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Erster Teil.

In einer milden Mitsommernacht zu Beginn der Achtzigerjahre stand ein altes Sofa in Sorgen. Es war ein hochlehniges grünes Ripssofa, das dem Uhrmacher Ambros Schwerengang gehörte, und stand deshalb in Sorgen, weil es am nächsten Morgen gepfändet werden sollte. Auf seinem Rücken schlief ein Knabe seinen tiefen Knabenschlaf; er hatte die Nase fest im Polster und wußte nicht, was Sorge und was Pfändung sei. Er merkte auch nicht, daß ein alter Freund durchs offene Fenster stieg: der große Mond kam aus der Leibenfrostgasse herauf und machte sich im Zimmer breit. Der große Mond hatte erst unten im Arm der Kleinen Donau zu tun gehabt, wo er den wurlenden Wellen auf den Grund sah, bis sie silberhältig weiterzogen. Dann war er die Heiligenstädter Lände hinaufgeklommen, über uralte Strandterrassen nach Döbling aufgestiegen, über Stiegen zur Blindenanstalt gegangen, wo ihm niemand entgegensah, und hatte sich endlich in die steile Leibenfrostgasse gelegt, von wo er breit durchs Fenster steigen konnte. Das Zimmer lag in der Hauptstraße, quer zur Leibenfrostgasse, und lag »unterisch«, das ist tiefer als die ebene Erde. Weshalb der Mond hinab mußte, über ein paar Stufen, um den Raum zu sehen, der Zimmer und Geschäft zugleich war.

Sooft der Mond in den Laden herabkam, hörte er ein Geräusch vom Hin und Her der luftdurchschneidenden Pendel, ein Atmen, Schlagen, ein Geticke und Gewippe. Die Uhren schliefen nicht in der scheinerfüllten Nacht. Nur Schwerengang, der Uhrmacher, hörte nichts von der Musik der Zeit. An einer Wand allein hing eine große Stundenschlaguhr, und ging wie eine stolze Gräfin, die mit dem Volk nichts redet. Selten tat sie ihren Mund auf, denn eine Stundenschlaguhr macht von Mittag bis Mitternacht nur 78 Schläge; und wenn sie ihre tiefe schwere Stimme hob, schrie der Chor nervöser Ticker sie nieder, denn die kleinen wollten nicht umsonst da sein.

Der blondgemähnte Knabe, der jetzt schlief, kannte am Tage keinen feineren Genuß, als sich mit einer Schottenuhr zu unterhalten, oder einer Holzuhr aus dem Schwarzwald. Er zog an der Kette, es rasselte metallisch, das Gewicht stieg schnell, oben sprang der Kuckuck aus dem Häuschen, auf einmal schnappte – klaps – die federnde Tür und der Kuckuck war zurückgerissen – wie von einem Zauberer. Und diese hölzernen Vögel nahmen's sehr genau, sie machten es wie ihre Kameraden im Sieveringer Wald. Denn diese sprechen gar nicht ein grobes K dreimal, sie machen nur ein hohes leeres und ein tiefes volleres u und verbinden es mit einem rätselhaften Kehlton. Und ob der Holzkuckuck, den er sah, wohl ebenso fein sei, wie der Waldkuckuck, den er nie sah, das eben wollte dieser Knabe ganz genau erfahren.

Mit einem Male sah der Mond im Zimmer einen Mann stehen, der sich auf die hohe Seitenlehne stützte und lange auf den Knaben blickte. Es war schon spät, noch immer konnte dieser Mann nicht schlafen; bald ging er auf den Zehen durch das Zimmer, bald trat er wieder zu dem Knaben und schien die Hände vor der Brust zu falten und murmelte ganz leise. Er hob die Decke und stülpte einen kleinen Berg hervor, damit das Angesicht des Schlafenden im Schatten liege. Da wußte der alte Mond, es war der Vater dieses Knaben.

