaus im sandigen Hang und hatte einen Ruf von Mord und Blut. Undurchdringlich abgeblendet waren seine Fenster wie die Augen des Wenzel, man konnte nicht hineinschauen. Und in der Wirtsstube sah es wüst aus wie in der Seele des Wenzel: da saßen die Raufer und Strizzi und brüteten vor sich hin. Der größte Messerstecher aber, der Haß saß unter ihnen und zählte heimlich Gelder in die Hand …

Da saßen auch Vater und Sohn in einer Ecke. Der Alte war schon mitten in der Eroberung von Wien und sagte wie Napoleon auf der Verneigungshöhe vor Moskau: »es ist Zeit gewesen …« und blätterte verstohlen in einem Sparbuch und zählte Ziffernreihen und fletschte die Zähne, denn er lachte. Er gab dem Wenzel unterm Tisch einen Pack mit Geld und der Wenzel schob ihn, an den Tisch gedrückt, heimlich in die Brusttasche. Dann unterschrieb er etwas mit der Linken, während er mit der andern Edelmannshand gleichgültig das Glas zum Munde führte. Und stierte wieder vor sich hin, wie wenn nichts geschehen wäre.

Und der Alte sagte leise: »es is' Zeit. Jetzt kummt die Sonntagsruh … Is' für uns Sonntagsarbeit!«


Grazian ging heute in den Garten zur schönen Stunde, obwohl er Frau Clemy dort vermutete und sie nicht suchte. Er fühlte deutlich, um wie viel freier er ihr zwar gegenüber treten konnte, jetzt, wo er ja schon die zweite Straße seinem Ziele zu ging, und es mußte eine Zeit kommen, wo er als siegreicher Alexander vor die freigebige Königin seiner Jugend trat. Aber dennoch – zwischen ihr und ihm lag vorläufig der Berg einer ungeklärten Sache und dahinter versteckten sich beide.

Sooft er ein ganz kleines bißchen von ungefähr über den Berg guckte, schaute sie nach der andern Seite und fing von andern Dingen zu reden an, als habe sie nicht verstanden. In Wirklichkeit war es ihr so peinlich davon zu hören wie ihm, davon zu reden, weil die Sache eben ihr ganzes Einst und Jetzt wachrief. Und wenn sie schon daran dachte, so sagte sie dasselbe zu sich, was Kaiser Ferdinand sprach, als er dem Thron entsagte: »es ist gern g'schehen …«

Wenn Grazian gewußt hätte, daß die Dame Clemy viele Nächte bei ihm verbrachte, wäre er vielleicht gar nicht in den Eschengarten gegangen. Sie saß bei ihm im Schein der roten Lampe und schmiegte sich still an seine Brust, sie glühten ineinander und alle Bitternis starb in derselbigen Stunde, wo das Glück geboren ward. Diese Nächte waren freilich nur ihr Traum, aber unsre Träume sind unsres Lebens wichtigster Teil, denn sie sind der ungelebte, tiefersehnte Teil und sie ergänzen, was nur eine öde Hälfte wäre. Frau Clemy wußte jetzt, daß Grazian es war, der sie am reichsten von allen beschenken wollte, denn er hatte ihr sein volles schweres Herz auf zitternden Händen gebracht: da nimm es hin! Und sie hatte es nicht genommen, nicht erkannt, das größte Glück verlacht, sie hatte ihn davongejagt. Nun war sie es, die viele Jahre später unter der roten Lampe saß und nach dem fernen Manne verlangte, dem sie sich tief verschuldet fühlte. So geht es oft, daß man vor Sehnsucht in die Vergangenheit zurück will und vergebens an ihre längst geschlossenen Türen pocht.

Auch der Bürgermeister hatte sich entschlossen, im Eschengarten heute aufzuscheinen, um eine lang verschobene Huldigung darzubringen, und hatte der Grazioso-Dame ein Briefchen zugewendet, worin sich jedes Wort verbeugte und küß die Hand sagte: er werde sich am Nachmittag, wenn sie erlaube, bei schönem Wetter, die Ehre geben, die Sache sei sehr dringend. Frau Clemy seufzte, wie unser guter Kaiser wahrscheinlich seufzt, wenn sie ihm immer wieder die Volkshymne vorspielen, und sagte: »in Gottes Namen.« Sie konnte keine Bitte abschlagen, sie konnte niemals nein sagen, in dieser kümmerlichen Form hatte sich ihr alter Drang zu helfen und zu geben ja erhalten.

Der gute Severinus-Geist saß jetzt noch so tief in ihr, daß sie sich auch des alten Köckeis annahm, der seinen Umzug durchgemacht hatte wie sie und nun im Eschenhause wohnte wie sie. Er war Aufseher in Römers Weinkellerei gewesen und hatte diese Stelle verloren; er hatte im »Handtuch« so vergnügt drauf los gewohnt, als sei es noch sein eigen, und mußte es verlassen: Beides, weil er nicht mehr des rechten Geistes war. Der gute Wein von Grinzing hatte ihm erst eine rote Nase gemalt, dann die Zunge schwer gemacht; aber dem alten Tavernenlieger ging es besser als früher. Denn sein Schwiegersohn gab ihm alles, was er brauchte, und das war nicht viel, und seine Tochter Christel kochte seine Lieblingsspeisen, das war schon mehr; doch das liebste war ihm das schöne Hofzimmer bei der Witwe Brunner, bei der Frau Hausmeisterin, in der Gartenwohnung. Er schlürfte in rückenden Schleifschritten durch das Haus, denn der Weg des Weines ist vom Haupte in die Füße, er besorgte kleine Gänge, oder Frau Brunner saß bei ihm und lauschte seinen Aphorismen und Maximen wie denen eines römischen Weisen, denn sie war einst seiner Jugend Flamme gewesen und blieb heute noch eine treue Verehrerin seines Genius. Die Dame Clemy hatte den Seneca vom Eschenhaus gestern zu einer Schale Tee geladen und sich mit ihm dadurch verfeindet, denn wenn man in Wien »zu einem Löffel Suppen« eingeladen wird, bedeutet es ein massives Mittagessen – was mußte erst »zu einer Schale Tee« bedeuten! Und bei dieser nobeln Frau! Kurz, der alte Köckeis fastete schon von der Zehnuhrjausen an, das Mittagessen ließ er stehen und bekam am Nachmittag bei Frau Clemy Tee, schönen gelben Tee. Er schielte nach der Küche und schnüffelte nach dem Braten. Doch der Braten kam nicht, auch eine weitere Steigerung blieb aus: es gab wirklich nichts als Tee und in seinen Eingeweiden wühlte es und zwickte es und wurde mit jeder neuen Schale wütender und zwickender, bis sich der Großvater Köckeis zuletzt vorkam, wie der Großvater des Mopses Pizzikato, der drei Wochen lang Birnen fressen mußte, als sie ihn zum Jagdhund abrichten wollten. Er verzweifelte an der sittlichen Weltordnung und fraß das ganze Teegebäck auf. In seiner Brust zog sich ein Groll zusammen, der wie eine gelbe Hagelwolke hing und auf die ahnungslose Teedame jeden Augenblick niederprasseln konnte.

Auf dem Wege in den Garten kam sie heut in seine Wohnung, um ein bißchen nachzuschauen. Es war so sauber und appetitlich bei der alten Brunner wie im Hause der sieben Zwerge, nichts hatte sich verändert, nur zwei Öldruckbilder – das Kronprinzenpaar Rudolf und Stephanie – hingen jetzt über dem Glassturz auf der Kommode. Ein weißes Tischtuch war in der Stube aufgelegt und es roch wie von einer Prälatenmahlzeit am Karfreitag. Hinter einer Welt von Vogerlsalat sah Frau Clemy den roten Kopf des alten Glorius mit der weißen Haarbürste auftauchen, denn die Clownfrisur war abgefallen: er arbeitete eben an einem Karpfen, dem es ein Leichtes gewesen wäre, eine kleine Familie zu ernähren, und eine Weinflasche war daneben aufgepflanzt wie das Rohr einer Uchatiuskanone, die in den Himmel schießen will. Frau Brunner, die andächtig saß und dem Zerstörungswerke zusah, erhob sich und bot Frau Clemy Platz an. Der alte Köckeis aber sagte kauend: »Kann Ihna net zum Essen einladen, mir haben nix Urdentliches net. Heut ist Fasttag.« Dann setzte er hinzu: »Gestern war a aner …« und arbeitete an seinem Fische weiter, der so aussah, wie wenn er sagen wollte: und nach einer Weile werdet Ihr mich nicht wiedersehen … Glorius erholte sich von seiner Jause und gab sich mit einem religiösen Eifer dem Verdauungsfeste hin, das ihn mit der Welt versöhnte, und nur von Zeit zu Zeit hörte man ein fernes Vergrollen: »a Schalen Tee …«

Frau Clemy merkte nicht die Hagelwolke. Stumm betrachtete sie die beiden Leute, den Seneca und die Frau Majordomus, die hier zum letzten Lebensfrieden beieinander saßen. Die Feuer der Jugend waren erloschen und die Brunner hielt die Schürze manchmal vor die Augen und sagte: »Mit weiße Haar dürfen wir beisammen sein, früher is' net 'gangen, wir dürfen miteinander sterben.« Frau Clemy saß eine Weile, dann ging sie still hinaus und seufzte; aber diesmal war es nicht wegen der Volkshymne.


Ein feiner silberner Apriltag ruhte über dem Garten, bald kam die linde Zeit der Käferliebe und des Waldmeisterduftes, und schon saßen ein paar Käferjünglinge in den Grashalmtürmen und versuchten die Glocken, ob sie auch stimmten, bevor es denn ordentlich losgehen sollte zur Hochzeitsfeier. Es war nur so ein kleines Präambulum, aber das Summen und Weben auf der Wiese zwischen dem großen Salettel und der Esche, kam Frau Clemy wie Engelsingen vor und die hohe Esche, die in der Sonne stand, wie die grüne Kuppel einer Kathedrale.

Sie hob die Zweige auf, die über Holzsäulen und Querbalken herabhingen und sah die Christel mit dem Strickstrumpf bequem am Tisch arbeiten, Herdrix saß daneben und sah in ihrem weißen Piqué-Kleid aus wie eine junge Birke. Sie steckte eben ihren Kopf in ein großes Heft, worin noch ein zweiter aber blondgemähnter Kopf mit Erfolg Unterkunft suchte. Das Laub war noch nicht dicht und Sonnenblitzer gingen über die Häupter der jungen Leute und erhellten den Sommerpalast, dessen Wände Zweige und Blätter waren.

»Aber Grazian!«, rief Frau Christel entrüstet, »siehst denn net, wer kommt! Net a mal vom Sessel aufstehen tust – bitt', gnä Frau, nehmens mein' Platz –« und sie stand auf. Grazian schoß in die Höhe, riß seinen Stuhl um, fiel drüber auf den Boden, riß auch den andern Stuhl um, den er für Frau Clemy holen wollte, kurz es ging ihm wie beim ersten Besuch im fremden Haus, wo man über den Teppich stolpert, das Weinglas umwirft und überhaupt ein Hauptheld ist, weil die erste Einladung allemal die Einladung zu einer Ungeschicklichkeit ist. Zum Glück half Fräulein Herdrix dem verwirrten Alexander Magnus wieder auf die Beine, unter Lächeln wurde die Sitzordnung wieder hergestellt, aber die Mutter, die schon im Zuge war, schalt drauf los, denn Auszanken der Familienmitglieder vor andern galt ihr als besondre Artigkeit gegen die Fremden. »Und wie du wieder ausschaust! Schrecklich! Zerzauste Haar! Einen weichen Hemdkragen, bitte, zu einem schwarzen Rock! Und die Krawatten – immer in der Luft! Ich muß mich wirklich schämen. Unser Wenzel, nimm dir ein Beispiel, schönen hohen Stehkragen, nobel wie ein Gigerl bei der Praterfahrt, und ist der Gehilfe! Bitte 'tschuldigen!« In der Tat stammte der schwarze Rock aus dem Griechengassel, wo er zwischen Hosen und Westen einem längst entschwundenen Heroenzeitalter nachgeträumt hatte, und als Grazian ihn anprobierte, versicherte der Verkäufer: »er paßt wie angegossen«, was, soweit man sah, auch stimmte, denn auf der Unterseite hielt ihn der alte Hellene mit der Faust zusammen. Allein das hatte sich seit den letzten Jahren schon gegeben und, weil er, von der Gartenerde abgesehen, höchst sauber war, konnte sich der Rock noch immer sehen lassen.

»Aber Frau Christel,« sagte denn auch mit milder Stimme die Dame Clemy, und ihr Auge hing an dem jungen Mann, »es kommt doch nicht auf die Krawatte an. Er geht halt, wie er ist. Soll er sich einen Beethovenkopf aufsetzen? Und mit einer durch Schäbigkeit interessanten Eleganz den Titanen markieren, wie der Herr Amandi? Mir gefällt es immer, wenn einer ausschaut, wie er ist, und sich nicht inszeniert. Nicht wahr? Übrigens – Kleider machen Leute, heißt es; aber es gibt auch Leute, die das Kleid machen –«

»Ja zum Beispiel die Schneider!« rief die Christel unbefriedigt. »Warum soll er wie ein Schneider gehen? Wohin er kommt, wo er sich vorstellt, überall schauens ihn von oben an! Und wär' alles gar nicht notwendig, wenn er nicht so schlampig wär'. Längst könnt' er a anständige Stell' haben – der Malefizbua, 'tschuldigen, meine Damen.« Sie sah ihn an mit einem Aprilgesicht: es war Regen- und Sonnenschein darin. Ihre Gedanken liefen das Griechengassel entlang, sie stiegen in alle Häuser, wo Grazian in seinem angefeindeten Rocke als Violinlehrer auftrat, sie hielten beim Stahlehner, wo Grazian mit seiner unglückseligen Kapelle aufgetreten war, und landeten bei einem ihrer Lieblinge, dem Herrn Amandi. »Wann i' den a mal derwisch', der kann si' g'freuen …« murmelte sie, während sie eine entsunkene Masche mit der Nadel suchte. »Überhaupt wär es nicht viel g'scheiter«, sagten die Gedanken im Laufen, »der Grazian säße mit dem Vater im Geschäft und könnte ihm als junge Kraft zur Seite stehen, als daß er herummusiziert, noch dazu halb umsonst?« Der Vater Ambros hatte sich von allen Leuten abgeschlossen und ging »mariataferln«, fleißiger als je, denn es war ihm so zu Mut wie am Vorabend eines Zweikampfs auf Tod und Leben. Ohne es zu wollen, seufzte die Christel und ließ ihren Strumpf in den Schoß sinken.

»Was seufzen Sie?« fragte die Clemy teilnahmsvoll.

»Eine Mutter hat immer Grund dazu …« Und nun schüttete sie den ganzen Korb voll Sorgen der guten Clemy in den Schoß und war glücklich, daß die ihr alles abnahm, sie schauten miteinander jedes Stück an und knackten es auf wie junge Erbsen. Herdrix, die von Mutter Christels Erbsen nichts wissen wollte, machte ihr Notenheft zu und schob sich leise davon, und Grazian, der auch lieber ihre Stimme hörte als die Putzer seiner Mutter, stand alsbald bei ihr.

»Also, ich werde vom nächsten Sonntag an zu Ihnen »Fräulein Kollegin« sagen können, nicht wahr?« flüsterte er. »Wenn Sie erlauben, gehen wir mitsammen in die Kirche, ich hol' Sie immer ab – zum Herrn Wackler, nicht wahr? Und dann fangen wir mit unsern Theoriestunden wieder an, nicht wahr, grad' für eine Sängerin ist Harmonielehre riesig wichtig, nicht wahr?«

Aber Fräulein Herdrix, die es wissen mochte, daß solche Theoriestunden in eine Praxis auszuarten pflegen, die auf ganz andre Harmonien hinausläuft, schob ihn weg und sagte: »Und überhaupt – ich soll jetzt tanzen wie Sie pfeifen, Sie Herr Nichtwahr?«

Herdrix hatte hiemit die Feindseligkeiten eröffnet, da sie ja von Natur aus zur Kriegerin bestimmt war, und ein junger Mann ist immer im Nachteil, wenn er sich in solche Lanzengefechte einläßt. Man muß vorübergehen – die Damen sollen nur stechen – und sich lieben lassen. Das wäre männlich. Das weiß man aber auch erst später. So machte denn Grazian einen taktischen Mißgriff, als er den Frieden durch Ergreifen einer schönen Hand zu erhalten suchte: »Was hab' ich Ihnen denn getan? Sie sind immer so feindlich, so – – wissen Sie, was Sie sind?« Nun rasselte er ganz leise mit dem Säbel – »Sie sind ein Pomeranzenmädel …!«

»Was bin ich?«

»Ein Pomeranzenmädel sind Sie, denn man muß Sie lange abschälen, bis Sie genießbar sind. Dann freilich – ich will nichts gesagt haben – ist alles sehr süß!«

Sie wiegte mit ein paar Tanzschritten leise vor sich hin und drehte sich um ihre Achse. Er lächelte ihr mit einem huldigenden Lächeln nach, und seine Augen sagten: »Einer für alle …!«

Sie aber tanzte das Notenheft umschlingend, ihren Ball ruhig weiter, warf sich in die Arme verschiedener junger Herren und schien gar nicht Lust zu haben, die eine zu sein, die für alle büßte, sondern machte ein schwärmerisches Gesicht, das zu sagen schien: »Alle für einen«, wobei sie alle, Mehrzahl, männlich meinte. Plötzlich blieb sie stehen, denn sie erinnerte sich, daß sie beleidigt worden war und sagte unangenehm laut: »Es wäre wirklich g'scheiter, Sie möchten mit mir die Messe studieren. Pomeranzenmädel! Wer ist denn Ihr Pomeranzenmädel?« Und sie übergab ihm das Notenheft, das er mechanisch an sich nahm.

»Aber Fräulein Herdrix – sst! – die Mutter! Nur ein Wort …« Und er rasselte nicht mehr, sondern flüsterte sie mit einer Stimme an, die flehend war wie eine Celloromanze: »wollen Sie gar nicht lieb mit mir sein? Oder – wollen Sie mir gar nichts sein? Wen hab' ich denn …?«

»Sein? Ich? Ihnen? Ja, wer sind Sie denn?« Sie machte große Dame, wurde plötzlich kurzsichtig, tat einen Lorgnongriff, musterte den Platz, wo er stand und sprach: »Ist denn ein großer Künstler da? Ich seh' hier überhaupt niemanden. Steht hier vielleicht der Herr Amandi? Dann ließe sich ja reden … aber so? Tut mir leid. Wo niemand ist, kann ich auch nichts sein!«

Mutter Christel und Frau Clemy schienen genug Erbsen geknackt zu haben und schauten nach dem Reitergefecht herüber, das sich eben so ziemlich entschieden hatte.

»Sie sehen mich nicht wieder!« flüsterte Grazian und blätterte wütend im Notenheft herum. Sie gingen zum Tisch zurück und er erklärte laut wie sie zu singen habe; aber das »Wer sind Sie denn?« wühlte in seiner Brust wie der Bohrer im Holz und plötzlich brach er ab. Obwohl sie es nur im Scherz gesagt hatte, fühlte er doch heraus, daß sie sich mit ihm beschäftigt hatte, es war ein Scherz mit einem vorwurfsvollen Auge. Sie wußte nichts von seinem Alexanderzug, sie wußte nur von Amandi, dem großen Künstler. Spukte der auch hier schon herum? Und hastig nahm Grazian seinen braunen Samthut, schlug ihn auf den Kopf und ging mit flüchtigem Gruße. Sein letzter Blick aber nahm die Gestalt der Herdrix mit, die sich eben niederließ, um die Messe nach seinen Anweisungen zu lernen. War sie nicht wie ihre Schwester? Nur feiner? Verjüngter? Wie dieselbe Melodie in der höheren Oktave! Aber jetzt waren ihm beide Melodien ganz gleichgültig, ja ganz gleichgültig!

Die beiden Frauen schauten einander in die Augen. »Was hat er denn schon wieder?« fragte die Christel.

»Gewiß hast du ihn weggeärgert?« fragte Frau Clemy, die die Lanzenkämpfe ihrer lieben Schwester kannte.

»Ich? O, im Gegenteil!« antwortete Herdrix rasch und wahrheitsgemäß und war schon wieder tief in der Kirche, wo sie am nächsten Sonntag singen sollte. Nur der Finger, der die Zeile suchte, zitterte ein bißchen und das kam eben daher, weil ein Finger die Gewohnheit hat, Erdbeben im Innern der Natur zu melden, wenn es z. B. den Leuten, die mit dem Schnabel z. B. etwas getan haben, hinterher z. B. leid tut.


Im Gebüsch gegenüber war alle Augenblicke ein Gezupfe und Gewirr, man sah zuweilen einen leuchtend gelben Punkt durchs Grün fahren: es war der Schnabel eines Amselmännchens. Der schwarze Herr und seine Dame hatten eben mit einer Wohnungseinrichtung zu tun und klebten wohl Tapeten an die Wände. Die Christel fühlte sich zu allerlei Betrachtungen angeregt und wollte der Clemy die niedliche Sache zeigen; aber die hatte sich zurückgelehnt, die Augen waren geschlossen und sie schien gerade einzuschlummern. Sie sah blaß aus, grüne Widerscheine liefen über ihr Gesicht.

Die Nadeln klapperten eine Weile weiter, die Christel hielt es nicht mehr aus. »Fräul'n Herdrix! Hörens, Fräul'n Herdrix …!« flüsterte sie.

Fräulein Herdrix tauchte aus ihrer Kirche auf, wo sie eben eine besondre Stelle angestimmt hatte: » benedictus qui venit …« und kam ungern in die Weltlichkeit zurück.

»Fräulein, is' es wahr, i hab' g'hört, Sie sollen heiraten?«

»Heiraten? Wo denken Sie hin! Die Leute wissen immer was uns fehlt!«

»Aber gehn S'! Sie werden nicht heiraten!« Die Nadeln klapperten einen großen Hochzeitsmarsch – »wo so viel Leut' bei Ihnen verkehrt haben, lauter nette Herren! Sie brauchen ja nur den Finger auszustrecken!«

Herdrix rieb sich die Augenbrauen, die mit einem feinen Pinselstrich gezogen zu sein schienen und sagte: »Ich strecke ihn aber nicht aus! Liebe Frau Christel, ich hab' Sie sehr gern, das wissen Sie, Sie sind a liebe Frau; aber tun Sie mir endlich den Gefallen – bringen Sie mir nicht immer auf der Hand einen Herrn im Frack mit! Ich mag nicht! Und damit Sie gleich wissen, warum: – ich kann nie einen ›Herrn‹ so gern haben, daß ich mit ihm beisammen sein möchte, jahraus, jahrein, vom Morgen bis zum Abend! Und dann nehmens mir's nicht übel – drei Häuser machen ein Mädel halt skeptisch! Also steckens Ihren Kandidaten wieder ein!«

Sie sank eilig hinunter und in der Kirche ging es weiter: benedictus qui venit …!

»Wer schimpft, der kauft …,« dachte Frau Christel, »das sagen alle jungen Mädel, die's net derwarten können …« Aber das Nein war so bestimmt, der Herr im Frack war so energisch abgeschafft worden, daß alle Hoffnung sank, und die Nadeln klapperten: Schade, schade, schade!

Der alte Köckeis schlürfte mit einer Gießkanne herbei und Frau Brunner kam hinterdrein mit einer Gartenscheere, um die Stauden zu stutzen. Doch die Christel legte den Finger an den Mund und winkte die beiden weg. Der Wind tat keinen Atemzug und die Gartenengel saßen schweigend und träumend wie die drei Frauen um den Tisch. Die Christel rief nach einer Weile das Fräulein noch einmal aus der Kirche und flüsterte: »Aber etwas andres könnens mir versprechen … Wissens, er kommt schon unter der Wochen nie net pünktlich z'Haus, zum Mittagessen. Jetzt, wo er in die Kirchen geht, wird er am Sonntag a net mehr kommen. Gehns, holens ihn ab und bringens ihn mit! Sie gehen ja z'samm!«

Herdrix zog die Nase hoch. Abholen? Nach Haus führen? Den großen Herrn? Sie wollte schon wieder Nein sagen, aber die Christel hatte einen so bittenden Blick. »… na, meinetwegen!« Und wieder zitterte der Finger, der die Zeile suchte. Die Christel schwieg. Die Nadeln sagten nichts mehr, die Noten aber sangen: benedictus qui venit …

Und es war ein so wunderbares Weben, wie es immer ist, wenn Frauen träumen. Clemy saß mit jemandem unter der roten Lampe, die Christel kraute zärtlich einen zerzausten blonden Kopf und Fräulein Herdrix sah zwischen den Zeilen einen Künstler auf und ab spazieren, den sie am Arm nahm, um mit ihm zusammen zu gehen.


Man hörte plötzlich einen militärisch-scharfen Schritt, und Frau Clemy erwachte. Sie schlug die Augen auf. Da stand Baron Godler und verbeugte sich in seinen üblichen drei Tempi: er hob sich ein wenig auf den Zehenspitzen – eins – er schlug die Fersen aneinander – zwei – er senkte seinen steifen grauen Hut wie einen Säbel – drei. »Küß' die Hand, die Damen«, rief er. »Wie geht's dir, Mausi« – womit er sich an Clemy wandte – »immer munter, immer munter! Denkt immer an ihren lieben Gatten, no, muß ich mich halt auch ein bissel umschauen!« Er sah sie zuckersüß aus seinen gelben Taubenaugen an, die unter der Stirne wie unter einem vorgeschobenen Dache saßen.

Frau Christel war aufs angenehmste berührt, obwohl sie sonst Spinnen und Kröten wie den Tod fürchtete. Wie liebenswürdig trillerte diese Kavalierstimme vor ihrem Ohr, wie reizend war er frisiert, der Kopf so schön gestutzt wie die Alleen in Schönbrunn. Herdrix jedoch erhob sich und nahm ihre Noten unter den Arm, weshalb es auch die Christel artig fand, wenn sie aufbrach.

»Aber bleibens doch gnä' Frau … halt, Pardon …!« Er bückte sich und hob ritterlich den Knäuel auf, der hinabgesprungen war und auch davonlaufen wollte.

»O, ich dank schön, ich danke vielmals, Herr Baron« – sie wurde schrecklich rot – »ich hab' zu tun, 'tschuldigen schon, ich will net stören.«

»Aber gar nicht, gar nicht! Na, wir kommen noch zusammen. Schad, schad! Empfehlen Sie mich dem Gatten! Küß die Hand, gnä' Frau!« Und ordnungsgemäß machte er seine drei Tempi. »Servus Herdrix!« Herdrix nickte kühl, nahm die Christel unter den Arm und ging mit ihr – kaum konnte die Christel, in deren Ohr es trillerte und girrte, der Clemy Abschied winken.

Frau Clemy schaute beiden nach und als sie verschwunden waren, legte sie den Handrücken müde an die Stirn und fragte ohne Übergang: »Also, was willst du?« Wenn ihr Mann zu ihr kam, so kam er weil er etwas wollte.

»Du, grad' hab' ich mit 'm Krügl g'sprochen. Er kommt her dann. Hat großartige Ideen. Ganz unter uns – Siegel der Verschwiegenheit – Gartenfest mit Lampion, Einzugsfest mit Musikbegleitung für uns. Mir sehr sympathisch. Soll eine Überraschung sein. Mach dich nix wissen!«

»Ja, und was willst du?«

»No ja, Kind, ich hab' mit dir zu reden. Du weißt ja so! Es geht mir elend, elendissimo!« Er warf den Hut auf den Tisch und ließ sich gähnend nieder. »Der Feuerschein, ein auserlesenes Exemplar von rotem Meer-Veteranen, kann jeden Tag kommen. Und wenn er kommt – was … Ah was! Ich hab' mir einen Plan gemacht!«

»Einen Plan?« Frau Clemy die ihn schonen wollte, verschwieg, daß Feuerschein schon einmal da gewesen war.

»Na, brauchst nicht zu schrecken. Dir g'schieht nichts … Die muß mir helfen, die!« Und er tippte mit dem Finger auf den Platz, wo Frau Christel früher in Bewunderung der schönen Frisur gesessen hatte.

»Die Uhrmachersleute? Um Gotteswillen –?!«

»Bedaure, bedaure sehr, aber hat man, oder sagen wir: hast du ihnen nicht x-mal aufsitzen g'holfen, wenn sie am Bauch gelegen sind? Wem verdanken sie denn alles? Und sind heute wohlhabende Leut'! Und der Herr Grazian, der da immer herumstreicht – das g'fällt mir gar nicht, das Herumstreichen – wo wär' er ohne dich? Hinter der Budel könnt' er sitzen wie der Herr Wenzel! Was sagst du …? No, nein, ich werde dir die Leut' nicht beschädigen, aber Menschen müssen sich gegenseitig helfen und diese Leute können es …!« Er erhob sich, ging auf und ab, und marschierte in eine Wut hinein, die mit jedem Schritte größer wurde, er schalt auf die engen Verhältnisse, das ewige Rücksichtnehmen, auf das »Leben im Schönbrunner Käfig«, und ritt sich nur tiefer hinein und schlug mit dem verknöpften Handschuhball auf den Schenkel als wollte er das Pferd antreiben.

»Godler, das tu' nicht! Du kannst doch diesen Leuten nicht Waren abborgen: das ist ja beinahe unfair. Bedenk': unser guter Name, das einzige, was wir noch zu verlieren haben! Womit willst du es zurückzahlen … Du bist einer, der nicht rechnen kann und deshalb bitt' ich dich – Gott ich gebe dir alles, das letzte, nur das tu' nicht!«

»Godler, das tu' nicht!«, flüsterte auch eine zerlumpte Gestalt, die im Austragsstüberl seines Herzens wohnte und alle heiligen Zeiten einmal die Türe aufmachte und herauskam. »Godler! Das tu' nicht!« sprach die Stimme. »Denn diese blasse Frau sollst du nicht kränken: sie hat dir alles geopfert, was eine Frau zu opfern hat und nun sie nichts mehr hat, als sich selbst, ist es dir zu wenig! Godler, das tu' nicht! Du willst den Uhrmachersleuten einen Schmuck wegnehmen und ihn ins Leihhaus tragen oder deiner Geliebten um den Hals hängen! Du weißt nicht, welche Sorgen an Gewerbeleuten nagen und diese Sorgen können einmal zu dir kommen und mit zehnfacher Gier in dein Herz fressen, und du wirst dich an die Wand lehnen, und Vergeltung! seufzen!« Aber Godler schlug die Türe des Austragstüberls zu, er wollte nichts hören und die Stimme des Gewissens verstummte.

»Bitte nicht lamentieren,« sagte er – und wußte selbst nicht zu wem – »es wird ein ganz ein hochreelles Geschäft, wie es hunderte Kavaliere machen, also keine Litaneien – mein Gott! – Du sollst ein bisserl nachhelfen, das ist alles! Bin ich ein Anarchist? Ein Wechselstubenräuber? Gut, wenn du nicht willst, so werde ich mir alleine helfen!« Wieder jagte er sein wildes Pferd, daß die Funken des Zornes stoben. »Wenn du glaubst, ich lasse mich da bei dir schuhrigeln, von deinem Herrn Vater kontrollieren und anschnauzen, dann, meine Liebe, bist du auf dem Holzweg! Ich kann ja schließlich gehen, und ich geh auch!« Er peitschte drauf los und schleuderte endlich den Handschuhball wutschnaubend in die Ecke. »Ich geh!«

»Also, du gehst von mir?«

Er hatte auf einen tragischen Ausbruch gerechnet; aber es gibt Register in den Stimmen der Frauen, die auch den gewiegtesten Orgelkenner in Verlegenheit bringen können. »Du gehst von mir!« Sehr erschüttert klang das nicht. War es befürchtend oder hoffend, höhnisch oder vielleicht harmlos gemeint? Godler entschied sich für das befürchtende Register und lenkte ein. Er wiegte lächelnd den Kopf, zog seine Dose aus der Weste und drehte eine Zigarette. »Das kommt ganz auf dich an,« sagte er, die Augen auf den Fingern, »wenn du brav bist und mir keine Geschichten machst – ich bin ja ein guter Kerl und lass' mit mir reden …« Er beugte sich und ließ die Tauben unter dem Dach an ihre Augen schweben, dann drückte er, der Wirkung sicher, die Lippen langsam an ihr Ohr.

Aber diesmal blieb die Wirkung aus: sie erschauerte nicht mehr wie einst, wo sie diesem Kuß erlegen war, wo er ihr Schicksal war, weil er die Macht über ihre Sinne hatte. Sie hatte die Komödie zu oft gesehen, als daß sie ihr noch Eindruck machte. Sie war sehr müd' geworden. Mochte er gehen oder bleiben, zärtlich oder wütend sein – er berührte ihr Ohr, er tauchte nicht hinab zu den schönen Quellen ihres Liebens und Leidens, er war nicht mehr ihr Schicksal. Sie lag im Korbstuhl mit geschlossenen Augen, gleichgültig wippte sie mit den Fußspitzen.

Godler zündete die Zigarette an, nahm die Handschuhe auf und streifte die ziegelroten Finger an. Er kam sich als Sieger vor, legte gnädig zwei Finger an den Hutrand und verließ das Schlachtfeld im Bewußtsein sie zum Schweigen gebändigt zu haben. Er ging zu den Uhrmacherleuten, um zunächst Frau Christel ein Ständchen vorzugirren.

»Servus!«


Er machte einige Schritte, als eine Gestalt vor ihm stand wie der steinerne Gast vor Don Giovanni. Seine E-dur-Stimmung schlug in ein fürchterliches marmornes D-moll um. »Was sind das für Lazzi?« zischte Godler, der vor Schreck seine drei Begrüßungstempi vergaß. »Haben Sie gar kein Anstandsgefühl? Hier kommen Sie her? Wissen Sie nicht, wo ich zu finden bin?«

»Ich hab' ka Zeit zu Anstandsgefiehle. Und hab' ich Sie hier nicht gefunden?« sagte Orion Feuerschein und pflanzte sich mit seinen Cellobeinen in den Weg, um den Abmarsch von der Insel Lobau zu verhindern. »Überhaupt, von Anstand sollten Sie nix reden, Herr Baron! Ich bin Ihnen nachgelaufen zehnmal. Sie haben sich verleugnen lassen. Geschrieben hab' ich Ihnen. Keine Antwort. Nu wird nix geredet, nix geschrieben mehr: ich prolongiere keine Stunde. So soll ich leben. Ich kann nicht länger warten …!«

»Schreien Sie nicht so. Hier bin ich zu Hause! Wegen einer Bagatelle! Sie haben mein Ehrenwort, mein Ehrenwort als Kavalier. Schauns, daß Sie weiterkommen! Nehmen Sie Rücksicht auf die Frau Baronin!«

»Bagatell?« schrie Feuerschein ohne Rücksicht auf die Baronin und hieb sich den Hut auf den Hinterkopf, denn bei Nennung der Zahl verließ ihn aller Respekt. »Zweitausend und zweihundert Gulden – das nennen Sie a Bagatell? Und Ihr Ehrenwort? P! Das große oder das kleine? Drei Akzepte, die ich hab', die sind ma lieber!« Seine aufgeregten roten Hände flatterten. Godler sah ihn funkelnd an. Der Kerl verschandelte den ganzen Garten. Das waren überhaupt nicht Hände, sondern »Händ'«. Nun kratzte er sich noch mit seinen schwarzen Nägeln: ein lebendiger Agitationsstoff für den Ritter von Schönerer! Godler geriet so in Wut, daß er ihn hinausdrehte wie einen Hafersack.

»Wenn ich nicht bis Samstag früh mein Geld hab', tu' ich Schritte!« schrie Feuerschein und schlug auf die Brusttasche. Godler schob, Orion drehte sich.

»Ich übergib's den Advokaten. Ich laß Sie einklagen! Soll Ihr Schwiegervatter zahlen!« Wieder einen Stoß, Orion drehte sich weiter. »Und krieg' ich da nix – kommt die Strafanzeige.« Ein neuer Stoß »Sonntag! Nicht a Sekunde länger. Hab' die Ehre –« Er war hinausgerollt. »Hochstapler!« murmelte er im Abgehen. »Bestie!« rief ihm Godler tonlos nach. Er hatte ausgedreht. Sein rotbraunes Reitergesicht war fahl geworden. Die Hände zitterten. Kaum konnte er die Hufeisennadel richten, die hinaufgestiegen war. »Bestie!«

»Bestie!« Das rief auch der Hund Pizzikato, der dem Streite schon lange mit Fachkennerblicken zugesehen hatte, und den beiden nun nachstürzte, die beim Gartentor verschwanden. Aber wem er es nachrief, war nicht zu entscheiden.

Der Bürgermeister Doktor Krügl versicherte später, daß die Minuten, die er seit Godlers Kuß hinter dem Busch zugebracht hatte, zu den peinlichsten, ja zu den allerpeinlichsten seines ganzen Lebens gehörten. Zu den allerpeinlichsten. Ja. Denn wenn er auch sonst immer noch einen Ausweg wußte, selbst in den verzwicktesten Angelegenheiten, diesmal wußte er weder vorwärts noch rückwärts und blieb hinter dem Busch, was eben genau so peinlich war, wie wenn er davor gestanden hätte.

Es war trüb geworden, die Glocken der Grashalmtürme verstummten. Am Himmel hingen jetzt Wolken, so seltsam zerbrochen wie Eisschollen. Es fröstelte Frau Clemy und auch die kleinen Gartenengel in den Büschen saßen mit hangenden Flügeln und froren.

Stumm überreichte ihr der Bürgermeister einen Strauß von wunderschönen Rosen. Stumm nahm sie ihn entgegen und ihre traurigen Augen sagten: »Du guter Mensch! Du willst auf meine Wunden Rosenblätter legen …«

Und seine Augen sagten: »Ich werde in deinem Garten Lampions anzünden, so rot und lieblich, arme Frau, wie nun die Laternen auf der Straße meiner Hoffnung wieder leuchten. Und alle Rosen dieses Gartens sind dagegen blaß. Wart' nur, wart'. Ich will dir zeigen, wie ein Mann von seiner romantischen Seite aussieht, wie er einer schönen Frau huldigen muß. Jetzt erst recht, mein Abendsonnenschein!«

Hingebungsvoll reichte er der Frau den Arm, und führte sie behutsam aus dem Garten, als wolle er verhüten, daß sie zerbreche. Er ging feierlich wie bei der Fronleichnamsprozession, und nahm heute entschieden von allen Leuten die reinste Freude aus dem Garten mit. Das meinte wohl auch Pizzikato, der durch Hochsprünge die Rückkehr von einer wackern Tat anzeigte. Und aus den Fahnen der Prozession lächelte nachsichtig der Apostel Paulus herab, wie wenn er sagen wollte: Freien ist gut, Nichtfreien ist besser!