Der Vater stand in Sorgen, wie das alte Sofa, das am nächsten Tage gepfändet werden sollte. Schon trug es ein entehrendes Siegel und war doch ein Sofa, worauf vergangene Geschlechter gesessen hatten, die Väter und die Vatersväter: die Riedinger von 1810 bis 1840, die Köckeis, 1840 bis 1870; es war die Mitgift der Frau Schwerengang, gebornen Köckeis. Wie sollte es nun der Meister hindern, daß dieses Erbstück der Familie, dieser Freund des Hauses, weggetragen werde, weggetragen vom Gläubiger Orion Feuerschein und von Bedrich Juricek, dem Amtsdiener?

Wo lief das Glück in diesem Augenblicke? Durch welche Gassen kam es, in welches Fenster stieg es ein?

Er trat vom Sofa weg und setzte sich an seinen Werktisch, der vorn am Fenster stand. Der Werktisch stand am Fenster, denn ein Uhrmacher braucht mehr Licht als der Arzt, wenn er in morsche Eingeweide spähen soll. Der Meister saß, die Sessellehne hielt den rechten Arm, der linke hielt seinen Sorgenkopf. Da sagte eine andre ferne Stimme in dem Manne: Ist nicht das Glück einmal auch in deine Gasse gegangen? Hat's nicht bei dir auch zugesprochen? Und die andre ferne Stimme, es war die Stimme der Erinnerung, erzählte, wie der Meister in der Fremde krank geworden war und immer weiter fuhr in einer Himmelsrichtung: in die Richtung nach der Kreuzblume des Stephansturmes. Und wie er dort mit leerer Tasche ankam und gesund wurde, und das Märchen lebte, das Märchen vom goldnen Wien. Denn nicht acht Tage war er in der Stadt, so kam ein Wiener Bürger, der alte Gabesam, und lieh ihm tausend Gulden, ohne Schuldschein, ohne lange Reden. Und aus dem Gehilfen Schwerengang wurde der Meister: er konnte seinen Laden auftun, und die Christel heiraten, und Furnituren kaufen, Werkzeuge und Uhren. War diese Stadt nicht sonderbar? Nicht gut, wie eine alte Liebe, die man bös gemacht hat, und die doch wieder ihren Arm liebelächelnd öffnet, wenn man wiederkommt? War nicht das Glück in Deine Gasse gern gegangen? In Dein Fenster eingestiegen?

So sprach die ferne Stimme, und der Meister fühlte, daß er ungerecht gewesen war, wenn auch das Ehrensofa jenes Siegel trug, und wenn er auch im Stubenmondschein schlaflos sitzen mußte. Da stand er auf, verließ das Zimmer und holte aus der Küche eine Schürze. Es war die blaue Schürze der Frau Christel. Und hatte freilich von Gesetzes wegen ihre Dienstverwendung bloß in der Küche, dort, wo die Christel die Regierung führte. Aber weil die Dame schlief, und Männer in ihrem angebornen höhern Sinn über Küchendinge gern hinweggehen, so konnte es geschehen, daß Schwerengang auf seinen Werktisch stieg und die dunkle Schürze vor das Fenster klemmte. Der große Mond war ausgesperrt, bis auf ein fingerschmales Ritzchen, und silberte am Dach herum, im ersten Stock und auf der Straße: im Zimmer aber war's noch rauschender als zuvor, im Dunkel stand das Sorgensofa, im Dunkel schlief der glänzendblonde Knabe. Mit einem Mal sah der Mond durchs Ritzchen auf verwunderliche Dinge: vom Werktische her kam ein gelber Schein und irrte flackernd auf zur niedern Zimmerdecke. Und neben der Petroleumlampe war ein dunkler, lichtumsäumter Kopf. Bald kreuzte ein behutsames Gehämmer das Pendelrauschen vieler kleiner Uhren, wie das Gewissen nachts durch rauschende Gedanken klopft. Lange saß der Meister Ambros; er saß noch, als der Mond sich schon längst empfohlen hatte. Und hantierte dort mit wunderlichem Geräte: mit dünngehalsten Sticheln und mit braungestielten schmalen Bürstchen, deren Holz nach Wald roch. Und wenn ein Rad geputzt war, dann steckte er's mit der Pinzette in dünne Stangen von Hollundermark, damit der Zapfen entölt werde. Dann drückte er die Lupe vors linke Auge und es sah aus, wie wenn ihm das Auge aus einem schwarzen Stiele herausgewachsen wäre.

Das alte Sofa aber dachte, während es den Knaben trug: alle Väter haben nichts gezeugt als ihre Sorgen, alle Mütter nichts geboren als ihre Sorgen, und alle Eltern haben nur die eine Sorge, daß ihre Sorge ihnen erhalten bleibe.

Die Uhren rauschten fort und sangen: flüchtig ist das Leben. Sie rauschten in der dunkeln Stube um den tiefen Schlummer des Jungen und flüsterten ihm schlafhütende, traumschöne Akkorde ins Ohr.


Der gähnende Morgen schlurfte durch das Haus, als Meister Schwerengang sich erhob: die Uhr war fertig. Er behorchte sie noch einmal, überhauchte dann das Glas und den silbernen Mantel, rieb Glas und Mantel am Ärmel wieder blank, schlug die Uhr in weißes Seidenpapier und stieg zur Gasse hinauf, vor das Haus.

Dieses Haus hockte seit Jahrzehnten an der Hauptstraße. Einst hatte es jung und sauber gestanden, als unter Kaiser Franz einer es zur Sommerlust erbaute, und blickte mit seinem Gesicht über die Baumkronen der Lände hinunter zu den spiegelnden Donauauen. Nun war es ein altes Mutterl geworden, und Frau Christel pflegte den Palast nicht anders als Kaluppen zu nennen. Unten blätterte sich von Wand und Mauer der wienergelbe Mörtel wie Schorf, und der Hausschwamm nagte unverdrossen an den Fußböden. Nur oben hatte es sich die Feierlichkeit der Tage bewahrt, wo nicht Mieter es bewohnen durften: im ersten Stock hinter weißgerahmten Fenstern hauste Peter Maxintsack, der Hausherr, vorväterisch-idyllisch. Und das Zeichen dafür war ein Bauchfenster, das, halb Erker, halb Balkon, zwischen zwei Pilastern auf die Straße vorsprang. Durch die schön gebauchten Gläser pflegte der Hausherr die ganze Straße zu mustern, auch wenn es regnete oder stürmte. Und er pflegte sie gern zu mustern, auch wenn es nicht regnete oder stürmte.

Deshalb schaute Schwerengang zuerst zum Fenster auf. Als er aber Herrn Peter Maxintsack dort nicht fand, wußte er, der Hausherr war im Garten. So schritt er durchs breit-gewölbte Tor und blieb im Hofe zögernd stehen. Denn gerade ging im ersten Stocke eine weiße Tür auf und Herr Maxintsack im schwarzen Käppchen umschritt den Gang, wischte mit der Hand das Eisengitter ab und stieg herab.

Der Meister wartete voll Ehrfurcht, während der Hausherr vom Hofe aus die grünbemooste Steintreppe zum Garten hinanstieg. Dort sah er, wie der Mächtige einen schweren Schlüssel aus der Tasche seines Lüsterröckchens zog und das Eisendoppelgitter öffnete. Er ging ihm langsam nach.

Unterdessen stieg der Hausherr mit dem Fuße auf die Plutzer, um sie festzudrücken. Um jedes Blumenbeet war eine Kränzung solcher Plutzer; in der Mitte aber blinkten auf hohen Stöcken blanke gläserne Kugeln, worin die Sonne bläulich oder rötlich brannte, die ganze Welt erschien im Farbenglanze, und des Petrus würdiges Gesicht ging ins Breite auseinander.

Eben unterbrach der Hausherr seine Arbeit, um die Meerschaumpfeife anzuzünden; nachdenkliche Rauchwolken entquollen seinem Munde und schwebten feierlich zum Himmel. Da faßte sich der Uhrmacher ein Herz, trat in den verbotenen Garten und reichte dem Hausherrn die tickende Uhr.