»Das ist ja ein Musikschuster ersten Ranges, dieser Herr von Wackler!«, rief Grazian fast ausgelassen beim Mittagstisch, als er von einem seiner ersten Kirchendienste nach Hause gekommen war. Die andern waren schon bei der Mehlspeise angekommen, er begann gerade mit der Suppe. »Ich hab' mir nicht helfen können – den hab' ich zum Narren halten müssen. Und wie! Ich hab' ihn g'fragt« – er machte ein Fuchsgesicht – »ob er nicht die große Messe von Anton Bruckner aufführen will. Die groß' Mess', F-moll!« Grazian mußte in der Kirche allerhand Lustspiele gesehen haben, denn in der Erinnerung fing er plötzlich zu lachen an, daß der Löffel in der Suppe mittanzte. »Das Gesicht hättets Ihr sehen sollen! Ganz gelb ist er worden. Bruckner, Bruckner …!« Grazian hörte zu essen auf und stellte Wackler dar wie er Bruckner abschüttelte. »Herrens mir auf mit Bruckner! Beim Wagner hatt' ma noch können reden von Kompositionen. Beim Bruckner kann ma nur reden von Explosionen!«

In der Tat hatte Wackler, ein Erbe des Tomaschekschen Geistes, seiner tief wurzelnden sudetischen Abneigung gegen die Kunst der Alpenländer Ausdruck gegeben, dann hatte er sich noch niedlich gemacht und eine überlegenes Wort gelächelt: »Ich bin halt a Reaktionär. Alte Kisten von Haydn is' mir viel lieber als Ihner' Bruckner!«

Grazian war erst ärgerlich und wollte die feindliche Weltanschauung auf der Stelle bekämpfen, dann entschloß er sich aber zu warten und den baumwollenen Widerstand langsam zu zerschneiden. Er nahm sich u. a. vor, den Mann mit dem Ziegengesicht so lang zu drangsalieren, bis er einmal in die Partitur guckte, ja er hatte sich entschlossen: die Ziege endlich auf die Gebirge Bruckners hinaufzutreiben, wenn das auch 6000-Meter-Höhen waren.

Grazian lachte noch lange fort. »Da hat mich der Wahnfriedrich in lustige Sachen hineingesetzt! Kunststätte! Ha! Das ist ja eine Werkstatt! Eine Schusterwerkstatt! Und der Herr von Wackler ist der Hauptschuster drin!«

Die Eltern schauten bei diesen Worten auf ihr Mehlspeisteller, und die Christel gab ihm mit dem Fuß einen heimlichen Stoß. Aber Grazian redete immer drauf los, denn er glaubte, daß das Mehlspeisenanschauen und der Tritt dem Wahnfriedrich gelte, den die Mutter ihren ersten Sargnagel nannte – der zweite war der Herr von Amandi – bis die Christel noch wütender Pedal trat und endlich ganz scharf wurde, um ihn zu übertönen: »Hörst, das interessiert uns gar net! Hör' schon auf mit den G'schwalbel!« (Was geeignet ist, die Stimmung aller, die Lustspiele gesehen haben, aber auch solcher, die sie schreiben, wesentlich herabzumindern.)

Nach Tische nahm sie ihn beiseite. »Verstehst denn gar net! Der Wenzel! Wie er dir zug'hört hat! Hast 'n net g'sehen? Als ob er sich jed's Wort aufg'schrieben hätt'! Und du alleweil: Schuaster! Schuaster! Das beleidigt ihm ja. Vor an solchen Menschen darfst nix erzählen. Da darfst eh'nder an Spitzel was anvertrauen!«

Grazian sah die Mutter lange an. Erinnerungen stiegen in ihm auf, er lachte nicht mehr. Von diesem Tag an wurde er still, wenn der Wenzel in die Nähe kam. Das Herz war ihm ja oft eng geworden, wenn er mit den Eltern beim Mittagstisch sitzen und das Gesicht des Jugendfreundes sehen mußte, der dabei saß wie ein Wilder, ohne Anteil, fremd und lauernd. Grazian ärgerte sich über sich selbst: daß er immer Publikum suchte, sich gehen ließ und erzählte, während der Wenzel die Verschlossenheit selbst war, auf Publikum verzichtete, und die Kraft hatte zu schweigen und zu hören. Grazian war von dem Spielgenossen immer weiter abgerückt. Jetzt mied er ihn, wo er konnte.


Aber er vergaß den Wenzel und die Schustergeschichte und ging am nächsten Sonntag ganz allein – das Fräulein Kollegin war unsichtbar – in die Kirche zu den Chören der englischen Stimmen und dachte dabei, zu welch' vergnüglichen Orten sein Alexanderzug ihn führe, denn in der Kirche gab es mindestens so gute Unterhaltungen wie im Maria-Theresienschlössel. Die alte Kirche ragte mit feierlicher Höhe triumphierend über die großen Schirme der Marktweiber wie der schöne Sonntag über die Wochentage und trug ein stolzes Angesicht, denn auf ihrem Balkon hatte einst ein Papst gestanden und das Volk gesegnet. Als es zehn Uhr schlug, kletterten über dunkle Stiegen verschiedene Gestalten zum Chor hinauf und schlichen bei der Glastür hinein, über die die Orgel ihre Flügel hinlaufen ließ, bis sie in braunen Holzrosen und Jesuitenschnörkeln verklangen. Zuerst erschienen die beiden schönen Laternen: das war der Herr Jurist Bambula, der in der Mensa academica zu tafeln pflegte und dem man es auch ansah, dann der Lehrer Vierröckl, dem man es auch ansah, obwohl er in der Volksküche in der Schönlaterngasse tafelte. Sie sangen ersten Tenor, denn bis zum Baß hinunter hätt' es nicht gereicht und hießen beide gleich, weil sie beide gleich dünn waren. Dann erschien der sanfte Leopold, ein Musiker mit unausgeführten Opern, der Engler hieß und an der Orgel träumte; an die Baßgeige trat ein finsterblickender Orchesterling aus dem Fürsttheater, während die ersten und zweiten Geigen mit Herren besetzt waren, von denen zwei Widmungsmärsche komponierten und einander liebten wie alle echten Komponisten. Gleich am ersten Sonntag nahm der eine Grazian unterm Arm und belehrte ihn warnend: »So, der Straschil hinten – segen S' der G'schneckelte – das sag' i Ihna glei', da is' der Heurige no a Beethoven gegen den!«

Auf die Damenbänke aber setzten sich einige Fräulein, gute alte Drucke mit der Jahreszahl auf dem Titelblatt und einige späte Damen, die die letzten Wallungen einer vulkanischen Jugendliebeslust im Kirchensingen von sich bliesen. Diese Orpheuse und Paganinis beiderlei Geschlechts drückten die blankgeschliffenen Sitze, deren Farbe ebenso rätselhaft war wie die von der Liebe und der Langweile in die Pulte gegrabenen Sprüche.

Der gelbe Heinrich Wackler, der mit dem Staberl an der Brüstung lehnte wie Tegetthoff auf seinem Admiralsschiff, sah dem Aufmarsch seines Heerbannes mit Blicken zu, von denen jeder einzelne ein heißer Bügelstahl war: er überwachte die unglückliche Glastür, die noch immer hin- und herging, manchmal riß ihn eine unbekannte Macht am Fuß, denn jeden Augenblick konnte es losgehen und noch immer warteten einige Stühle ängstlich auf Herrn Holzer und Herrn Bobak.

Grazian saß, die Geige auf dem Knie, und guckte in die Luft. Vor ihm, auf dem Solistensessel zwischen Bank und Brüstung hatte sich ein Fräulein niedergelassen, die ihm den Rücken kehrte und es war ihm lieb, denn sie war ihm gänzlich gleichgültig. Zwar hatte der, der hinter dem Fräulein sitzen durfte, eine wunderbare Aussicht in eine grüne Samtlandschaft, aus der ein weißer Nacken zärtlich hervorschaute wie der Apfel aus dem Laub; aber Herr Grazian spernzelte heute nicht nach dem Apfel, obwohl es natürlich nicht verhindert werden konnte, daß der Apfel nach ihm spernzelte, denn Fräulein Herdrix drehte sich nicht um.

Sie war das Sopransolo unter den englischen Stimmen und wenn sie sang, so wurde ihm gewöhnlich kalt und warm zugleich, ein Zustand, den er sich so wenig erklären konnte wie der Herr Wackler und der Pfarrer am Altar, die auch daran litten und wie die Herren unten in der Kirche, die immer heraufschauten, um sich's zu erklären. Und sie sang doch in einer toten Sprache, die sie nicht verstand: sie sang Latein, wo mancher acht Jahre hinterher ist und versteht es erst recht nicht! Aber die lateinischen Worte waren ihr gerade recht, denn sie war eine Heimliche und legte sich's auf ihre Art zurecht. Benedictus qui venit – das hieß zum Beispiel in ihrer Übersetzung: »Was für ein netter Mensch! Wie lange wird er sich's noch überlegen!« Und so sang sie eine Menge fürchterlicher Dinge, die jeder Christenmensch für hochheilig hielt und machte dazu die unschuldigsten Augen, Himmel! Das hätte der Herr Pfarrer wissen sollen, oder der Wackler oder der Herr hinter der Samtlandschaft! Sie aber sang unbekümmert ihr Credo, denn sie glaubte, daß er sie auch gern haben müsse, sie sang ihr Hosiannah, denn sie meinte, dann müsse er sie auch heiraten, und hatte damit immer den größten Erfolg. Wer kann das einem jungen Mädchen übel nehmen? Denn wenn sie einmal nicht ihre Träume sang, ihr Hoffen und Harren, dann hieß es gleich: »Na, Sie sind heut nicht recht disponiert, Fräul'n?« Oder: »Wohl zu viel getanzt? Bissel heiser?« Also blieb sie dabei und dem Herrn Grazian wurde jedesmal warm und kalt von der toten alten Sprache und das kam davon her, daß er sie nicht verstand, obwohl er im Gymnasium studiert hatte. So aber war Fräulein Herdrix von Gott geschaffen und da kann man nichts machen.

Er saß und guckte noch in die Luft, – da kam der helle Ton der Klingel vom Altarraum herauf, der Priester trat, das Haupt gesenkt, mit stillen Schritten, wie unkörperlich, aus der Sakristei, hinter ihm der Ministrant, und nach dem Kniefall stieg der Priester feierlich zum Hochaltar hinauf. Vom Chor sah man seinen Rücken, und im schimmernden Brokat des langen Meßgewandes ragte die Gestalt aus dem Kirchendämmer wie ein silberner Käfer. Als dann der Pfarrer die gütige schwache Stimme erhob und die gregorianische Weise anstimmte, die seit Jahrtausenden angestimmt wird, der Chor wie aus einem ehernen Munde antwortete, wurde es Grazian wunderlich zu Gemüte; es war, wie wenn die Kirchenmauern sich teilten, und er schaute hinaus ins Weite und in eine ferne Zeit.

Das war nicht mehr das Lustspiel Herrn Amandis …

Er schaute den Heiland am Tisch des Abendmahls: wie er das blutige Opfer des Fleisches aufhob und seinen Leib, sein Blut – Brot und Wein – zu einem neuen Opfer hingab: der reine Urstoff, daraus alle Kreatur entsprang, er sollte fortan alle Kreatur erhalten. Und Grazian ahnte, dies war nicht bloß einmal geschehen, die Tat blieb in der Welt. Die große Seele, die ihre Sehnsucht, für andre zu leben, durch ihr Sterben wahr gemacht, sie lebte, so oft der Priester Brot und Wein segnete. Dies war der Gipfelpunkt des ewigen Dramas, das jeden Menschen zum Gotte wandeln konnte. Und er fühlte heute, wie es auch ihn wandelte, und alle Minne weckte, wie es Ostern wurde in seiner Brust, wie es seinen Willen zum Werk erhöhte.

War er ein andrer? Nein. Aber in dieser Stunde entschied er sich heilig für seinen zweiten Ausweg. Und während sie auf dem Chor zu dem Mysterium, zum ältesten Weihekunstwerk dieser Erde, eine Hundemusik machten, wußte er: Nein! Wahnfriedrich hat mich nicht um vierhundert Gulden willen hieher geschickt, nein, dieser gute überschauende Geist hat mich vor eine neue Ehrfurcht gestellt, und ich will! Ich will eines Tages diese Messe feiern, daß alle Schmerzensmenschen sich um Gott wandeln. Ich will eine Musik machen, daß die Herzen auffahren zum Himmel, ich will – in diesem Augenblick sauste er aus dem Himmel seiner Absichten wie ein Stein auf die Erde zurück.

»Fräul'n Packl!« fauchte Wackler. »Jetzt kommen Sie daher?« Anklagend wie der ewige Richter hielt er der dürren Primadonna die Taschenuhr vor die Nase. Dann holte er den glühenden Stahl hervor und schleuderte ihn auf den Leib des eingeschrumpften Fräuleins. »Bitt' schön, Haerr Direktor, i' hab so viel die Strauk'n g'habt«, entgegnete sie eingeschüchtert und hatte das Zeugnis auf der Nase, denn die war rot wie eine geschwollene Kartoffel.

»Die Mutter hat eh' lamantiert und g'sagt, soll z' Haus – tschi prr! – tschi prr! –« Sie nieste zur Bestätigung, daß es knatterte wie bei einer Generalsleiche.

»Was gehn mich Ihre Strauk'n an?« knirschte Wackler, der in solchen Augenblicken das Vorrecht fühlte kränker als die andern zu sein. »Aber Engler! Engler! Mensch Gottes! Hörens denn gar nix? Sie schlafen schon wieder! Anfangen! Anfangen! Ja natirlich! Anfangen sollens! Fortissimo! Achtfuß!« Er wollte sich die Haare raufen, denn das Kyrie begann nicht, aber er besann sich wieder, da das Raufen auf technische Unmöglichkeiten stieß und keifte fort und drückte die Perücke nieder: »Fräul'n Packl, schauns, daß S' die Strauk'n unter der Wochen kriegen! Am Sonntag is' Dienst! Marsch! Ruhig!«

Schon streckte er die Hände zum Dirigieren wie Pius der Neunte als er die Wiener segnete, allein ein andres Ereignis verhinderte den Beginn: Herr Holzer kam. Und mit seiner Ankunft war die Sache erst eröffnet. Auf seinen Mienen war Denken und Herrschen gleich ausgeprägt, wie bei allen Menschen, die Heldentenor singen, und er grüßte Wackler auch so, indem er M! machte und die Hand an den Rand des Stößers legte. Dann setzte er sich mit der ihm zukommenden Majestät und sah die Noten an. Der saure Magen stieg Wackler ins Gesicht, doch Holzer stülpte den Kragen seines Überziehers auf, putzte ruhig seinen Zwicker und saß mit dem Stößer auf dem Denkerhaupt. Dieser nie abgenommene Hut war der Anlaß eines still geführten Krieges, und in offenbarer Verkennung seiner Formen nannte Wackler das Ding den Nagel zu seinem Sarge. Er hatte einige Male etwas von Kirche und Anstand geknurrt, aber ohne mehr zu erreichen, als daß Holzer sich umdrehte und zu den Bratschisten mit Beschwerdestimme sagte: »Kühl is' heut wieder herinnen! Was? Kühl! Prr! Schrecklich! Könnt' ma da net einheizen heroben? Wissen S', i hab aa kaue Haar' … aber Perücken trag ich niiiicht …! Verkühlen mag ich mich auch nicht! Steht m'r net dafür!« Diese Perücke mußte der arme Wackler schlucken und da Herr Holzer nur zum Vergnügen sang, wenn auch hauptsächlich zum eigenen, so war man machtlos und sein Zylinder mußte auf dem Chor geduldet werden, wie ein Geßlerhut.

»Engler! Kyrie!« schrie Wackler zitternd, um sich zu entladen, »was patzens denn herum? Kyrie eleison in drei Teufels Namen. Cis, Cis! Engler! Achtfuß –« und er versuchte von neuem die Gesellschaft zu segnen.

Das Kyrie begann und endete. Das Gloria begann, doch die Glastür ging noch einmal auf und herein schob sich Herr Bobak mit einem schwarzen Sack unterm Arm, worin er die Seelenruhe mehrerer Phlegmatiker zu tragen schien, und es war umsonst, daß Wackler seinen Stahl hervorholte, der nun schon weißglühend geworden war – umsonst! –, das Geschoß prallte ohne Wirkung ab, Bobak zwinkerte freundliche Ankunftsgrüße nach allen Seiten, trieb seinen Bauch vor, und indem er alle aufscheuchte, die ihm im Wege waren, zwängte er sich durch die besetzte Bank seinem Sitz zu.

Er entnahm dem Phlegmatikersack eine Trompete, probierte die »Ambaschur«, beutelte das Wasser heraus und drückte die Tute zwischen die Knie. Dann entfaltete er ein rotes Sacktuch, worauf schöne Bilder gedruckt waren wie auf einem Mandelbogen, und schnäuzte sich, was wie ein kleines Probestück seiner Blasekunst klang. Er rieb sich die Hände, deutete dem Kapellmeister an, daß ihn friere, hauchte in die Luft, beobachtete es und machte zu den übrigen: Prr, Prr!

»Sie! Ich wär' an Ihrer Stelle überhaupt nicht 'kommen!«, rief Wackler fiebernd, während er das Gloria leitete. Es war ihm zumute gewesen wie dem Reisenden, dem der Träger den Koffer nicht bringt und der Zug soll schon abfahren.

Bobak erhob die Trompete, fingerte darauf herum, kniff die Augen, blähte die Backen und sah den Kapellmeister mit einem liebevollen Karpfenmaul übers Pult an. Er blies etwas, was in der Trompetensprache zu heißen schien: Du bist mir wurscht, höchst wurscht!

»Sie! Ich an Ihrer Stelle wär' überhaupt nicht 'kommen!« rief Wackler deutlicher und herausfordernd. Bobak antwortete wieder, aber diesmal ohne Trompete. Er machte mit dem Munde Buchstaben und schien etwas Freundlich-Einladendes auszudrücken, wobei er die Hand an den Mund legte, damit es niemand höre, besonders die Damen nicht.

Aber es war abzulesen, und Wackler hatte gelesen!

Die Buchstaben Bobaks waren ihm in den Magen gefahren. Sie zwickten und beutelten ihn, daß sein ganzes Mannsgebäude schlotterte. Bald schraffierte der Taktstock eine Zeichnung, bald fing er Reifen in der Luft auf. Und plötzlich fuhr die andre Hand entsetzt an die Schädeldecke, denn die Perücke rutschte ab, näherte sich immer mehr der Nase und indem sie die Augen bedeckte, schuf sie oben eine fürchterliche Blöße.

Die Buchstaben Bobaks aber liefen auf dem Chor herum, wie die Hanswürste am Faschingsdienstag, sprangen in die Bänke, kitzelten den einen, stießen den andern in die Seiten, daß die Geige zitterte, zupften den dritten an der Kehle, daß er sein Gloria meckernd hervorstieß und der korrekte Herr Rhythmus, der bei einer richtigen Messe immer steif wie ein Aufseher herumgeht, krümmte sich vor Lachen und fiel hin. Die ganze Messe machte denn nun einen so feierlichen Eindruck wie das Fasselrutschen in Klosterneuburg, wo bald der eine, bald der andre oben ist – nur für Herrn Holzer, der sein Solo anstimmen sollte, war das Bild ein anderes: ihm drehte sich plötzlich alles vor den Augen wie ein Ringelspiel im Prater: umsonst suchte er sich wo festzuhalten und aufzuspringen – nein! – er erwischte es nicht mehr, alles drehte sich, und auf gut Glück wieherte er in die allgemeine Verwirrung, so daß der Pfarrer unten am Altare meinte, er höre das Röhren des nach Wasser schreienden biblischen Hirsches. Holzer wieherte unentwegt, er wurde rot vor Kraft, die Augen traten ihm hervor, Wackler, der mit den Händen schraffierte, stieß mit dem Fuß nach ihm und einmal, zweimal, umsonst, Holzer wieherte, Wackler stieß, endlich erreichte er des Sängers Wade. Sein Hampelmannbein glitt aufwärts zwischen beide Hemisphären und das Solo brach durch diesen Eingriff mit einem Knacks entzwei. »Aufhören! Aufhören!« wieherte wütend der gestörte Künstler. »Was is' denn das für a Manier? Steßen S' net! Geben S' lieber Takt!«

»Sie sollen aufhören!« zischte Wackler und schob an der Perücke, die nun nach hinten strebte. »Viel zu früh! Engler, Engler! Volles Werk! Alle Zungen!«

Der gute Engler komponierte gerade wieder an einer Oper oder war er vom Fasselrutschen gefesselt? – Kurz er hatte die Pausen verzählt und rollte die Daumen. Jetzt riß er die Augen auf, verzog den Mund zu einem breiten Grienen, daß man die Schwalbenschwanzzähne sah, strich rechts und links über seine Gastwirtsfrisur, dann prantschte er mit beiden Händen in die Tasten und ließ alle Zungen los. Mächtig brauste es hervor, wie wenn ein Dampfhahn aufgegangen wäre. Klingende Nebel verschluckten alles und quollen hinaus in den dämmernden weiten Kirchenraum. Die Orgeltöne schwangen bis zum Hochaltar vor, hallten donnernd zurück und schlugen bis zur hohen Wölbung auf, die von den halb weißen, halb roten Säulen getragen war. Dann fluteten sie breit hinab auf die schwarze Menge, die die Kirche füllte, auf die Gläubigen, die in den Bänken saßen, den Kopf zwischen den gefalteten Händen, oder die mit dem Gebetbuch an der Brust in den Nischen kauerten. Manche knieten vor den Seitenaltären im gelben Kerzenschein und sagten den Bildern flüsternd ihre Schmerzen; vor den Kußtafeln rangen andre die Hände um Erhörung, als sei der große Tag des Zorns gekommen und wer kann bestehen? Die Orgel aber brauste aus den Höhen in die Herzen wie ein gewaltig daherfahrender Wind und verkündete jubilierend die Freuden der himmlischen Stadt, die liegt jenseits von den Wolken und kennt keine Leiden. Eine alte Dame saß gerührt in der Bank und flüsterte zu Frau Wackler, ihrer Nachbarin: »Wunderschön is' heut wieder. Net? So viel schön? Ordentlich tanzen möcht' man!« Und Frau Wackler, die ihren Gatten für kostbar hielt wie den Thassalokelch von Kremsmünster, lächelte und nickte.

Oben aber ruderte Wacker hilflos auf den Wogen der empörten Harmonie herum. Die Leute jedoch gaben gar nicht mehr auf ihn Acht, sondern sahen nach einem ganz andern Manne, denn das erraten die Menschen am schnellsten: wer kommandieren will und wer kommandieren kann. Sie sahen nach Grazian. Als das Fasselrutschen im besten Gange war, war er aufgestanden, hatte die Leute fest angeschaut und hob den Arm zu einem kräftigen Bogenstrich. Seine Gestalt ragte gebietend hervor und er markierte den Takt mit Kopf und Fuß: das war wie bei der guten Uhr auf dem Stefansturm mit den springenden Minuten, nach der sich alle richten. Herr Holzer, der ängstlich an seinen Augen hing, bekam den Einsatz und sang frohlockend weiter – das Ringelspiel schien plötzlich abgestellt – die beiden schönen Laternen auf der Chorbank fingen wieder an und machten so vergnügte Gesichter, als hätten sie eben beim Sacher gespeist. Bobak grinste und schmetterte drauf los, kurzum, Grazian führte an seinem Bogen die Messe weiter und als das Gloria endigte, waren alle Stimmen zum Lobe des Herrn einig bis auf eine einzige, und dieser Häretiker war Herr Wackler.

Der wünschte Grazian zum Teufel, denn die Eingriffe des neuen Geigers wiederholten sich jetzt alle Sonntag und bildeten eine Anmaßung sondergleichen, und das magenverstimmende darin war: sie mußten geduldet werden. Aber Wackler duldete sie nur mit der Haltung des Papstes, der nie aufhörte gegen den Gewaltakt seiner Entsetzung zu protestieren und die Hoffnung auf einen souveränen Kirchenstaat bis heute nicht aufgab. Erschöpft ließ sich Wackler schließlich in den Stuhl sinken. »Wann ich net wär'!« sagte er im Märtyrerton zu Fräulein Packl, »wann ich net wär'!« und himmelte mit seinen Ziegenaugen. Fräulein Packl, die den kümmerlichsten Grashalm der Liebe nicht ungepflückt ließ, nickte ihm zu und nieste wie zur Bestätigung. »Helf Gott, daß 's wahr is'. Wann Sie net wären …!«

Holzer schielte Grazian an, und in Grazians Augen fing es lustig zu blitzen an. Er sagte halb zu Wackler, halb zu den andern: »Na also! Das ist recht. Da können wir ja nächstens den Bruckner aufführen! Nicht wahr, Fräul'n Packl?«

Wackler aber kämpfte um den verlorenen Kirchenstaat weiter. »Kriegens vielleicht Prozente dafür? Für Ihren Bruckner?« stieß er bissig hervor und wischte sich den Schweiß der Arbeit von der Stirn.

Alle schwiegen betreten. In diesem Augenblicke drehte sich das Fräulein mit der Samtlandschaft nach Grazian um und sah ihm ins Gesicht.

Er aber lächelte Wackler in die Augen, denn noch war er zur Hälfte seliger Dirigent; plötzlich aber schoß ihm der rote Zorn in die Wangen, denn er stand da als schäbiger Agent. Er setzte sich und antwortete etwas, aber niemand hat es gehört, denn es hatte vielleicht einige Verwandtschaft mit Bobaks stummen Buchstaben. Kaum war das Amt zu Ende, schoß er jäh hinaus.


Er drängte sich durch die Musiker, die den Vorraum hinter der Glastür schon besetzt hielten und mit Vorschußnehmer-Mienen auf Wackler paßten, denn gleichsam zur Sühne für seine Taten während der Messe fielen sie über ihn nach der Messe her: sie erzählten, erklärten, beteuerten und verlangten, und das Wort Vorschuß, das vom zartesten Flötenton bis zum mahnenden Posaunenstoß anschwoll, war das Thema dieses Nachspiels. Wackler, von allen Seiten umringt, kam sich wie Schneewittchens Stiefmutter vor, die zur Strafe in rotglühenden eisernen Pantoffeln tanzen mußte, während er den Musikanten wie ein knarrender Hausbrunnen erschien: an seinem Schwengel reißen die stärksten Arme und es gibt doch nur ein klägliches Gerinnsel. Besonders der geschneckelte Straschil handhabte den Schwengel meisterhaft und wurde nur von Bobak übertroffen, der um jede Dienststunde mit demselben Eifer focht, den Herr Feuerschein in jungen Tagen für alte Kleider aufgewendet hatte, weshalb der Vorraum hinter der Glastür im Munde der Damen die heilige Kreditanstalt hieß.

Grazian lief die dunkle Treppe in der Kirche hinab und näherte sich dem Ausgang, als sich hinter dem Torflügel ein Kopf hervor ins Helle schob und zwei Kirschenaugen ihm entgegenschauten: Fräulein Herdrix. Sie war die Flinkere gewesen. Teufel! Teufel! dachte er: »Geschwind zurück!« Aber schon zu spät! Es zitterte um ihren Mund possierlich und sie rief ihn sogar an: »Nein, das gibt's nicht!« rief sie, und fischte ihn mitten aus dem Gedränge!

Das war doch stark. Was hatte sie nach seinem Arm zu greifen? Hier vor allen Leuten? Im Hintergrunde spürte er ganz deutlich die erstaunten Augen des Fräulein Packl, die ihm nachschob, und vorne hielt ihn laut und ungeniert die Herdrix auf, und beide gingen ihn doch gar nichts an!

»Wollen Sie vielleicht davon? Sie, ich hab auf Sie gewartet! Jetzt müssen Sie schon mit!« Sie trug die Haare unternehmend schief in die Stirn hinein gekämmt, und wenn man genau in die Augen des kecken Frauenzimmers schaute, sah man hinter den Fenstern allerhand kleine Teufel sitzen, die lauerten und auf die Straße schielten. Sie schien sehr guter Dinge, als hätte es im Leben keine Lanzengefechte gegeben: das war wie ausgelöscht aus dem Buch der Geschichte.

»Fräulein Herdrix, Sie entschuldigen schon, aber ich hab wirklich keine Zeit, ich bin …« Er war vors Tor getreten und wollte sich empfehlen. Doch sie blieb ruhig stehen und jetzt lehnten sich die schwarzen Teufel ganz frech aus den Fenstern.

»Hören Sie, Geduld muß man mit Ihnen haben! Zappeln Sie doch nicht! Keine Zeit, sagen Sie? Also haben Sie sicher nichts zu tun, denn wer beschäftigt ist, hat immer Zeit für andre!« Sie hatte es heute offenbar auf ihn abgesehen, jetzt packte sie ihn nämlich am Ärmel und sprach wie die Lehrerin, wenn sie diktiert: »Sie gehen einfach mit und denken: ich muß mit dieser jungen Dame gehen, weil diese junge Dame mich nach Hause bringt. Und warum bringt diese Dame mich nach Hause? Damit ich einmal in der Woche pünktlich zum Essen komme. Also bitte! Nicht mit dem Fuß zappeln! Sie, dieser Fuß beleidigt mich!« Sie wurde wieder Lehrerin und diktierte weiter: »Warum jedoch ist diese junge Dame liebenswürdig und ich bin es nicht? Weil eine arme Mutter Christel da ist, die ihr sehr leid tut und mir, dem Sohn, nicht. Wissen Sie, was warten heißt, Sie Herr von und zu? Ihre Frau Mutter weiß es. Von der Tür zum Herd! Vom Herd zur Tür! Das Essen ins Rohr! Das Essen aus dem Rohr! Kommt er? Kommt er nicht? Schon halb zwei … Aber der große Herr läßt ruhig warten. Er denkt nicht an den Kalbsbraten, der vor den Augen einer Mutter verbrennt. Und jedes verbrannte Fettbröckerl geht ihr ins Herz! Deshalb, bitte, hab ich's heut versprochen – in die Hand hinein! –, daß Sie kommen! Und Sie, Sie müssen mein Ehrenwort auch halten!«

Grazian kam sich vor wie das Schaf am Halfter. Im Hintergrunde drohte das Fräulein Packl, vor ihm diese junge Dame mit dem Ehrenwort. Bös und bockig ging er mit und wär am liebsten grob geworden, denn dies Bemuttern war ihm noch unausstehlicher als die verlorenen Lanzengefechte, und Herr Wackler hatte für die richtige Stimmung gesorgt.

»In Gottes Namen also …« brummte er. »Aber nur ein Stückchen. Ich hab nicht Zeit zu streiten.«

Sie aber führte ihren Kavalier um die Kirche herum in den stillen verwinkelten Schulhof, und ihre Schritte hallten auf dem Pflaster, denn der Hof lag einsam hinter dem Gotteshaus, als lägen hier seit hundert Jahren alle vergangenen Feiertage beisammen. Und draußen brandete das Leben, lief die Zeit. Aus einem Strebepfeiler wuchs ganz oben ein kleiner, kleiner Götterbaum, der mit den Zweigen in das angegraute Nachbarhaus hinübergriff: selbst die Natur hatte sich in der steinernen Stadt ein Fleckchen gesichert wie die Liebe, die überall ihren Götterbaum pflanzt. Unten aber klebten zwischen den Pfeilern wie angeleimt, winzige Verkaufshütten, noch aus der Festungszeit der Stadt, wo man jedes Platzl, jede Toreinfahrt und jeden Winkel nützte, um einen Laden anzubringen, denn wenig Häuser waren damals gewachsen.

Die erste dieser blauen Holzhütten streckte ein weißes Schild vor sich, das sagte: Schuhmacher! Fast jedes Hüttchen streckte ein weißes Schild aus, und sagte: Schuhmacher! Und überall sah man die gebeugten Rücken der Handwerker hinter den Fenstern zwischen roten Pelargonien, denn Handwerk und gebeugter Rücken gehören einmal zusammen, dafür aber hing oben in der Ladentür am Draht das Vogelbauer, das die Leute wieder aufrichten mochte, so daß sie aus ihren Stuben immer wieder ins blaue Aug' des Himmels blicken mußten. Das war die Musik der Schuster. Eine Hütte war, die hielt gar, mit der Röhre abwärts einen dicken schwarzen Blechstiefel in die Luft und darauf stand mit weißen Buchstaben:

Dieser Stiefel steht verkehrt,
mit der Röhre auf der Erd'.
Kommt der Absatz auf die Erden,
wird es wieder besser werden.

»Dort will ich meine Schnüre kaufen«, sagte Herdrix und ging auf einen Laden der Schusterkolonie zu. »Bitte, laufen Sie mir aber nicht davon!«

»Nein!« rief er hastig und riß sie am Arm zurück, daß sie richtig erschrak. »Ich bitte Sie, hier nicht!«

Auf dem Schild stand der Name Wlk und starrte mit feindlichen Blicken her. Es war das neue »Stadtgeschäft« des Schusters, der den Betrieb vergrößert hatte und nun mit zwei Geschäften prahlte. Hier, wo er auf neuem Boden zuerst Fuß gefaßt hatte, war er selbst zu Haus, in Döbling, genügte der Gehilfe.

»Ja, was haben Sie denn? Stimmungen? Sie sind wirklich …« Die kleinen Teufel schauten etwas verlegen drein und verschwanden nach und nach.

»Fräulein, ich kann, … ich will es Ihnen auch nicht sagen. Aber das Geschäft ist mir so unsympathisch – wenn Sie wüßten – Sie sollen ja nicht nach meiner Pfeife tanzen, aber, ich bitte Sie, gehen Sie nicht hinein!« Das klang so sonderbar ernst, daß sie ihn verwundert anschauen mußte und die Lanze wieder senkte, die sie schon zum Gefecht gezückt hatte. »Also meinetwegen. Heut soll nicht gestritten werden«, sagte sie und ging auf das Hüttchen mit dem verkehrten Stiefel zu. Sie wendete sich aber noch einmal um und drohte lächelnd mit dem kleinen Zeigefinger: »Aber wirklich nicht davonlaufen, Sie!«

Grazian ging ein Stückchen durch den Hof zurück und wartete abseits, denn als er gekommen war, hatte er einen lieben Freund gesehen: den Wenzel. Der stand gerade in der Tür und wollte sich von seinem Vater verabschieden, gab aber dem Alten einen heimlichen Ellbogenstoß, sie schielten nach dem herankommenden Paar und zogen sich wieder zurück.

Grazian ging unruhig auf und ab. Gerade heute mußte der Wenzel frei haben, grad daher mußte er kommen – was hatte er hier mit dem Alten auszumachen? – Und dann dieses widrige Gesichtsauswechseln! Immer schnitt der Kerl höhnische Fratzen und klappte dann die Fensterläden zu, wie man hinschauen wollte! Die Mutter hatte ganz recht! »Vielleicht hab ich mich auch nur getäuscht«, dachte Grazian, um sich zu beruhigen, und während er sich einen Augenblick als den Sohn des Lehrherrn fühlte, suchte er zugleich das Benehmen des Wenzel als Ungeschicklichkeit und Unmanier des Gehilfen zu entschuldigen.

»Nun, bin ich nicht folgsam?« rief Herdrix, als sie mit ihrem kleinen Paket zurückkam. »Sie müssen sich ein Beispiel nehmen!« Sie führte ihn jetzt auf der andern Seite zurück, an den blauen Soldaten vorüber, die hinter der schwarz-gelb gestreiften Barre saßen. Immer saßen die Wachsoldaten hinter dieser Barre und Herdrix schaute sie gern an, denn die Waffenröcke waren so blau, als hätten die Herren Deutschmeister ein Stück vom Sonntagshimmel angezogen. Sie drehte sich noch einmal nach der Kirche und murmelte etwas und wiederholte es, wie um die Worte zu kosten: »zu den Stimmen der englischen Chöre … der englischen Chöre! Wunderschön, nicht wahr? Wie ein Akkord von Palestrina …!«

»Ja, ja,« seufzte er besserwissend, »der Name! Und drinnen glaubt man: das Korps der Rache ist beisammen!«

»Aber, wer wird denn gleich so boshaft sein!«

»Ich bitte Sie, liebes Fräulein! Das müssen Sie doch auch merken, das merkt ja der … entschuldigen Sie, ich meine: unten auf dem Tisch des Herrn dieses Opfer und oben auf dem Chor des Herrn Wackler dieser Pratertanz', dieser Tandelmarkt! Unten der Himmel, oben das musikalische Inferno. Ha!« Er hob den Arm und schlug plötzlich mit der Faust in der Luft jemanden tot. »Man sollte die Stimmen der englischen Chöre jauchzen hören zum König aller Könige und man hört das Patzen des Herrn Engler und das Wiehern des Herrn Holzer. Ich begreife die Geistlichen nicht …!« Und jetzt dirigierte er im Orchester, stieß die Arme auseinander und begeisterte die Blechbläser zu einem Crescendo. Aber Herdrix hielt es für einen neuen Totschlag. »Überall is' heut Sonntag, nicht wahr? – Nur da oben nicht! Diese Messen! Diese ausgezogenen Strudelteige! Stehle! Brosig! Und der Schrecken aller Schrecken: Witt! Ist das nicht um Junge zu kriegen? Entschuldigen Sie! Alle Jahr einmal ein Haydn und dann heißt's: alte Kiste. Niemand redet ja so zynisch über die Musik wie die Musiker. Sonst lauter Meßfabrikanten: Und diese Musik muß die Leute auch zu Schustern machen. Was soll denn auferstehen aus der Tiefe, wo lauter Oberfläche ist? Wirklich, der Bruckner trifft den Nagel auf den Kopf: wenn den Herren Komponisten schon gar nix mehr einfallt, dann heißen sie's – kirchlich! Pfui Teufel!« Und wieder geschah ein Totschlag, so daß Herdrix für die Menschen zu fürchten anfing. »Schauen Sie, Fräulein, ich achte jede Arbeit, ich habe meinen Vater sein ganzes Leben hämmern gesehen und weiß, was arbeiten heißt. Ich achte auch die armen Teufel, die am Sonntag da unten in ihren Hütten werkeln und Stiefeln machen, die man tragen kann. Aber die Künstler, die am Chor werkeln und Stiefeln machen, die man nicht tragen kann, das sind die wahren Schuster, die soll der Teufel holen. Eine Idee muß bei jeder Arbeit sein: die macht die Arbeit erst zur Tat!« Jetzt hatte er schon viel Erschlagene beisammen, daß die Leute stehen blieben und ihm nachschauten.

»Sie, das war aber eine noble Arie. Saperlot!«, sagte sie und schaute der arbeitenden Faust zu. »Und das Beste ist: – Sie haben nämlich gar nicht Recht! Nicht ein bisserl! Ich find's nicht so schlecht. Nein, schauens nicht so wie ein Professor, ich kann mir nicht helfen: so ganz schlecht kann ich selten etwas finden. Sie verlangen eben Gott weiß was; und vergessen, daß jeder Mensch ein bissel eine Phantasie hat. Und mit der Phantasie is' das so wie mit einer alten Stockuhr: man zieht ein bissel am Schnürl und das ganze Märchen bewegt sich und klingt. Und so sitzen die weißen Mutterln unten in der Kirche wenn die Orgel spielt, die sehen, wie der Himmel aufgeht, und die Mutter Gottes ist in der Wolkenglorie mit ihrem lieben Sohn – das glänzt von Gold und Seligkeit – und da huscheln sie sich hin und denken an ihre lieben Herrn Buben, die ihnen alle so viel Freud' machen … und oben patzt meinswegen der Herr Engler. Was geht der Herr Engler die Mutterln an? Man braucht nie zu wissen, wie's gemacht wird, und soll's auch net wissen. Ein bissel am Schnürl ziehen, und genug, Sie Herr Professor! Der übernächtige Engler is' allerdings eine kostbare Nummer!« Und sie hob die Augen und lachte, denn sie sah ihn noch, wie er an der Orgel tunkte.