»Ah, scho firti? Das is g'scheidt! Was is denn nachher dafür? Was? Zwei Gulden? – Hören S', a bissel viel! No, mir werden scho auf gleich kommen. Beim Zins. Am Ersten. Geln S'? …«

Der Uhrmacher fiel aus allen Himmeln der Hoffnung. Er hatte darauf gerechnet, der Hausherr werde einfach in die Tasche greifen und zwei Silbergulden »mit einer Hand« bezahlen. Und nun diese Rede! Er sah, er hatte sich verrechnet. Und war jetzt nicht imstande, seinem Gläubiger eine Abschlagszahlung zu leisten und die fürchterliche Pfändung hinauszuschieben. So stand er ratlos lächelnd. Dem Hausherrn ins Angesicht zu widersprechen, getraute er sich nicht. Und wußte doch: im Augenblicke, wo er ihn verließ, werde er auch Mut bekommen und sich über seine Feigheit ärgern, die er doch jetzt nicht abzuschütteln vermochte. Schließlich war er froh, er konnte seine Schüchternheit mit irgendeinem Grunde stützen: es war doch besser, dem Hausherrn nicht zu verraten, wie schlimm es um ihn stand, denn Maxintsack war nicht nur Hausherr, sondern auch Gemeindeausschuß.

»'mpfell mich, 'mpfell mich!« hörte er den Hausherrn sagen und schritt zum Ausgang mit dem Gedanken, warum die reichen Leute immer glauben, alle andern Menschen seien hochzufrieden wie sie selbst und haben nichts zu tun als Fenstergucken oder Plutzertreten.

Auf der grünbemoosten Steintreppe stand jetzt ein Knabe, der seine aufgestülpte Nase frech durch die kühlen Eisenstabe drückte und den Hausherrn musterte. Hinten an der Hose zog ihn ein andrer Knabe, ein blasser blonder Bub mit schwarzen Frauenaugen, der eine kleine Geige unterm linken Arm trug. Mit der freien Hand schien er ihn wegzuzupfen, doch als er seinen Vater kommen sah, trat er auf ihn zu und küßte ihm still die Hand: es war der kleine Grazian. Der andre war sein Freund, der Sohn des Schusters Wlk, und seinem Erzeuger wie aus dem Gesicht geschnitten. Grazian ging ein Stück mit seinem Vater und zeigte ihm die neue Saite, die er eigenhändig aufgezogen hatte; der kleine Wlk aber blieb und begann die Gitterlanzen anzuklettern. Plötzlich hörte Schwerengang den Hausherrn: »Gehst nöt! Mistbua, kraupeter! Wirst afahren? Schau lieber, daß dei Vater 'n Zins zahlt! Sonst wird ihm aufg'sagt!« Da glitt der kleine Wlk herab, machte mit zwei Händen und spielenden Fingern eine lange Nasenflöte auf den Hausherrn, sprang pfeifend über die Treppe und trabte durch den Hof, bis er in der sichern Schusterwohnung verschwand.

Als Schwerengang zurückkam, hörte er Frau Christel in der Küche schaffen: die Bohnen knackten in der Kaffeemühle und im Zimmer roch es nach dem frischen Holz des Morgenfeuers. Es war ihm recht: so war er wenigstens allein. Er bückte sich und zog behutsam die Lade des Sofas auf. Da lagen unter einem Packen alter Zeitungen fünf schöne Silbergulden; ganz heimlich lagen diese Silbergulden und sahen ihn mit ihren blanken Augen an. Er hatte seine stille Vergnügung eine Zeitlang, dann langte er nach den fünf Brüdern, um sie einzustecken, schien sich's aber wieder zu überlegen, denn er richtete sich auf und schob die Lade mit dem Fuße vorsichtig zurück. Nein, er brachte es nicht übers Herz. Die fünf Silbergulden waren für den kleinen Grazian. Zum Christkindl sollte er die erste große Geige bekommen, eine ganze Geige (bisher spielte er auf einer elenden Dreiviertel). Es war ihm schon so lang versprochen worden – wie freute sich der blasse Bub – vierzig Gulden kostete die neue Geige, und da lag das erste Angeld, heimlich hergespart, verborgen vor Frau Christel. Diese Silbergulden wollte er, sie konnte er nicht anrühren – und wenn ihm alles weggetragen würde.

Es war halb acht geworden. Die Uhrenzeiger schienen heut nur so davonzurennen, wie sie immer rannten, wenn man wollte, daß sie zögern möchten. Der Meister pflegte selbst die Zeiger manchmal vorzurücken, wenn er zeitig aufstehen mußte, und hatte dann das angenehme Gefühl: es ist noch zehn Minuten Zeit. Heute liefen sie von selbst und unaufhaltsam der Mittagsstunde entgegen, und um die Mittagsstunde kam Herr Feuerschein, um ihn zu pfänden.