»Ja, Fräulein, wenn Ihr Maßstab die alten Weiber sind –« Er zog den Kopf bedauernd zwischen die Schultern, »ich weiß nicht, ist das Ihr Ernst oder wollen Sie mich nur frozzeln …« Er erhob die Stimme und sagte mit Nachdruck: »Das traurigste nämlich ist, und das bringt mich jedesmal wieder auf: mit denselben Schustern, mit denselben Herren Bobaks, Englers, Holzers und wie sie alle heißen, ließe sich was Anständiges machen! Was Großes sogar! Verstehen Sie? Dazu brauchts aber einen Willen, einen Führer, eine Idee, aber nicht den Herrn Wackler, denn –« In seinen Augen wetterleuchtete es, denn ein Gewitter zog sich in seinem Kopf zusammen: die Prozente für den Bruckner waren ihm eingefallen.

»Immer sind Sie unzufrieden,« unterbrach sie ihn, »in die Oper gehn Sie nicht – kein Stil! Zeitung lesen Sie keine – der Hanslick, der Speidel! Kirche, Wackler – Oberschuster, über alles ziehen Sie los, und schließlich wird Herr Grazian Herrn Grazian vernichten. Kritisieren ist leicht, besser machen schwer …!« In ihrem Gesichte hatten sich wieder die schwarzen Teufel eingefunden und schielten dreist zum Kritiker hinauf. Der aber, der aber bemerkte nichts, sondern fing zu donnern an: »Ach was! Es gibt Unzufriedenheiten, woraus was wird, und Unzufriedenheiten, die nur sich selbst und andern lästig sind. Da soll ich wahrscheinlich Jahr um Jahr sitzen, solang ich jung und gesund bin und soll dem alten Raunzer zuschauen und darf nichts tun und muß mir »Agent« sagen lassen und wenn mir einmal die Zähne ausfallen, die Perücke rutscht und ich den nötigen Sinn für Kleinlichkeit hab', dann bin ich reif genug! Wie lange muß man arbeiten, bis man nur arbeiten darf! So ist mein liebes Wien: lauter alte Herren!« Und nun brach das Gewitter aus und pumperte und krachte: »Ich bin für Abschaffung der Alten-Herren-Wirtschaft! Perücken weg! Jugend herein! Wackler hinaus!«

Sie lachte aus vollem Halse, während er durch die schwarzen Gewitterwolken hindurch seine fernen tausend Gulden schimmern sah. »Jetzt sind sie echt! Der reine Wahnfriedrich! Das ist seine Schule!« rief sie. »Und weil wir grad' vom Wahnfriedrich reden – nehmen Sie mir's nicht krumm – aber dieser Herr hat Sie jetzt ein bissel stark auf dem Gewissen! Das ist ein Fanatiker und alle Fanatiker sind unpraktisch! Schauen Sie, er hat Sie doch unter diese Schuster gebracht, nicht wahr? Er? Was sollen Sie in der Kirche? Was wollen Sie dort? Ich fürchte, Sie werden wieder zwei Jahre an Ihrer Vorgeschichte arbeiten, nicht an Ihrer Geschichte. Und Ihre Frau Mutter hat schon an dem Amandi genug … aber, bitte, springen Sie doch nicht so! Die Leut' glauben ja, wir sind ein Ehepaar …!«

Jetzt mußte es eingeschlagen haben, denn er wurde feuerrot, die Flammen lohten: ein fürchterlicher Dachbrand. »Das sagen Sie?« Er blieb stehen und zwang sie auch dazu. »Fräulein Herdrix, die Kirche ist mir heilig geworden! Und ich kritisiere, weil ich sie besser haben will! Aber, was red' ich! Was wissen Sie von mir!« Was wußte sie auch von seinem schweren Gang, was von dem fernen Tausendguldenziel! Plötzlich sagte er: »Über mich können Sie lachen. Ich bin ja der Niemand. Über den Wahnfriedrich aber lachen Sie nicht! Der ist mir auch heilig. Habe die Ehre Fräulein. Ich empfehl' mich!«

Er zerdrückte seinen Hut in der Hand und schob entrüstet auf die andre Seite. Da hatte sie's nun. Er ließ sie stehen. Blamierte sie vor allen Leuten. Sie raffte ihr Kleid und wollte ihres Weges gehen, als sei nichts geschehen. Aber plötzlich ging es nicht. Aus einem Augenwinkel versuchte eben wieder ein letzter schwarzer Teufel hinüberzuschauen, allein es war ein feuchter Schleier vor dem Fenster. Der Schottenring öffnete sich, und durch die feindurchbrochenen Türme der Votivkirche schimmerte das ferne Himmelsblau, und unten am Ende der Währingerstraße schaute der Dreimarkstein mit seinem grünen Spitzhütel mitten in die Stadt hinein. Es war ihr auf einmal so, als müsse sie sich an eine Hausmauer lehnen und heulen, denn das jauchzte in ihr nach dem ungeheuren Glück mit einem lieben Menschen da draußen auf den Pötzleinsdorfer Wiesen dem Sonntag so recht ins Gesicht zu schauen oder wenn es nur auf einem Bankerl im Park gewesen wäre. Nur mit einem lieben Menschen in den Sonntag schauen! »Jetzt kommt er auch noch zu spät zum Essen« dachte sie, »und die Christel wird mich anschauen. Blamiert auf allen Seiten! Ach diese Musikanten! Eine reizbare Gattung. Aber noch reizender bin ich!« Und Fräulein Herdrix ärgerte sich über Fräulein Herdrix wie Grazian als er das Lanzengefecht verloren hatte, denn jedesmal, wenn sie recht lieb sein wollte, aber schon recht lieb, wie sie es sein konnte, dann saßen sicher alle Satane in ihr. Es war schrecklich.

Plötzlich fühlte sie, jemand schob den Arm in ihren Arm und führte sie ganz gemütlich. Sie sah sich um – mit einem Rückchen blieb sie stehen und schüttelte ihn schlängelnd ab.

»Sie entschuldigen, Sie irren –« Sie maß den Führer mit einem kühlen, spitzen Schnäuzchen und zwang ihn durch ihr Stehenbleiben weg. Allein der Jemand griff ganz dreist nach ihrer Hand und legte ihren Arm wie eine Sache in den seinen und zog sie stumm mit fort.

»Herr Schwerengang, erlauben Sie, wer gibt Ihnen denn das Recht, sich einzuhängen? Wir sind doch – – Sehn Sie, das versteh' ich wirklich nicht. Ich bin eine junge Dame, die Sie gar nichts angeht. Adiöööh …« Sie trippelte mit zimpferlichen Schritten und taktierte mit dem Kopf, denn sie sang mit ihrer feinsten Stimme hinter den Lippen »O, schöner Mai« von Johann Strauß, und der Walzer lief über die grüne Samtlandschaft, und die ganze Landschaft wiegte sich.

»Aber, liebes, gutes Fräulein, hören Sie doch – – Sie singen herrlich. Aber warum singen Sie: O schöner Mai? Bei mir ist Aschermittwoch! Schauen Sie, wenn ich Verstimmungen bei Menschen zurücklasse, die mir nicht ganz gleichgültig sind und dazu an einem so schönen Tag, dann kann ichs selbst nicht aushalten, dann muß ich Buße tun, niederknien und schön bitten: sein S' wieder gut, solang' bis ich wieder ein gutes Gesicht sehe!«

Der schöne Mai setzte sich fort.

Nun muß man wissen, daß Fräulein Herdrix eine Hallelujahstimme besaß, auch wenn sie ganz leise sang, und eine Hallelujahstimme ist nicht wie die erste beste Stimme, sondern klingt so wie die berühmte Orgel des Frescobaldi, der dreißigtausend Menschen zugehört haben; und dann vermag eine solche Stimme auch Maiensonntage zu machen, wenn in einer Seele gerade Aschermittwoch war. Das muß man wissen, und das war es auch, weshalb Grazian sich mitbettelte und immer mehr Maiensonntag in seiner Seele wurde, und weshalb er flehte und flüsterte: »Nie sind Sie lieb zu mir … nie … unter der Esche neulich, Sie wissen schon, und damals bei Zontides …« Und ganz leise in einem Pianissimo, wie es nur die Wiener Philharmoniker zusammenbringen, fügte er hinzu: »Pomeranzenmädel«.

Während sie ihren Walzer sang, mußte ihr Arm vergeßlich geworden sein, denn er blieb im Arme des Herrn Grazian liegen und fand es dort ganz schön und behaglich.

»Erinnern Sie sich noch? Auf dem Hausball bei Zontides in der Weihburggasse? Das sind so nette, feine Leute. Und haben mich gar nicht fühlen lassen, daß ich nur ›der Klavierspieler‹ bin. Die halbe Nacht war ich am Klavier und Sie – immer in einem andern Arm. Die Fräulein Zontides auch. Die sind aber zu mir gekommen, Sie – nicht einmal! Am Schluß, um drei Uhr früh, gibt mir der Hausherr fünfzehn Gulden. Das Honorar. Die ganze Zeit war ich Gast. Jetzt war ich wieder ausgeladen. Doch nur der Klavierspieler –«

Da unterbrach sie den schönen Mai und schwieg nachdenklich. »Was man sich ehrlich verdient, kann man immer nehmen, pflegt meine Schwester Clemy zu sagen …« Dann schwieg sie wieder.

Es kam ihm so bekannt vor: das war ja – ja damals auf dem Pantzerfeld war das gewesen, als er zum ersten Male … So viele Jahre war das her. Er schaute die Kleine mit dem Dirndlhut jetzt von der Seite an. Wie sah sie ihrer prangenden Schwester ähnlich, um die er damals so viel Schmerzen litt! Wo war das alles? Aber lebte es nicht fort? War diese Stunde auf dem Felde nicht der Anfang seines Schicksals gewesen? Die Dame Clemy wirkte aus der Ferne! Aber Herdrix! Ja die war ganz anders: sie wirkte immer tiefer, je näher man ihr kam. »Fräulein,« sagte er und seine Stimme bebte im Gestehen, »es mag so sein wie Sie sagen. ›Was man sich ehrlich verdient …‹ aber doch – ich habe mich geschämt. Ich hab' mich früher oft schämen müssen. Und Ihnen will ich's anvertrauen …«

»Und ich, Herr Grazian,« antwortete sie mit sinkendem Ton und schaute weg, »ich hab' mich auch geschämt. Ein Mensch wie Sie!« Und sie nahm seinen Arm fester und legte ihre Hand darauf. »Aber heute hab' ich mich gefreut: wie Sie die Messe gerettet haben. Sehen Sie, es kommt immer auf die Wirkung an: der Wackler ist wütend, aber die Messe ist gerettet!«

»Herdrix, wirklich, du hast dich – ich hab' immer geglaubt, du – Herdrix!«

»Jetzt ist er schon per Du mit mir! Der Herr Klavierspieler!« rief sie und wölbte die Lippen entrüstet, »und er hat immer geglaubt … nun, kann ich gar nicht lieb sein?« Sie schaute ihm mit ihren Kirschenaugen sehr schief und sehr zärtlich ins Gesicht, und er fand, daß er früher den falschen Glauben gehabt haben müsse, und daß es auf der ganzen Welt nichts lieberes geben könne, als die beiden Kirschenaugen, in die er sich jetzt vertiefte. Und er rief laut: »Pomeranzenmädel!« und es beleidigte sie gar nicht, und dann erzählte er, und erzählte ihr gleich sein halbes Leben: die Geschichte von den zwei Auswegen und die vom Alexanderzug und von der großen Wandlung in der Kirche – und alles, alles – weil er sich vor ihrer Schwester so geschämt hatte, weil es Wohltaten gibt, die einen Stachel zurücklassen. Und nun fing auch sie mit ihrem Leben an: wie sie der Schwager Godler gekränkt hatte, weil er so eigentümliche Bemerkungen über Grazian machte, und wie weh ihr das getan habe und wie sie sich an der Quelle selbst erkundigen wollte, damit sie mit reinem Gefühle antworten könne und wie sie es leider so ungeschickt angepackt hätte, daß Grazian und Herdrix, jedes auf einer andern Seite gingen, und sie sollten doch zusammengehen. »Nicht wahr, wir sollten doch zusammengehen?!« Und so begannen sie nun gleich damit und wanderten zusammen und schauten dem schönen Sonntag so recht tief ins Gesicht und dann und wann auch sich selbst, und das war immer häufiger, und die Leute, die ihnen entgegenkamen, hatten keinen Grund mehr, sie für ein Ehepaar zu halten.

»Du,« flüsterte nach einer Weile Herdrix, »ich war gestern beim Wahnfriedrich. Er läßt dich grüßen. Du sollst nur ruhig aushalten. Deine Zeit wird kommen. Hat er gesagt. Alles hab' ich erfahren. Auch von deinem Alexanderzug. Du …« Sie drückte den Kopf weg, wie wenn ein Schulmädel einen Klaps fürchtet. Er aber, er packte sie auf einmal um die Hüfte, und eh' sie sich besinnen konnte, zog er sie ins nächste Haustor, das da offenstand, nahm ihr Gesicht wie eine Sache und küßte drauf herum, bis ihm der Atem ausging, denn er hatte massenhaft, er hatte eine für alle zu küssen, und das verlangte seine Zeit. Als er endlich aufhörte, da zeigte sich, daß sie den Atem noch lange nicht verloren hatte, sie wartete noch immer, nur die Augen waren zugefallen, und statt der Teufel lächelten unter ihren Lidern lauter kleine Engel.

Der Herrgott in seinem Regenbogenpalast, der bei solchen Dingen gerne zuschaut, rieb sich die Hände und rief mit einem lauten Hallelujah alle Engel zusammen, und die Chöre der englischen Stimmen schallten, daß ein Klingen in der Luft ward und die Menschen stehen blieben und sagten: »Ja, der Lenz ist da, und die Natur erwacht.« Ja, wenn zwei einander küssen und nicht aufhören können, das sind so die Tage, wo es dem Herrgott gut geht und wo ihm die Welt am meisten gefällt, denn dann küßt die Welt sich selbst, und wenn es auch unter einem Haustor in der Nußdorferstraße ist. –

Frau Christel hatte nie so lang gewartet wie an diesem Sonntag. Es wurde eins, halb zwei, es wurde zwei, das Essen hatte alle Wärmegrade durchgemacht, und sie war vom Herd zur Tür und von der Tür zum Herd gelaufen. Heut kam er überhaupt nicht. Wieder einmal hatte sie umsonst gekocht. Und zur Sicherheit ging doch das Fräulein eigens mit! Nicht einmal das verfing.

Auf einmal flog die Tür auf und Grazian stürmte auf sie zu und schüttelte sie und tanzte und schrie wie ein Besessener, was ihm die Singerin vorschrie: »Wer ein holdes Weib errungen …!« Aber es klang ganz anders und lautete für die Christel weit verständlicher: »Mutter, einen Riesenhunger hab' ich! Nur her damit! Nein, wie man immer aufgehalten wird! Schrecklich! Schrecklich! Nur schnell! Ich kann nicht warten! Einen Riesenhunger!«

Und er entzückte sie an diesem Tage durch einen Appetit, dem kein Braten zu klein und zu verbrannt war, und der alles Fragen aufhob und alles Warten zehnfach aufwog.


Ein Geschäftsmann, pflegte Ambros Schwerengang zu klagen, kommt mir vor wie der berühmte Blondin in der Rotunde. Er lebt auf einem Seil. Er geht und läuft und kocht und ißt auf einem Seil; es schaut natürlich aus und ist doch jeden Augenblick ein Kunststück: je höher, desto größer die Gefahr. Alle schauen ihm zu, und wenn er ausrutscht, kann ihm keiner helfen.

In der Tat hatte Schwerengang ein Recht so zu klagen, obwohl sein Geschäft mit einem Titel auf der Stirne prangte, und mit einer Jahresuhr und einer Zeittänzerin geschmückt war. Aus dem vorläufigen Gemeindelieferanten war schon längst der dauernde geworden, und der alte Krutz fristete kläffend ein kümmerliches Dasein: nur wenige von seinen alten Kunden waren, aus Treue oder Mitleid, seine Anhänger geblieben; die meisten waren Kunden Schwerengangs geworden. Er bediente jetzt die Rentner aus der Hermannstraße und die Schwerfuhrwerker aus den Ziegeleien und war des Herrn Peter Maxintsack Privatuhrmacher nach wie vor. Er hatte zwei Gehilfen und einen Lehrjungen im Laden sitzen und wurde noch öfter als früher aus seiner Zeitung aufgescheucht. Aber wenn er's recht betrachtete – einen Augenblick der Sicherheit, des behaglichen Genießens hatte er doch nicht gehabt und durfte wirklich von einem fortgesetzten Seiltanzen sprechen.

»Alle andern Stände fordern Sicherheiten vom Gesetz und bekommen sie, beim Geschäftsmann ist es umgekehrt: da kommt der Herr Staat mit der offenen Hand, die Geschäftsfreunde kommen und verlangen Sicherheiten, und niemand fragt, woher. Jeden Morgen steigt man von neuem auf sein Seil und die Sorgen stoßen einen bis man herunterfällt.« So pflegte er zu sagen.

Aber nicht die Steuern, nicht die Zahlungen, auch nicht die Schuldigbleiber bildeten die größte Sorge, so schwer es war: die größte Sorge saß in seinem eigenen Gewölb und hieß Wenzel Wlk. Sie war es seit dem Tage, wo der Wenzel nicht mehr »Küß' die Hand« sagte wie jeder Gehilfe, sondern nur: »Morgen!« Schwerengang war übersiedelt, und der alte Wlk hatte ihn gebeten und gebeten und so hatte der Uhrmacher den Wenzel in Gottes Namen als Lehrjungen mitübersiedeln lassen und obwohl der Junge sich mit der Christel und dem Grazian an einem Tisch recht schwer vertrug, so zeigte er doch eine Anstelligkeit, ja Pfiffigkeit, die ihn wertvoll machte, weniger freilich im eigentlichen Handwerk, das er nur lässig lernte, weil er dafür keine Hand zu haben schien, als im geschäftlichen Betrieb. Die Christel mochte ihn nicht leiden, weil er sonderbare Augen hatte, weißliche Augen wie Opale, durch die man nie hindurchschauen konnte, und Opale sind doch Unglückssteine. Aber dennoch mußte sie gestehen: der Wenzel war ihr schärfster Konkurrent. Seine Phantasie war noch erfinderischer, seine Zunge noch geläufiger, und er beschwatzte mitunter die Kunden so, daß die Christel selbst den Zeigefinger heben mußte. Sie belehrte ihn, es hat alles seine Grenze, und über einen bürgerlichen Gewinn soll man nicht streben. So kam es, daß sich der Wenzel Wlk im Hause Schwerengang eine feste Stellung schuf: er kannte alle Kunden, kannte ihre Eigenheiten, kannte Preise, Kniffe und Geschäftsgeheimnisse, rückte nach der Lehrlingszeit zum Gehilfen auf und blieb nach der Gehilfenzeit im Laden weiter als Faktotum. Er kommandierte gern und behandelte den andern Gehilfen und den Lehrjungen, als ob er selbst der Herr sei.

Außer in Geschäften redete er niemals viel und pflegte leise vor sich hinzulächeln, wenn er unbeobachtet war. Andre Gehilfen flüsterten in schönen Sommernächten mit weißbeschürzten Stubenmädchen die Leibenfrostgasse hinab, oder saßen in der Schloßgasse auf den Bänken bei der Schönen Aussicht; der Wenzel saß in seiner Schlafkammer bei den Büchern, die Schwerengang ihm gab, vor seinem Fenster hing ein dunkles Tuch und vom Hofe sah man dahinter die Kerzenflamme wie eine glühende Dolchspitze schimmern. Er selbst war unsichtbar, er wollte sich nicht stören lassen. Fleißig war der Wenzel, das mußte man ihm lassen. Aber dennoch tat der Meister manchen stillen Seufzer, daß er seinen Sohn nicht im Geschäft hatte, denn bei aller Pfiffigkeit und Findigkeit des Wenzel – eins vermißte man, was diese Tugenden geadelt hätte. Er hatte diesen Buben aus der Schusterhöhle genommen, wo ihn der Vater prügelte, während die Mutter lieblos zusah; aber davon sprach der Wenzel all die Jahre her auch nicht mit einem Wort. Er war nicht anhänglich. Man hatte überhaupt den Eindruck: ob er zum Meister, ob er zu einem Kunden sprach, die Worte, die er sprach, waren gar nicht seine Worte, es war nur Auslage, nur Arrangement. Selbst wenn es richtig klang, klang es doch nicht aufrichtig, man kam ihm niemals nahe, nichts war recht faßbar, eine Glaswand trennte ihn von allen Leuten, und Schwerengang war nicht der Mann, der mit dem Hammer dreinschlug. Er hing zum Teil vom Wenzel ab und war sein Meister, aber – das mußte er sich sagen – nicht sein Herr. Er hatte ein Gefühl wie es der König Wladislaw gehabt haben mußte, als ihm die böhmischen Großen in aller Ruhe sagten: Du bist unser König, wir aber sind deine Herren. Und so etwas wollte auch Wenzel sagen, als er eines Tags mit seinem widrigen eiskalten: »Morgen, morgen!« anfing. Der Christel war ihr »Herr Gehilfe« längst ein Dorn im Auge. »Wenn er nur gehen möcht'! Gotigkeit! Wir werdens auch ohne seiner richten. Er glaubt, er is' unersetzlich. Wer is' denn unersetzlich? Wann wir den schon los wären!« So brummte sie halblaut durchs Haus, doch der Wenzel ließ sie brummen, er tat nichts dergleichen, er lächelte stets vor sich hin, wie wenn er etwas abwarte. Endlich riß der Christel die Geduld. Eines Nachmittags, als der Wenzel bei Kunden war und die Uhren aufzog, ging sie heimlich in seine Kammer und öffnete den Koffer. Was sie darin fand, schien ihren Verdacht zu bestätigen, indem es ihn vermehrte. Denn sie zog zuerst ein Sparkassenbuch hervor und sah verwundert eine größere Einlage. Sollte er von seinen zehn Gulden wöchentlich so viel erspart haben? Sie wühlte in der Wäsche und suchte weiter. Plötzlich fuhr sie auf. Sie hielt drei silberne Uhren in der Hand. In den Deckel jeder Uhr war ein Zettel eingeklemmt und darauf stand mit ungefüger Schrift der Name des Besitzers: Herr von Meißlinger. Herr von Hochsinger. Herr von Kuffner. Drei ihrer besten Kunden. Der Wenzel besserte also ihre Uhren für eigne Rechnung und bediente sich des Werkzeugs seines Meisters. Er »pfuschte«. Es war Hochverrat.

Schwerengang war tief erschrocken. Doch er rief: »Das darfst du nicht! Du darfst ihm nicht den Koffer öffnen! Das ist nicht anständig!« Die Christel lachte ihm ins Gesicht. Anstand einem solchen Gauner gegenüber? Bei einem Treubruch wie bei diesem hört der Anstand auf! Wer hinterlistig ist, muß auch mit Hinterlist behandelt werden. »Das macht er in der Nacht!« Und sie hielt ihm die drei Uhren vors Gesicht. »Du mit deinen Bücheln! Der lacht dich hint' und vorn aus. Bücheln! Bücheln! Und er pfuscht!«

Der Meister sah es ein und stellte, wenn auch widerwillig, den Wenzel zur Rede. »Warum sagen Sie mir's nicht? Wenn Ihnen der Verdienst zu klein wird, nun so können Sie in Gottes Namen hie und da für Ihre Rechnung arbeiten: ich erlaub' es Ihnen ja. Aber hinter meinem Rücken! Ist das anständig? Selbst was Sie offen tun könnten, tun Sie heimlich!« Es war der stärkste Vorwurf, den ihm der Meister bisher gemacht hatte. Der Wenzel blickte mit den weißen Augen auf den Fußboden, als wollte er die Länge der Ritze messen und schwieg. »Überhaupt« – die Stimme des Meisters wurde etwas unsicher, denn er wollte nicht verletzen – »ich halte Sie ja nicht. Wollen Sie sich denn niemals selbständig machen? Ich hätte es an Ihrer Stelle längst getan. Sie werden doch nicht ewig Gehilfe bleiben wollen? Oder lernen Sie noch etwas, gehn Sie in die Schweiz, wenn Sie's mit dem Geschäft nicht wagen. Sie müssen wissen, was Sie wollen. Nun?«

Die Christel lauschte hinter der Zimmertür. »Endlich sagt er's ihm. Wenn nur der Kerl schon draußen wär'!« Aber der Wenzel schwieg und lächelte beleidigend, und sie zitterte vor Ärger.

Die Dinge sollten ihr zu Hilfe kommen und zwar schneller, als sie es erhoffte. Nach dem Auftritt mit dem Meister bat sich der Wenzel öfters den Abend aus und statt in seine Kammer, ging er hinüber in die Leopoldstadt, wie er sagte, zu Verwandten in der Floßgasse, und die Christel war schon froh, daß sie sein Gesicht wenigstens am Abend nicht mehr sehen mußte.

Eines Morgens fuhr der Meister überrascht aus seiner Zeitung auf. Das war doch – und er las noch einmal: »Rauferei in der Obcanska Beseda. Gestern nacht fand in der Floßgasse vor dem Lokal der Obcanska Beseda wieder eine blutige Rauferei statt. Mehrere Mitglieder dieses tschechisch-nationalen Vereines provozierten die Vorübergehenden, es kam zu einem Wortwechsel, worauf die Deutschen angefallen und durch Steinwürfe und Stockdegen verwundet wurden. Die Angreifer waren zumeist tschechische Gehilfen und Kommis. Einige sind verhaftet worden, darunter die Rädelsführer Srb und Franek, andre wurden nach Abgabe des Nationales entlassen wie die Gehilfen Svoboda und Wlk.«

Da riß endlich auch dem Meister die Geduld, der rote Jähzorn flog ihm ins Gesicht. »Das sind Sie!« rief er dem übernächtig aussehenden Wenzel zu und schlug mit der Hand auf das Blatt. »Leugnen Sie nicht! Ich kenne Sie. Schauen S', wie Sie sind: Sie politisieren mit Ihren böhmischen Radaubrüdern – den Stockdegen in der Hand – und mir erzählen Sie, Sie gehen zu Verwandten! Pfui!«

Der Wenzel, der ein kleines Kuchelbad in der Floßgasse angerichtet hatte, suchte die Sache zu drehen. »Sind auch dort Verwandte!« antwortete er und nahm eine finster-einschüchternde Miene an. »Muß mir Kundschaft suchen. Sie schmeißen mich hinaus!« In der Kürze und im Ton lag dieselbe Frechheit wie in seinem: »… Morgen!«

»Also, Sie wollen gehen?«

Er warf die Achseln und strich den dünnen Schnurrbart. »Weiß noch nicht.« Seine Augen waren wie blinde Fenster.

»Machen wir ein Ende jetzt! Wir passen nicht zusammen. Suchen Sie sich einen andern Posten und wenn Sie so weit sind, dann können Sie halt gehen. Mehrere Jahre waren Sie in meinem Haus: ich will Sie nicht grad entlassen, wie Sie es verdienen, aber …« Der Meister legte die Hände auf die angegrauten Schlafen, sein Atem ging laut und schwer. Er setzte sich und rang nach Luft. »Mußt dich net so aufregen wegen dem da,« beruhigte ihn die Christel. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter und maß mit zornfunkelnden Augen den Wenzel. »Du warst viel zu gut mit ihm! Jetzt wird er andre Meister kennen lernen, die werden ihn karniffeln, und ich wer' lachen!«

Nach ungefähr vierzehn Tagen – es war am ersten Juni – schien der Wenzel Ernst zu machen. Ein Dienstmann kam und holte seinen Koffer. Er selbst ging schweigend zur Tür, grüßte flüchtig, wie wenn er nur einen Geschäftsweg besorgte, und nicht seinen alten Lehrherrn für immer verließe. Kein Wort des Dankes kam über seine Lippen. Halb schon draußen kehrte er sich um und knurrte durch die Zähne: »Na, auf Wiedersehen!«

Es klang bös und unheimlich wie ein Fluch.


Einige Wochen waren vergangen. Vom Wenzel hatte man nichts mehr gehört. Da stürzte eines Morgens die Christel mit ihrem Korb hoch erregt ins Gewölb. Sie kam vom Einkauf auf dem Theresienplatz und mußte eine fürchterliche Neuigkeit erfahren haben, denn sie kam mit leerem Korbe, warf ihn hinter die Zimmertür, kehrte sich sogleich zu ihrem Mann und fragte mit bebender Stimme: »Weißt schon das Neueste? Der Wenzel hat aufg'macht!«

»Interessiert mich nicht, der Wenzel«, antwortete der Uhrmacher abweisend und arbeitete gebückt am Werktisch weiter.

»Na wird dich schon int'ressieren. Weißt, wo? – – In Döbling!« Sie stellte sich dicht vor ihn und suchte seinen Blick. Er nahm die Lupe aus dem Auge und stand auf. »In Döbling sagst du? Bist denn g'scheit?«

Sie bereute ihre Hast und wagte nicht zu sagen: wo. Denn es war schrecklich anzusehen, wenn er sich erregte und, auf die Handteller gestützt, nach Luft rang. »Wo, Christel, wo? Bitt dich, sag' mir's gleich!« Die Christel brachte erst den Inhalationsapparat herbei und richtete ihn sorgsam. »Komm, seh' dich nieder, Brosi! Und tu' fleißig inhalieren. Schau, der Doktor hat's doch ang'schafft. Jeden Tag sollst inhalieren. Und heute, heute …« Sie zündete die Spirituslampe an, und als der harzige Wasserdampf aus der schwarzen Atemröhre stieß, setzte sie den großen Mann davor nieder wie ein Kind. So an den Apparat gebunden, hörte er ruhiger zu, und sie erzählte vorsichtig und mildernd. Der Wenzel hatte sein Geschäft eröffnet – auf der Hauptstraße, heute war's geschehen. Man konnte fast hinübersehen, denn sein Gewölbe war dasselbe, worin der alte Krutz gesessen hatte. Um ein paar hundert Kronen hatte er dem geifernden Krüppel den Posten abgelöst und mit Vergnügen war der Krutz drauf eingegangen, denn er konnte eine hochwillkommene Rache üben, bevor er in die Versorgung trat … An seiner Stelle saß jetzt Schwerengangs Gehilfe im Geschäft, um Schwerengang die Faust zu zeigen. Schon hing die neue Firmatafel über dem Portal und verkündete den Namen Wenzel Wlk. Zwei Riesentaschenuhren, auf beiden Seiten hingemalt, sagten alles übrige. Schwerengang hatte erst geglaubt, der Wenzel werde sich bei seinen Tschechen etablieren, drüben in der Floßgasse, oder nach Deutschland, in die Schweiz gehen, um dort zu lernen – und nun saß er hier in Döbling, seinem Meister gegenüber, ohne Scheu und Scham, mit voller Absicht. Welch ein Mensch! So frech und listig war das, wie sein letztes Wort: »… auf Wiedersehen!« Diese Absicht hatte all die Jahre her aus seinem Blick gelächelt. Nun war's geschehen. Ein brutaler Schlag, verletzend und gefährlich!

Der Meister schob den Apparat zur Seite und ging überlegend auf und ab. Fast mußte er sich schämen: vor dem Gehilfen hier und vor den Kunden. Er suchte sich zu trösten und sagte laut in abschätzigem Tone: »Ah, er kann ja gar nichts! Nicht einmal reparieren kann er. Ankergänge gar nicht. Mit allen seinen Kniffen muß er wieder zusperren! Keine Kundschaft bleibt ihm! In einem halben Jahr ist's aus. Wetten wir! Nein, so schnell schießen die Preußen nicht!«

Aber einige Tage später sah man, wie vor dem neuen Wlkschen Laden zwei ungeheure Seitentafeln angebracht wurden, und mit ordinären Buchstaben grinsten sie alsbald in die Gasse hinaus und schrien schon von ferne, jedem, der sich nahte, ins Gesicht:

 

Große Schweizer Uhren-Schnellreparatur-Werkstätte
!! Jede Uhr nur fünfzig Kreuzer!!

 

Das war ein neuer Schlag. Der Meister sah, er hatte sich verrechnet, die Preußen schossen schneller! Denn der Wenzel fing es anders an; er ging nicht mehr die gediegenen Wege der alten Wiener Uhrmacher, er war kein Freund der ehrlichen Methode, die jede Uhr individuell behandelte und wie ein Arzt verfuhr.

Was Sorgfalt! Was Methode! Er ging amerikanisch los, das schlug ins Große, schleuderisch und wild, und war nur ein Geflunker, denn um fünfzig Kreuzer konnte man zwei neue Zeiger, konnte man ein Glas einsetzen, aber nicht – es war doch lächerlich, um fünfzig Kreuzer! – einen feinen Gang in Ordnung bringen und mit Kunst zu Werke gehen! Allein es lockte, es bestach, es riß den Leuten die Uhren aus der Westentasche, und wenn sie früher überlegt hatten, ob ja, ob nein, zwei Gulden, drei oder vier für eine Uhr zu opfern – jetzt war es ein Vergnügen: es kostete fast nichts! Schon hatten sich in entfernteren Bezirken solche »Volksuhrmacher« aufgetan und plünderten die Leute; der Wenzel folgte ihnen nach, und hatte alle Aussicht eines Beutelschneiders, denn mit der Billigkeit stieg ja das Bedürfnis.

Und wieder einige Tage später warf der Wenzel in die gesamten Vororte der Gegend, nach Döbling, Grinzing, Sievering, nach Nußdorf bis zum Kahlenbergerdorf hinaus Tausende von roten Zetteln, Zettel, die die Leute anschrien und die Hauer, Kutscher, Floßausstreifer, Ziegelschupfer, Kellerburschen scharenweis hereintrieben. Auf allen Mauern, allen Planken, auf Laternenpfählen klebten diese Zettel, sie flogen durch die Straßen und einer wurde auch in Schwerengangs Gewölbe abgegeben. In der Faust zerknüllte ihn der Meister. Welches Zartgefühl, auch ihm den Zettel! Dann nahm er ihn doch auseinander und las:

 

Volksuhrmacherei des W. Wlk.

Meine Devise heißt nicht wie bei andern: Schlecht und teuer, sondern gut und billig! Jede Uhr wird ausnahmslos um fünfzig Kreuzer repariert! Keine Reparatur dauert bei Wlk länger als drei Tage. Modernstes raschestes System! Laßt

nur bei Wlk

reparieren! Garantie drei Jahre! Achtung auf den Namen und Adresse …

 

Er konnte nicht weiterlesen, er schleuderte den Zettel weg. »Nicht wie bei andern: schlecht und teuer …« Das war auf ihn gemünzt! Das war ein Stich von rückwärts mit dem Stockdegen. Wer hatte denn in seiner Werkstatt immer am längsten gebraucht? Wer wurde niemals fertig? Und wessen Uhren kamen regelmäßig zurück? Weil sie unverläßlich gingen, oberflächlich hergerichtet waren? Die Uhren, die Herr Wlk in Händen hatte. Denn seine Kenntnisse waren wie die Halme, die am Baume hängen bleiben, wenn der Wagen unten durchfährt. Und nun drehte er die Sache um! Das war die Dankbarkeit für die langen Jahre, die man ihn gehalten hatte wie ein Kind – nein, welche Seele lebte in dem jungen Menschen, der unhörbar herankroch und giftig spie und biß! Dankbarkeit ist eine Tugend, die selten ist, denn sie ist schwer. Viele Menschen werden unsre Feinde, weil sie nicht danken können. Aber wer dies ausgeheckt, was der Wenzel ausgeheckt – der war nicht undankbar, der war satanisch, der war der Böse selbst, der im Dunkel über den Weg schlich.

Und die Wirkung zeigte sich: das System Wlk war nicht nur gefährlich, es war einfach niederschmetternd und es stürzte alle Überlieferungen, die Bedingungen des Handwerks um. Bis dahin war ein Uhrmacher durch die Mystik seiner Arbeit herausgehoben aus dem Chor des Handwerksvolkes; der Volksuhrmacher machte sich mit aller Welt gemein. Er drang ins Wirtshaus, in die Wohnung, er fing die Leute auf der Gasse ab, er zerrte sie in seine Werkstatt und zeigte ihnen selbst, wie einfach alles hergeht, er verriet die Kniffe, die die alten Uhrenmeister praktizierten und seine Phantasie erfabelte noch einige dazu, die niemals praktiziert worden waren. Und während er mit dem Daumen zum Eschenhause wies, setzte er mit springenden Worten auseinander, wie die armen Leute früher ausgesogen wurden, wie sie sich ausgeliefert hatten, blind und ahnungslos, so daß er es nicht mehr ansehen konnte, obwohl das Herz ihm wehtat. Nun aber sei er selbst gekommen, um die Menschen aufzuklären, ja geradezu zu retten, eine fressende Gefahr abzuwenden und ehrliche Gesinnung auszusäen. »Wer nicht sein eigner Feind ist, wer für seine Kinder sparen will, der läßt fortan beim Wlk arbeiten! Nur fünfzig Kreuzer! Mehr als bürgerlicher Gewinn ist unanständig!« Und in Zeitungen, auf breiten Plakaten verkündete er lärmend und beschwörend die große Reform, und was die Worte nicht vermochten, sollte Anschauung ergänzen, und so lächelte sein eigenes Friseurgesicht mit dem wunderschönen dünnen Schnurrbart in Zeitungen und auf Plakaten die Frauen an, und die Stubenmädchen schwärmten von dem wachsigen Gesicht wie von einem Kunstpfeifer.

Ambros und die Christel verbrachten schwere Nächte, Nächte, wo derselbe Gedanke immer wiederkehrte wie der klopfende Blutstrom in der Geschwulst. Wo sich's ihnen auf die Brust setzte und ins Herz biß. Wo sie mit brennenden, trockenen Augen in ihren Betten lagen und vor einander Schlaf heuchelten. Aber keines schlief und sie ertappten einander, und in leisen traurigen Reden, in halbzerbrochenen Worten, in Worten, die man gar nicht auszusprechen wagte, weil man sich vor ihrem Sinn fürchtete, gestanden sie ihre Angst. Was sollte man dagegen tun? Welche Waffe gab es gegen dieses Untier? Es war, wie wenn die Donau tobsüchtig hervorbrach und die Hütten schlang, Menschen niederriß und wegtrug. Oft stand die Christel auf, um ihrem Mann den Atemapparat zu richten, wenn er sich wälzte und nach Luft schrie. Dann ging sie fröstelnd in die Küche und zündete das Spirituslämpchen an. Aber matt und wirr vor Kümmernis und halb zerschlagen, verschüttete sie die Flüssigkeit, und auf einmal stand die ganze Herdplatte im blauem Feuer: die veilchenfarbenen Flammen krochen auf der Platte weiter und schlichen wie mit unhörbaren Klauen, und wenn die Christel blies, so sprangen sie in hohe gelbe Spitzen tückisch auf.