Diese Pfändung war kein Zwischenfall, sie war ein Schicksalsschlag und hätte ihn um Jahre zurückgeworfen. Sein ganzes Trachten war, die Lieferungen fürs Gemeindehaus zu erhalten, denn wer die große Marktuhr mit dem Stiftgang auf dem Theresienplatze richten durfte, wer die Pendeluhren für die Kanzleien lieferte, war ein gemachter Mann, war »offiziell«, der brauchte um den Zins nicht mehr zu sorgen und konnte auf den Ladenschild das Wort Gemeinde-Uhrmacher malen lassen. Wer aber einmal ausgepfändet wurde, war ein Mann mit Makeln, war verloren und entgleist und konnte niemals auf den Ladenschild die Worte malen lassen: Ambros Schwerengang, Gemeindelieferant.

Die Ausschreibung war im nächsten Frühjahr, März, April; und das große Wiener Glück der tausend Gulden, schien es nicht alles zu verderben? Das war kein Malheur, das war ein Unglück für sie alle, den kleinen Grazian mitinbegriffen. Denn Gott im Himmel, der die krausen Bahnen der Sterne bestimmt, bestimmt wohl auch die krausen Bahnen, die ein Schuldschein zieht; und so kam es, daß der Schuldschein, den Meister Schwerengang im Drang der Rechtlichkeit dem alten Gabesam ausgestellt hatte, ohne daß der Gabesam es auch nur verlangt hätte, in die ausgestreckte Klaue Orion Feuerscheins gefallen war. Schwerengang erinnerte sich des letzten Meisters, den er hatte, und mancher guten Lehre, die der Alte auf den Lohn draufgab. Als er fortzog, um sein Glück in Wien zu suchen, hatte ihm der Alte in Ödenburg gesagt und seinen Zeigefinger dabei gehoben: »Du sollst dir möglichst nie ein Geld ausborgen!« (Wörtlich hatte er gesagt: möglichst nie!) »Wer Geld ausleiht, verschleudert seine Freiheit. Die ausgeliehenen Guldenzettel mahnen mürrisch: wir wollen zurück. Geldborgen sollte sehr erschwert, Geldverdienen sehr erleichtert sein. Aber, was sollte in der Welt nicht leichter oder schwerer, was sollte überhaupt nicht anders sein!«

So hatte der Alte damals gesagt, und ihn nur schwer entlassen. Er schrieb ihm wiederholt und bat ihn, wieder einzutreten. Wie gut hätte er es jetzt in Ödenburg! Doch kam da die Geschichte mit der Christel, und dann war der Bub, der Grazian, gekommen … So blieb er doch in Wien. Und nun?

Jeden Samstag um die Mittagsstunde kam der jüngste Sohn des Hauses Feuerschein, um zwei Gulden als bevollmächtigter Minister einzuheben. Obwohl die wöchentlichen Leistungen nur schwache Tröpfchen bedeuteten und das Meer der Schuld viel langsamer abnahm als die Ausdauer des Gläubigers, wurde die Absicht Feuerscheins doch mehrere Male vereitelt, denn Frau Christel spektakelte so fürchterlich und schoß so grimme Löwenblicke, wenn das ganze Geld im Hause »dem Haderlumpen in den Rachen« geworfen werden sollte, daß der Gesandte ängstlich wurde und die Flucht ergriff, was sicherer war. Nun waren über sechs Wochen um, der Tribut verweigert, und nach dem Wortlaut der Verschreibung der ganze Rest der Schuld verfallen. Orion Feuerschein berief sich auf »Terminverlust« und wollte heute persönlich erscheinen, um die abgebrochenen völkerrechtlichen Beziehungen durch die mitgebrachte Staatsgewalt würdig zu beenden.

Das alles ging dem Meister durch den Kopf. Er stand in Schweigen wie ein Uhrwerk, das zu schwere Gewichte hat. Da fiel sein Auge auf die alte Stockuhr, und blieb dort stehen.

Die alte Stockuhr mit den vielen Wundern war das Schaustück seines Ladens. Er hatte sie im Winkel aufgestellt, auf einem Bänkchen, damit sie jedem gut entgegenschaue. Nie war sie ihm so schön, so wertvoll vorgekommen.

Auf vier zartgebauchten Alabastersäulchen ruhte der Fries eines griechischen Tempels, worin ein goldenes Zifferblatt mit Schnörkelbuchstaben eingelassen war, und im Kreise sprangen Sonnenstrahlen weg. In buntem Geschlinge liefen die seltsamen Zeichen der zwölf Monate rund herum. Der goldene Pendel aber hatte das Gesicht des Mondes und ging mit Würde zwischen den schneeweißen Säulen, wie's einem Altbürger ziemt. Drinnen war alles von Spiegelglas, und der Meister konnte den Altbürger auch von der Rückseite sehen. Darunter, im Spiegelwasser schwamm ein Schwan aus Alabaster, versteinert wie im Traum. Der Meister zog an einem grünseidnen Schnürchen, und aus dem Tempel kam ein leiser lieber Schlag, wie ein Seufzen über die verlorene Zeit. Dann zog er noch einmal, an einem zweiten grünen Schnürchen, und ins Zimmer fiel eine trauliche Musik, eine Musik, die stille machte. Im Hintergrunde begann sich langsam ein gläserner Wasserfall in den See zu senken, der Schwan bewegte sich dem Ufer zu, und an den Rand des Märchenspiegelwassers trat eine lilienweiße Alabasterdame, die ihre weiße Hand ausstreckte, wie wenn sie Sehnsucht hätte. Der kleine Grazian vermeinte immer, der Wasservogel sei ein verzauberter Prinz, und wenn er den Kopf aus dem Tempelchen zog, war das Märchen aus.

Und diese liebe Zimmeruhr hatten die Urgroßväter Riedinger auf ihrer Kommode gehabt und vergnügten sich damit in jeder Stunde; dann war sie auf die Kommode der Köckeis übergegangen und zuletzt in diesen Laden herabgekommen. Sie gehörte zu der Mitgift der Frau Christel, und Frau Christel huldigte der alten Dame, die den ganzen Stammbaum kannte, wie einer Urgroßmutter, sah sie mit Andacht an wie ein Heiligenbild, und hatte sie für unveräußerlich erklärt wie ein Stammschloß.

Auch der Meister stand mit Hochachtung vor dieser Uhr, weniger aus Familiensinn, als darum, weil sie mit der Hand gemacht war: er hatte keine Schätzung für die gleichartigen Blechgehäuse, die die Fabrik erzeugt, und worin die Weckerwerke phantasielos quarrten.

Aus der Betrachtung aber riß ihn ein Trompetenstoß: es war die kriegerische Stimme seiner Frau, die aus der Küche zum Kaffee befahl: »Brosi, g'schwind! Hörst? Der Kaffee!«

Auf den Zehenspitzen schlich er nun zum Werktisch, nahm die blaue Schürze und bedeckte damit rasch das Gesicht der Uhr. Es war ihm, wie wenn er sich vor der Ahnfrau schämen müßte, wie wenn er dieser Uhr nicht zeigen dürfe, wohin sie käme, und welches Schwerverbrechen er an ihr begehen wollte. Er nahm sie zärtlich vor die Brust, und ehe noch Frau Christel zum zweiten Male schrie oder selbst erscheinen konnte, um den Anschlag zu verhüten, verließ der Meister seinen Laden, heimlich wie ein Dieb.


Hausherren, die hoch über den anderen Menschen wohnen, müssen sich oft über die Menschen ärgern, die unter ihnen wohnen: überall, wohin der alte Maxintsack schaute, stand heut der Wlk-Bub und drehte seine lange Nase.

Maxintsack trat von den Rabatten weg und ging zum Nußbaum, der die vollen Arme wie ein Bischof segnend breitete; er spähte nach den jungen Nüssen und freute sich der Fülle: im September stand er dort mit einer langen Stange; ganze Nachmittage stand er dort beim »Nuß passen«, und der alte Baum gab geduldig immer neue Nüsse.