Den Meister packte oft der jähe Zorn des Ohnmächtigen, ein spitzer Haß, der ihm ganz fremd war, überfiel ihn, und er wäre am liebsten hingerannt, um diese futterneidige Kröte zu zertreten. Oder, er wollte es veröffentlichen, die ganze Stadt zu Zeugen anrufen, welches Unrecht ihm geschah, er wollte wissen, ob diese Selbstsucht hier in Wien erlaubt sei, ob sich nicht alle mitempörten! In diesen Tagen sprach er mit dem Bürgermeister. Ihm, dem alten Zeugen seiner Mühsal, wollte er sein Herz ausschütten. Doch der Bürgermeister sprach diesmal keine Fuge; jetzt hatte er nur ein Achselzucken. Ob es anständig sei, was der Wenzel tat? Nein, gewiß nicht. Anständig nicht; aber möglich. Was nicht verboten ist, das ist erlaubt. »Was wollen Sie? Die Gewerbeordnung? Das Gesetz schützt Rechte; es ist keine Fibel der Moral. Wir können gar nichts tun! Freies Spiel der Kräfte! Wir können auch den Leuten keine Pauke halten: gehts nicht zum Wlk! Volenti non fit injuria. Verstehen Sie jetzt? Wer beschwindelt werden will, der soll es werden. Mundus vult decipi. Nur die allerdümmsten Kälber wählen ihren Metzger selber!« Er lachte schlau und zwirbelte an einer Spitze seines langen Advokatenbartes. Sie saßen in demselben Zimmer, wo der Bürgermeister einst mit Schwerengang des Graslitz' wegen verhandelt und wo der Krutz die erste Niederlage erlitten hatte. Noch hing dieselbe Pendeluhr, wo sie gehangen, an der Wand; es war wie damals, nur zeigte sie jetzt ordentlich die Zeit, man wußte, wie man dran war, und dennoch – alles umsonst! Der Bürgermeister kam mit einem Sack von Sprichwörtern und lächelte, wie wenn es keine Sorge auf der Welt gäbe. Und der Meister hatte einen Freund gesucht.

»Natürlich laufen ihm die Leute zu,« erörterte Doktor Krügl, bequem im Sessel liegend, »das ist ja psychologisch natürlich. Im neuen Wirtshaus wollen alle einmal sitzen. War's bei Ihnen anders, wie Sie damals oben aufg'macht haben? Freies Spiel der Kräfte, lieber Freund. Sie sind halt ein Hofuhrmacher, und das ist ein Volksuhrmacher! Sie haben die feinsten Käufer, Aristokratie und Gott weiß wen. Und die behalten 'S ja! Dieser Wlk? Geriebner Bursch! Der denkt sich: geh's wie's will! Zu verlieren hat er nichts, er kann nur gewinnen. Und – das erste bei der Uhr ist, daß sie geht.« Er machte wieder seinen Sprichwörtersack auf und holte etwas heraus: »Wenn das Nichtfehlen das höchste wäre, so möchten die unaufgezogenen Uhren die besten sein. Sehen S', das sagt Grillparzer!« Doktor Krügl klatschte seiner Rede innerlich lebhaften Beifall und zündete wie zur Belohnung eine Zigarre an. Er bot dem Meister freundschaftlich eine auf der Hand dar, doch der lehnte ab: er brauchte Hilfe, nicht Zitate und Zigarren.


Aber trotz dem Spruche Hiob, daß ein Wäscher nicht immer recht haben muß, behielt der Bürgermeister recht: die Kunden stürmten den Wlkschen Laden nur so, obwohl er kahl und unansehnlich war, keine schöne Tänzerin, keine gemütlichen Plausch-Stockerl und überhaupt nichts Lyrisches enthielt. Und nicht nur Hauer, Kutscher und Kellerburschen – man sah auch Herren aus der Hermannstraße, Herren in Zylindern, Herren, auf deren Treue man geschworen hätte. Sie fielen von Schwerengang ab wie das Herbstlaub vom Baum, und der Wenzel schüttelte den Hauern, den Kutschern und Kellerburschen jedesmal die Hände, als ob es für ihn ein Fest sei, er hatte für jeden Herrn eine lackierte Liebenswürdigkeit, als ob er sein besondrer Freund sei, gebrauchte Fremdwörter, erkundigte sich nach dem Befinden der Familie, und die Herzen schmolzen davor hin, obwohl es nichts war als ein widriger Geschäftskniff. Schwerengang wäre dessen nie fähig gewesen: er konnte nicht die Kutscherhände schütteln, wenn ihm die Leute nicht persönlich nahestanden oder zusagten; er ließ sich lieber hochfahrend schelten, als daß er mit Geberden und Mienen gelogen hätte. Allerdings begann er einzusehen, welchen Wert persönliche Beziehungen für die Praktiker des Lebens haben, einzusehen, daß Untüchtigkeit und Selbstsucht sich auf dieser Krücke forthelfen, und wie erfolgreich! Auch er versuchte Freunde zu gewinnen: er zeigte sich nun öfter im Kasino Zögernitz, wo die Rentner aus der Hermannstraße weltverloren tarockierten, oder ging abends zum Weißen Kreuz, wo die Losgesellschaft und ein dreißig Jahre alter Stammtisch, der »Zirkus Pils«, beisammen war. Allein es fehlte ihm die Gabe sich anzuschmeißen wie der Wenzel, und er war gehemmt, wenn er den Wenzel sah, der auch beim Zögernitz, beim Weißen Kreuz erschien, ganz unverfroren, und wie um zu triumphieren, gerade vor ihm seine Künste springen ließ. Der Meister wollte ihn nicht sehen, er wich ihm aus, und hatte wohl das deutliche Gefühl: es ist zu spät. Überhaupt, die Leute freuen sich im Grunde, wenn einer, dem es gut ging, ein bißchen zappeln muß. Nicht gerade aus Bosheit; aber wie die Herren vom Stammtisch einander gern die Zeitung reichten, sobald die Zeitung einen Freund recht in der Arbeit hatte, so lächelten sie auch jetzt. Manchmal ließ einer – natürlich ohne jede Absicht – ein Lobeswörtchen für den Wenzel fallen, und Schwerengang hätte aufschreien mögen. Er mußte es hinunterwürgen: er durfte ja nichts merken lassen.

Der Wlk aber lauerte in seinem Gewölb wie eine Kreuzspinne auf die Opfer. Auch den zweiten Gehilfen Schwerengangs, einen guten Arbeiter, den Alois Kogler, hatte er von ihm abzuziehen gewußt: eines Tages kündigte der Kogler dem Meister unter allerlei Vorwänden, und statt zu seiner »kranken Schwester« ging er in die Fünfzig-Kreuzer-Werkstatt, wo es viel lustiger war als bei dem verlassenen Schwerengang. Fast kein Tag verging, wo Schwerengang die Bisse, Tritte, Stöße, die Gewalttaten des Konkurrenten nicht irgendwie zu spüren bekam. Sein Gewölb begann sich zu entvölkern. Immer spärlicher erschienen die Kunden – es war wie eine Gnade, wenn sie noch kamen – die Bücher zeigten kleinere und kleinere Zahlen: das alte Geschäft fing an zu sinken wie ein löcheriger Kahn. Doch mehr als alles das bedeutete die Kränkung, die fortgesetzte Marter, die den Kampf begleitete, und wenn der Schaden auch getragen werden mußte – unerträglich war der Seelenschmerz.


Er durfte niemandem klagen. Und wen hatte er auch, es ihm zu klagen? Mit seinem Bruder, der ja selbst nicht viel hatte, war er halb verfeindet, und sollte er sich ihm gerade jetzt nähern, wo er etwas brauchte? Ja! Sein Sohn war bei ihm, er lebte mit ihm in derselben Wohnung; aber lebte er nicht wie ein Fremder unter ihnen, wie ein Gast, wie ein Mieter? Er ging umher mit düster gefurchter Stirn und schien alles abzuweisen, was außer seinem Kreise lag. Wie durfte man ihm mit dem ganzen Elend lästig fallen, was hätte es denn auch genützt? Wenn einer so ein Ziel hat wie er, so ist es, stellte sich der Vater vor, wie wenn er durch ein Fernrohr schaut und Sterne finden will. Er sieht die Sterne, aber was neben ihm liegt, sieht er nicht. So schwieg der Vater lieber und fraß den Kummer still in sich hinein, er klagte nicht, er klagte auch nicht an und nahm es hin wie ein Naturgesetz: in seinen schwersten Stunden ist der Mensch allein.

Und doch war jemand, der mit ihm litt, mehr als alle glaubten, niemand brauchte dem zu klagen, und die Furchen auf seiner Stirn waren Furchen, die die Scham gegraben hatte. Einmal war der Schrammel flüchtig zu Besuch gekommen und hatte sich nach Grazian erkundigt. Dem Freund des Hauses, ihrem Herzenstrost, hatte die Mutter ihre Sorgen anvertraut und knackte mit ihm heimlich ihre vielen Erbsen. Er hörte mit Bedauern, sein Lieblingsschüler plage sich mit Stunden beim Herrn Amandi – ganz umsonst; und diene in der Kirche – ohne jede Aussicht. Beim Stahlehner hatte er ja kein Glück gehabt: er konnte nicht das »G'fühl« so speichern und es dann herunterlaufen lassen wie der Schrammel, und das hatte der Wirt auch gleich herausgehabt, denn nach dem Probespiel schüttelte er den Kopf: »Naa, naa, mir bleiben scho' beim Schrammel selbst. Das is' doch no' ganz wer andrer, der Herr von Schrammel!« Und so hatte sich auch dieser Plan zerschlagen. »Was soll man machen?« jammerte Frau Christel, »ich weiß net, was er will, und mir scheint, er weiß es auch net. Er is' halt so viel stürmisch!« Der Schrammel drehte seine schwere goldene Kette in der Hand. Er sah wohlgenährt aus: wie einer, der sich eben durchs Schlaraffenmus durchgegessen hatte. »Und so schön könnt' er's jetzt haben, wann er bei Ihnen wär'! Der Wahnfriedrich der is' an allen schuld! Nur der! Is' das a Stellung in der Kirchen? Unter alte Weiber?«

In Grazians Gemüt aber war um diese Zeit wirklich Wechselwetter: einmal war klarer, ruhiger Morgen, wo der sanfte Wind der Hoffnung wehte, dann gab's wieder schweren Sturm und Springflut. Wenn er doch Handwerker geworden wäre wie der Wenzel, oder Musikhandwerker wie der Schrammel – er lebte heut im dicken Glück wie hundert andre, trug eine goldene Kette über dem vollen Magen und – der Vater hatte keine Falten auf der Stirn. Hatte denn der Onkel recht, der an ihn glaubte und immer prophezeite: deine Zeit, sie wird kommen? Wer weiß, wann diese Zeit kam, und ob sie überhaupt kam, denn der Wahnfriedrich – es war darauf zu wetten – überschätzte ihn aus Gesinnung, als müsse der Segen über einen kommen, der nur fest zu Richard Wagner hielt!

Der ganze Alexanderzug war vielleicht eine Schildbürgertat, Alexander lief und lief den tausend Gulden nach, einen Kilometer nach dem andern, und kam zu keinem Ende, kam zu keiner anständigen Stellung. Der alte Wackler machte zwar oft ein Gesicht wie ein Minister, der den Tag der Demission nicht erwarten kann, und pflegte mit Selbstbedauern zu seufzen: »Nur noch ein Jahrl! Heuer is' das letzte Jahr, dann mach' ich nicht mehr mit!« Aber wie schon alte Herren sind, wurde er mit jedem Jahr lebendiger, kam sich immer unentbehrlicher vor und klammerte sich mit einem Eifer an seine Stelle, daß das Demissionsjahr weiter und weiter in die Unendlichkeit rückte, wo Ostern und Pfingsten auf einen Tag fallen. Was wäre denn auch Wackler ohne seine Stelle gewesen? Ein leerer Luftballon, der schlapp auf dem Boden lag. Und Grazian, der also bis zum griechischen Kalender warten sollte, brauchte jetzt eine Stelle, er brauchte tausend Gulden, nein, viel mehr, das Dreifache, das Sechsfache! Von den kümmerlichen Privatstunden, vom Stipendium konnte er die Eltern nicht erhalten, was nützte auch ein Zuschuß! Sie brauchten Kapital, sie brauchten eine Tat!

Das mit dem Fernrohr stimmte nicht so ganz, er sah genau, was um ihn vorging, doch er scheute sich, mit den Eltern darüber zu reden und dachte nur an sie.

Einer Winternacht erinnerte er sich aus seinem Leben, einer Nacht, wo er durch die Straßen mit Toderlösungs-Sehnsucht gelaufen war, und schließlich in ein warmes Bett kroch und die Mutter saß bei ihm. Wenn er jetzt nach Hause kam, vom Hof aus in sein Zimmer schlich und er hörte nebenan, wie die Mutter dem keuchenden Vater den Atemapparat richtete, und das Licht fiel durch die Ritzen, dann schauerte er zusammen, dann haßte er sich, verfluchte er sich, der Sturm rüttelte am ganzen Gebäude und die Ziegel flogen vom Dach. Dann nahm er den Kopf in die Hände und lernte beim Kerzenschein die Partitur der großen Brucknerschen Messe, die er schon halb auswendig wußte. Oder er nahm die Stimmen der Haydnischen Symphonie, die die kleinen Ferdln und Peperln in der Schule lernen sollten, und schrieb sie mit brennenden Augen ab. Oft stand die Mutter hinter der Tür und horchte, wie die Feder kratzte; dann war es ihr, als höre sie im Zimmer ihres Sohnes singen. Der Grazian sang und war vergnügt … Und der Vater keuchte hier im Atemkrampf. Das konnte sich die Frau nicht reimen. Aber sie wußte nicht, daß in solchen Stunden Persönlichkeiten zu ihm kamen, zu denen er in den Gewittern seines Herzens rief, und die zu allen jungen Musikanten kommen, wenn sie gerufen werden. Da kam bei der Tür in seiner Esterhazytracht der mächtige Herr Haydn herein, der Sohn des Wagnermeisters, als käme er geradenwegs vom Schloß Eisenstadt. Und dann schob sich der Herr Bruckner herein, eines Bauern Sohn, der kam vom Stift Sankt Florian. Sie hatten ihn nach Haus begleitet, als er durch die Straßen irrte, und nun erzählten sie und sprachen ihm zu, und da ward mit einem Schlag wieder klares Wetter im Gemüt, der Regenbogen wölbte sich über alle Welt und die Sonne glitzerte in tausend hellen Tropfen. Der kleine Alexander fühlte sich bereit zu allem, er war aufgelegt die Erde zu verändern und Schlachten zu schlagen wider den Wenzel Wlk, wie der große Alexander wider die Asiaten. Und da hub er eben zu singen an, während er die Noten abschrieb.


Die Tragödie im Eschenhaus ließ sich nicht verheimlichen. Wie das Wasser, das in der Nacht plötzlich aufplumpt, es verrät, daß der Otter den Fisch angesprungen hat, so kam es der nächsten Umgebung zu Ohren. Frau Clemy konnte es der Christel vom Gesicht ablesen, und sie las mehr als ihr lieb war. Eine gewitterige Unruhe fühlte sie in ihrem Innern seit dem Tage, wo sie wußte, Godlers erster Angriff war durchgeführt, und sie hatte ihn aus Gleichmut nicht gehindert. Nun war der schnappende Feuerschein vielleicht durch einen Bissen beruhigt, wenigstens für einige Zeit. Aber wie würde Schwerengang befriedigt werden können, wenn der Tag kam, auf den er rechnete? Der Tag, auf den er rechnen mußte, wobei es doch so gut wie sicher war, daß Godler ihn im Stiche ließ. Ja noch mehr: vielleicht versuchte der Baron zum zweitenmal, was ihm beim erstenmal so gut geglückt war?

Frau Clemy wollte den Gedanken nicht zu Ende denken, weil sie nur zu gut wußte, an diesem Ende saß irgend etwas Schlimmes; Godler fühlte das Messer an der Kehle und er war ein anmutiger Desperado, ein Herr, der nach dem Raubtiergrundsatz vorging: Fressen, um nicht gefressen zu werden und dabei seine liebenswürdigen drei Tempi machte. Sie seufzte auf. Sie war in die Tragödie mitverstrickt durch eine Schuld, die sie nicht tragen konnte, und bedauerte jetzt am tiefsten, daß sie nicht mehr reich war. Reich und gut haben ihren Ursprung oft in einer Tasche. Und darin lag für sie der Wert des Geldes: daß es alle Möglichkeiten bot, ein warmes Herz auf reine Weise zu betätigen. »Wer den Armen gibt, leiht Gott«, hatte oft ihr erster Mann im vollen Gegensatz zu seinem Schwiegervater Maxintsack gesagt, der weder Gott noch Menschen gern zu leihen schien. Er hatte sie coeur d'ange genannt, aber das Engelherz war für sie selbst eine Wohltat, sie konnte sich dabei genießen, indem sie durch Verschenken Schwächen ausglich, die ebenfalls dem Engelsherzen entsprungen waren.

Jetzt lud sie die Christel öfters ins Salettel ein, nahm sie an der Hand und suchte mit ihr zu Rate zu gehen wie mit einer Freundin. Aber in ihrer Brust stand plötzlich ein beschämendes Gefühl, das den Finger hob und sagte: du bist nicht aufrichtig. Das was du sagen müßtest, wagst du nicht zu sagen! Clemy brachte den Namen des Barons nicht über die Lippen. Aber wie denn auch! Wenn die Christel diesen Namen aussprach, geschah es mit einer verklärten Sicherheit, als spräche sie von einem Wechsel auf die österreichisch-ungarische Bank. Da verzagte Clemy und flüchtete in eine religiöse Stimmung: »Bei Gott steht alles!« sagte sie, und damit war sie aufrichtig, denn Gott war ihre Hoffnung; sie dachte dabei unklar an die Macht, die gute Ausgänge gern herbeiführt wie ein angenehmer Bühnendichter. Aber Herdrix, in Gefechtsstimmung wie immer, wiegte merkwürdig den Kopf. »Gott? Ja, Gott hilft jedem, das ist wahr. Aber er verlangt, daß wir ein gutes Beispiel geben. Wir müssen ihm mit einer Tat vorangehen. Mit Worten richtet man nichts aus. Das stell' ich mir vor.« Und sie dachte an das Tun eines jungen Alexander, der mitten auf seinem Zug war und dem Gott mit gutem Beispiel sicher nachkam. Frau Clemy, die diesem Gedankengang nicht zu folgen vermochte, so wenig wie Herdrix dem ihren, war zuerst befremdet. Aber dieses Zufallswort des Fräuleins veränderte die Lage mit einem Schlag: es richtete die Christel ein wenig auf, es wirkte auch auf Schwerengang, sein Mut erwachte wieder: »Mit einem Tun beginnen!« Noch einen Anlauf, ich will es wagen! Ich will nicht unterliegen! Die Zuversicht hob ihre Flügel und stieg abermals vom Boden auf.

Er ging zum Fabrikanten Graslitz und bestellte neue Waren, die schwere Menge. Es kamen Kisten und Pakete, und er hängte Schiffsuhren und Reiseuhren an die Wände, Pendeluhren im Renaissancestil; an den Messinghaken strahlten neue Chronometer, er stellte Stutzuhren und Bouleuhren auf, das Neueste und Schönste. Es funkelte und blendete. Und Graslitz gab noch weiteren Kredit. Dann ließ Schwerengang den Tapezierer kommen: es war ihm aufgefallen, die Decke des Gewölbes sah angeschwärzt aus, und nun wurde sie neu ausgeschlagen: weiß und grün, daß es freundlicher und frischer aussah. Das alte Firmenschild, der Gemeindeuhrmacher, wurde gefirnißt, an allen Ecken und Enden gestrichen, verschönert, geputzt. Sein Tun war fiebrig, die Ausgaben stiegen; doch focht es ihn nicht an. Nur nicht unterliegen, nur die Zähne weisen! Alle Mittel mußten aufgeboten werden: die Kraft der alten Firma sollte einen Sieg feiern. Er wollte in den Zeitungen, auf Plakaten bekanntgeben, das älteste Geschäft in Döbling sei nun renoviert, man komme nur, es zu besichtigen; allein im letzten Augenblick ließ er's lieber sein. »Ältestes Geschäft …« das stimmte nicht; und lügen –? Nein! Nun war ja das Ganze fertig und wirkte durch sich selbst genug. Er trat vor sein Gewölb, um die Auslage zu mustern, worin die frischglänzende Zeittänzerin sich drehte nach wie vor. Er genoß den vollen Anblick. Und doch – eine innere Stimme schien zu sagen: etwas stimmt hier nicht. Er merkte, wie er sich zur Freude überredete, und als er dann hineintrat und die alte Stockuhr in der Ecke sah, – die stand mit ihrem treuen, ehrlichen Gesicht – da wußte er es: das Ganze paßte nicht zu ihrem Wesen, der Laden war so aufgedonnert, und sah so herausfordernd aus wie die Kleidung eines Hochstaplers. Rasch nahm er die Stockuhr aus der Ecke und trug sie in das Wohnzimmer. Hier war ihr Platz, auf der Kommode, nicht draußen im eleganten neuen Zeitalter, das nach Firniß roch. Dann aber war es auch nicht besser, er konnte es nicht sagen, er fand kein Wort dafür, bis eines Tages aus seiner Seele ein Gedanke kroch, wie aus dem Apfel der weiße Wurm: auch die Verschönerung, die Erneuerung des Ladens ist nur ein Werk des Wenzel, eine Wirkung, eine Frucht der Konkurrenz; alles was da auch getan war, war nicht mehr frei getan, es war diktiert vom Wenzel. Und nicht nur die Erneuerung – noch in ganz andern Dingen regierte der Herr Wenzel mit: er schrieb die Preise vor. »So viel kostet es bei mir, ich kann nicht billiger reparieren.« Das war der Grundsatz Schwerengangs gewesen. Aber in der Praxis milderte die Christel diesen Grundsatz, sie ließ jetzt mit sich handeln, ihre Zunge wurde müde, ihre Phantasie erlahmte und sie verzichtete auf manchen Gulden. Endlich gab auch – stillschweigend – der Meister nach. Er opferte das Hoheitsrecht des Geschäftsmannes, das Recht der Preisbestimmung, nur um nicht zu hören: »beim Wlk ist es viel billiger, dort kostet es nur fünfzig Kreuzer!« So fühlte er die Schläge des Wenzel und konnte nichts tun, als den Arm vor das Gesicht halten; und wenn er auch die Zähne aufeinanderbiß, die Nägel in das Handfleisch grub und es nicht wahrhaben wollte – der Wenzel war der Stärkere.

Schwerengang unterlag. Trotzdem der Laden neu gerichtet und frisiert war, so blieb es doch der alte mit seinem älteren Betrieb, und die Kunden drängten in den neuen, weil er der neue war. Der Wenzel konnte lächelnd vor der Tür stehen, denn er arbeitete fast ohne Auslagen, er brauchte nur ein kleines Warenlager, und reparierte bloß mit ein paar Werkzeugen, ja er reparierte nicht einmal; er hatte einige Gehilfen sitzen, meistens Tschechen, und die Gehilfen mußten für ihn schanzen und schaffen. Seine Arbeit war hauptsächlich die Mundarbeit. Er dirigierte. Er hatte die diplomatische Leitung, er war kein Uhrmacher, aber der Macher. Nur einen Luxus hatte er sich gegönnt, und das war eigentlich kein Luxus. Eines Tages hing in seinem Laden ein Fernsprecher. Es sah neu und seltsam aus. Wer das Hörrohr in seinem Laden hängen hatte, gab sich Bedeutung und Wichtigkeit, er bekannte gewissermaßen: ich bin ein Europäer. In Döbling war von allen Läden Wenzels Laden der erste, der es bekannte, und die Hauer, Kutscher, Kellerburschen drängten sich hinein, belagerten, versuchten seinen Fernsprecher und staunten den Wenzel an, wie wenn er ihn selbst erfunden hätte. Die Zeittänzerin war geschlagen …


In diesem Kampf, der die Nerven zum Zerspringen spannte und das Hirn aufwühlte, blieb dem Meister Schwerengang eine letzte Hoffnung. Noch hatte er ja im Losverein einen festen Kriegsschatz liegen, mühsam abgespartes Geld, etwas mehr als zweitausend Gulden, und es langte für den äußersten Fall. Wie gut, daß er sich damals überreden ließ, als er sein neues, jetzt leider überholtes Geschäft eröffnete, und den Sparmeistern beigetreten war, deren Leitung Händen anvertraut war, die von Natur aus Zähl- und Greifhände waren: Orion Feuerscheins berühmten Händen. Dreißig Mitglieder, zum größten Teil Gewerbetreibende, kamen alle Samstag Abend zusammen und zahlten ihre Beiträge ein, und wer nicht selbst kam, erfüllte seine Pflicht, wenn für ihn das Geld kam. Schon einmal war – gleich anfangs – ein Los gezogen worden und jedes Mitglied hatte seinen baren Anteil empfangen; Schwerengang, der zwei Anteile besaß, hatte seinen Anteil in der Kasse stehen lassen, denn er wollte nicht wie andre den Gewinn vertun, und die von Feuerscheins Luchsaugen bewachte Kasse war so sicher, die Kontrolle so scharf, daß das Geld nicht besser hätte aufgehoben sein können. Schwerengang selbst war niemals hingegangen, er war kein Wirtshausbruder und der mit der Christel geschlossene Vergleich sagte nur: Du trittst ein, persönliches Erscheinen unterliegt dem freien Ermessen. Der alte Wlk, der als zweiter Zahlwart wirkte und die Mitsperre hatte, kam regelmäßig jeden Samstag abend, holte Schwerengangs Beitrag und brachte Sonntags das gestempelte Büchel zurück. Jetzt war die günstige Gelegenheit gekommen, den Schuster abzuschütteln und ihm fühlbar das Vertrauen zu entziehen; allein der Schuster ließ es nicht drauf ankommen, er blieb von selbst aus, sei es daß er nicht den Mut hatte, jetzt den Laden zu betreten, sei es daß er nicht mehr gefällig sein wollte – kurz, er entzog sich der Absicht und Schwerengang gab seinen Wochenbeitrag nun dem alten Köckeis, der die Einzahlung mit Vergnügen besorgte und jeden Sonntag das gestempelte Buch zurückbrachte.

Die Zahlungen – vier Gulden wöchentlich – fielen dem Meister gerade jetzt nicht leicht, aber er wollte sie erst recht nicht einstellen, denn es hätte ihn um Ansehen und Kredit gebracht: er durfte vor den Mitgliedern nicht zeigen, wie es um ihn stand, für sie war alles noch beim alten. Schließlich: Konkurrenz hat jeder Geschäftsmann zu leiden, er fiel einmal vom Seile, dann erhob er sich und stieg wieder hinauf – wozu also die Lage verschlechtern, indem man sie als schwankend verriet? Außerdem stand im nächsten Jahre die Ziehung bevor, und wenn Gott wollte, so machten die Sparmeister mit den Türkenlosen einen großen Treffer, und Schwerengang, der Hauptsparmeister, kam in Verhältnisse, wo man schon eher einen Puff vertrug. Und diese Hoffnung stärkte ihn in allen Wirren, und wenn sein Haupthaar auch in grauen Ringeln über die Stirne fiel, – noch war der Kriegsschatz da, noch war nicht aller Tage Abend, noch hielt ja auch die feine Kundschaft wenigstens teilweise zu ihm und Leute wie der Baron Godler mieden den ordinären Wenzel. »Du liebes Wien, du hast ein hartes Pflaster …!« Mit diesem Seufzer nahm er jetzt die Schickung als eine Prüfung hin, als einen Brotkampf, der gekämpft sein mußte, weil er doch die Kräfte stählte. Er dachte an die wilden Waldamseln, die viel schöner aussehen als die Parkamseln, denn sie werden nicht gefüttert, sondern müssen ihre Nahrung schwer erjagen. Es ist ein alter Fluch: im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen; doch dieser alte Fluch ist in Wirklichkeit vielleicht ein Segen.

Auch der alte Köckeis schien die Sache von einer milderen Seite zu betrachten, und seine Weltweisheit kehrte ihre Spitze nicht mehr gegen den Schwiegersohn wie einst. Er hatte doch selbst ein kleines Schicksal durchgemacht, und jetzt spürte er, daß es mit ihm überhaupt nicht mehr recht gehen wollte. Eines Tages, als er merkte, im Hause seines Schwiegersohnes, der ihn so freundlich speiste, war etwas nicht in Ordnung, winkte er die Christel mit dem Kopf zu sich. »Schau, mei' alte Christel,« sagte er, »setz' di' nieder, rast' di' aus und tua di' net fürchten. Dein Vatter weiß vielleicht für di' was. I war a gestern verzweifelt, wia i zum Weißen Kreuz 'gangen bin und es hat zum regnen ang'fangt, und i hab kan Schirm net g'habt und nix. Erstens hab i Galloschen, zweitens hab i an Überzieher, hab i m'r denkt – drittens an Regenschirm, viertens hab i d' Hosen aufg'steckt, und fünftens regnets net – hab i m'r denkt. Sixt, brauchst di' net fürchten. Nur denken mußt d'r was. Wann si' der Mensch was denkt, dann is' er aus'n Wasser!« Die Christel mußte lächeln und streichelte dem Alten die rotblaue Wange. »Ich dank schön, Vater, daß Sie für mich was wissen. 'S is' net a mal so dumm.«

Der Alte schlürfte nach diesem guten Ratschlag mit einwärts gekehrten philosophischen Füßen lächelnd davon, und auf den Schultern wackelte sein Kopf mit dem Bürstenhaar, wie wenn er zu allem Ja und Amen sagen wollte. Er ging in die Hausmeisterwohnung, setzte sich den Böller schief auf den Kopf, nahm die Klampfen unter den Arm und begab sich in den Gastgarten zum Weißen Kreuz. Da saß er jetzt an jedem schönen Abend unter den Leuten und sang zur Gitarre und lachte, während der Kopf Ja und Amen sagte. Ein gewöhnlicher Wiener lacht, wenn er glücklich ist, Glorius Köckeis aber war ein außergewöhnlicher Wiener und war glücklich, wenn er lachen konnte. Seit seiner Jugend hatte er die Klampfen nicht mehr in der Hand gehabt. Und wenn ihn einer aufziehen wollte und fragte, warum er jetzt singe und sich einen dudle, wo er's doch nicht mehr hören konnte, da setzte sich der Köckeis den Böller auf die andre Seite und erklärte: »Jo, segns, ma kann net wissen, wia lang ma lebt. Auf ja und naa triffts an alten Mann und ma wird aussitrag'n am Zentral. Aber wanns mi' trifft, da soll's mi' bei der Musi' treffen und bei an Glasl guat'n Wein. Net wahr, Herr Nachbar?« Und er sang und lachte weiter.


Es war ein Julinachmittag gekommen, an dem der große Bäckermeister im Himmel sämtliche Backöfen geheizt und die Ofentüren aufgemacht hatte, daß es von Glut nur so in die blaue Welt strahlte und die Gräser, Gebüsche und Bäume im Eschengarten ganz still standen, als hätten sie Angst vor jeder Bewegung. Der alte Köckeis trug ein Taschentuch auf seinem Haupte und erklärte, seit seinem Hochzeitstage ein so großes Schwitzen nicht mitgemacht zu haben. Er war aber auch heute angestrengter als je, hatte im Salettel herumhantiert, zwischen den Kastanienbäumen, zu beiden Seiten der Wiese, den ganzen Nachmittag Drähte gespannt und alles auf Befehl des Bürgermeisters und alles großes Geheimnis. Auch Doktor Krügl hatte in den letzten Tagen das große »Umerschießen« gehabt, hatte mit Grazian verhandelt und alles in die Wege geleitet, der Tag der Huldigung war endlich da – ein heißer Tag – und er rieb die Hände, denn was da kommen sollte, zeugte ebenso von der Romantik seines Herzens wie von seinem Geschick, das Publikum zu spannen. Das Publikum hieß Clemy, und namentlich vor ihr war alles tiefes Geheimnis. Baron Godler war ganz auf seiner Seite, denn was da kommen sollte, war sehr geeignet, den etwas dunkeln Wappenschild des Hauses mit neuem Glanze zu bestrahlen, er konnte den reichen Mann spielen, und der Glanz sollte auch ein Publikum blenden, das aber hieß Frau Christel.

So wurde es denn Nachmittag sechs Uhr, wo man die Hitze vorüber glaubt und zu Abendmusiken gestimmt wird, und da schlich eine Schar von lustigen Buben ins Haus zur schönen Stunde und verschwand in der Gartenwohnung der Frau Brunner. Es waren die Buben aus dem Konservatorium Amandi, die »Tiere«, die Grazian gebändigt hatte, und heut' war Schulschluß, der alle noch einmal vereinigte. Eine Stunde später bewegten sich abermals viele Menschen dem Eschenhause zu, alle erwartungsvoll und in feinen Kleidern: es waren die Eltern und Geschwister, kurz die ganze Konservatoriumsfamilie. Die Damen suchten sich ein Plätzchen auf dem großen Rasenfleck zwischen der Esche und dem Salettel, die Herren, die bei künstlerischen Begebenheiten immer in der Minderzahl sind, bewegten sich in würdigen Gesprächen hin und her. Zuletzt erschien, von Godler fast gezogen, Frau Christel. Sie hatte sich zuerst geweigert, sie wollte ohne ihren Mann nicht gehen und Schwerengang hatte rundweg abgelehnt. Dann waren, wie sie hörte, ihre beiden »Sargnägel«, Herr Amandi und der Onkel Wahnfriedrich zugegen, und ihr Augentrost, Herr Schrammel, fehlte. »I bin grad' zu solche G'schichten aufgelegt,« hatte sie erklärt; aber die Liebenswürdigkeiten des Barons wirkten auf sie ein, wie ein kühles Lüftchen, und seine süßen Taubenblicke halfen nach. Vollends aber hatte er ihr Herz erobert durch ein kleines Herzchen, das Frau Christel am Halse trug und das, ohne daß sie es merkte, zwischen die Schmucksachen gefallen war, die Godler im Geschäft auf Borg gekauft hatte. Am nächsten Tag brachte er ihr's, aufmerksam und ehrlich wie er war, zurück, er küßte ihr die Hand und flüsterte: »Fast hätt' ich dies Bijou als Amulett des Schicksals behalten,« und da fand sie halt, daß er »an ächter Aristokrat« sei und immer ausschaue, »wie wenn er si' grad 'bad't hätt'.« Daß Godler das Medaillon nur deshalb zurückbrachte, weil er zu seinem Entsetzen die biedern Gesichter der beiden Uhrmachersleute hineingemalt fand, hielt er der Mitteilung nicht wert.

Also es herrschte große Spannung vor dem Salettel, das mit Hilfe des braven Köckeis zu einer Bühne umgewandelt worden war und sogar einen geheimen Hintereingang bekommen hatte. Da erschien Frau Clemy mit ihrer Schwester Herdrix Arm in Arm und war mehr als erstaunt: die vielen Gäste, die Lampions auf Drähten … es war ihr zuerst peinlich, vor der Christel gefeiert zu werden … Nachdem sie alle halb verlegen begrüßt hatte, wendete sie sich von den Lampions zu den Augen des Bürgermeisters, der hinter ihr her marschierte, trotz der Glut im feierlichen schwarzen Rock, und dieser Blick, halb dankbar und halb tadelnd, labte ihn, als hätte er soeben ein erfrischendes Bad genommen.

Er hob den Arm. Eine Glocke tönte, der Vorhang wurde aufgerollt, und von der Wiese kam ein langes Ah! her, denn nun saß vor den erstaunten Müttern ein vollständiges Orchester, ein Dutzend niedlicher Musikanten mit eingepuderten Köpfchen und hangenden Zöpfchen. Es waren dies der Schorsch vom Pfaidler, der Karl vom Selcher, der Ferdl vom Tapezierer, der Pepi vom Weinhändler und andere Herren aus andern Familien und sahen aus wie fürstlich Esterhazysche Schloßbeamte von Anno 1770. Zwei davon am Flügel, zwei mit Geigen, einer hielt den Kleinbaß fest umklammert, und was die andern spielten, war noch unentschieden. Meister Pflichtenhahn erschien zu aller Überraschung und drängte sich nach vorne durch, er machte eine feierliche Verbeugung, klopfte mit dem Bogen auf den Geigenrücken, das Gestimm hörte auf und mit dem Niederstreich setzte ein schmetternder C-Dur-Akkord ein. Grazian hörte es mit einem eigentümlichen Gefühl, denn er hatte sich seit Wochen damit abgegeben, sich des Haydn-Kinderfestes gefreut, aber gestern, im letzten Augenblick hatte Pflichtenhahn erklärt, er müsse doch selbst die Leitung übernehmen, seine Stellung als Direktor verlange es, und so war denn Grazian Publikum geworden. Er saß auf dem Rasen, und die Buben schauten gelegentlich ebenso verstohlen nach ihm, wie die schwarzen Teufel aus gewissen Augen, Herdrix aber hatte Fieber in den Händen und hätte dem Amandi am liebsten – nun sie war nicht blutrünstig, aber im Garten war es heiß und in ihrem Herzen war ein kleines Erdbeben.

Inzwischen sprangen die Noten Haydns wie junge Böcke von der Bühne, dann schwirrten zärtliche Gesänge wie junge Schwalben in den Garten, in die Welt. Der Maestro schlug bald den Takt, bald geigte er mit, sah bald hochselig in den Himmel, drehte sich in seinem Galarock, vergaß die Zeit und seine Schulden, und obwohl er aussah, wie der Beethoven, glaubte er schließlich der Haydn selbst zu sein.

Es war aber eine Sinfonie ganz eigner Art, die da vor sich ging. So oft er mit dem Bogen ein Zeichen gab, hörte man ein lustiges Geräusch, im Garten lachten sie, standen auf und guckten ins Orchester. Da schnarrte eine Ratsche mit ihrem Jahrmarktsklang, als Antwort hörte man die Terz des Kuckucks, dann fistelte mit zugeschnürter Kehle eine Trompete, ein feines Nachtigallenflöten wurde hörbar, und in festem Rhythmus machte die Wachtel ihr gluckiges dick-di-dick. Der Schellenbaum erhob ein silbernes Gelächter und so fistelte und gluckte, flötete, schnarrte und lachte es durcheinander; aber die Geiger geigten ruhig fort, der Kleinbaß seufzte, als ob nichts geschehen wäre, und Herr Amandi stand mit verklärtem Blick und ließ sich bewundern.

Die Kindersinfonie fand bei den Damen großen Beifall. Clemy war gerührt: der gute Bürgermeister! Aber wie gerührt sie war, das wußte keiner, auch nicht der gute Bürgermeister, als sie die vielen Kinderköpfe auftauchen sah. Die fiedelnden Arme stießen bei jedem Takt an die verriegelten Türen ihres Herzens und die Musik sagte: komm heraus! Und da stand mit einem Male ihre Liebe zwischen Tür und Angel und traute sich nicht vorwärts. Frau Clemy drückte ihr Taschentuch vor die Augen, und wenn nun einer meinte, sie höre nicht zu und denke vielleicht daran, daß sie kein Kind besaß wie die andern Mütter im Garten, dann irrte er sehr, denn Frauen weinen nicht aus Gründen wie die Männer, sie bedecken ihre Augen und in ihr Herz kann man nicht sehen.

Das Menuett war schon vorüber. Da kam nun der letzte Teil. Erst wurde ruhig fortgespielt, die Noten gingen wie anständige Leute schön nach Hause. Dann fingen sie zu laufen an, beim dritten Male jagten sie bereits. So ist es vorgeschrieben, so hatte Grazian es einstudiert und so geschah's auch. Nach dem letzten Laufe will sich Pflichtenhahn verbeugen und dreht sich nach den Damen – da fängt es hinter seinem Rücken von vornen an: ein viertes Mal! und jagt noch schneller als vorher. Er steht verdutzt, er hebt die Geige, kommt nun aber nicht mehr nach, und ehe er sich versteht, fängt der Tanz zum fünften Male an und kommt ins Rasen, der eine spielt noch den Schluß, die schnelleren sind schon wieder beim Anfang, die Noten kollern durcheinander, springen her und hin, zuletzt fallen den Kindern die Werkzeuge aus den Händen und eine Welle von Gekreisch und Lachen wälzt sich über alles, sie krümmen sich, sie halten sich an den Pulten – wie entgeistert aber stand Pflichtenhahn. Alle Schönheit fiel von seinem Angesicht. Er wußte nicht, soll er lachen oder weinen, er breitete die Arme aus, zuckte mit den Achseln und alles kam davon her, weil er im Bette gelegen hatte, während Grazian probierte, und er nun das wichtigste vergessen hatte: das Abklopfen! Zu allem Überfluß sprang in diesem Augenblick der Wind vom Himmel herunter, ein wahrer Backofenwind, mitten in den Garten, vom Garten auf die Bühne, der Narr, der Haarzerzauser, der Hutabreißer, und warf die Noten mit einer Gewandtheit in die Luft, daß bald der ganze Garten von papierenen Vögeln voll war. Die Kinder ihnen nach – und so endete die Kindersinfonie in einem heidnischen Chaos.

Pflichtenhahn stand ganz allein und sah Amandi an und dasselbe tat Amandi. Denn die Kinder stürmten plötzlich – und das war nicht einstudiert – auf Grazian zu, umringten ihn und suchten ihn zu heben, die Väter kamen helfen, der Bürgermeister kam es billigen, und eh' er sich's versah, saß Grazian hoch auf den Schultern der Menge, wurde im Triumph herumgetragen, und kam sich vor wie der Kommandant Graf Starhemberg, den der Kaiser nach der Türkenbelagerung zum Feldmarschall erhob, mit der Erlaubnis, den Stefansturm ins Wappen aufzunehmen. Das hatte er sich nicht gedacht. Auch Herr Amandi nicht, und die Blicke, die jetzt an ihm hingen, gingen in beide Kammern seines keuschen Herzens, verlegen wiegte er den Kopf und verschwand von seiner Bühne, während Grazian an diesem heißen Tag erkannte, daß die Welt die guten Taten doch belohnt, und sei es auch die Kinderwelt, und daß man nicht genau nach seinen Idealen, aber oft noch schöner siegt.


»Na, Buben, das habt ihr gut gemacht!«, rief eine hohe Gestalt, die aus der Esche hervortrat. Es war der Wahnfriedrich. Die Buben hielten im Tollen ein, waren aber so vergnügt und hitzig, daß sie das Lachen ganz vergaßen, als sie den barhäuptigen »Rawuzzel« heut erblickten. Er kam heran, legte ihrem Herrn Lehrer die mächtige Hand auf die Schultern, holte dann einen Sessel herbei und stellte ihn in die Mitte des Kreises. »Und weil wir so schön beisammen sind,« sagte er, »so will ich euch etwas erzählen. Eine Geschichte. Zwar weiß man nicht, wer sie erfunden hat, aber sie ist wahr, und wenn eine gute Geschichte keinen Dichter hat und wahr ist, dann heißt sie halt ein Märchen. Und wer sie hören will, soll sich zu mir setzen.« Alle setzten sich, selbst die Christel, und Wahnfriedrich begann:

»Der alte Herzog Ostermann kam zu sterben und damals war es in der Welt wie heute, wo die große Abendsonne drüben unterging am Feuerhimmel des Westens. Als er sein Sterben fühlte, sprach Herzog Ostermann: »All meiner Wünsche Wunsch ist einer: mein ganzes Leben möchte ich noch einmal sehen. Wer es mir zeigen kann, soll meine Herzogskrone tragen, und wenn er ein Vagant ist – die Banner werden vor ihm niederfallen.« Da war ein altes Männlein, verwittert wie ein Mineral, und schrie mit dünner Stimme: »Ich will's, ich wills!« Die Grafen nannten ihn Herr Hofgeschichtschreiber und einen Meister in den freien Künsten. Er schleppte in den Thronsaal ein ungeheuer dickes Buch, worin des Herzogs Leben aufgezeichnet war, weshalb es Lebensspieglein hieß. Und begann zu lesen. Als er schon einen halben Tag daran war, seufzte Herzog Ostermann auf. Denn der Schreiber, fürchtete er, sei wie Thomas Haselbach, der 22 Jahre am ersten Buche des Jesaias las und nicht fertig wurde. Und als der Schreiber vorlas, wie des Herzogs schöne junge Gattin starb, wurde Ostermann blaß im Antlitz und schalt: »Mußt du mir diesen Schmerz erneuern? Wenn es auch wahr ist, laß es weg, ich will nicht alles wissen.« Und der Schreiber las dem Herzog weiter vor, was sich in seinem Lande ereignete; doch als das Jahr kam, wo das Heer des Herzogs eine Schlacht verlor, schlug er die Blätter um. Da wurde Herzog Ostermann noch zorniger und schrie: »Nun lassest du es weg! Es ist nicht wahr, weil es nicht ganz ist!« Da schaute der Schreiber kläglich über die Brille, mit all seiner Künste Kunst wußte er nichts anzufangen; so klappte er das Lebensspieglein zu und schlich davon. Der Herzog aber wurde traurig. Vergebens seiner Wünsche Wunsch, sein Leben schwand, er konnte es nicht hören.

Da nahte dem Schlosse ein Schwarm Vaganten. Der erste war ihr Führer, hatte schwarzes Haar, trug Blitzaugen im Kopfe und eine Harfe im Arm. Und sprach: »Ich will dem Herzog seines Lebens Märchen sagen!« Die Grafen wendeten die Köpfe und erwiderten: »Wie kannst du es, Vagant? Schon ist des Herzogs letzter Tag gekommen. »Und wär es seine letzte Stunde,« schrie der Schwarze, »ich kann's! Was ich erzähle, ist nicht deutlich wie der Welt gemeine Dinge!« Sprach's und ging mit seinen Gefährten, die Gamben, Geigen, Harfen, Flöten und Hoboen trugen, in den Thronsaal. Hinter einem Vorhang erhob sich alsbald ein wundersames Geklinge. Der Herzog horchte. Viermal erhob sich das Geklinge, viermal starb es ab. Als es zum letztenmal erstorben war, flüsterte der Herzog Ostermann gerührt: »Ja, das war mein Leben. Im ersten Teil war mir zumut wie damals, wo ich jung war, keck, voll trotziger Entwürfe; und ein Getöne war dazwischen, lieblich wie die Stimme der jungen Herzogin, die ich freite als mein Weib. Im zweiten Teil ward mir so fröhlich ums Herz wie damals, wo ich in den Mondnächten des linden Sommers mit der jungen Frau Herzogin um die Linde tanzte, leicht wie Elf und Nixe. Im dritten Teile wieder ward mein Herz von Gram erfüllt, denn sie starb; mein Heer verlor am Flusse eine Schlacht und ich beinahe diesen Thron. Da war ich jahrelang voll Trauer; doch ich habe mich getröstet, indem ich meine Pflicht erfüllte. Im vierten Teile endlich fühlte ich, was jetzt als Greis mein Herz bewegt, wenn ich unter des Domes Kuppel knie: es ist der Winter meines Lebens. Dahin die trotzigen Entwürfe, die Hoffnungen, das Glück, die Ruhmessehnsucht, der Sorgen schwere Bürde, die Wonnetage, frohen Nächte – verschwunden alles wie ein Traum; aber ich sehe meines Wirkens goldne Früchte und meiner Völker Glück, und erhebe mich mit reinen Händen zu ihm hinauf: zu Gott. Ja, dieses Wundertönen war das Märchen meines Lebens. Ich danke dir, Vagant, und allen deinen Gefährten. Wie aber, frage ich, kanntest du mein Leben so genau?«

»O Herzog,« erwiderte der Schwarzlockige, »ich kenne nicht dein Leben; ich habe auch dein Leben gar nicht erzählt, sondern meines

»Wie? Deines?«

»Ja. Denn, o Herzog, in Tönen ist das Leben aller Menschen gleich, des Herzogs Leben und des Vaganten Leben; der Künstler kann es sagen, weil er für alle Menschen leidet, jauchzt und fühlt. Und was du viermal sterben hörtest, ist nur ein einzig Leben. Wie Frühling, Sommer, Herbst und Winter sterben, um das Jahr zu bilden, so sind vier Teile der Musik das Ganze eines ewig gleichen Geschicks. Und weil so vieles in eines schön zusammenklingt, so nennen wir's die Sinfonie.«

Da befahl Herzog Ostermann, der Vagant solle die Krone tragen, und die Banner fielen vor dem Künstler nieder. Der Herzog aber starb in Frieden, denn er wußte, eine Sprache gibt's, die nur Gebenedeite sprechen und damit herrschen über tausend stumme Herzen.«


»Denkt nach, wenn ihr nach Hause geht,« sagte Wahnfriedrich zu den Kindern, »das war das Märchen von der Symphonie!«

In diesem Augenblick wurde die Stille von einem klatschenden Geräusch unterbrochen, dem ein leichter Aufschrei folgte. Alle Köpfe, die mitten im Märchen gehangen hatten, hoben sich und spähten in die Richtung, wo Fräulein Herdrix kauerte. Man sah nicht mehr genau und wenn man nicht genau sieht, vermutet man eben gern, und so glaubten die Kinder in ihrer Unschuld, es sei vielleicht ein vergessener Instrumentaleffekt der Symphonie nachgetragen worden. Aber die Erwachsenen dachten nicht an den Schellenbaum, sondern hatten die Vermutung, es sei vom Maulschellenbaum etwas verabreicht worden und hatten damit recht. Denn Fräulein Herdrix, die ebenfalls ganz ins Märchen gesunken war und ahnungslos im Grase saß, hatte plötzlich eine zärtliche Künstlerhand um ihre Hüfte kriechen gespürt, dann kam eine heiße Wange, die sich innig an ihr Haar zu legen suchte wie der Mond an eine schöne dunkle Wolke, und da die Hand immer zärtlicher wurde und der Mond immer tiefer hinabtauchte, so wurde ihr schwül zumute, und halb unbewußt, halb selbstbewußt klatschte sie mit der Hand ins Finstere und erwischte dabei die andre abgewendete Seite des fremden Mondes, kurz sie war ins Ohrfeigenausteilen gekommen, und Herr Amandi hatte eine ausgefaßt, daß er plötzlich alle Sterne tanzen sah, und es war doch alles schwarz wie der Weltraum. Der keusche Künstler hatte die Dunkelheit und den weichen Rasen benützt, um ein kleines Liebesmärchen wahr zu machen und eine schon längst brennende Sehnsucht in einem heimlichen Kusse zu bekennen, den er mit geübter Vorsicht zuerst in ein schönes Haar spitzte. Nun sprang er auf und wollte zu schwören anfangen, aber die Christel, die seine stille Arbeit schon längst beobachtet hatte, sprang auch auf und schrie mit unangenehm bloßstellender Stimme: » Sie erzählen uns nix! Recht is' Ihnen g'schehen! Das g'freut mi'!« Und sämtliche Mondanbeterinnen erhoben sich nun und umringten die schlagfertige Herdrix und fielen laut von dem Lüstling ab, der den Ausklang der Geschichte gestört hatte, und als Amandi sich plötzlich ohne Anhang, aber den fürchterlichen Augen Wahnfriedrichs gegenüber sah, zog er es vor, im Dunkel zu verschwinden. Kurz, der Klatsch auf seine Backe wirkte wie der Schuß, den einer in der Praterbude auf den schwarzen Punkt abfeuert und Hirsch und Jäger, Roß und Hund, alle Figuren bewegen sich mit einem Male. Es entstand ein Aufruhr, die Mütter riefen nach ihren Buben, die Väter ordneten den Abmarsch an, und alles machte sich zum Aufbruch bereit.

Da entzündete sich innerhalb der Esche ein Feuer, daß die Flächen der Blätter im fahlroten Schein zu leuchten anfingen, und es sah aus, wie wenn die Kuppel eines Domes von innen brenne. Zugleich erschien der alte Köckeis auf einer Leiter und entzündete die Lampions, die nun an ihren Drähten schwingend wie große gelbe Tigeraugen durch die Nacht glühten. Hinter der Esche aber zischte es auf – ein Knall! – und in feuriger Linie fuhr die Rakete durch die Luft, krümmte sich wie ein ungeheurer Zeigefinger über der Esche, zerplatzte, und wirre Funkenschwärme sanken durch das Dunkel.

»Bravo, Stuwer!« riefen die Buben in Erinnerung an die schönen Praterfeuerwerke, während Frau Clemy immer mehr in Verlegenheit geriet, denn die ganze Feier schien ihr mit einem Male eine Feier mit Anführungszeichen zu sein: in ihrem Herzen war eine gewitterige Unruhe: Godler spielte den Leuten den sorglosen Kavalier vor und schien sich selbst vor der Christel in bengalische Beleuchtung zu setzen. Godler aber war in seinem Element. Er hatte sich mit dem Bürgermeister während des Märchens, das ihn langweilte, hinter die Esche begeben und sich einer vorbereitenden Tätigkeit hingegeben, während Krügl in dem Augenblick losschoß, als die durch die Ohrfeige gestörte Stimmung nach einer rettenden Sensation verlangte. Godler stand in Hemdärmeln und arbeitete im Schweiße seines Angesichts am Feuerwerk wie ein Artillerist hinter der Kanone; seinen weißen Rock hatte er abgelegt und über eine Stuhllehne gehängt. »Chinesische Nacht!« rief er mit heiserer Stimme, »was sagst du, Schatzerl? Großartig! Alles für dich!« Clemy, die herangekommen war, biß die Lippen aufeinander. Ihre Unruhe wuchs, das Gefeiertwerden ward ihr bei jeder neuen Rakete peinlicher und peinlicher. »Wozu denn das Theater, Godler? Aber, lieber Doktor, Sie meinen es ja gut! Ihnen dank' ich wirklich …« wendete sie sich an den eifrig helfenden Bürgermeister, »aber ich weiß nicht – ich –« Sie verstummte. »Wenn es nur schon vorüber wäre!«, dachte sie bei sich, »nur schon ausgelöscht …!«

In diesem Augenblick fuhr ein Windstoß wütend in die Kronen der Kastanien und bauschte Clemys leichtes Sommerkleid, als wolle er ihr's vom Leibe reißen. »Meine Herren!« rief sie, »schauts, es kommt ein Wetter, der Herrgott selbst will's nicht!« Godler schaute sie mitleidig über die Achsel an. »Aber Gnädigste!« rief der Bürgermeister, der vor dem Wetter noch rasch seine innersten Absichten unter Dach und Fach bringen wollte, »wissen Sie denn nicht? Es ist doch Ihr Geburtstag morgen?«

»Gratuliere!« schrie Godler und feuerte seine Rakete ab, »achtunddreißig! Gratuliere!« Der Bürgermeister machte so, als habe er die unzarte Enthüllung überhört und in seiner Lage war es auch leicht, denn der lauernde Wind kam ein zweites Mal mit wütender Stimme herbei, er heulte und fauchte vor Zorn, packte die Bäume mit Riesenfäusten am Halse und schüttelte sie, daß sie ächzten, warf ihre morschen Zweige zu Boden, wie wenn er alles Kranke abschlagen wollte, er blies in die Lampions und löschte sie mit einem Schlage. Und plötzlich ward für einen Augenblick der Garten blauhell, daß man die Umrisse der Bäume schwarzgrün in das Licht hineinstehen sah. Gleich darauf ein hohes Knattern wie wenn Packpapier entzweigerissen würde, ein Erdröhnen, ein eisernes Herabrollen, das in einen schwerschütternden Schlag endigte. Der große himmlische Ofen schien geplatzt zu sein.

»Bravo, Stuwer!« hörte man den alten Köckeis schreien, der von der Flucht der Gäste fortgerissen wurde, doch sein Bravo galt dem Feuerwerker im Himmel, der es noch viel schöner konnte als der Herr Baron. Alles stob davon, die Kinder quietschten, die Damen piepsten, die Väter kommandierten, Grazian erwischte seine Mutter Christel unterm Arm, und in einem Augenblick war der ganze Garten leer.

Godler ließ alles liegen, rannte an Clemy vorbei und um die Esche herum ins Salettel, wo er sich bäuchlings auf eine Orchesterbank warf. Eine neue fürchterliche Helle, ein neuer Eisenkugelschlag, der Ofen da oben hörte nicht zu platzen auf. »Gräßlich, gräßlich!« seufzte Godler und stopfte sich die Zeigefinger in die Ohren.

»Komm mit uns hinauf,« sagte Frau Clemy wie erleichtert, »es ist ja nur ein paar Minuten …«

»Oho!« warf Herdrix ein, » er geht hinauf und holt uns einen Schirm. Wir warten im Salettel.«

Allein der gute Bürgermeister war schon um diesen Schirm, der des Festes Ende bedeutete, hinaufgeschoben und Godler lag und ließ ihn laufen.

Die Güsse des Regens schossen durch die Bäume herab, denn die himmlischen Spülweiber hatten es auf die Gartenengel abgesehen und leerten die vollen Kübel über das Dach, daß es nur so prasselte und in ganzen Breiten vor dem Eingang platschend und klatschend herabstieß: der Sommerstaub und die Gartenengel wurden abgewaschen und Frau Clemy, die auch ihr Teil bekam, fühlte fröstelnd nach ihrem regenfeuchten Haar.

»Fürchtest du dich denn? Mir scheint, du fürchtest dich?« fragte Herdrix den Baron.

»Fürchten? Wer tut sich fürchten? Vielleicht du!« fuhr er auf. Aber kaum hatte er es gesagt, als er zusammenzuckte und sich auf die Bank zurückwarf. Ein Blitz und unmittelbar darauf ein grauenhafter Schlag. »Nur von einem Blitz zum andern bin ich halt nervös«, sagte er in die Bank hinein. »Gehts nur Ihr allein hinauf. Ich bleib da, hier ist man am sichersten!« Er winkte sie mit dem Beine weg.

»Gut, gut! Wir sind nicht nervös. Adiöööh! Übrigens, man kann nicht wissen,« – in ihrem Gesicht saßen die kleinen Teufel und sie nahm eine hohe Stimme an – »Physik studiert hat so ein Blitz niiicht.« Sie dehnte das Wort warnend und weidete sich ein bißchen an seiner Angst. Dann nahm sie seinen Rock, den sie auf der Stuhllehne gefunden und mitgebracht hatte, und hängte ihn ihrer Schwester über die Schultern. Aber Frau Clemy nahm ihn herunter. »Weißt was? Ich werd' ihn anziehen. Es ist wärmer.« Sie schlüpfte in den weißen Herrenrock, die Ärmel waren ihr zu lang, über der Brust konnte sie ihn gar nicht zuknöpfen, aber es war lustig und sie schob die Hände tief in die Taschen. »So. Avanti!«

»Gewitterzauber!« rief Herdrix und trompetete Gott Donners Sammelruf: »Heda! Hedo!«

Die Frauen hoben die Röcke und liefen auf den Fußspitzen über den weichen Boden, Leib an Leib, als würden sie dadurch weniger naß. Das Wasser troff aber aus ihren Figuren und rann kitzelnd in den Nacken, bald klatschten die Röcke um ihre Knie.

Als der Bürgermeister endlich einen Schirm aufgegabelt, sich durch die Schar der Flüchtlinge durchgewunden hatte und wiederkam, konnte er bei seinem Freunde Godler sitzen, denn die Damen waren längst im Trockenen. Die Rettungsexpedition kam zu spät. Da waren nun die beiden Herren beisammen im Salettel unter Donner und Blitz, beide voll Ärger gegen den Himmel. Während aber Godler hilflos lag und hinter Frau Clemy herfluchte, die eigentlich an allem Schuld trug, segnete sie der andre, den Schirm zwischen den Knien, denn einer ihrer schönsten Blicke war sein geworden und blieb es, und auf der Straße seiner Hoffnungen brannten wieder glühende Laternen trotz Regenguß und Windeswut.


Wenn man so recht vom Regen gewaschen ist, wie Clemy und Herdrix, und nun schön still im Zimmer sitzen kann, die trockene Wäsche an den Gliedern spürt, der Teeduft aus der warmen Kanne streicht, dann lehnt man sich behaglich ins Sofa zurück, die Hängelampe beleuchtet friedlich die Welt und ihre Ordnung, draußen zischt der Regen nieder, der Donner klirrt noch an den Fensterscheiben, man läßt es zischen und klirren, es bleibt halt draußen wie die unguten Gedanken.

So saß denn nun Herdrix vergnügt in ihrem kleinen Zimmer, sah ihrer Schwester ins Gesicht und lachte über das zerronnene Gartenfest und über den tapfern Baron, den der Blitz in einem offenen Arrest vielleicht die halbe Nacht gefangen hielt. »Eigentlich tut er mir leid in seinen Hemdärmeln«, sagte Herdrix während sie eine neue Schale eingoß. »Aber das kommt davon, wenn man sich fürchtet.«

Clemy antwortete nichts. Sie saß, den Kopf in den Händen, schaute ins Zimmer hinein und träumte, während der Regen fiel. Da stand ein Gitterbett und an dem Gitter kraxelte ein blonder Bub in die Höhe, der rieb ein Auge mit dem Finger und sagte: guten Morgen, liebe Mutter!

»Aber, wenn er nachdenken möcht', hätt' er vielleicht auch davon etwas, nicht? Es gibt lächerliche Situationen, die doch ihre ernste Seite haben, denn sie zeigen uns unser ganzes Leben. Nicht?«

»Ja, ja«, sagte Clemy verloren und hob ihren blonden Buben aus dem Gitterbett.

»Wenn der Baron seine Hemdärmelgeschichte genauer anschauen möcht', so könnt er draufkommen: so geht's mir mein ganzes Leben. Nicht nur diese Nacht. Immer in bengalischer Beleuchtung, immer festlich inszeniert – und schließlich in einem rheumatischen Salettel gefangen. Schau, wenn –«

»Ja, ja«, sagte Clemy und küßte ihren Buben ab.

»– wenn nämlich, ich nehme nur so an,« erklärte Herdrix, »wenn er, sagen wir, Schiffskapitän vom Lloyd wär', zwischen Triest und Bombay, oder Platzkommandant in Cattaro, verstehst, dann wär' er vielleicht ein Held. Aber, wenn er sein ganzes Leben unter der Esche sitzen muß, wie soll er ein Held sein? Der Mut braucht Gelegenheit, sonst rostet er ein wie eine schöne Stimme, die nie zum Singen kommt. Wohin mit der Kraft? Aber, was ist denn mit dir, Clemy! Ich muß die ganze Zeit reden, und du – allweil: Ja, ja. Was simulierst denn, Stummerl?« Sie rüttelte die Schwester freundlich an der Schulter.

Da trat Frau Clemy von ihrem Gitterbett weg und erwachte. »Ach nichts!« sagte sie langsam, »nichts …« und meinte damit die Summe einer langen Zeit, die sie soeben durchgerechnet hatte. Sie hörte seufzend auf und besann sich: »Du hast vielleicht recht. Die Schuld liegt nur an mir. Nicht das Salettel – ich halte ihn gefangen. Er kennt mich jetzt zehn Jahr'! Zehn Jahr' … da ist eine Frau, die sonst nichts zu geben hat, bald ausentdeckt. Und ich hab' ihm nichts gegeben …«

»Clemy, entschuldige, vielleicht ist das einfacher, als du glaubst. Meinst du, ich hab' nicht längst gesehen, wie Ihr zwei miteinander steht? Sooft wir uns zu Tisch setzen, seh' ich's und möcht' am liebsten auf und davon. Vielleicht – bist du mit ihm nicht lieb genug. Man muß sehr lieb sein können, und man kann viel lieber sein, als man oft für möglich hält, ja man …« Sie stockte, wurde plötzlich rot, ihr Finger zitterte wieder einmal, denn die Quelle dieser jungen Weisheit war nicht allzuweit von hier und Clemy sah sie jetzt mit einem eigentümlichen Seitenblick an. »Sehr lieb? Lieb ist gut! Ich werde mir das Ohrfeigenmädel zum Muster nehmen!«

»Geh', lass' ihn holen!« sagte Herdrix freundlich und erhob sich. »Ist es dir recht? Ich schick' das Stubenmädel hinunter …«

»Nein!«, wehrte Clemy ab, »nein, ich hab' auch eine Weil' daran gedacht, aber heut' ist mir schon lieber: ich seh' ihn nicht! Schau, ich zeig dir was …« Sie machte die Faust auf und reichte der Schwester einen zerknüllten Zettel. »Lies das, solang er nicht heroben ist. Und wenn du auch dann verlangst, ich soll sehr lieb sein, dann lass' ich ihn holen …«

Herdrix glättete den Zettel und las ihn unter der Lampe. Es waren sozusagen Hausmeisterbuchstaben, die sie entziffern mußte, anfangs lächelte sie, dann drückte sie die Augen ein. »Da steht: Goscherl. Wer ist das nur?« War das nicht die unter Tränen lächelnde Lieblingsschülerin, von der Grazian ihr erzählt hatte? Alle Amandischen Possen stiegen in ihr auf und ohne den Zusammenhang zu kennen, lobte sie die Ohrfeige, die der schwarze Maestro von ihr bekommen hatte. Noch einmal las sie die merkwürdige Urkunde:

 

Mein lieber Herr Zigeunerbaron Du plagst Dich ganz umsonst. Wennst mir auch Blumen schickst und Ringerln, und wo Du weißt, daß ich vorläufig ein andern gern hab und rennst mir nach und laßt mir keine Ruh net. Hast eh die dicke Kaisermizzl und gibt für zwei aus. Und wennst Du Dich scheiden lassen willst wegen meiner und von mir aus kannst es tun, aber das wird Dir nicht so viel nutzen. Denn mit Deiner gnädigen mag ich nie nix zu tun haben, kratzt mir eh die Kaisermizzl jetzt die Augen aus. Also überleg Dir's wegen dem Zusammziegen. Inzwischen grüßt Ihnen herzlich

s Goscherl
in gesellschaft Wiener
Lercherln.

 

Nun aber kamen doch ein paar ungute Gedanken herein und trommelten an ihr Herz wie der Regen an die Fensterscheiben. »Sag', Clemy, wie kommst du dazu?«

»Du denkst dir halt, liebe Herdrix, ich bin eifersüchtig, gewöhnlich eifersüchtig wie ein Stubenmädel im Prater. Ja, da wär' ich froh, ich beneide so ein Stubenmädel! Schließlich ja, in meinen Jahren: Die Jugend ist schon bei der Tür, das Alter wird gleich anklopfen – aber diesen Zettel hab' ich nur zufällig gefunden.« Sie lächelte leise und bekannte: »die Finger einer Frau sollen nie in der Rocktasche des Mannes wühlen.« Aber das Gartenfest war schuld gewesen, oder das Gewitter, als sie Godlers Rock anziehen mußte. »Weißt du, wer das Fräulein Goscherl ist?« Sie stützte die Ellbogen auf das Knie und beugte ihr Gesicht in die Hände hinein, als wolle sie tief in alte Erinnerungen schauen. Dann erzählte sie von einer Kollegin beim Ballett, von einer Hernalser Aphrodite, die heut verschwunden ist, weil ihr niemand in die Tiefen folgte, worin sie sich wohlfühlte. Diese Kollegin war kurze Zeit die Frau eines Mannes, der den Namen Friedrich Schwerengang trägt. »Das Fräulein Goscherl ist die Tochter Wahnfriedrichs.«

Herdrix erhob sich. »Die Tochter des – Wahnfriedrich?«

»Ja. Ich bitt' dich, laß es ihn nie merken. Es ist die Wunde seines Lebens. Er hat sich eine eigne Welt errichtet, in der er leben kann. Er erhält sich nur mit künstlicher Atmung.« Und Clemy erzählte, wie sonderbar sich in der Tochter die Natur der Mutter mit dem hohen Wesen ihres Vaters gemischt habe. Nach dem Ideale Wahnfriedrichs sollte sie eine Brünhild werden, und – singt heut auf dem Brettl, beim Weigl oder Luchsen, oder sonst wo, … das Geblüt der Mutter!

»Das ist schrecklich. Aber das Schrecklichste ist es nicht. Auch das nicht, daß der Baron sich gerad' diese Dame ausgesucht hat um mit ihr zu leben. Das Schrecklichste ist, daß er den Uhrmacher um dieses Mädels willen betrügt. Er wirft ihr hin, was er dem Mann da unten aus seinem Laden davonträgt.« Sie erklärte der immer nachdenklicheren Schwester zögernd, welche Schulden der Baron bei Schwerengang gemacht hatte, wo er doch nichts besaß als die geringen Einkünfte aus seiner Vormittagsbeschäftigung: das war sein Gehalt als Hilfsbeamter in der Hoftheaterverwaltung, und diese kleine Stelle hatte ihm überdies noch Clemy nach tausend Mühen zu verschaffen gewußt. »Jetzt weißt du, warum es bei Tisch solche Blicke gibt, daß du auf und davonlaufen möchtest, und du sollst noch wissen: ich möcht' es auch!« Sie faltete die Hände vor dem Mund und seufzte: »Wer hilft mir zum Frieden? Ich bin so müd'! … Soll ich ihn holen lassen, soll ich mit ihm lieb sein?«

Herdrix saß stumm. Die ganze Zeit über hatte sie an eine Frau gedacht, vor der sie sich jetzt schämen mußte wie die Clemy. Wie würde sie der Frau nach alle dem ins Auge schauen? Und sie war nicht freundlich mit Frau Christel gewesen wie die Clemy, sondern g'schnappig und keck. Sie ließ die Arme hängen und sah der Schwester ängstlich in die Augen.

»Also, soll ich lieb mit ihm sein?« wiederholte Clemy, »soll ich ihn holen lassen?« Und als Herdrix still das Teegeschirr beiseite räumte, sagte sie: »Ich hoffe, jetzt gibst du mir recht. Wo der Stolz einer Frau anfängt, hört ihre Güte auf!« Sie nahm Herdrix um die Schultern und ging mit ihr im Zimmer auf und ab. Da standen noch so manche Stücke aus dem alten Maxintsackhaus, die Clemy als Mädchen gekannt hatte, der Kasten, die Kommode mit dem Makartbukett, und die schienen auch die Clemy noch zu kennen. Plötzlich sagte sie leise zu ihrer Schwester: »Weißt, ich will heut nacht bei dir bleiben, hier fühl' ich mich so geborgen. Mein Geburtstag ist doch. Ich will ihn feiern und bleib' bei dir!«

So geschah es denn. Herdrix machte ihrem Gast so gut es ging ein Lager auf der Ottomane. Sie lag in ihrem Bett, aber heute las sie nicht bis tief in die Nacht hinein wie sonst. Sie löschte die Lampe und lag im Dunkeln mit offenen Augen.

Der starke Donner hatte nachgelassen und der Regen sang jetzt ein andres freundliches, beschwichtigendes Lied: er wirkte Ruhe in die Seele der müden Frau. Sie schlief und war wieder im Garten unter den Kindern und sah die glühenden Lampions und den Bürgermeister, der es so gut meinte. Und der feierliche Bürgermeister nahm sie an der Hand. Dann kniete er vor ihr. Das war so komisch, wie der Herr im schwarzen Rock da kniete, aber auch so rührend, daß sie hätte lachen und weinen können. Und sie ließ es geschehen, daß er ihr den Arm bot und sie ehrerbietig durch die Kastanienallee geleitete, die heute so sonderbar lang war und kein Ende nehmen wollte und mit Lampions behangen war. Und sie gingen mitsammen, und voran schleifte plötzlich der alte Köckeis mit Frau Brunner, drehte manchmal den Kopf mit dem Bürstenhaar über die Schulter und lächelte mit weisem Ausdruck.

Herdrix hörte die Traumworte ihrer Schwester und beneidete sie um Schlaf und Traum. Sie nahm den Wecker vom Nachtkästchen und stellte den Zeiger ab: er sollte Clemy am Morgen nicht stören. Und sie selbst – sie wurde ja am Morgen von der Sorge geweckt: die Sorge stand auf dem bösen Zettel in ihrer Hand.

»Wer hilft mir zum Frieden?« … Auf einmal überkam es sie und sie streckte die Arme ins Dunkel und hielt sie offen, als müsse ihr jemand an die Brust sinken, weil so viel Sehnsucht ihn rief. Sie ließ die Arme fallen und schämte sich und wurde glühend heiß auf ihrem Kissen. Ein Geheimnis lächelte unter ihren Lidern. Und Clemy kannte es nicht. Es war süß und lächelnd und war das Geheimnis des Friedens. Sie fühlte sich mit Grazian in Sorge verbunden und wenn zwei schöne Bäume in diesem harten Boden stehen, dann können die Gewitterstürme kommen und die Kronen zausen, die Wurzeln bleiben fest. Ein altes Lied stieg aus ihrer Seele auf, ein Volkslied – oder was war es denn? – sie wußte es nicht mehr. Aber die Singerin war durch den Regen in dieser Nacht einmal zu ihr gekommen und nun hörte Herdrix in stummen Tönen eine zarte mächtige Weise:

Ich liebe dich so wie du mich
Am Abend und am Morgen.
Noch war kein Tag, wo du und ich
Nicht teilten unsre Sorgen.


Clemy schlief noch, als Herdrix aufstand und ihren Tisch ans Fenster rückte. Im bloßen Hemd, mit nackten Füßen setzte sie sich hin, um einen Brief zu schreiben. Schon nach den ersten Worten aber hielt sie ein.

Sie sah hinaus über die Wipfel des Gartens. Die Landschaft kam ihr so verändert vor: bis an den Rand des Himmels konnte sie schauen, und drüben auf dem andern Donauufer standen ganz allein sechs Häuser, die einzigen Häuser der Lände. Wie kam das? Sie trat ans Fenster und schlang sich in den Vorhang. Diese Spielzeughäuser, dieses rosarote Band vor dem Grau des Himmels, – das war ja nur im Winter sichtbar. Frau Brunner erschien in diesem Augenblick im Hofe und zeigte ihr die offene Schürze, worin grauschwarze Baumäste mit weißgebrochenen Rändern lagen. Sie deutete mit dem Kopf über die Schulter zurück. Richtig! Die Esche – die schöne alte Esche fehlte dort, der Blitz hatte ihr die buschige Kuppel abgeschlagen und sie mitten auf die Wiese geworfen. Deshalb die weite Fernsicht … Herdrix nickte bedauernd hinter dem Vorhang zu Frau Brunner hinunter. »Der Blitz, ja der Blitz.«

Sie ging wieder an den Tisch und las den angefangenen Brief. Nein, das ließ sich gar nicht schreiben, sie mußte mit ihm sprechen, ihm die Sorgen dieser Nacht anvertrauen, und nun war sie es, die zum Erbsenknacken ging.

Fast fiel kein Regen mehr, aber die Dächer und die Blätter glänzten: es war ein Tränen in der Luft. Rasch kleidete sie sich an, dann schlich sie auf den Zehenspitzen hinaus. Als sie auf den Vorplatz trat, fuhr eine Tür auf und wurde blitzschnell wieder zugedrückt, wie wenn sich jemand nicht heraustraute. Durch den Spalt hatte sie den Baron bemerkt, der in Hemdärmeln hinter dem kleinen Stubenmädchen stand, die Hände auf ihren Hüften. Kopfschüttelnd stieg Herdrix hinunter.

Dann trat sie in Schwerengangs Gewölb. Es war leer. Sie mußte warten. Nebenan im Kabinett war eben ein Kunde. Sie setzte sich auf das Plüschstockerl am Werktisch. Aus dem Kabinett drang die Stimme Schwerengangs, der auf jemanden einzureden schien. »Aber, was Ihnen nicht einfallt! Das ist ein Kavalier durch und durch. Da sind Sie ganz –«

»Ich bin a alter Freund von Ihnen, lieber Schwerengang,« sagte eine fremde raspelnde Männerstimme, »Sie wissen. Was für a Int'resse soll ich haben?«

»An alter Unglücksrabe sind Sie!« trompetete die Christel, »das ist an Ehrenmann. Für den leg' ich die Hand ins Feuer!« Sie lachte abweisend und blies wieder die Trompete.

»Sie werden die Hand schon wieder herausziehen, Frau Schwerengang! Ich sag' Ihnen, das is' a Existenz wie a Kartenhaus. Ein Blattl nur braucht umzufallen und alles liegt. Mir erzählen Sie nix! Ich kenn die Leit' besser. Mir is' er schuldig, Ihnen is' er schuldig und wer weiß, wem noch. A Mensch, der nur vom Anpumpen lebt, und hat nicht a mal das freie Aug' von Herrn Amandi!«

Herdrix hatte sich zwingen wollen nicht zuzuhören, sie horchte auf den Schlag der Uhren, doch der Wortwechsel wurde immer lauter, die Trompete der Christel immer heftiger, es war nicht möglich wegzuhören. In der Tür zwischen den Vorhängen erschien auf einmal der Rücken Orion Feuerscheins. Zwei Hände arbeiteten und eine Stimme schrie ins Kabinett zurück: »Fiakerprobe, Radwettfahren, Madeln aushalten, beim Magenschein Partien, Feuerwerk, und was weiß ich – tut das a anständiger Mensch? Halt ich Madeln aus?« Er arbeitete mit den Händen, als würfe er etwas hinein. »Ich hab Sie nur amal gewarnt. Es geht Ihnen schlecht genug! Zweimal haben Sie ihm geborgt, hoffentlich überlegen Sie sich's beim drittenmal!« Das Gelächter der Christel schien ihn zu beleidigen. »Und ich sag' Ihnen,« rief Feuerschein, »der endet noch im Kriminal!« Er steigerte seinen Ausdruck, da er wieder gereizt wurde. »Sie lachen? Gut! Das is' ein geborner Defraudant, der Herr von Godler!«

Herdrix hatte sich erhoben und stand bebend, ihre Hand tastete nach einem Halt …

Orion war herausgekommen und wendete sein dickes Angesicht fragend dem Mädchen zu. »Oh, küß die Hand, schönes Fräulein – was is'? – um Gotteswillen! Is' Ihnen schlecht?« Frau Christel stieß ihn weg. »Aber Fräulein Herdrix – arme Haut – sehns –« sie blitzte Orion an – »das habens jetzt davon! Schaun S', was Sie anstellen –«

»Gott soll mich strafen!« rief Feuerschein beteuernd, »der Herr Baron wird das verantworten. Was kann ich dafür?«

»Oh, danke Frau Christel, nur ein bißchen niedersetzen. So. Mir ist ganz gut. Die Clemy ist heut nacht – wir waren lange auf. Die Nacht. Da wird man müd.«

Orion benützte die Pause und empfahl sich unter verlegenen Entschuldigungen. »Kann ich dafür?«

»Sie dürfen nicht bös sein, mein liebes Fräul'n, wegen dem da,« sagte die Christel und deutete mit dem Kinn Orion nach. »Wir haben ja das größte Vertrauen zu Ihrem Herrn Schwager! Bitt' Sie, so ein Kavalier! Wenn wir nicht so überzeugt sein möchten – aber, was reden wir denn! Er wird uns nicht sitzen lassen in diese schwere Zeiten. Er wird seine Sachen zahlen. Bitt' Sie, dreitausend Gulden – für ihn a Pappenstiel! A Hofbeamter!«

Herdrix wagte sich nicht zu rühren, sie wagte nichts zu sagen.