Heut aber sah der Hausherr zwischen dem Gezweige statt der grünen Kugeln zwei Bubenhände, die eine Nase drehten, hier zwei Hände, dort zwei Hände, der ganze Baum war mit einem Mal voll von Händen. Der Ärger wühlte von neuem in dem alten Herrn, er kehrte dem Baum den Rücken, schmiß die Eisentüre ins Schloß und strebte dem Schuster zu, um seinen Ärger dort zu entladen, woher er gekommen war.

Schuster Wlk, der aus Wsetin in Mähren eingewandert war, bewohnte eine Wohnung, wie der Uhrmacher, nur lag sie links vom Tor. Der Hausherr mochte ihn nicht recht leiden, denn er hatte eine kurzstummelige Nase, die mit der Spitze frech zum Himmel stand, eine Nase, von der die Nachbarskinder sagten: wenn's regnet, regnet es hinein. Doch jede Anspielung auf seine Herkunft versetzte ihn in eine Panther-Wut, und er fauchte: »Kruzitürken, bin ich Wiene!«

Oft ging er abends in den Laden rechts vom Tor und murrte statt zu grüßen: Sechz'g Kreuzer. Worauf der Meister Ambros seufzte: Fufz'g Kreuzer. Damit war die Tageslosung gemeint, und der Schuster wie der Uhrmacher erleichterten sich die Herzen, indem sie einander die Verdienste mitteilten. In dem Spiel war auch Ehrgeiz, und es war beredt, besonders wenn der eine schweigen mußte. Der Schuster Wlk war klein und mißgestaltet und schien die Welt von unten anzusehen, denn er hatte Augen wie ein Frosch. Seit Jahren war seine Frau gelähmt, und einer der zwei Schusterbuben zog bisweilen das zusammengebogene Geschöpf in die Gassensonne hinauf, samt der Kiste, worin sie lag. Und vom Hausherrn abgesehen, war diese Hilflose, die von den malerischen Betschwa-Ufern träumte, die einzige, die den Panther bändigte. Wenn ein Stubenmädchen kam, dem die Brüste durchs Kleid zitterten, und sich Stiefletten anmessen ließ, dann fühlte Wlk die Feindseligkeit des lahmen Weibes durch die Luft, während er an festen Waden hantierte, und unter ihren stählernen Blicken schoß dem Mann die Hitze ins Gesicht. Dann hieb er seine Raubtierkraft in den Lehrbuben hinein, oder in die Stiefel, die wegen ihres Härtegrades berühmt waren. Die ganze Welt, die er von unten ansah, sah er mit Wut an.

Er saß im Lederschurz, als Herr Maxintsack die Ladentüre öffnete und den Kopf hereinsteckte. In der Werkstatt stand eine kranke Luft: alle Dünste der Armut und des Pechs waren beisammen; es roch so stark wie bei den Blumenrabatten des Hausherrn, nur nicht so gut, und es war gesorgt, daß die Türe nichts hinausließ. Dann kniff der Hausherr die Nase mit zwei Fingern zu, als er hineinschrie:

»Sie, Herr Wulk, schaun S' Ihnen um a andere Wohnung um! Wann's bis am Montag wieder nix is' so is' 's Rest mit uns. Wissen S'? I wart net länger!«

Der Schuster sah von seinem Sitz auf. Doch ehe er noch etwas erwidern konnte, war der Kopf des Hausherrn schon verschwunden, nur seine Worte blieben zurück, wie Steine, die jemand hineingeworfen. Wlk fühlte die Augen der Lahmen auf seinem Gesicht, der Wenzel schaute beide an, es stieg ihm heiß und rot auf, und er machte sich am Stiefelhaufen zu schaffen, der hinter dem Werktisch lagerte. Wlk konnte sich den Augenblickszusammenhang nicht erklären, er sah sich nur von seinem Weibe angeklagt. Die Verantwortung legte sich auf seine Brust. Plötzlich drängte er es fort, er machte sich Luft, und fletschend ergriff er einen Röhrenstiefel und hieb damit dem ahnungslosen Wenzel auf den Rücken: »Marsch, hinaus! Lackel dumme!« Die Hiebe, die dem Hausherrn galten, schlugen schwer auf die Knochen des Schuldig-Unschuldigen. Krähend flüchtete der Junge zur Hoftüre hinaus.