Frau Christel nahm sie fürsorglich um die Hüfte. »Fräul'n, kommen S' da zu mir herein!« Sie öffnete die Glastür, die nach dem Wohnzimmer führte, und geleitete sie hinein. »Setzen S' Ihnen a bissel auf die Sofa. Rasten S' Ihnen aus. Sehen S'!« Sie setzte sich zu ihr, faßte ihre Hände und blickte ihr hilfreich und aufmerksam ins Gesicht.

»Frau Christel, hören Sie,« sagte Herdrix schüchtern – »o Gott! – ich komme mir wie verurteilt vor – was ist denn das mit dem Baron?«

»Aber gar nix! Ein Pappenstiel! Lassens Ihnen kein grau's Haar wachsen!« Und sie erzählte mit Befriedigung ein wie guter Kunde der Baron sei, er habe für seine Schwester, die Baronin Hütter, Uhren und Armbänder und Ringe genommen und sie legte abermals die Hand ins Feuer.

Herdrix stand auf, ihr Atem ging schwer, und jedes Wort aus sich herauswindend, sagte sie: »Es wäre vielleicht doch gut, wenn Sie – – vielleicht hat dieser Herr Feuerschein doch – recht …!«

Frau Christel stand auf und starrte sie an. Die Knie wankten ihr.

Ein furchtbares Schweigen entstand. Man hörte auch die alte Stockuhr schweigen. Tot hing der Pendel. Ganz automatisch trat die Uhrmachersfrau hinzu und gab dem Pendel einen Stoß. Er ging ein paarmal hin und her, schwang immer schwächer und blieb kraftlos in der Mitte hängen.

Herdrix näherte sich scheu der Christel und nahm ihre schwere Arbeitshand, die schlaff herabhing, sie suchte mit einem Blick in die starren Augen der Frau zu dringen. Plötzlich führte sie die Hand an ihren Mund, und ohne Wort und Gruß eilte sie hinaus.


Der Regen hatte gänzlich aufgehört, und hinter dünnen glänzenden Wolken kämpfte sich für Augenblicke die Sonnenscheibe hervor. Die Häuser waren gelb angestrahlt, dann liefen wieder dunkle Schatten drüber. Heiß und erregt erreichte Herdrix das Fünfundzwanziger Haus, und während sie die grünbemooste Steintreppe zum Garten emporstieg, nahm sie den braunseidenen Umhang von den Schultern. Hinter den Gitterlanzen sah sie den alten Herrn im Lüsterröckel, der eben emsig mit dem Fuß auf die Plutzer trat, die die Rabatten kränzten. Den ganzen Weg hatte sie nachgedacht, wie sie ihm am besten beikommen könnte, sie hatte es sich gut zurechtgelegt, und jetzt, wo sie vor ihm stand und dieses alte versteinte Gesicht erblickte, wollte alles zusammenfallen.

»Grüß di' Gott«, antwortete er trocken auf ihren Gruß, rauchte und stampfte weiter, wie wenn er auf Köpfe träte. Er ließ sich nicht ablenken, und ohne sie zu fragen was sie wolle, ging er ins Lusthaus. Er band sich eine blaue Arbeitsschürze vor die Brust und kam langsam zurück. Noch immer stand sie auf demselben Platz ängstlich und unschlüssig, während er die Schaufel in die weiche Erde stieß und sich gar nicht um sie kümmerte.

Nach einer Weile hielt er ein, stellte wie rastend den Fuß auf den Schaufelrand und sagte: »Du, für die da oben« – er deutete mit der Meerschaumspitze in die Richtung des Eschenhauses – »bin i net z'Haus. Merk' dir das!«

Er wußte also. Da konnte sie nicht mehr an sich halten. Ihre Stimme brach bebend heraus.

»Vater!«

Alle Qual hallte in dem Ruf. Er legte die Schaufel nieder und schlürfte langsam an sie heran. Dann murmelte er etwas und streichelte ihren Gretchenkopf. »Jetzt schicken, s' halt di' zu mir.«

Herdrix schüttelte den Kopf. »O, nein, die Clemy weiß es gar nicht. Niemand. Ich ganz allein – es ist keine Viertelstunde her, da ist mir der Gedanke aufgeschossen: ich allein, ich könnte allen helfen – ihnen und den Uhrmachersleuten. Oft ist ein Mensch, der sonst zu gar nichts auf der Welt ist, plötzlich etwas wert, weil er helfen kann.« Und in schluchzend gestoßenen Worten erzählte sie und bat mit zärtlichen Geberden. Sie lächelte das alte rote Gesicht an, und da es vereiste und einschlief und ihr Lächeln nicht erwiderte, fing sie von neuem an, stockend und zaudernd: er könne ja als Vater alles tun, er könne ihre Häuser belehnen, oder wie er wolle; mit einer einzigen Unterschrift ist alles gleichgebracht, ist dieses elende Geld herbeigeschafft, ist Godler vor dem äußersten bewahrt, die Clemy vor unverdienter Schande geschützt und die Schwerengangs vor einem drohenden Verlust. »Ich brauche nichts, ich verzichte auf Vermögen, auf Besitz,« und mit etwas schwärmerischem Tone rief sie: » Glücklich machen soll das tote Geld! Wenn es sonst nichts kann, ist es unnütz. Also mir zuliebe, Vater, hörst du, mir zu Liebe …!« Sie hatte ihn umfaßt und ihm in der Herzensangst ihre junge Wange an die welke Backe gelegt. »Vaterl, Vaterl!«

Er bückte sich mühselig und hob die Schaufel auf. Dann schlürfte er zu seinem Beet zurück. »So viel schlecht geht's mir jetzt,« sagte er und hüstelte. »I hab kan Abbatit, und die Füaß, die werden halt alleweil schwächer. Wann ma' kan Abbatit net hat – dann is' aus …« Aus ihrem Gesichte starb das Lächeln weg. Sie stand wieder hilflos wie vordem. Er arbeitete weiter, kräftig stieß er mit dem Fuß auf die Schaufel und warf eine Erdscholle weit von sich. Eine gelbe Gartenschnecke fiel heraus und zog sogleich den weichen Leib ein.

»Vater,« sagte Herdrix gemartert, »ich bitte dich, nur ein Wort! Hör doch, was ich sage!«

Maxintsack ging ruhig auf die andere Seite des Beetes, zog sein blaues Sacktuch und wischte sich bedächtig die Stirn; dann fuhr er mit der Schaufel wieder in die Erde und hatte Augen bloß für das Beet. Die Sonne glänzte hie und da auf den fettigen Schollen und spielte sternstrahlend auf den roten Glaskugeln.

Plötzlich hielt er inne, öffnete lächelnd den Mund, daß die gelben Zähne, drei oder vier, sichtbar wurden. Er sah aus wie ein Faun, als er nun kicherte: »Dir z' Lieb', hast g'sagt? Dir z' Lieb! Meine Liebe, di' hab' i viel z' gern! I bin viel g'scheiter, als du glaubst. Das ist net dir z' Lieb'. Das is' denen z' Lieb'. Und die? Die gehn mi nix mehr an!« Er änderte die Stimme und sie dröhnte rauh und stark: »Die gehn mi gar nix an! Bagasch! Bagasch überanand! Kan Kreuzer net! So lang i leb' – net an lucketen Kreuzer und« – er schleuderte den rechten Arm zum Schwur empor – »so wahr a Gott im Himmel is', net an Kreuzer, so lang i leb'! Sie sollen betteln gehn, verrecken meinetswegen! Wan i amal net mehr bin – dann, dann kannst tuan, was d' willst!« Die Stimme brach, und er stöhnte weinerlich: »es dauert eh' nimmermehr lang. So viel schlecht is' mir – d'Huasten allaweil – und gar kan Abbatit – so viel schlecht …« Sein Gesicht wurde trübselig und schlief wieder ein.

Herdrix hatte sich zum Gehen gewendet, sie fühlte sich gedemütigt, wie ein Baum, den sie an den Stricken niederreißen. Die Tränen kamen ihr beinahe. Plötzlich schnellte sie in die Höhe. Nein! Das steckte sie nicht ein! Sie hätte nachher vor Wut geheult! Sie schluckte ihren Weibszorn hinein, beherrschte sich gewaltsam, um die Kraft nicht zu verlieren, kehrte um, und ging mit einer verdächtig langsamen sicheren Langsamkeit an ihn heran. Er wich vor ihren vipernden Augen zurück. Sie aber stemmte sich fest gegen den Boden und stach nach ihm mit kühlen spitzen Worten: »Ich bitte! Streng dich nicht an! Du brauchst vor mir keine Komödie zu spielen. Aber du brauchst auch meine Schwester nicht zu beleidigen. Verstanden? Wer meine Schwester schändet, schändet auch mich! Bagasch! Ich bin keine Bagasch, ich bin die Tochter des Herrn Maxintsack und den hab ich immer für einen Ehrenmann gehalten. Und solang du das nicht gut machst, was du mir eben angetan hast, kenn' ich dich nicht. Ich brauch's nicht von dir. Geld zusammenkratzen ist in meinen Augen gar kein Verdienst!« Wie einen Schneeball warf sie ihm das mitten ins Gesicht. »Und ob der Freiherr von Godler ein Schwindler ist oder nicht – – Mensch ist er und Menschen müssen einander helfen! Du aber, statt ihn hinaufzuziehen, du trittst ihn mit dem Fuß hinunter.« Sie schleuderte einen neuen Schneeball, und auch der traf ins Gesicht. »Und wenn du schon für den Godler kein Geld hast, dann wär' es deine verdammte Pflicht und Schuldigkeit, daß du zum Uhrmacher gehst: Herr, da ist die Schuld! Dreitausend Gulden. Das zahlst du mit einer Hand. Aber das fällt dir nicht ein. Pfui! Habe die Ehre!«

Sie drehte dem sprachlosen Gärtner den Rücken und marschierte mit hochgehendem Busen ab wie eine frischgewählte Königin. Er stand mit offenem Munde. Die Schaufel war ihm aus der Hand gefallen. In seinem Leben war er nicht mit Schneeballen so beworfen worden wie heute.

Während sie die Treppe hinabstolzierte, kam mit wiegenden Schritten der Wenzel über den Hof, und als er sie erblickte, spazierte er ihr entgegen. Er zog den Hut fast ironisch tief, lächelte sie vertraulich an und blieb einen Augenblick stehen, als wollte er ein Gespräch anknüpfen.

Herdrix dankte mit laut betonter Gleichgültigkeit – sie war grade in der richtigen Stimmung – und ließ ihn stehen.

Im Torgang aber drehte sie sich unwillkürlich um. Da stand er noch immer, ein Auge zugekniffen und schaute ihr nach. Dann schwang er sich auf dem Absatz herum und stieg pfeifend in den Garten. Was mußte sie sich umschauen! Sie ärgerte sich. Aber sie hatte ein so unbehagliches Gefühl im Rücken gehabt. Diese weißlichen Augen voll kalter Gier …

Tiefatmend stand sie vor dem Hause und überlegte: Wohin jetzt? Die Gesichter der Uhrmacherleute wieder sehen? Und mit leeren Händen dabeistehen, mitschuldig und ohnmächtig? Oder überhaupt aus dem Leben hinaus?

Während sie so stand, wurde nebenan aus dem Schusterladen eine Kiste herausgeschoben. Der Lehrling machte sich daran zu schaffen und verschwand. Die Sonne war hervorgekommen und strahlte durch blaue Risse auf die Gasse, der Prellstein an der Hauswand und das Straßenpflaster bildeten einen warmen Winkel. Die Schustersfrau hob ihren Schlangenkopf heraus, in wirren Strähnen starrte ihr graues Haar. Sie funkelte das Mädchen an und riß die Lider auseinander, wie wenn sie rufen wollte. Herdrix schauderte zusammen und trachtete davonzukommen. Aber die Frau schien sich zu recken und mit dem steifen Hals zu winken – halb entsetzt, halb mitleidig trat Herdrix auf sie zu. Das Weib war in der Kiste ganz zusammengeknäult, nur im knöchernen Gesicht, in den schwarzstechenden, ruhelosen Augen war noch Leben. Als Herdrix sich niederbeugte, stieß die Lahme angestrengt einige Laute hervor: »Uhrmacher – das – Uhrmacher … ich … etwas sagen … ich – weg schnell! Nicht stehen bleiben!« Sie keuchte wie ein Gefangener, der rasch zum Gitter hinausspricht. Es klang unverständlich und geheimnisvoll. Was wollte sie? War sie irre? Herdrix nickte ihr unmerklich zu und trat hastig weg.

Nachdenklich ging sie die Hauptstraße hinauf. Heute war Clemys Geburtstag. Nun, der Tag hatte wunderschön begonnen. In einer Stunde war so viel Schönes zusammengekommen, wie sonst in einem ganzen Jahre nicht. Und was hatte der Wenzel beim Großvater zu suchen gehabt? War er es, der dem Greis erzählt hatte? Sie fuhr sich mit dem Taschentuch über das Gesicht, wie wenn die Augen des Wenzel dort Spuren zurückgelassen hätten. Dieses Anfühlen ihres Körpers mit den Augen – frech und verletzend – als ob er schlürfen oder kosten wollte … oder sie entkleiden …!

Sie ging plötzlich rascher. Ein Verlangen nach Reinheit stieg in ihr auf, die Sehnsucht nach tröstender Liebe, die Sehnsucht von heute nacht kam wieder, und auf einmal wußte sie, wo ihre Hoffnung war, wo die Erlösung aus aller Wirrnis, der Friede lag, sie wußte, wohin sie gehen mußte: zu Grazian. Und sie ging hin.


Aber Herdrix traf den, den sie suchte, nicht an, denn an diesem Morgen kämpfte Grazian um seine Ehre.

Er sei eben in die Stadt gegangen, hörte sie, und schien es sehr eilig zu haben.

In der Frühe hatte Grazian zwei Briefe bekommen. Der eine machte ein freundliches Gesicht, war dick und schwer, und kam vom Bürgermeister. Als er geöffnet wurde, fiel die ganze Liebenswürdigkeit des Bürgermeisters heraus: drei schöne Hundertgulden-Noten! Und Doktor Krügl bedankte sich für das schöne Fest mit vielen Worten, von denen jedes ein Kompliment machte. Die ganze Idee stamme ja von Grazian und die Ausführung war tadellos bis auf Herrn Amandi und den Regen, und weil es gelungen war, erlaubte er sich Herrn Schwerengang als intellektuellem Urheber, Bubenleiter und so weiter eine bescheidene Summe anzubieten, so viel er eben könne. Grazian steckte pfiffig lachend die liebenswürdigen Hundertgulden-Noten in die Brusttasche. Es war ein verheißungsvoller Auftakt und das erste Geld in Amandis Diensten. Fünf Monate hatte er im Schlössel schon gearbeitet, doch keinen Kreuzer zu Gesicht bekommen, wie Wahnfriedrich es prophezeit hatte, die Hieferschwanzeln und die Gugelhupfe fraß Amandi selbst auf, und da er offenbar ein feuriger Anhänger der Ricardoschen Lohntheorie war, wonach er nie seinen vollen, gebührenden, sondern nur den notdürftigsten Lebensunterhalt empfing, so kassierte er auch die Stundengelder ein und nahm in Beschlag, was er feierlich zugeschworen hatte: hundertfünfzig Gulden monatlich.

Grazian wollte eben den zweiten Brief öffnen, dessen Umschlag den Aufdruck trug: Kirchenmusikdirektion Prof. Heinr. Wackler. Also ein dienstliches Gesicht. Da hörte er in seiner Brusttasche ein seltsames Terzett singen. Die drei Noten sangen, und zwar einstimmig: Wir sind kein Auftakt. Wir gehören auch nicht hierher. Wir gehören zu Herrn Amandi. Den »Agenten«, den dir Wackler neulich versetzt hat, hast du einstecken können, denn Wackler ist dein Herr. Uns drei aber kannst du nicht einstecken, denn Amandi mag ein abgetriebener Luftikus sein – er ist dein Herr wie Wackler dein Direktor!«

So sang das Terzett, und Grazian, der diese Strophe nachdenklich anhörte, fuhr in die Tasche, nahm die Noten heraus, steckte sie in einen frischen Umschlag und schickte sie mit ein paar Zeilen an Ercole Amandi, Alleegasse 9. Als der alte Köckeis damit auf dem Wege war, hatte Grazian für seine Tierdressur noch immer nichts bekommen, aber selig war ihm ums Herz, daß die Noten Herrn Amandis Aug' und nicht seins erfreuten.

Nun der andre Brief. Er sah beinahe feindlich aus. Grazian erbrach das Schreiben – stand eine Probe in Sicht oder gab es einen Auftrag? – aber er ließ es in der Hand sinken. Das war ja … das kam ja einer Kündigung gleich? Und er las noch einmal: »… zu meinem Bedauern die Eröffnung … Ihr Stipendium muß mit dem neuen Jahre anderweitig vergeben werden, da sich Bewerber gemeldet haben, die nicht wohlhabende Eltern besitzen, also dürftiger und vielleicht auch würdiger sind. Ich ersuche das Dekret mit Jahresschluß zurückzustellen, der Dienst endigt mit Anfang Februar. Mit dem Ausdrucke vorzüglicher Hochachtung Heinr. Wackler.«

Also eine verkappte Entlassung, nein: eine unverkappte. Grazian mußte beinahe lachen. »Mit vorzüglicher Hochachtung!« Wohlhabende Eltern! Aber – anderweitige Bewerber? Würdigere? Wie? Was hatte er sich denn zuschulden kommen lassen, welchen Dienst hatte er versäumt? Warum war er unwürdig? Das mußte Wackler aufklären, das mußte er auf jeden Fall zurücknehmen, ob sich's um eine Finte handelte, oder ob Verleumdung, ein Kirchenklatsch dahinter war. Und es mußte gleich geschehen.

Er stürmte in die Stadt, um Wackler in seiner Wohnung aufzusuchen. Die Frau Direktor steckte den Kopf zur Tür heraus, und als sie Grazian erblickte, wurde ihr Gesicht verlegen. »Er ist nicht zu Hause … er ist verreist …« Sie stockte und zog eilig den Kopf zurück. »Ich danke für die Auskunft!« sagte Grazian mit ironischer Freundlichkeit und ging die Treppe hinab. »Verreist!« Das war eine sinnlose Ausrede. Wie konnte Wackler verreisen! Morgen war Sonntag!

Geradenwegs begab Grazian sich in die Kirche. Er eilte die dunkle Stiege zum Chor hinauf, drückte die schwere Bohlentüre auf – in der heiligen Kreditanstalt stand Wackler, wie Grazian es erwartet hatte, und wühlte in den Schränken, um die Noten für die morgende Messe herauszurichten.

»Guten Morgen!« sagte Grazian kühl und stellte ihn sogleich zur Rede. Der gallig-gelbe Mann hob überrascht die spitze Nase. Darauf war er nicht gefaßt. Er sah sich hier mutterseelenallein, ein Gefühl der Beklommenheit ergriff ihn, und während er seinen wie aus dem Boden gewachsenen Angreifer in ängstlicher Neugier betrachtete, stotterte er ein paar Redensarten hervor. »Ich bin Ihnen nichts schuldig. Lassen Sie mich in Frieden …« Er drehte eilig den Schlüssel zum Notenschrank um.

»Herr Direktor!« rief Grazian und suchte seine Stimme in der Gewalt zu behalten, denn eine mitleidige Regung mit dem Überfallenen stieg in ihm auf. »Sie sind mir eine Antwort schuldig!« Er machte eine abwartende Pause. »Sie können mich aus Gründen, die das Dekret aufzählt, entlassen, aber Sie können mich nicht ohne Gründe anzugeben vor die Türe setzen wie einen diebischen Ladendiener! Habe ich etwas versehen? Oder paßt Ihnen meine Person nicht mehr? Das muß ich wissen. Also bitte!«

»Herr Schwerengang, Sie dürfen nicht glauben … ich fürchte mich vielleicht …« sagte Wackler mit schlotterndem Unterkiefer und näherte sich rücklings der Tür zur Stiege. »Ich habe Sie bloß schonen wollen. Schonen, ja. Doch, wenn Sie darauf bestehen …« Er hielt sich mit der Hand an der Tür fest und fragte: »Was wollen Sie denn von mir? Jetzt sind Sie mich doch los? Ich bin ja … nur ein Handwerker, ein Musikschuster, Sie natürlich können es viel besser …« Er warf sich beleidigt in den Hüften hin und her. »Nicht wahr? Ich weiß doch, daß Sie mein Feind sind. Ihre Blicke, Ihr ganzes Benehmen – an den Herrn Bobak und Holzer ärgere ich mich ohnehin zu Tod und Sie, Sie – wollen mir den Kragen umdrehen. Aber Sie sind noch zu jung und unerfahren, um sich solche Stellen einzubilden. Sie sollten mir dankbar sein: Sie haben eine Menge von mir gelernt – ich habe gedacht, Sie sind aus einem besseren Holz, und Ihr Onkel …«

»Das ist gemeine Lüge und Verdrehung!« schrie Grazian, dessen gespeicherter Zorn sich nun gegen Wackler entlud, dem er nicht einmal galt. »Wer ist Ihr Zeuge? Nein …! Das müssen Sie mir sagen! Nur Schuster verschweigen ihre Gewährsleute. Sagen Sie es auf der Stelle. Oder ich halte Sie für keinen Ehrenmann!«

Wackler blinzelte nach der rettenden Stiege, und seine Hand zitterte verlangend dahin. »Sie sind gewalttätig,« krächzte er heiser. Doch Grazian hielt ihn am Arm fest und krallte die Finger in den Ärmel. »Herr, es handelt sich um meine Ehre!« donnerte er und stieß die Tür mit dem Fuße zu. »Also?« Er schaute ihn durchdringend an, aber Wackler ertrug diese schrecklichen Augen nicht, sondern stierte kläglich vor sich hin. Der lange, aufgeregte Mensch schien heute mit sich nicht spaßen zu lassen.

»Ich will Ihnen ja nicht unrecht tun,« wimmerte Wackler und verlegte sich aufs Krebsen. »Wenn es nicht wahr ist, können Sie ja bei mir bleiben in Gottes Namen … es scheint Ihnen dran zu liegen … aber denken Sie sich nur in meine Lage. Bitte … lassen Sie mich doch … ich weiß wirklich nicht, nein, ich weiß nicht …« Er zögerte einen Augenblick, dann erklärte er achselzuckend: »Der Brief war nämlich … nicht unterschrieben. Es steht nur darunter: Auch ein Handwerker … Sonst nichts. Aber es war nicht der erste. Entschuldigen Sie! Bitte, vergewaltigen Sie mich doch nicht …! Gleich. Da. Hier … ist er –« Er kramte in seiner Brieftasche.

»Genug!« sagte Grazian hart und zog ihm den Brief aus der Hand. »Anonyme Schreibebriefe beachtet ein Mann nicht, und alte Weiber, Herr Direktor, werden nicht vergewaltigt!« Er lachte teuflisch und klopfte ihm auf die Achsel.

»Wenn Sie wünschen – Herr Schwerengang –«

»Nein! Das genügte Ihnen, um mich zu entlassen. Und sehen Sie: das genügt nun wieder mir! Ich betrachte unser Verhältnis von jetzt an für gelöst. Ich

Er öffnete die Bohlentüre und ging davon.

Wackler griff sich nach der Stirn, wischte die Schweißtropfen ab, dann befühlte er seine Gebeine und tastete sich die Stiege hinab. »Ja, den Schreiber – den kann man verachten,« murmelte er, »aber der Brief – –! Da soll man ruhig dirigieren! Gott sei Dank! Ich bin den Menschen los!« Er atmete auf.

Grazian aber hatte noch ein kleines Geschäft zu besorgen. Er ging nach Döbling. Er schritt mit freiem klaren Kopf. Es trat kein Umschlag seiner Stimmung ein. Im Gegenteil. Er übersah die Lage mit einem gewissen freudigen Trotz und faßte Pläne. Zunächst beschloß er, seinen Eltern nichts zu sagen, denn – daß er ein sicheres Brot aufgab und es jetzt aufgab, darunter hätten sie nur gelitten, auch wenn sie es verschwiegen. Aber Herdrix mußte es erfahren. Und er gedachte sie mit seinem Trotz zu erfüllen, mit seinem Trotz zu stärken: sie mußte sich jetzt bewähren, sie mußte zeigen, ob sie ihm vertraute.

So kam er die Hauptstraße herauf und näherte sich mit festem Schritt dem Laden Wenzel Wlks.

Unter der Tür stieß er mit dem Volksuhrmacher zusammen, der von Peter Maxintsack zurückgekommen war, und jetzt mit dem Bürgermeister, wie um gesehen zu werden, ein Gespräch führte.

Mitten im Satz brach Wenzel ab.

Grazian faßte ihn ins Auge. In seinem gespannten Nacken lauerte der Haß … Sein Blut fing zu rasen an, und unwillkürlich hob der Bürgermeister den Stock, um die Gegner zu trennen, die sich mit den Blicken schon verbissen hatten.

Grazian ließ seine unheimlichen Augen nicht vom Gesicht des Wenzel, während er in die Tasche griff.

»Das sind Sie!« stieß er aus und hielt ihm den Brief hin.

Der Bürgermeister stellte sich vor den Wenzel, um ihn zu decken, denn als er Grazians Augen sah, fühlte er dunkel, es handelte sich nicht mehr um zornige Augenblicke, sondern um die Stunde des Austrags, wo der Haß des Bluts erwacht und mit Blut gestillt sein will. Er suchte den bleichen Grazian aus der Tür zu drängen: er befürchtete, daß nun das Menschenuntier den Rachen aufreißt, ein Schicksal zu entscheiden, indem es sich am Fleisch des andern sättigt, ob die beiden nun Wiener waren oder Afrikaner. Er mußte es aus Herzenspflicht verhindern, nicht als obrigkeitliche Person: »Meine Herren –«

Da lächelte der Wenzel geringschätzig herüber. Und über die Schulter des Bürgermeisters schlug ihm Grazian den zusammengeknäulten Brief mit der Faust mitten in das Gesicht.

»Schuft!« schrie er gellend. »Nun lauf zu Gericht!« Er wendete sich verächtlich ab und ging.


Das Jahr lief seinem Ende zu, im Garten streckten kahle Bäume ihre dunkeln Äste wie um Erbarmen flehend gen Himmel, das schwere, glänzende Gewicht der großen Standuhr war fast ganz hinabgesunken, sie mußte, vielleicht zum letzten Male, aufgezogen werden, und als die ersten Vorboten des neuen Jahres kamen, die Kalender, schob Schwerengang sie zurück. »Wer weiß, wie viele Tage ich noch zu zählen habe, ich will die Zeit nicht wissen!« Die Stunden rannten den Berg der Zeit hinab, wie sie immer rannten, wenn man sie zu halten wünschte, und der Meister brütete am Werktisch, den Kopf in beiden Händen. Das Undenkbare war gekommen, das Unfaßbare wurde Wahrheit: Baron Godler hatte die Zahlungen eingestellt, und diese Einstellung kam einem Todesstoß gleich.

Die Christel wagte nicht, ihrem Manne ins Gesicht zu schauen. Sie hatte auf die Ehrenhaftigkeit des Barons geschworen, sie war es gewesen, die noch zugeredet hatte, als Godler ein zweites Mal erschienen war, um einen zweiten großen Handel abzuschließen, sie war es ja gewesen, die alles gutgeheißen hatte, und – wenn sie aufrichtig war – nur aus Geschäftsinteresse? Nun ließ er sich nicht mehr blicken … Sie ging mit herzzerfressenden Gedanken umher.

Endlich raffte sie sich auf und schrieb dem Baron einen Brief. Die Worte waren so zaghaft, daß sie förmlich um Entschuldigung für ihr Dasein baten: er habe wohl nur vergessen … eine Kleinigkeit, wie man sie eben leicht vergißt … aber um die Jahreswende braucht man halt jeden Gulden doppelt, und deshalb – »bitte nicht bös zu sein, es ist seit August.«

Zunächst kam keine Antwort. Sie schrieb ein zweites Mal und etwas dringlicher. Einige Tage später schickte Godler seine große Visitenkarte mit ein paar häßlich geschleuderten Zeilen: er sei augenblicklich nicht in der Lage, es tue ihm sehr leid. »Machen Sie doch kein Geschrei wegen den paar Gulden. Nur Geduld! Ich muß mich auch gedulden. Eigentlich haben Sie aber gar kein Recht, mich so zu drängen, denn daß auch ich von Ihnen etwas zu fordern habe, scheinen Sie ganz zu vergessen. Und das ist viel länger her. Die tausend Gulden, Sie wissen schon, die ziehen wir einfach ab.«

Die Christel sagte ihrem Mann nichts davon. Heimlich ging sie in die Wohnung Godlers, der jetzt ein Zimmer in der Stadt bewohnte, sie traf ihn nicht. Sie ging in seine Kanzlei. Eine Stunde war sie vor der Tür gesessen, den merkwürdigsten Blicken ausgesetzt – nun stand sie wieder mit abgehärmten Gesicht am Schottenring. Sie wartete, um heimzufahren, und irrende Gedanken verquollen in dem müden Kopf zu einer einzigen dumpfnagenden Qual. Ein eleganter Fiaker fuhr gerade auf sie los, der Kutscher schrie, sie sprang zurück. Eine Ronacherdame mit einer dicken Himmelfahrtsnase lachte an ihr vorüber. Wahnfriedrichs Tochter, ihre Nichte … Die Christel schaute ihr mit schweren, starren Blicken nach. Neben dieser Goldhaarigen war der Baron gesessen. Fast unwillig hatte er sich mit seinem kleinen Hut zu einem Dank herabgelassen und schien zu sagen: Was wollen S' von mir?

Sie ging zu Doktor Krügl. Es war ein Leidensweg. Doktor Krügl zwirbelte die Bartspitze und warf die Achseln. Innerlich zerfiel er in zwei Krügl: in einen Advokaten, der an Godler, und in einen Junggesellen, der an Clemy dachte. Und beide Krügl erhoben beschwörend die Hände: »Aber um Gottes willen, nur nicht klagen, nur nicht zu Gericht laufen! Damit erreichen wir gar nichts. Er wird sich schon was verschaffen. Nicht wahr?« Dann machte er den Sprichwörtersack auf und murmelte: »Seinem Privatbesitz nach scheint er ja Friedrich mit der leeren Tasche zu sein. Übrigens ein gutes Wort: Friedrich mit der leeren … Hätten Sie sich halt früher erkundigt!« sagte er laut. »Aber wenn bei uns einer Baron heißt, dann is' das Anpumpen noch eine Schmeichelei. Im übrigen, Frau Schwerengang, Geduld, es wird schon werden, nur Geduld!« Er putzte seinen Zwicker und schien die abgehärmte Frau nicht mehr zu sehen.

Als Schwerengang davon erfuhr, wurde er so fahl, daß die Christel für sein Leben zitterte. Er packte plötzlich eine große spitze Feile, um sie sich in den Hals zu stoßen – gellend schrie die Christel auf – das Werkzeug fiel ihm aus der Hand, ohnmächtig schlug der schwere große Mann zu Boden.

Fast eine Stunde währte es, bis er wieder zu Bewußtsein kam.

Er öffnete die Augen. Ein Lachen wühlte sich aus ihm heraus: »Geduld! Geduld! sagen sie alle … Nur meine Herren Gläubiger nicht. Die stampfen mit dem Fuß.«

Dann brütete er vor sich hin. Wieder saß er am Werktisch, gebrochen und stumm; er hielt den Nacken zum letzten Schlage hin.

Mit dem neuen Jahre wuchsen die Gläubiger aus der Erde. Max Graslitz schickte seine Rechnung und sendete sie nach acht Tagen noch einmal mit einem unhöflichen Begleitbrief. Vom Fourniturenhändler, vom Vergolder, von andern Geschäftsfreunden kamen Buchauszüge und Schwerengang wußte jedesmal, wieviel sie wollten und was sie schrieben, wenn er diese grauen Briefumschläge mit dem Firmenaufdruck sah. Er las sie gar nicht mehr. Die Sorgen schwirrten um sein Haupt wie die Bremsen um das Wagenpferd, und mit einer fast unheimlichen Gleichgültigkeit nahm er auch die letzte Schickung hin. Mit dem ersten Tag des neuen Jahres war das Gesetz in Kraft getreten, das gefürchtete, das feindliche Gesetz, das die Sonntagsruhe befahl. Das Gesetz jagte ihm die wenigen Sonntagskunden, die noch übrig waren, aus dem Laden, es verschloß an schönen Nachmittagen, wo mancher seine freie Zeit benützte, um zu kaufen, die Tür und die Auslage, es drosselte, es knebelte das alte Geschäft. Nun konnte der Herr Meister ungehindert auf die Türkenschanze »mariataferln« gehn, konnte ungehindert der »spazierengehenden Leidenschaft« frönen, es war ihm gesetzlich erlaubt, er durfte ruhen, den Sonntag feiern, ja, er mußte es. Er aber wanderte im verdunkelten Gewölbe, zwischen dem Werktisch und der Glastür auf und ab, die Uhren liefen weiter, und wenn ihr Schlag aus der künstlichen Nacht kam, tönte es höhnisch in seinem Ohr. Wie ein lebendig Begrabener an die Wände des Sarges pocht, so schlug er manchmal gegen die harten Eisenbalken, womit die Ladentür verrammelt war.

Und alles ging genau wie er es geahnt hatte. Nach den Rechnungen kamen die Mahnungen, nach den Mahnungen die Klagen, und Dr. Krügl erklärte unter vielen händereibenden Entschuldigungen: wie furchtbar peinlich es ihm sei – doch Herr Graslitz habe ihn beauftragt, und den Auftrag seines Herrn Klienten könne er nicht unbeachtet lassen, er werde ihn wohl hinausschieben, hoffe er, doch er müsse vorgehen. So kamen nach den Klagen die ersten Bescheide mit dem Stempel, und der Gerichtsdiener, der das Gewölb noch nie betreten hatte, fand sich eines Tages ein: das alte Sofa sah nach Jahren wieder einmal einer Pfändung entgegen. In nicht allzugroßer Frist – wie lange konnte es noch dauern? – war man, nach einem Weg voll Arbeit, einem Berg von Sorgen, an der letzten Leidensstation angelangt.

Dahin wollte Schwerengang es gar nicht erst kommen lassen, nein, lieber gleich ein Ende machen!

Und er trat eines Tags zur Christel und erklärte, er habe sich entschlossen, den Dingen vorzugreifen und selbst zum Schluß zu läuten, denn wenn er schon die Existenz verlieren müsse, das erste und das äußerste sollte man ihm nicht rauben: seine Ehre. Wer ihm die Ehre nahm, nahm ihm das Leben. »Ich werde in den Losverein hinuntergehen und – so schwer es mir auch fällt – ich werde die Herren um meinen Spargroschen bitten. Das Geschäft verkaufen wir – jawohl! – um jeden Preis. So viel wird schon zusammenkommen, daß wir mit den Geldern die Gläubiger zum Teil befriedigen. Ich habe mich entschlossen, ich gehe zum Gericht hinauf und melde freiwillig den Konkurs des Ambros Schwerengang. And dann – dann, Christel, ziehen wir aus diesem Haus, wo wir so lang in Freude und wohl auch in Leid gelebt haben, und ich gehe wieder als Gehilfe …« Mühsam preßte er es hervor. »Als Gehilfe. Ja, der frühere Gemeindelieferant wird auf seine alten Tage tun, was er in seinen jungen getan hat: er wird gegen Wochenlohn, treu, fleißig, ehrlich arbeiten. Dann ist er seiner Sorgen ledig, er hat nichts mehr zu fürchten. Hallo! Ich weiß! Ich weiß wohin! Ich geh' zum Wenzel Wlk! Der nimmt mich gleich! Und wenn ihn der Grazian auch geohrfeigt hätte – er nimmt mich! Ich bin versorgt, ist das nicht lustig?«

»Mußt nicht so reden,« sprach ihm die Christel zaghaft zu, »so weit sind wir doch noch lang nicht. Derfst net so empfindlich sein.« Plötzlich brach sie aus: »Aber, wenn du betteln gehn mußt – mir macht es nichts. Ich war mit dir in unserm unterischen Stall, und geh mit dir zurück, und noch viel tiefer. Es ist mir einerlei. Wo du bist, ist es schön, da bin ich glücklich. Das ist ganz einfach. Zwei alte Pferde, die so lang miteinander gezogen haben, die können gar nicht auseinander. Nur das eine möcht ich, daß ich immer ziehen kann bis an unser End', und dann, daß du mir bleibst, mein Brosi …« Sie hatte ihn umklammert und legte verlangend den Kopf an seine Brust. Sie schaute zu seinen blauen Augen auf, wie sie im alten Handtuchgarten zu seinen Augen aufgeschaut hatte, als sie noch ein biegsames Mädel war, vor mehr als fünfundzwanzig Jahren. So hatte sie die ganze Zeit der Ehe nicht getan, jetzt tat sie es und bereute jeden Tag versäumter Zärtlichkeit. Jetzt wußte sie, die arme Clemy, die da oben krank lag, war keine Sünderin, nein, da war manches sehr gut zu verstehen … keine Sünderin … wie nahe war es doch an einem andern Weib vorbeigegangen, das Christel hieß, die Löwin. War man da nicht wehrlos? Das Herz der Frauen ist ihr Schicksal; die Treue ist das Glück.


Am nächsten Sonntagvormittag erschien im Gewölb Orion Feuerschein. Er führte am Arme eine stangenmagere, blonde Person auf, die ein Modistinnengesicht hatte, und in Orions Familie, wie er sagte, das Christentum vertrat. Er stellte vor, energisch, kurz wie ein Couleurstudent: »Meine Frau! – – – Nu, Sie kennen se doch?« Es mußte etwas vorgefallen sein, denn Orion trug einen Zylinder und seine Cellobeine endeten heute in eigene Stiefel, er trug eine neue Hose mit Seitenstreifen und die Hose stak nicht in den Stiefelhälsen, daß man die Strupfen sah, sondern fiel im Schwung nach vorn. Es mußte etwas vorgefallen sein. Feuerschein markierte Haltung, und Schwerengang betrachtete ihn mit müder Verwunderung. »Das is' a Tag, der sich gewaschen hat!«, rief Orion und sein Aussehen bekräftigte die Behauptung. »Mein Freund Schwerengang soll auch was davon haben! Führen Sie uns herein ins Kabinett, meine Frau soll leben und gesund sein! Haben Sie für ihr a schönes Ringerl und – was willst du mein Herz? – a Kreizerl, ja a Kreizerl von Granaten will es für ihren weißen Schwanenhals!« Ambros ging voran und räumte Ringe und goldene Kreuze heraus, Frau Feuerschein setzte sich dazu und stöberte lässig darin herum und schob, ohne durch Reden zu stören, einen um den andern Ring über die Gelenke ihrer knöchernen Finger. Mit Mühe brachte sie es zuwege. Dann legte sie die Granatkreuze probierend an den Hals, und als sie fertig war, drehte sie sich fragend nach dem Gatten. »Großartig siehst du aus! Großartig!«, rief Feuerschein, ohne sie anzusehen, und mit einem gespannten Blick auf Schwerengang klopfte er auf der Brust herum, um die Brieftasche zu finden. Und während er einen, die Barzahlung verheißenden Griff tat, schmunzelte er: »Was sagen Sie? Das is' a Frau! Aus Trofaiach is' sie. Vor dreißig Jahren hätten Sie sie sehen sollen: da hat sie Kraft und Schönheit gehabt wie a Gebirg in Steiermark. Heute sehen Sie nur die Kraft! Was soll ich tun?« Frau Feuerschein schloß ausweichend die Augen. Sie war ein stilles Wasser, ertrug die Witze ihres Gatten und vergalt sie ihm zu Hause. »Was kost' die Wix?« fragte Orion mit nobler Geringschätzung, »so, so« und er legte den Betrag ohne zu handeln auf den kleinen Warenkasten. Schwerengang beantwortete die Tat mit einem Blick voll unverhohlenen Staunens. Orion zahlte, Orion feilschte nicht – was war geschehen?

»Nun, sehen Sie, was ich für a Mensch bin? Was sagen Sie? Wissen Sie denn noch immer nicht? Die Spatzen pfeifen es vom Dach. Na, halten Sie sich an!« Er zeigte mit den gespreizten Fingern eine Zahl. »Zwölftausend Gulden!«, schrie er, »Zwölftausend haben wir gewonnen! Die Sparmeister von Döbling! A großer Treffer, das gibt aus! Und ich soll leben, ich bin der Obmann! Was? Nun sind wir heraus aus der Schlamastik. Sie und ich und meine Frau Angele. Nu, du freust dich gar nicht, mei' Kind und trägst a Juweliergeschäft an deine Händ davon!« Das stille Wasser zog die Augen ein und stieß ihn mit dem Ellenbogen. »Also, Herr Schwerengang – nu was haben Sie? – ich mach ka Spaß! Sag', mach ich Spaß? Es hat sich ausgehafert, jetzt bau ich mir in Hof herein a nette kleine Fabrik. Ich erzeuge Eierkognak! Trinken wer' ich ihn nicht!«

Mit Mühe hatte sich der Uhrmacher gefaßt. Es war nicht zu bezweifeln: es verhielt sich so, und aus seinem Gesicht brach ein Morgenrot hervor. »Gerettet! Du bist gerettet!« Es jubelte in ihm auf.

»Herr Feuerschein, wenn das wahr ist –«

»Warum soll es nicht wahr sein?«

»Feuerschein, Sie sind – wirklich, dann sind Sie mein Freund gewesen. Wie dank ich Gott, daß ich den Sparmeistern beigetreten bin. Ohne Sie, ich muß schon sagen, wäre es wohl nie –«

»Nicht wahr? Ohne mich – wo wären Se heut! Ich hab die Fäden in der Hand – siehst du, mei Kind – man muß lenken, leiten können! Küssen Sie mir die Hand dafür!« Und Schwerengang schüttelte ihm die Klaue und drückte einen Kuß auf die knöchernen Finger der stummen Signora Feuerschein.

Er war in Riesenluftsprungstimmung, er drängte Orion förmlich zum Tempel hinaus, stürzte zur Christel in die Küche, riß sie vom Herd und sagte ihr's mit gekeuchten, purzelnden Worten. »Christel, Christel!«, schrie er dann und hob erlöst die Arme, »es gibt ein' Gott im Himmel! Wir sind gerettet! Christel, ich weiß jetzt nicht, soll ich eine Mess' lesen lassen, soll ich mich am Kopf stellen, soll ich der Welt ein Loch schlagen? Kreuzdividomine! Christel, Christel!« Er zog sie in die Arme, küßte ihr Gesicht ab, kriegte sie um die Hüfte und schwang die starke Frau herum, daß die Unterröcke blitzten. Er drehte sich mit ihr durch die ganze Küche und sie ließ sich selig wirbeln, ließ mit sich machen, was er wollte, und streckte nicht einmal die Zunge.

Der Atem ging ihm aus, mit hochklopfendem Herzen fiel er auf einen Sessel. In kurzen pfeifenden Stößen schnappte er nach Luft. Die Christel gab ihm Wasser, sie strich ihm über die Stirn, endlich konnte er es sagen, das Wichtigste, und sagte es so fromm und zuversichtlich wie ein Kind: in vierzehn Tagen kam die Generalversammlung. Dann ging er zu den Sparmeistern und konnte, ohne erst darum zu bitten, seine Einlage beheben und bekam noch einen Gewinnanteil darauf. Alle düstern Pläne waren weggeblasen wie der Staub vor dem Blasbalg, es brauchte nicht Schluß geläutet werden, jetzt fing es wieder an, und von der Sonne zauberisch beschienen lag vor ihnen das Land der nächsten Zukunft.


Kaum konnte Schwerengang die Zeit erwarten, noch nie hatten vierzehn Tage so jahrelang gedauert. In der Zeitung war die Generalversammlung angekündigt und der Tagesordnung wesentlicher Punkt war die Entfertigung der Anteilbesitzer.

Endlich kam der Sonntag, der Tag der Sonne und der Freude, und der Uhrmacher zog sich schon zeitlich früh wie zu einer Hochzeit an. Er trug sein schwarzes Gewand, der Zylinder war frisch gebügelt vom Hutmacher gekommen, die Christel besah ihren Mann prüfend und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter … Er ging im Laden wartend auf und ab, bis die Stunde kam, die ihn zum Weißen Kreuz rief. Er gähnte vor Aufregung.

Noch jemand anders war zu dieser Zeit mit seiner Toilette aufs Sorgfältigste beschäftigt. Der Wenzel. Eben war er vom Friseur zurückgekommen und schaute sein gepudertes Gesicht im Spiegel an, fletschte mit den Zähnen, um sie zu mustern, pfiff vergnügt und setzte dann mit beiden Händen vorsichtig den Zylinder auf das wohlgescheitelte, fettglänzende Haar. Er zwirbelte die Schnurbartenden auf. So. Sie standen fesch und eindrucksvoll. Er warf seinem Bild eine Kußhand zu, nahm die Handschuhe und begab sich von seinem Zimmer in den Laden, um zu Herrn Maxintsack zu gehen. Schon einmal hatte er den alten Herrn besucht, aber keine Gegenliebe gefunden: alle Anbohrungsversuche, alle Anstrengung war umsonst gewesen: das erstemal, daß ihm, dem Wenzel gegenüber jemand hartschalig blieb! Maxintsack, auf den er stark gerechnet hatte, schien die Sache auf die lange Bank zu schieben und wollte mit der Sprache nicht heraus. Ha, das würde sich schon geben! Es war das erste, aber auch das letztemal, daß der Wenzel so vergebens angeklopft – heute würde der Alte mit den Wackelzähnen schon gesprächig werden.

Der Wenzel durchschritt musternd seinen Laden und genoß sich in dem Gefühle: jetzt sind wir wer! Er hatte alles einstudiert, der Steuerbogen würde seine Wirkung tun, den würde er dem alten Dickkopf fein unter die Nase halten. »Jetzt sind wir wer!« Und wenn man einmal die Herdrix hatte, dann war auch der Gemeinde-Uhrmacher nicht mehr weit. Herr Grazian mit seinen Wurfgeschossen und seiner Stellenlosigkeit machte sich nur lächerlich: Die Erbin dreier Häuser, das Geschäft mit dem Titel – diese Linie war die festgezogene Eroberungslinie Wenzel Wlks.

Mit Napoleonsblick trat er vor den Laden und schickte sich an, die Hauptstraße hinabzugehen. Da blieb er stehen, als ob er sich besänne. Richtig! Teufel! Er hatte etwas vergessen.

Als er wieder aus dem Laden trat, schob er ein Papier in die Brusttasche. Es war der Steuerbogen.


Herdrix und Grazian gingen durch den nebligen Wintermorgen in die Stadt, sie gingen heut zum letzten Male miteinander in die Kirche. Durch die Gartengitter blinkten die dicht mit Schnee behangenen Äste, die Sonne wollte nicht hervorkommen, grauverhangen schien der Himmel. In den letzten Zeiten war der Dienst gar hart gewesen, denn niemand steht zur Weihnachtszeit um Mitternacht gern aus seinem warmen Bette auf, und wenn's das schönste Mettensingen gilt. Aber dennoch, jetzt kam es Grazian fast schwer an, daß er alles lassen sollte, denn es war zuletzt ein wunderbares Kirchengehen gewesen. Manchmal nämlich, wenn der Schnee auch knietief lag und die Trambahn mit Vorspann fahren mußte, so geschah es, daß sich vom Biederhause eine kleine dunkle Gestalt ablöste, die hinter Grazian einherstampfte und mitging. Auch ein Frühaufsteher. Der Zylinder auf dem gesträubten Haargestrüpp war schon ganz beschneit und Grazian hörte eine brummende Stimme: »Mein Lieber, Sie haben kein besondres Talent für die Musik. Verlieren Sie nicht so viel Zeit. Aber ich werde Sie empfehlen!« Das hörte er. Eine wunderbare Mischung von Urteil und Mitleid; doch wenn es lichter wurde und die Kirche nahe war, war auch der Meistermann, Ludwig, der das sprach, verschwunden.

Nun, heute ging kein Spuk mit Grazian, heut ging ein festes, schlankes Mädchen an seiner Seite, und das war noch schöner. Als sie am alten Maxintsack-Haus vorübergingen, blickte Grazian erinnerungsvoll zum Tor hinein. Da eilten sie an ihrer ersten Jugendzeit vorüber: sie war so schön, weil sie vergangen war, doch die Gegenwart war tausendmal so schön trotz düsterm Himmel, trotz allem, was geschehen war. Jeden Sonntag morgen pilgerten sie zusammen und auf dem Wege hatten sie – wie oft! – das Elend durchgesprochen, das ins Haus zur schönen Stunde als Mieter eingezogen war, in das Gewölb der Eltern, in die Wohnung ihrer Schwester. Langsam schien es wieder auszuziehen, denn der Baron hatte sich von den Damen getrennt, er war verschwunden, in die Welt gegangen, man sagte nach Amerika.

Und nun fiel auch das Schwerste weg. Dieser Treffer – welcher Zufall, welch' wahrhafter Gewinn! – war im letzten Augenblick, dicht vor dem Ende wie von einem Glücksengel gesendet worden! Und dieses Mädchen mit dem frischen roten Wangenanflug, mit dem intelligenten Gang, die Hände so vergnüglich im Hermelinmuff – mußte es nicht jeder sagen: sie war auch ein guter Engel? Auch sie ging heut zum letzten Male in die Kirche, denn sie hatte sich mit Grazian sozusagen solidarisch erklärt, und nach dem Grundsatz: »Einer für alle« blieb sie von nun an vom Chor einfach weg, ohne nur ein Wort zu sagen. Herr Wackler – und darauf freute sie sich diebisch – würde höchlich überrascht sein und konnte eine freiwillige Sopranistin für seine Soli suchen, wo er wollte. Das war ihr Vorsatz und Grazian fand, der Vorsatz sei eines echten Pomeranzenmädels würdig. Auch damals, als er seine Stelle aufgab, war sie ja zum Küssen gewesen. »Das ist vielleicht ein Glück,« hatte sie behauptet, »nun mußt du kraxeln. Und du wirst es. Ein Mann kann niemals höher kommen, als wenn er nicht weiß, wohin ihn sein Weg noch führen kann. Das sagt mein Nietzsche!« Sie hatte ihren Gleichmut nicht verloren, während Wahnfriedrich im ersten Augenblick erschrocken war und nichts von Wagner, nichts von Nietzsche anzuführen wußte. Aber sie durchblickte auch viel tiefer als wer anders die Natur des Jugendfreundes und kannte sich vorzüglich aus, und wenn der Schreibtisch noch so malerisch verräumt und alles durcheinander war, sie fand doch jedes Blatt.

Er schaute sie liebkosend von der Seite an und fand, daß sie heute auch zum Küssen war, obwohl sie nichts dergleichen tat. Verstand er sich doch nun mit seiner Hallelujah-Sängerin so gut wie Flos mit Blancflos, die einander lateinische Liebesbriefe schrieben, damit die andern Kinder sie nicht lesen könnten. Dieses Mädchen hatte sogar die Eltern überzeugt, daß die verlorne Stelle nicht das verlorne Paradies bedeute, sondern eher einen Gewinn, daß Grazian ein Spätblüher sei, den man zur Frucht nicht drängen dürfe und so weiter, weiß der Himmel, was ihr alles einfiel – bis die Eltern, zumal in dieser seligen Erwartungsstimmung glaubten, was ihr eingefallen war, und zu ihm Vertrauen faßten, weil das Fräulein Herdrix ihm vertraute. Das alles gab ihm wieder Schwung wie ein Wort von Haydn oder Meister Ludwig und im wachsenden Gefühl der Kraft wartete er ruhig seiner Stunde. Solang wir das Vertrauen eines Menschen haben, der uns kennt, solang haben wir uns selbst. Alles kommt zu seiner Zeit, sagte er sich immer. Nur Grazian und Herdrix kamen leider nie zur Zeit, und das schönste Mittagessen war schon halb verprasselt, wenn sie auseinandergingen.


Als Schwerengang sich dem Weißen Kreuz näherte, sah er vor dem Tore eine dichte Menschenmenge. Er ging auf die Leute zu, unter denen eine besondere Gruppe war, schwarz gekleidet wie er: die Mitglieder, die Sparmeister. Ihrer dreißig ungefähr standen da, von Neugierigen umringt, Gewerbetreibende, Geschäftsleute, Gemeindebeamte, einige Lehrer und andre, die er nicht kannte. Wie sonderbar! Warum gingen sie nicht hinein? Was standen sie hier flüsternd auf der Gasse? Und so feierlich wie bei einem Leichenbegängnis, wenn der Sarg herausgetragen wird? Ihre Mienen drückten eher Besorgnis als Freude aus: heute war ja doch der Tag –? Und diese Menschenmenge. Er trat auf einen Bekannten zu und fragte ihn leise. »Ja, die Polizei ist drinnen,« antwortete der Mann, »das Lokal wird grad versiegelt. Schöne Geschichte das!«

»Polizei?«

Die blitzenden Helmspitzen zweier Wachleute wurden über den Köpfen der Menge im Hausflur sichtbar. Schwerengang drängte sich durch. Sein Gesicht war leichenfahl. Im Hausflur hielten ihn die Wachleute zurück. »Nein, niemand darf hinein!«

In diesem Augenblick erschien Orion Feuerschein im Flurgang, er kam aus dem Vereinslokal in Begleitung des Polizeikommissärs und zweier Geheimwachleute.

»Die Kommission!«

Die Leute draußen erhoben sich auf die Zehenspitzen.

Feuerschein sah aus, wie wenn er zum Galgen geführt würde. Barhaupt torkelte er zwischen den Amtspersonen, die Beine trugen ihn nicht mehr. Er mußte sich an die Wand lehnen, dann sank er auf ein Faß nieder. Die Wirtin kam und labte ihn. Mitleidig schauten ihn die Amtspersonen an. Das Tor wurde geschlossen.

Als Feuerschein den Uhrmacher erblickte, schüttelte er sich wie vor einem Gespenst. »Ich kann nichts dafür,« gurgelte er, »ich kann nichts dafür. Zehn Jahre war er ehrlich. Er hat immer eingezahlt für Sie. Ich kann nichts dafür! Ich komm' ins Kriminal. Wären Sie selbst zu uns gekommen. Alles hat er ausgeraubt, alles mitgenommen, das Geld, die Lose, oh, meine armen Kinder! Dieser Dieb, dieser Hund!«

Er warf sich auf die Knie und rutschte zu Schwerengang hin, der noch immer wortlos in seinem Feiertagsgewand stand – er wälzte sich auf dem biernassen, schmutzigen Boden, raufte sich die Haare und kreischte: »Man soll tun mit mir, was ma' will. Nur Sie, nur Sie, Herr Schwerengang, verzeihen Sie mir! Um Sie is' mir – ich hätt' ihm nicht vertrauen sollen. Ich kann nichts dafür!« Seine Stimme endete in gurgelnden Lauten.

Alle schauten den Uhrmacher an. Er wendete sich ab. Auf sein Verlangen öffnete man das Tor.

Als er aus dem Kreis der Menge war, stand er einen Augenblick still. Plötzlich rannte er die Hauptstraße hinab, er rannte dem Fünfundzwanziger Hause zu. Triebartig folgte die schwarze Menge, als sie den Uhrmacher laufen sah.

Er kam vor dem Gewölb des alten Wlk an. Es war geschlossen. Er stürzte durch das Tor in den beschneiten Hof, auf die Tür zu, die in die Küche führte. Geschlossen.

Mit dem Fuße stieß er wieder das Holz, er warf sich mit dem Leib dagegen, die Tür brach ein. Nun drang er in die Küche. Die Wohnung – leer. Ein widriger Geruch erfüllte sie. Er rief. Keine Antwort. Da – ein dumpfer Fall – es kroch etwas auf dem Boden heran – dort! – und auf der Schwelle des Zimmers sah er im Zwielicht den grauen Hexenkopf der Schustersfrau. Sie hatte ihre Kiste umgestürzt und war herausgekrochen. Mit äußerster Anstrengung hob sie den Kopf und aus ihren Schlangenaugen funkelte unheimlich die letzte Lebensgier. Sie röchelte. In ihrer Hand glänzte etwas Rundes. Schwerengang sprang auf sie zu und suchte sie zu heben. Da fiel aus ihren verknochten Fingern eine Uhr auf das Ziegelpflaster und das Glas zerschmetterte in stäubende Splitter. Die goldene Uhr!

»Mann, Mann,« röchelte es aus dem Munde des kalten starrgebogenen Körpers, »Mann, nicht Wenzel, nein nicht Wenzel …«

Von Grausen erfaßt zog Schwerengang das sterbende Geschöpf ins Zimmer. Er hob den mumienbraunen Körper auf das schmutzige Bett.

»Mann …«, röchelte es noch einmal.

Er blickte sie an. Sie war tot …


Schwerengang ging still hinaus und wand sich durch die nachgekommene Menschenmenge, die nun den Hof mit Lärm erfüllte. Er gab auf keine Frage Antwort, er würgte etwas hinunter. Sein Weg war jetzt bestimmt. Er hatte nur noch einen kleinen Gang zu gehen, und dann ohne Klage auf den Lippen, ohne sich mit einem Laute zu verraten – ein Sprung, und in die Donau.

Er stieg auf die Trambahn und scherzte mit dem Kondukteur. »Heut' leb' ich auch einmal, heut' fahr' ich im Volksfiaker. Heut' mach' ich meinen großen Ausflug. Meinen größten …« So fuhr er in die Stadt.


Auf dem Chor der englischen Stimmen herrschte heute kriegerische Stimmung. Schon als Grazian gekommen war, merkte er: es liegt etwas in der Luft, denn Wackler dankte noch flüchtiger als sonst, sein gelbes Ziegengesicht war noch gelber und gemsiger, und die Hand hatte den irren Schuß. Was war gewesen? Solisten, Chor, Orchester waren vollzählig versammelt und die Trompeter saßen heut' zu dritt auf ihrem luftigen Platz auf der Flanke des Chors. Ein unterdrücktes Zischeln lief durch die Bänke. Galt es ihm? Weil er Abschied nahm? Die große Nelson-Messe lag auf den Pulten. – War es die Nervosität der Musiker vor großen Werken, hatte es in der heiligen Creditanstalt Skandal gegeben? Grazian konnte sich's nicht erklären.

Schon begann die Messe mit scharfen Stößen der Trompeten; aber gleich der erste Choreinsatz war zitterig, man hatte das Gefühl, wie wenn man einen Kahn betritt. Der Boden schwankte und beim Kyrie eleison mußte sich der Herr im Himmel erbarmen über Vorhauern und Nachklapperern. Herdrix stand auf und sang ihr großes Solo mit der schönen Hallelujahstimme, und Grazian sah wie sogleich einzelne Köpfe in der Kirche sich nach oben drehten, um die Sängerin zu sehen. Es war ihm lieb und ärgerlich zugleich. Sie war die eine, die für ihn sang, alle andern Frauenzimmer auf dem Chor waren ja nur Hüte, Federn, Busen, waren Gattung, waren Hühner. Sie aber war seine Singerin und ihr Antlitz blühte jetzt so schön wie das der Madonna von Führich, die unten im Seitenschiff hing. Er wurde rot und fuhr zurück, denn er konnte es den Leuten in der Kirche unten eigentlich nicht übel nehmen, er war nicht um ein Haar besser und schaute gerade so wie sie nach der Hallelujah-Sängerin.

In der Pause vor dem Gloria rief der Trompeter Bobak, der sonst nur mit dem Munde Buchstaben machte, etwas herüber. Direktor Wackler hörte drüber weg. Da schrie Bobak noch lauter: »Alstern, hörens, was is' mit meinem Vorschuß? Krieg' ich oder nicht?« Er stand auf und wartete. Wackler übersah ihn absichtlich. Plötzlich riß es ihn und kochend vor Wut stampfte er mit dem Fuß auf.

»Ksch!« geiferte er ihn an, »wollen Sie erpressen? Ich hab schon einmal Nein gesagt und dabei bleibt's!« Er schlug den Taktstock auf das Pult, daß die Spitze absprang.

»Sie sind mir schuldig!« schrie Bobak, er schäumte im gekränkten Rechtsgefühl und warf Anarchistenblicke. »Sie haben –«

Aus der Kirche klang es mild herauf: »Gloria in excelsis!« Der Priester am Altar stimmte den Lobeshymnus an.

»Nichts hab' ich, Sie – – Engler! Anfangen! Jesus und Josef! Gloria, Gloria …!« zischte Wackler dem Chor orientierend zu. Engler fing zu orgeln an. »Aber, Holzer, warten! Ksch, noch nicht! Ja, was ist denn das … Sie Bobak?« Er sprang hinter dem Pult hervor, als käme eine Anarchistenbombe geflogen.

Die drei Trompeter hatten die Köpfe zusammengesteckt und ihre Instrumente eingepackt. Sie erhoben sich plötzlich wie auf Befehl und schoben sich, die Säcke unterm Arm, dem Ausgang zu. Wackler sah fassungslos, wie sie sich im Gänsemarsch durch die Bank zwängten; Bobak stieß die Glastür auf, daß es klirrte, und die andern folgten achselzuckend ihrem rünstigen Vorkämpfer.

»Bobak! Bobak! Um Gottes willen, rennen S' heute nicht davon!« Wackler stürzte dem Trompeter nach und erwischte ihn am Rockflügel. »Bobak, was fallt denn Ihnen ein? Aber lieber Bobak!« Das Orchester hatte unterdessen eingesetzt und Herdrix durchglänzte den Chor mit ihrem führenden Solo: » pax hominibus …!«

Fürchterlich schlug es an Wacklers Ohr, er hielt den wütenden Trompeter am gespannten Rock zurück, Bobak stemmte sich nach auswärts.

»Sie sollens ja haben«, keuchte Wackler atemlos, und während er nach hinten dirigierte, unterhandelte er nach vorn versöhnend. Einige Geiger nickten dem Bobak verstohlen zu, Wackler dirigierte und versöhnte. Auf einmal blieben die Blicke der Leute stehen, denn Wackler schleuderte den Taktstock weg, griff nach seiner Stirn, beschützte seinen Magen und krümmte sich mit baumelndem Kopf auf die Kante einer Bank nieder. Er sah eigentümlich aus, denn durch Bobaks Stoß hatte er die Haare verloren und mit dem nackten Schädel, darin sich die Kerzenlichter spiegelten, war er allen ganz fremd.

»Anfall, Anfall …« flüsterte er tonlos. Bobak steckte sein Anarchistengesicht höhnisch triumphierend zur Tür herein. »Also, ich krieg' jetzt meinen Vorschuß! Was? Alle hier sind Zeugen!« rief er und zog mit seinen Kumpanen wieder ein, während Grazian, der rasch die Geige weggelegt hatte, Wackler auf seinen Stuhl zurückholte, wo der Kranke nun saß, von Frost gestoßen, und mit seiner eigenen Hinfälligkeit wie einverstanden. Er wendete Bobak die verglasten Augen zu und suchte auf das verrohte Gemüt des Trompeters mit dem Blick zu wirken: Siehst du, was du aus mir gemacht hast!

Fräulein Packl stülpte dem Todgeweihten die Perücke auf und wedelte mit dem Taschentuch, die andern Damen schwebten mit den Noten in der Hand aus den Bänken heran und umstanden Wackler mit untätigem Bedauern, denn sie mußten weitersingen.

»Nach Hause …« wispelte Wackler, halb von Ärger krank, halb aus Mitleid mit sich selbst. Er ließ alles im Stich. Man schickte um den Kirchendiener.

Nur Herr Holzer zeigte sich nicht ergriffen, sondern gröhlte weiter, und wurde von untergründigen Lachstößen geworfen.

» In gloria Dei patris …!« Laut stürzten sich die Bässe in die große Fuge. Allein, obgleich Herr Engler mit voller Dampfkraft drüber hin rauschte, schien das Lob Gottes in ein wildes Getümmel, die Nelsonmesse in die Schlacht von Abukir zu endigen. Selbst Herdrix hörte mit Achselzucken plötzlich auf. Sie wechselte mit Grazian einen Blick. Er hob den Taktstock Wacklers auf und ohne weiteres, als ob es selbstverständlich wäre, trat er ans Dirigentenpult, um die Messe zu retten, indem er sie fortführte. Er streckte den Arm aus, blickte die Leute mit ruhiger Bestimmtheit an und gab nach rechts und links die Einsätze. Das Durcheinander hörte auf, wie ein strammer Ruck beim Trommelschlag durchfuhr es die Reihen, die Leute gingen mit dem neuen Führer: Sie fühlten sich von einem klaren Willen geleitet, von einer sichern Hand gehalten, sie folgten seinen Augen, seinen Zeichen, sie unterwarfen sich. Die Pauke rumpumpelte und Bobak blies mit vollen Backen, gefühlvoll schmelzend, nicht mit seinem Sparton, wozu der Rhythmus des neuen Dirigenten mehr beitrug als es der Vorschuß des alten vermocht hätte.

Händeringend erschien Wacklers Gattin mit dem Kirchendiener, sie schafften den Stöhnenden zusammen hinunter. Es war wie ein Leichenbegängnis.

Grazian aber leitete die ganze Messe weiter, und Herdrix hörte mit Verwunderung, wie schön die Kiste des alten Haydn klang, seit sie unter den Händen des neuen Mannes war. Im Benediktus fing sie mit der ungelösten Inbrunst einer Prophetin zu jubeln an, ihre Liebe strömte als Gesang hinaus, und wie sie zu empfangen, öffnete sich zum dreifachen Fanfarengeschmetter der Trompeten der winterliche Himmel, der Sonntagsmorgenschein fiel durch die Kirchenfenster in goldnen Streifen, Millionen Sternchen strahlten feurig von den Spitzen des Altars, es leuchtete wie aus den Ewigkeiten herab, in die der Mensch nur seine Ehrfurcht senden kann.

» Dona nobis pacem!« sang der Chor in die sonnige Tiefe hinab.

Als es zu Ende war, drängten sich die Musiker und Sänger, Herren und Damen mit Glückwünschen um den siegreichen Retter und jeder wollte der erste sein. Bobak drängte die schönen Laternen weg und stellte anerkennend fest: »Immer hab' ich g'sagt – das ist unser Mann! Heut ists amal gegangen. Sollte auch so bleiben!« Und Holzer nahm sogar den Stößer ab. Er schüttelte Grazian die Hand und rief mit beziehungsvollem Lächeln: »Hab' Ihnen heut Adiö sagen wollen, und jetzt sag' ich: auf Wiedersehen – Herr Direktor!« Selbst der verschlafene Engler war erwacht; nur Fräulein Packl ging mit halb trübseliger, halb geringschätziger Miene ab, denn sie sah, wie auf den Helden des Tages eine Dame zutrat, die allem Anschein nach die Heldin war.

Herdrix hatte gewartet, bis der Trubel sich gelegt hatte. Als sie allein waren, streifte sie den Handschuh ab und reichte Grazian langsam die volle Hand. Er hielt sie fest, nun war er sicher: er hatte Erfolg gehabt.

» In tempore belli,« sagte er mit bedeutsamem Blick, »ist diese Messe entstanden …« Sie hielt seinen Blick aus und wiederholte ausdrucksvoll: »Ja, in tempore belli!« Dies Latein verstand sie.

Arm in Arm stiegen sie dann die Wendeltreppe hinab, über die Grazian als Entlassener heraufgekommen war, und sein Antlitz strahlte. Alles war mit einem Schlag von ihm gefallen und das, was den großen Wagner einst bewegt hatte: »so dastehen und dirigieren und mit keinem König tauschen« – das bewegte ihn heut als eine köstliche Wahrheit, das war des Künstlers Glück! Er war dazu geboren, wozu er sich in Angst und Zweifel selbst bestimmt hatte: zur Arbeit als ein Diener am Werk. Wie überraschend war's gekommen! Er war tausend Gulden nachgegangen und da stand mit einem Male die Tat! Und er fühlte: sie ging auch nicht verloren wie der Schall im leeren Raum.

Langsam wendeten sie sich dem Ausgang zu, sie hatten heute keine Eile.

Da wankte hinter einer Säule eine dunkle Gestalt hervor, ein Mann, ein Andächtiger, doch so ergriffen wie Grazian noch keinen gesehen hatte. Der Mann kam gerade auf ihn zu, er breitete die Arme aus, er fiel auf einmal vorwärts, ohne Atem – Grazian fing ihn auf: – es war sein Vater!

Aschgrau und ganz verzerrt waren die treuen Züge. Er blickte mit Entsetzen in dieses Gesicht. Was war geschehen? Das Herz wollte ihm stille stehen. Herdrix half ihm, und beide setzten den alten regungslosen Mann behutsam in eine Kirchenbank. Der Kopf des Meisters lag müd auf Grazians Schulter, leise erhob sich Herdrix und holte einen Wagen.

Ambros Schwerengang war auf seinem letzten Gang gewesen. Hatte er Hilfe gesucht? Er wußte es nicht mehr. Er war wie ohne Bewußtsein, nachtwandlerisch gegangen: erst zur Genossenschaft der Uhrmacher, deren Haus im Schulhof stand. Umsonst. Die Tür war geschlossen. Er suchte den alten Wlk. Die Ladenhütte an der Kirche war versperrt. Er suchte seinen Bruder im Durchhaus unter den Tuchlauben. Auch der kleine Laden war verriegelt. Sonntag! Sonntagsruhe! Alle Türen tot und die letzte Möglichkeit genommen … Nun in die Donau! Ersticken in dem tiefen, gelben Wasser und nichts mehr hören von der Welt, die die Luft zum Atmen stahl, die ihn mit ihrer Faust erwürgte. In die Donau!

Da hörte er die Orgel aus der Kirche hallen und wie von einer zwingenden Gewalt getrieben, kehrte er zurück. Er hatte einen Traum von sich selbst, sein Wille löste sich von ihm, er sah, wie er in die Kirche ging, zu einem Menschen, dessen Hand er drücken mußte, der der Erbe seines Herzens war, sein Glaube, seine Hoffnung, seine Liebe. Dort oben auf dem Chore hoch über ihm, dort tönte dieser Mensch, von dort kam es herab wie reiner Äther, stark und würzig, der Atem neuen Lebens. Seine Lenden schütterten, die Augen wurden ihm dunkel, und zwischen Tod und Leben schwebend, fühlte er die warme Brust des Sohnes und seine zarte Hand.

» Dona nobis pacem …«


Vater Schwerengang war im Wagen nach Hause gebracht worden. Wenn die Christel nun mit dem Zerstäuber durchs Zimmer ging und es mit Tannenduft erfüllte, so nickte er lächelnd. Und wenn sie ihn fragte, ob der Atem leichter gehe, so nickte er wieder lächelnd. Er war ein geduldiger Kranker. Vor dem Fenster standen Blumentöpfe und in der Hand hielt Ambros einen Strauß von weißen Rosen. »Die gute Frau Clemy,« sagte er bewundernd »– Rosen um diese Zeit! Und so schöne! Meinetwegen stürzt sie sich in Unkosten. Sie ist im Grab noch wohltätig. Es ist überhaupt so angenehm, krank zu sein, alle Leute sind so gut, man ist wie ausgetreten aus dem Leben, man ist entschuldigt – ich danke euch –«

Grazian, der an seinem Bett saß, unterbrach ihn: »Lieber Vater, du sollst nicht so viel sprechen. Du weißt: Doktor Spendler hat es doch verboten.«

»Ach, ich brauche keinen Doktor, ich bin ja nicht mehr krank. Jetzt bin ich wieder ganz gesund …« Er sog den Rosenduft ein und blickte durch die Blumen nach seinem Sohn.

Gestern hatte er bis in den Nachmittag hinein besinnungslos gelegen und Dr. Spendler mußte große Mühe aufwenden, um ihn aufzubringen. »Einen ordentlichen Knax hat er wegbekommen,« sagte der Doktor draußen zu Christel, »nein, nicht der Atem, das ist nur ein Symptom. Bei ihm ist es das Herz. Wissen Sie, Frau Schwerengang, Ihr Mann ist, glaube ich, ein Bluter. Was das ist? Ja, mein Gott … Bluter … das sind Leute, die schon an Nadelstichen sterben können, weil jeder bis ins Herz geht. Bei andern wird nicht einmal die Haut geritzt, es geht nur bis zum Rock. Nun, wir werden sehen. Wenn das Herz in Ordnung kommt, dann steht er wieder auf. Aber, liebe Frau, schützen Sie den Mann vor Nadeln …!«

Die Tür öffnete sich langsam, und Herr Maxintsack, der Hausherr, trat ein. Schwerengang war überrascht, denn seit zehn Jahren hatte ihm der alte Herr nicht mehr die Ehre gegeben, und er richtete sich im Bett wie zum Empfang auf. Frau Christel suchte rasch Ordnung zu machen. »Naa, wie's bei uns heut ausschaut,« sagte sie, »Sie müssen schon entschuldigen, Hausherr. Aber –« »Is' schon gut,« erwiderte Maxintsack, »und Sie, Herr Meister, bleiben Sie nur liegen. O, gratuliere, Herr Grazian, ich hab' schon g'hört, die Herdrix hat mir alles – na, nächstens komm' ich auch hin in die Kirchen, ja, ja, und tu' zuhören. Gratuliere!« Grazian verbeugte sich geschmeichelt und schüttelte ihm die Hand.

Der Hausherr setzte sich auf Grazians Sessel an das Bett, legte seine Kappe auf die Decke und räusperte sich. »Sagen S' amal, Herr von Schwerengang,« begann er umständlich und schlug die Finger ineinander, »sagen Sie, was kost' bei Ihnen eigentlich das Uhrenaufziehen?« Er sah dem Uhrmacher schlau erwartend ins Gesicht.

»Von uns aus nix!« antwortete die Christel für ihren Mann, der nicht zu wissen schien, was er mit der Frage machen solle. »Das zahlt si' net aus. Sie wissen, eh' –«

»Nix?« fragte anscheinend unzufrieden Herr Maxintsack, »na, dann werden Sie's ja auch zu nix bringen. Wann S' so billig sein …!« Er umarmte die Stuhllehne, schlug Bein auf Bein und blinzelte die drei der Reihe nach an, wie wenn er sich an ihrer Verlegenheit weidete. »Wissen S', was bei mir kost? I, wann i a tüchtiger Uhrmacher bin, i verlanget mindestens zehn Gulden!« Er wartete den Eindruck seiner Preisaufstellung ab. Als aber der Widerhall ausblieb, sagte er, an den Fingern rechnend: »Zweimal aufzieg'n in Monat, das ist im Jahr zweihundertvierzig Gulden. Net? Man muaß nur rechnen können. Und macht in zehn Jahr – zweitausendvierhundert Gulden. Ohne Zinsen. Herr Gott no amal, das is' ein Numero! Und segen S', Herr Meister, so schaut bei mir die Rechnung aus!« Er stand auf und schob den Stuhl weg, setzte sein Kappel auf und steckte die Hände in die Hosentasche. »Herr Schwerengang, Sie müssen schon entschuldigen, aber – das bin ich Ihnen schuldig. Zweitausendvierhundert Gulden!« Er drehte sich um und schaute die Zimmerwand hinauf.

Schwerengang lächelte die Christel und den Grazian mit mattem Blicke an. Grazian trat auf den Hausherrn zu und sagte verlegen tadelnd. »Er ist doch – schaun Sie – warum scherzen Sie mit meinem Vater?«

»Scher–zehn? Scher–zehn? Wer tut denn das? Das kommt in meinen Lexikon nicht vor. Ja, glauben Sie denn, i bin ka Wiener? Glauben S' denn, i bin a Böhm? Glauben S' denn, der alte Maxintsack laßt sich was schenken? Ah, da möcht i bitten. Scher – zehn!«

Entschlossen öffnete er die Glastüre und rief in den Laden hinaus: »Komm' nur eina da, Herdrix hörst? Genier' di' net! Schau amal die Leut' an – weißt, die glauben, bei mir rappelt's! Komm'!«

Herdrix trat schüchtern über die Schwelle und legte ihrem Vater die Hand auf die Schulter. Sie sprach kein Wort, aber unter den erstaunten Blicken der andern errötete sie und versteckte in Verschämtheit den Kopf hinter dem Rücken ihres Vaters.

Auch Maxintsack schien etwas verbergen zu wollen, denn er polterte auf einmal: »Es ist ein Skandal! Muß erst die Herdrix zu mir kommen, gestern auf die Nacht, ja, das Mädel da, und die muß mich erinnern! So a schwach's Gedächtnis hab' i schon. Ah, i sag's ja, wenn man alt wird …!« Frau Christel ging zur Herdrix und löste sie sanft von der Schulter des kleinen alten Herrn. Sie nahm das schöne Mädchen in die Arme und küßte sie auf die Stirn. »Fräulein Herdrix,« sagte sie gerührt, »heut muß ichIhnen die Hand küssen …«

»Niemals, Frau Christel!« wehrte die Herdrix entschieden ab. »Wenn jemand hier zu danken hat, dann bin ich's, dann ist es meine Schwester und der Vater. Kurz, die ganze Familie. Er – für zehn Jahre Reparatur, und ich – ach was! Jeder für was andres. Es bleibt schon bei meinem Handkuß! Das übrige wird mein lieber Vater erzählen, nicht wahr?« Und sie trat zum Meister Schwerengang und reichte ihm die Hand.

Maxintsack spreizte die Beine und fragte: »Ja, was soll i denn erzählen? Da is' gar nix zum Erzählen. A so a Keckheit ist mir in meinem ganzen Leben no' net unterkommen. Der Wlk – was sagens! – der Herr Wenzel kommt gestern früh zu mir. Und mir nix dir nix sagt er, er will die Herdrix heiraten. Ah, das is' stark, hab' i mir denkt, das geht doch über die Hutschnur. I – a Mordswut! – sollst mi kennen lernen! – und schmeiß 'n aussi! Da is do' gar nix zum Erzählen? Der hat g'schaut, sag' ich Ihnen, der is' g'rennt! Die Stiegen is' er abig'flogen! ›Mistbua!‹ hab' i ihm nachg'schrien!« Er sah sich triumphierend um. Dann räusperte er sich und rollte seine Kappe in der Hand. »Na, und dann, na, dann hab' ich diese junge Dame im Matrosenkleid rufen lassen. Das Fräulein Herdrix. Erst hab' ich sie schön um Verzeihung bitt' – gel? – no ja, sonst lest's mir wieder a mal den Text. Und das kann sie. Gel? Alstern i um Entschuldigung bitt, höchst nobel, wie sich's g'hört; und dann sag' i: Du, kennst du den, den Wenzel?, hab' i g'sagt. – Sie kennt ihn gar net. Nur am Grüßfuß. Von Heiraten gar ka Spur. Aber, wann schon von Heiraten die Red' is', hat sie g'sagt, so möcht' sie bitten … zum Heiraten, hm, hm, braucht ma' was, und sie hätte einen im Vorrat. (– I waaß net, wer der Narr is', der den Schnabel nimmt –) aber i hab' g'sagt: Da hast, hab' i g'sagt, und mach was d' willst! Da is' doch gar nix zu erzählen?« Er zückte die Kappe wie ein Schwert und kam jetzt erst in Schwung, denn er setzte sich nun mit Baron Godler auseinander. Von seinem Schwiegersohn ging er dann auf seine Tochter Clemy über, und die Kappe beschrieb entschuldigende Kreise. »Nur der Herdrix z' Lieb,« erklärte endlich die immer friedfertiger gewordene Tiara des Hausherrn, sei die ganze Sachlage geschaffen worden, »nur der Herdrix z' Lieb,« worauf die Kappe von Herrn Maxintsack als ein sichtbarer Schlußpunkt aufs Haupt gezogen wurde.

Grazian war in die Fensternische getreten und sah in den Hof hinaus, um die aufsteigende Bewegung zu unterdrücken. Nun wollte er ein Wort an Maxintsack richten, doch Maxintsack war noch nicht fertig. »Aber jetzt, meine lieben Leuteln, därft's net glauben, mir sind in Fürsttheater, und i bin der Kaiser Joseph, der was zu der verhungerten Tischlerfamilie kommt.« Er zitierte im Hochdeutsch der Volksschauspieler: »Meinen Namen söllt Ihr nie erfahren, ich bin der Kaiser Joseph! …« und die dicke Marie aus der Brusttaschen 'zogen, und 's Geld am Tisch. Volkshymne. Bengalische Beleuchtung! O nein! Das machen mir viel nobler. Gel, Rixerl? Dieses Fräulein da, die wird das besorgen. Jetzt hast du das Wort!«

»O nein, Vater. Nein, die Rixerl wird das nicht besorgen,« wehrte Herdrix leise ab und sah ihre Fingerspitzen angelegentlich an. Sie holte Atem und nahm sich fest zusammen. »Das wird jemand anders tun. Wenn er will. Ein langer Mensch, der immer weiche Hemdkragen trägt und zerzauste Haar –«

»Und doch wer is'! Die Rixerl hat mir schon gestern gesagt. Gestern auf die Nacht. Große Beichte. Das große Geheimnis. I waaß ja – – Na, so kommens her, ihr z'lieb! Schauen's net immer in Hof hinaus, da draußen is' gar nix. So, nur her, und bindens Ihnen wenigstens das Krawattel zu!«

»Nein, siehst du, Großvater, das besorge wieder ich!« rief Herdrix mit charmantem Lächeln und stellte sich dicht vor Grazian, um ihm die Masche zu knüpfen. Sie hatte darin Übung. »Du bist noch grad so schlampig wie damals auf dem Pantzerfeld …« sagte sie und hob sich auf die Zehen, und wie ein Huhn, das rasch nach einem Korn pickt, so drückte sie beim Binden einen spitzen Kuß auf seine Lippen. Grazian kam das wie ein Flageoletton vor, den man mit leisem Finger spielt, und er liebte diese Töne; blitzschnell fing er ihre Gestalt um die Hüfte und ließ sie nicht mehr los. »Herdrix, Herdrix! Was du bindest, das hält fest. Und was ich halte, das ist wie gebunden! Nein, du kannst nicht weg, du bleibst bei mir für immer, denn ich muß doch jemanden haben, der mir die Krawatten richtet, meine liebe tapfere Herdrix, meine –« Die weiteren Benennungen wie Lanzenfechterin und Pomeranzenmädel gingen in einem Spechtgehämmer unter, das der Mund des jungen Mannes ungehindert gegen den Mund der tapfern Herdrix ausführte.

Die Christel wußte nicht, wie ihr geschah, ein alter Hang gewann in ihr die Oberhand, und sie sprach gekränkt: »Ja, Grazi, davon hab' i ja gar nix g'wußt. Du bist doch mein Bub, und hast mir nie a Wörtel – – Sie, Fräul'n Herdrix, haben Sie net g'sagt, Sie können nie einen Herrn so gern haben, daß Sie ihn heiraten …?«

»Stimmt, Frau Christel, ja, das hab' ich auch gesagt. Ich wüßte keinen Herrn, den ich so lieb hätte, daß ich ihm alles geben müßte und mich selbst. Das habe ich gesagt und bleibe auch dabei. Denn ich hab' mir keinen Herrn genommen, sondern, ich glaube, einen Mann!« Sie sah ihn selig an.

Frau Christel nahm die Schürze und führte sie an die Augen. »Deswegen seids ihr immer zu spät kommen,« schluchzte sie, »na, warts, ihr! Als Mutter erfahrt man immer alles zuletzt …«

»I hab's glei g'sagt,« flüsterte der alte Köckeis mit hoher Stimme. Er schlürfte in seinen Pantoffeln herein und lächelte im Kreise stolz herum, denn er führte die Dame Clemy an seinem Kavaliersarm. Er hob den Zeigefinger. »I hab' a feines Ohr! Ja, das hab' i immer g'sagt. Ja, die Weiber –«

»Schon gut, Großvater,« rief Grazian ängstlich, »ich weiß, du hast ein wunderbares Ohr. Und du, Mutter, schau, ich hab' dir einmal etwas in die Hand versprochen, in einer gewissen Nacht … Und hab's bis heute gehalten! Denn die Herdrix – ich muß ihr das Kompliment zurückgeben – die Herdrix ist kein Frauenzimmer, und keine Dame: sie ist ein Weib, mein Kamerad!«

»Alstern, da kann i also gehn,« rief Maxintsack mit Ungeduld. »Sie ist ein Weib, er ist ein Mann, und Mann und Weib, die g'hören z'samm! O, die Clemy – gratuliere, gratuliere …!«

Frau Clemy, die nach Schwerengangs Befinden fragen wollte und nun ein vergnügtes Krankenzimmer fand, eine Menge Leute sah, darunter ihre Schwester mit hochgeröteten Ohren in den Armen eines jungen Mannes – Frau Clemy war nicht wenig überrascht. Sie war zum alten Ehrensofa geleitet worden und empfing erstaunt die innigsten Händedrücke – selbst Vater Maxintsack ließ sich's nicht nehmen – sie erwiderte die Glückwünsche mit aller Innigkeit. »Aber Herdrix …?« wollte sie schon fragen; doch blitzartig wurde ihr die Lage klar. Was sie geahnt, war Wirklichkeit, und sie fand ein feines Lächeln, das gewandt die Worte vorbereitete, die sie erst zu suchen hatte: »Also endlich … Bravo, lieber Grazian! Nun … hab' ich das nicht gut gemacht?«

Grazian hatte zwar keine Ahnung, was sie gut gemacht hatte, auch Herdrix nicht und niemand; aber alle schwiegen, wie wenn sie es schon längst gewußt hätten. Grazian ging hin und umarmte die noch immer schöne Frau, die in ihrem herbstbraunen Haar saß und wieder aufzublühen schien, seit ihr Gemahl sie verlassen hatte. Sie küßte ihn aus reinem Herzen heraus, während Herdrix im Bewußtsein ihrer Haustorküsse sanft errötete und mit recht purpurnen Wangen stand. Und doch hatte Clemy etwas gut gemacht, was freilich außer ihr niemand beurteilen konnte, denn sie hatte die rote Lampe langsam ausgelöscht und da sie nicht mehr Leute fortschickte, die ihr ein volles Herz entgegenbrachten, so war für nächsten Sonntag der Bürgermeister Dr. Krügl zum erstenmal ihr Gast beim Mittagmahl.

Maxintsack trat an das Bett des Kranken. »Also, meine Schulden hab' ich jetzt gezahlt. I bin ka' Hausherr mehr, i bin nur mehr Partei. Lebens wohl, Herr Meister, schauen S', daß S' bald g'sund werden. Attiöh, Frau Christel! Attiöh, Herr Gra – naa, Herr Direktor! Und Attiöh, Hausfrau!« Er verbeugte sich respektvoll vor Herdrix. »Gib schön auf die Häuser acht, tu mi' gut behandeln, und der Herr Direktor soll schön einkassieren alle Ersten. Na, der wird die Noten ordentlich zusammenhalten. Da hab' i gar ka' Angst. Attiöh. Attiöh!«

Als er gegangen war, schritten Grazian und Herdrix wie im Einverständnis mit verschlungenen Armen zum Meister Schwerengang und knieten hin. Er hob den Arm und lispelte etwas über ihre Häupter, dann beugte er sich nieder, und alle drei umschlangen einander.

Vielleicht war es der alte Köckeis gewesen – man weiß nicht, wer es war – der an dem grünseidenen Schnürchen zog; aber ins Zimmer fiel jetzt eine trauliche Musik, eine Musik, die still machte, der gläserne Wasserfall sank in den See, und an den Rand des Märchenspiegelwassers trat die weiße Alabasterdame und streckte ihre Hand sehnsüchtig nach dem schönen Schwan aus. Die Stockuhr spielte heut' ihr zartes Lied.

Im Laden draußen rauschten die Uhren, die hellen Widerscheine der Wintersonne lagen golden im Zimmer, das Glück war doch wieder in die Gasse des Meisters gegangen, und es träumte hier vor seinen Augen ein neues Märchen.

»Aushalten! Fermate! Coron'!« dröhnte plötzlich eine starke Baßstimme. Erschrocken schauten sie sich um. Im Türspalt stak ein grauer Urwald und darunter eine Dante-Nase: Der Wahnfriedrich! Er war herbeigekommen, um seinen Bruder zu besuchen; als er aber sah, daß die Familie nicht ausgesprochenen Wert auf seine Mitwirkung legte, und da er auch kein Freund von Heuern und verwandten Geschäften war, zog er sachte die Mähne wieder zurück und drückte die Tür von außen ins Schloß. Alle lächelten ihm nach, und selbst die Christel gab ihm diesmal recht: »Aushalten! Fermate! Coron'!«


Allelujah, Allelujah! Die goldenen Knäufe der Türme blitzten im ersten Ostermorgenlicht. Sonntag war gekommen, der Tag, wo über alle Welt Christus aufgegangen war wie die Sonne der Gerechtigkeit und gen Himmel fuhr, und Allen Heil wurde unter den Flügeln seines Namens. Noch gestern waren die Andächtigen flüsternd und schlürfend über die Steinfliesen der alten Kirche gegangen, um das Grab zu schauen, und die Kinder hatten die Gesichter der römischen Soldaten betrachtet, die Antlitze der Engel Zug um Zug, und den rätselhaften Lichtschein, der die leidensvollen Mienen des Dulders umfloß. Die Glocken waren nach Rom geflogen, und Schweigen lag in der Luft.

Heute waren sie zurückgekehrt und ihre Allelujah-Chöre dröhnten über die besonnten Dächer hin, in die Straßen hinab: unser Herr, der Heiland …! Und die Menschen, die durcheinanderwogten, Spaziergänger und Kirchengänger, Großmütter, die die Enkel führten, junge Soldaten in den ersten blanken Waffenröcken, die Menschen schauten zu den blauen Bergen im Hintergrunde der Straßen auf und waren reiner und sehnsüchtiger, bereit, einander Gutes zu tun: es war eine Auferstehung der Seelen.

Ein Allelujahschrei durchbrauste auch die Kirche, die mit Menschen dicht gefüllt war. Grazian stand auf dem Chor und führte zum feierlichen Hochamt sein Lieblingswerk, die große Messe von Anton Bruckner auf, deren Gloria wie das Triumphlied der englischen Chöre rauschte, als der Herr gen Himmel fuhr. Die Musiker und Sänger, aus allen Winkeln zusammengetrommelt, hatten, erfüllt von seinem Willen, die Schwierigkeiten des ungeheuern Werkes in den Proben überwunden und spielten nun, von seinem Geist beseelt, so schön, wie sie es weder selbst, noch wie es ein andrer von ihnen geglaubt.

Grazian hatte recht behalten. Mit denselben Mitteln, mit denselben Leuten aus der »heiligen Kreditanstalt« war es gegangen, und während er so stand, von den Klängen umrauscht und sich freute, hatte er ein Gesicht. Er sah die ganze Kirche mit einemmal erfüllt von einem goldnen Nebel, strahlend wie Monstranzengold. Aus den Nischen schwebten die Heiligen empor, und einem der Heiligen wuchsen Flügel aus dem Rücken, und es war, als schwänge er in der Rechten einen mächtigen Hammer und trompetete und singe dabei und höbe sich höher und höher über die schwimmende Goldwolke, über Zymbelschall und Saitenspiel: Der Flieger! Und die Kirche öffnete sich gegen Morgen des Altars, und Grazian sah hinaus in die schimmernden Unendlichkeiten, wo der Saturn mit seinem Ring kreist, und weiter, weiter, weiter, wo in Unendlichkeiten die Sphären klingen.


Die Messe war vorüber, der erste offizielle Dienst im neuen Amt getan, und eben sang der Priester am Altar im feierlichen mixolydischen Ton das » Ite missa est. Allelujah!« Nun mußte Grazian hinab: der Pfarrer wünschte ihn zu sprechen.

Da stand plötzlich in der geschweiften Glastür unter den Orgelpfeifen ein fremdes Wesen. Sein Haupt war wie ein Felsblock kahl und kühn, der Greis schien aus der Vergangenheit zu kommen: aus den Schwedenkriegen, wo er, ein wuchtiger, streitbarer Prälat vom Roß herab das Schwert gezückt, oder er war ein Bauerngroßvater, der schnalzend auf den Tanzplatz ging, seine schweren Beine ragten aus viel zu weiten, viel zu kurzen Hosen. Nein – er war es – Grazian erkannte ihn – er war's, von dem der Speidel das Prachtwort gedichtet hatte, das ihn wie ein Steckbrief überall bekannt machte: die Meßnerfigur mit dem Imperatorenschädel!

In den Bänken erhoben sich auf einen Schlag die Musiker und Sänger und standen feierlich, als ob es ihnen befohlen worden sei. Es ward eine Stille. Ergriffen und verwundert starrten sie den schwarzgekleideten Meister an, der, selbst verwundert diese stumme Huldigung entgegennahm. »… der Bruckner,« ging's im achtungsvollen Flüsterton herum … »der Bruckner …«

Bruckner hatte in der Kirche unter dem Volk gesessen, gelauscht und genickt, nun wollte er einmal den großen Herrn ein bißchen anschauen, der sich seines Werkes angenommen und es herausgebracht hatte, echt und recht, ohne erst zu fragen. Am Pulte sah er einen jungen Menschen stehen – war es der mit dem deutschen Knabengesicht? – ja: er breitete die Arme weit und beugte seinen Rücken tief hinab, als ob er in Ehrfurcht erstürbe. Dann ging er enthusiastisch auf den Dirigenten los, die Nüstern seiner Adlernase blähten sich, er lächelte nach allen Seiten vertrauliche Grüße: ja, der Bruckner ist da …

Dann nahm er den überraschten Grazian an seine Brust und preßte ihn. »Du – du,« er schluchzte und er jauchzte, »du bist ein edler Mensch, du bist die Perle des Jahrhunderts, du, du … Du Backsimperl du!« Und er küßte ihn mit Ehrfurcht wie ein Wallfahrer die heiligen Reliquien.

In seinem Leben hatte Grazian mit Bruckner noch nicht gesprochen. Nun lag er an der Brust des Riesen, der aus seinem Kinderglauben diese strahlende und trunkene, diese absätzige und gottverkündende Musik, diese Urgebirge von Tönen gebaut, er lag an der Brust des Kindes, das von seinen Peinigern gegeißelt wurde, dem jede Aufführung wie eine kaiserliche Gnade war, der für die Zukunft baute und ihn aus lauter Dankbarkeit mit du ansprach. Was mußte der gelitten haben, der so dankbar war! Grazian machte sich bescheiden los, er schämte sich in diesen Armen, in denen er sich doch geweiht sah. »Lieber Herr Professor,« sagte er, »Sie wissen gar nicht, welches Glück … Sie haben uns alle klein gemacht … ja, es war schön!« Und die Stimme senkend, sprach er: »Wenn ich eines wünschen darf, so möchte ich –«

»Na, reden S' nur!«

Und ob sich die Gesichter der Musiker auch sonderbar verzogen, als sie ihren Herrn und Meister so reden hörten, sagte Grazian doch fest: »Ich möchte gern Ihr Schüler werden, ja? Ihr Jünger bin ich längst!«


In der Sakristei war ein Rummel wie bei einer Hochzeit, und hauptsächlich war es Onkel Wahnfriedrich, der, von einer Seligkeit in die andre fallend, herumschoß und die Leute zwickte oder stupfte und so etwas durchschimmern ließ, daß alles eigentlich von einem gewissen Geiste komme … Er war wie ausgewechselt, er machte »Ksch!«, als sein Neffe eintrat, und stolzierte ihm entgegen wie Gurgelmilte, die ihren Sohn Pantagruel aus dem linken Ohr gebar. »Heil!« schrie er, »Heil und Sieg!« und befahl: »Hut ab, meine Herrschaften!« obwohl niemand von den Herrschaften erst den Hut ziehen mußte. Der milde, silberlockige Pfarrer, dem noch der selige Diabelli eine schöne Motette zur Primiz geschrieben hatte, schüttelte Grazian beide Hände. »Das laß ich mir gefallen, Herr Direktor! Sie haben mein Vertrauen nicht getäuscht, Sie haben es auch nicht erfüllet, Sie haben es übertroffen. Wir sehen uns ja heute noch einmal, die Bitte ist bewilliget: es wird mir eine Freude sein, Ihren Bund zu segnen!«

»Hoch klingt das Lied vom braven Mann! Sein Zweig wird grünen,« unterbrach Wahnfriedrich mit Ungeduld und drängte die andern weg:

»Dem ewig Jungen weicht in Wonne –«

»Jawohl!« fiel der Pfarrer ein, und seine klugen Augen blitzten fröhlich unter den schwarzen Brauen. Seit wir den neuen Regens Chori in der Kirche haben, haben wir auch neue Leute in der Kirche. Und wenn sie auch noch gerne nach dem Chor hinaufblinzeln – mein Gott – jeder kommt auf seine Art zur Seligkeit. Wenn's immer gut ist, werden sie sich's schon abgewöhnen und –« er hob den Zeigefinger, seine Augen wurden ernst – »es muß immer gut sein, weil zu uns so viele Bedürftige kommen, Menschen, die sonst nichts Gutes hören. Ich danke Ihnen, lieber Herr, aus vollem Herzen. Und auf Wiedersehen um sechs Uhr!«

»Herr Regens Chori, meinen Glückwunsch!« rief Wahnfriedrich mit strotzendem Gesicht. »Und nach ein paar Jahren eile ich herbei und gratuliere dem Herrn – Hofkapellmeister. Nein, nein, ich bitte sehr, dein alter Onkel weiß das besser. Das Drama ist der Gipfel – – Wer diese Messe kann, der hat das ganze Drama weg: Wer durch die Lüfte reitet, bleibt nicht am Boden, Hojotohoh!«

»Wird mir ein Vergnügen sein. Theater oder Kirche. Arbeit gibt's überall. Arbeit ist das Leben. Mein Alexanderzug ist nicht zu Ende! Aber – ja, was ist denn das? Was seh' ich – oh, Herr Schrammel …!«

Der Schrammel streckte ihm mit lachenden Augen die Hand entgegen: »Das hab ich mir nicht nehmen lassen wollen, lieber Grazian! Ein bissel gehör ich auch daher. Nicht wahr?« Und in einem bewundernden Tone sagte er: »No, ich seh', Sie verstehen das: die Leut' zu nehmen! Das haben Sie von mir. Jawohl. Nur mit dem Unterschied, daß mich so nach und nach auch die Leute nehmen … Sie haben mich übertroffen, Herr –«

»Nein, überflügelt!« warf Wahnfriedrich dazwischen und knöpfte seinen blauen Jägerrock zu. Die beiden alten Gegner maßen einander mit Blicken, die nur durch des Ortes besondere Natur eine stumme Sprache blieben.

»Grazian, ich sage dir, das Drama ist –«

Grazian trampelte mit den Füßen, er mußte fort, hinaus, heute war ein Tag, der köstlich auf die Nerven ging, das Leben riß die Türen auf und rief nach ihm. Heute sollte er ja das Konservatorium Amandi übernehmen, denn seit er ausgeblieben war, waren auch die kleinen Geiger ausgeblieben, und nach dem Haydnfest sah sich Amandi veranlaßt, nach Währing auszuwandern, wo er die Wunder der Nasenresonanz mit größerem Erfolg verbreiten wollte. Das verlassene Schlössel überließ er Grazian im Gedanken an drei Hundertgulden-Noten … Und zu Mittag war die feierliche Enthüllung der Beethoventafel am Eroica-Haus in Döbling – gerade für heute mußte dieser unglückselige Wahnfriedrich die Geschichte ansetzen! Da waren die Chöre zu dirigieren, Reden anzuhören, dann hieß es in den Wagen springen, hundert Gänge und Besorgungen … »Mein Kopf ist voll wie eine Viertelnote!« fluchte er und pflügte mit den rappeligen Händen durch die Haare. »Und schau nur die verflixte Maschen an, glaubst, ich kann sie binden?« sagte er zu seinem Vater, der auf den Stock gelehnt, bei ihm stand und ruhig wartete. »So viel zu tun – aber unsern Gesundheitsmarsch am Nachmittag, lieber Vater, den lassen wir nicht aus? Gel? Komm!« Erschrocken blieb er stehen und führte einen Lufthieb. »Jesus Maria, heut soll ich noch heiraten! Alles kommt zusammen. Gräßlich!« Sein Leben hing daran, aber es war ihm fürchterlich zuwider. »Vater, komm! Herdrix! Clemy!«

»Heiraten?« brummte Wahnfriedrich hinter ihm her, »schade! Auch der Festeste fällt … sagt der Meister.«


Am Nachmittag gingen Grazian und sein Vater Arm in Arm durch die Gartengassen von Unterdöbling und stiegen über den Bach hinauf zur Türkenschanze, über die der weiche Wind vom Vogelsang und Hermannskogel herüberspielte. Sie kamen auf die Scheitelhöhe und sahen zu ihrer Verwunderung, wie sich die Stätten alter Sonntagsträume verwandelt hatten, denn eine neue breite Straße, zur Hälfte fertig, lief jetzt dort, wo früher die lebzeltenbraunen Mulden waren, und junge kahle Bäume liefen zu beiden Seiten mit. Die Straße war nicht für die Lebenden erbaut worden, sie war für die Toten gemacht: an ihrem Ende lag mit seiner roten Backsteinmauer der neue Friedhof, näher dem Himmel, als alle andern Sonntagsruhestätten.

Aufatmend blieb Schwerengang stehen, und während er sich vom Arme Grazians losmachte, schaute er in die weit aufgerissene Landschaft. Zur Rechten lag leicht gehügelt der neue Garten, der aus dem Sand hervorgewachsen war, der Park mit seinen Büschen, Brücken und Kiefern. Zu seinen Füßen lag die Weltstadt, aus deren feuerfarbnem Dunst die Türme goldblitzend aufschossen, und darüber der saphirblaue Osterhimmel, ohne Wolke, ohne Ende.

Unten sah man schon die hellen Stadtbahnbogen, die über das alte Döbling führten. Die Stadt dehnte sich jetzt wie einer, der erwacht und das Bett wird ihm zu klein. Weit streckte sie die Arme aus, bis hinein ins niederösterreichische Land.

»Hier bin ich früher oft gelegen«, sagte Schwerengang nachdenklich, »bisweilen in Angst und Sorge, aber, wenn ich aufrichtig sein soll, nie ohne geheimes Vertrauen. Denn, ich weiß nicht, ob alt oder neu, Wien ist wie eine treue Mutter: die beutelt die Kinder oft beim Schopf und macht ein fürchterliches Gesicht; aber 's tut ihr selbst am meisten weh, und sie dankt unserm Herrgott, wenn sie wieder ein gutes Gesicht machen und einen streicheln kann. So gut wie unsre Stadt meint's keine mit den Menschen. Drum sag' ich halt: Du liebes, altes Wien!« Grazian wollte etwas erwidern: »An einem Tag wie heute,« begann er, »sieht man überall blaue Veilchen. Aber auf der ganzen Erde tönt die Lebenssymphonie gleich schrill oder süß, nur die Klangfarben ändern sich vielleicht …«

Auf der Straße erhob sich eine gelbe Staubwolke und kam immer näher. Ein kleiner Zug von Menschen bewegte sich herauf, er sah in der grellen Sonne fast gespenstig aus, die Gestalten hoben sich schwarz vom Himmel ab, und um dem Staube zuvorzukommen, gingen Grazian und sein Vater eilig weiter. Allein Schwerengang konnte nicht so rasch voran, und vor dem Friedhof, wo die Straße aufhörte, wurden sie vom Zuge eingeholt. Vier Zweispitzmänner trugen eilig einen Sarg, über dem ein dunkles Samttuch lag. Ein einziger Mensch folgte dem Sarge. Er blickte zu Boden und ging mit kurzen festen Schritten. Die Spaziergänger drehten sich nach dem einsamen Zuge, Kinder in weißen Strümpfen liefen aus der Allee herbei. Schwerengang und Grazian nahmen die Hüte ab. Der Mann hinter dem Sarge warf einen jähen Blick herüber und schaute mit zusammengeschlagenen Zähnen wieder zu Boden und ging mit harten Soldatenschritten weiter. Es war der Wenzel Wlk.

Er ging allein mit seinem toten Vater. Die Freunde, die sich früher in den Laden gedrängt und die Hand des Volksuhrmachers gesucht hatten, kamen nicht mehr zu ihm, sie wollten nicht mehr seine Freunde sein. Der Bürgermeister hatte ihm geraten, nach allem, was geschehen sei, wäre es das beste, wenn er den Ort verlasse.

Der Wenzel würgte es hinunter und schloß die weißen Augen. Er wünschte nur das eine, sie hätten seinen Vater nicht lebend aus der Donau gezogen. Als sich der alte Wlk von allen Seiten umstellt sah, sprang er von der Brücke. Dann lag er fortan im Spital unter Gefangenen. Feuerschein erfuhr es mit Genugtuung. Heute wurde der Mann begraben, und der Wenzel ging mit ihm. Er wollte, daß sein Vater hier verscharrt werde; er wollte, daß alle sehen, er ging mit ihm. Und mit trotzig gespannten Lippen schritt er weiter.

Der Zug verschwand im Friedhof.

Stumm blickte Schwerengang ihm nach. Dann stieg er mit seinem Sohn zu Tal.

Über dem Wiesenhang kam ein braunes Schopfdach hervor und blinzelte ihnen mit seinem Giebelfenster entgegen wie der Jäger mit dem Auge, wenn er zielt. Es war das alte Handtuch, das Familienhaus der Christel: dort sollte heute Hochzeit sein.

Die drei Fenster des Erdgeschosses brannten blinkend in der Sonne, und um sie herum kletterte der wilde Wein an einem Gestänge hinauf. Ein Liebhaber hätte daran bequem zum Giebelfenster klettern können, und war auch einst geklettert, als die junge Christel von dort oben den Mond zu betrachten pflegte.

Die Männer traten durch das Gartentürchen ein. Der alte Köckeis stand auf einer Leiter vor dem Tor, um Nägel in die Mauer zu schlagen. Er befestigte Girlanden. Als er die beiden sah, salutierte er mit dem Hammer wie eine Ehrenwache. Die Christel öffnete das Fenster und stellte einen überzähligen Sessel in den Vorgarten; dann sah man ihr weißes Staubtuch noch einmal über die Scheiben fahren.

Christel waltete stillselig in dem Haus, das die Riedinger erworben, der Köckeis verloren hatte und das nun für die Liebestage ihres Sohnes bereitet werden konnte.

Am weinkellergrünen Torflügel stand erwartungsvoll die Herdrix im weißen Brautkleid. Sie nahm ihren Liebsten an der Hand und führte ihn ins Haus, um ihm die vielen Hochzeitsgeschenke zu zeigen, die einstweilen im Nebenzimmer aufgestapelt waren. »Und dann,« sagte sie, »ist noch etwas gekommen, ich weiß nicht, was es ist, aber eine gräßlich große Sache! Es hat mich ganz feierlich gestimmt, vier Männer haben daran getragen. Einstweilen hab' ich es ins Hochzeitszimmer stellen lassen.«

Sie öffnete die Tür. Blumengeschmückt stand die weißgedeckte Tafel. Und an der Stirnwand des Zimmers, auf einem Tisch, fast bis zur Decke reichend, ein verhüllter Gegenstand, eine unkenntliche Gestalt. Die Ostersonne lag schräg darauf.

Grazian löste die Schnüre und zog die Hülle ab.

Ein weißes Leuchten ging durchs Zimmer, ein heller Glanz strahlte ihnen in die Augen. Die Flügel schwangen sich, der Hammer hob zum Schlage aus, mit ausgebreiteten Armen schaute das kniende Weib empor.

Herdrix lehnte sich an Grazians Schulter und las: Dem Schmied der deutschen Kunst.


Als der große Mond an diesem Abend von der Donau heraufkam und sich still in die Unterdöblinger Gassen legte, spiegelte er sich in den Augen der Alten, die sich nach der vergangenen Liebe sehnten, und in den Augen der Jungen, die sich umschlungen hielten und nicht sagen konnten, wie und weshalb sie sich sehnten. Und er silberte auf den Dächern umher, unter denen der eine mit seinem Schmerze wachte, der andre mit seinem Glück schlummerte. Die Fenster glänzten blank, nur aus dem Handtuchhause fiel ein traulich gedämpfter Schein wie von den goldnen Glühwürmchen aus dem Laub, denn das schöne Zimmer, das so lange leer gestanden, war erleuchtet. Es klang darin von fröhlichen Reden, und in alle Ecken zog ein frischer Duft von Tannenreisig, mit dem der Tisch bestreut war, ein feiner Bowlengeruch mischte sich darein, der aus dem Leib des Suppentopfes strömte.

Sie hatten das alte angesehene grüne Sofa an den Tisch geschoben, und in der Mitte thronte als Ehrengast der Pfarrer Himmelbauer, der Herdrix und Grazian an diesem Abend für immer miteinander verbunden hatte. Und an beiden Seiten blühten um den geistlichen Herrn die schönsten Antlitze der Familie. Die beiden Damen saßen da: Frau Christel in grauglänzender Seide, dem zweiten neuen Kleide ihrer Ehe, – das erste hatte sie getragen, als Grazians Sonne beim Wendl aufging – und die Dame Clemy in würdigem Schwarz mit ihrem goldbraun umrahmten Kopf. Dem Pfarrer gegenüber war ein Herr in seinem Frack, der die Hand der Herdrix heimlich festhielt, und die andern Plätze hatten Vater Schwerengang, der alte Maxintsack und der Glorius Köckeis eingenommen, sogar der hagere Wahnfriedrich hatte für diesen Abend einen äußeren Frieden mit seinem wohlgenährten Gegner Schrammel geschlossen, der den Gesinnungsunterschied nur insofern betonte, als er sich den Hochzeitsschinken schmecken ließ, den Wahnfriedrich mit Festigkeit verschmähte. Und auch Herr Feuerschein war eingeladen worden und saß als »Kontrapunkt« am schmalen Ende. Er arbeitete an einer Pyramidentorte und blickte über deren leidlich abgetragenen Gipfel zu Madame Feuerschein hinüber, die ihre Augen nicht von den Damen ließ und mit einer geheimen Wut gegen die Venus Anadyomene erfüllt schien.

Der Pfarrer erhob sich und tat seinen Mund zu einem Spruche auf: »Das junge Paar,« sagte er, »reiset von uns. So will ich ihm ein Wort mit auf den Weg geben, das mir einst meine selige Mutter mitgab, und ich habe es brauchen können auch in diesem Kleide: Wir leiden Verfolgung, aber wir werden nicht verlassen; wir werden unterdrückt, aber wir kommen nicht um!« Er hob sein Glas, es blitzte goldhell unter der Lampe, und er brachte ein Hoch auf das junge Paar. Sie erhoben sich alle und stießen die Gläser aneinander und das Zimmer schallte von den Stößen des dreimal gejubelten Hoch. Wahnfriedrich hielt sich die Ohren zu.

Da stand Grazian auf und stützte sich mit den Fingern auf den Tisch, wie wenn er sich besänne. Es wurde Ruhe. »Meine guten Eltern,« begann er, »meine lieben treuen Freunde. Auf unsrer Reise wird uns alles in den Ohren klingen: das Wort des Herrn Pfarrers und die Akkorde unsrer Freunde. Aber ich muß widersprechen – nicht der Huldigung, denn davon bekommt der Mensch in seiner Eitelkeit ja nie zu viel; aber ich muß dem Huldigungsspektakel widerreden, dem Heidenlärm, denn wir sind nicht auf dem Chor der englischen Stimmen – wir sind in einem fremden Hause …«

Der alte Köckeis hielt die Hand ans Ohr. »Was sagt er? I bin fremd?« Wahnfriedrich stieß ihn mit dem Fuße. »Ruhe! Kss!« »Jawohl, ich kann nicht anders sagen: wir sind in einem fremden Hause, denn dieses schmale Handtuch, das für die Sonntagsjahre des Lebens erbaut wurde, für die schöne Zeit, wo man nicht mehr Uhren repariert, sondern ruhig den Abendwolken nachsehen kann auf ihrem himmlischen Spaziergang – dieses Haus, das die Jugend meiner Mutter gesehen hat –« Grazian hielt inne und suchte mit dem Blicke Mutter und Vater – »dieses Haus, worin jetzt Herr und Frau Schwerengang junior wohnen sollen, ist seit gestern Eigentum der Frau Christine und des Herrn Ambros Schwerengang …«

Alle horchten lautlos. Des Redners Stimme zitterte ein wenig. »Wie es gekommen ist? Wir können nicht viel sagen – Herdrix, gelt? – es war uns eines Tages so, als ob eine treue Stockuhr auf ihren Platz zurückverlangte, der Schlag des Herzens war so eigentümlich, wir hörten, daß ihr etwas fehle und wußten: ihre schöne Musik klingt dann am schönsten, wenn sie hier in diesem Hause –«

Die Christel konnte es nicht mehr ertragen. Sie hatte vor sich hingeschaut, wie um zu entrinnen. Dann schlug sie die Hände vor die Augen und Tränen fielen still durch ihre Finger. Sie legte ihren Kopf auf den Tisch, und als es immer heftiger wurde, erhob sie sich und wankte, das Tuch vor dem Antlitz, zur Tür. Dort blieb sie stehen und schluchzte, hilflos, als wollte ihr das Herz beim Halse herausstoßen … Vater Ambros kam leise nach und führte sie mit zarter Besorgnis zum Platz ihres Sohnes. Als sie ihn fühlte, sank sie stumm an seine Brust.

Eine ehrfürchtige Stille war im Zimmer, und jeder hörte, wie sein Herz schlug.


Als es vorüber war und die Christel und alle andern sich ein wenig erholt hatten, fing der alte Maxintsack zu grollen an: »Und an der ganzen Sache ist nur der verflixte Schrammel schuld. Der hat ihm 'zeigt, wie man auf der Geigen kratzt …«

»Oho! Oho!« wehrte der Schrammel ab. »Ich hab' ihm nur gezeigt, wie man die Leute nimmt. Das Geigen hat er längst verstanden!«

»Freilich!« fiel die Herdrix ein. »Schon auf dem Pantzerfeld hab ich mich versteckt, weil er gar so schön gespielt hat. Dann aber hat er die schöne Geige bekommen, mit der er Tränen fließen machen sollte …« Und sie schaute ihre Schwester an.

»Aber laß das gehen,« sagte Clemy, »ich hab' ihm eine Geige gegeben. Gut. Aber der Wahnfriedrich – hat er ihm nicht Augen gegeben?«

»Das feine Ohr hat er von mir …« bemerkte Köckeis, das Familienverdienst zusammenfassend.

Wahnfriedrich aber sprach mit feierlichem Ton: »Die Tat des Mannes ist wie die Tat des Schützen in der Nacht. Er sendet seine Pfeile und sieht nicht, wo sie treffen; doch sie treffen. Darnach aber sollen wir bei jedem Manne sehen: ob seine Tat auch gut ist, ob er das mühselige graue Leben freudiger und heller durch sein Tun macht, ob er den Himmel blau zaubern und die Sonne aufgehen lassen kann, oder unsre Welt verdüstert. Und wenn er dann noch seine schöne Sache um ihrer selbst willen tut, dann segnen ihn viel lachende Augen, dann gedenken sein befreite Seelen immerfort, denn das Ewig-Deutsche lebt in seiner Brust. Grazian! Laß uns daran festhalten, mein Alter, und laß uns nun das Glas auf den erheben, von dessen Geist selbst wir Geringe heute Vorteil haben: es lebe –«

»Richard Wagner!« schrien alle wie aus einem Munde und kamen erst recht in Stimmung, untersuchten die Sache von neuem und schoben das Verdienst von einem auf den andern. Und es lief um den ganzen Tisch herum, kam von Richard Wagner auf den Grazian, von ihm auf die Mutter, den Vater, sie erzählten die Geschichte, erinnerten sich, und so stritten sie, so lobten und rühmten sie einander immer lauter.

Der Mond lag zitternd im Giebelfenster. Auch er wob Erinnerungen und machte seine Dichtung, wie ein guter alter Dichter immer schöner.

Da strich der Pfarrherr, der schweigend zugehört hatte, seine silbernen Locken. Dann schloß er die Hände und redete mit einer milden Stimme: »Wer kann es sagen? Jeder nennt es anders und alle meinen doch dasselbe. Wer ist der Herr unserer Taten? Wer segnet sie? Sit Deo soli laus et gloria. Gott allein sei Lob und Ruhm!«

 


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