Keuchend setzte Wlk sich nieder. Die Frau richtete in der Kiste ihren Oberkörper auf und starrte ihn aus ihren Schlangenaugen an. Er wühlte in seinem verschmierten Kinnbart, dann hielt er 's nicht länger aus; er drehte ihr den Rücken zu und brütete vor sich hin, während vor seinen Augen rote Wolken stürmten. Er mußte etwas zerhauen, etwas würgen, etwas umbringen. Die Hoffnungslosigkeit schnürte ihm die Kehle, der Hausherr war sein Feind. Er stieß mit dem Fuß in den Stiefelhaufen, daß die alten verkoteten Trittlinge auseinanderflogen, und stampfte darauf herum. Dann sank er zusammen und hielt den Kopf mit beiden Händen. Auf den Boden vor ihm war ein Knabenstiefel geflogen. Lange lagen seine Augen auf dem Stiefel, dann murmelte er neidisches Zeug: »Nur an Idee, an anzige Idee! Und ma is wer, ma hat was …« Er meinte die Messingplättchen, die ihm von den Stiefelspitzen entgegenglänzten. Fast jeder Knabe trug damals die gelben Halbmonde an seinen Schuhen, denn jeder Knabe durchscheuerte sonst das Leder, und fast alle Eltern ließen die gelben Halbmonde an den Kappen anbringen, weshalb ihr Erfinder – durch die Sparsamkeit der Eltern und die Neigungen der Knaben – zum Millionär geworden war.

Der Schuster wußte es, und in dem kleinen schmutzigen Schädel stiegen mit einem Mal Gesichte auf: er stand oben im Garten wie der Hausherr, mit dem Fuß auf den Plutzern, und jeder Plutzer war der Kopf eines Schusters. Und er trat ihn hinunter. Er hatte einen Nußbaum und schlug ihn, daß das Gold herabspritzte. Und alle Schuster zogen tief die Hüte. Er hatte keine lahme Schlange mehr, aber einen feinen Stadtladen, und stolzierte frei und stieß mit dem Fuß von sich, was er nur wollte.

So wirr und abenteuerlich spukte es in diesem dumpfen Schädel: es sah darin aus wie im Gemeindewirtshaus, wenn eben gerauft worden ist; aber klar und fest war eins, der bauernstarke Vorsatz: ich will Wien erobern!

Sein Freund Schwerengang, der zu allem ja und Amen sagte, mußte ihm die erste Hilfe leihen: dies war Wlks Entschluß.


Die Uhren rannten inzwischen der Mittagsstunde zu, kurze Zeit nur – und Orion Feuerschein war da, den Schein der unverjährten Schuld in seiner Klaue, und der feiste Händler trug zwei Seelen in der Brust: eine windelweiche, wenn er die vier kleinen Feuerscheine ansah, die ihm verschwenderisch die Gattin geschenkt hatte, und eine korundharte, wenn er Wechsel eintrieb. Oft war das Sofa Ohrenzeuge gewesen, wenn er sagte: »Die Leute schimpfen mich, meine Kinder werden mich loben!«

Heute in der Frühe hatte er an die Lage des Weltmarktes gedacht und indem er sie bedachte, schob er den Hut in den Nacken und seufzte: »Gott, die Preise!« Dann schlug er die Ladentür auf und lehnte an den einen Flügel drei Strohgarben, die wehmutsvoll dort stehen blieben, – er öffnete von einer zweiten Flügeltür die oberen Laden, ein weißes Vorhangfenster wurde sichtbar, und darunter lagerte er sein Heu: die Auslage war fertig. Ein altes schiefes Blechschild hing vor seinem Laden und verkündete: »Orion Feuerschein. Kleie, Futtermehl und Gerstenschrot.« Und machte ein so trauriges Gesicht wie der Händler selbst, wenn er an die Preise dachte.

Am Vormittag wartete er und sah den Spinnen zwischen den Säcken zu; doch als von Schwerengang kein Bote kam, seufzte er: »Was soll ich tun?« Und trat den täglichen Geschäftsgang an, der heute mit der Pfändung endigte. Er nistete ganz oben in der Hirschengasse, doch mißachtete er den Braunen Hirschen, der ihm gerade gegenüberlag (den Braunen Hirschen, worin Kaiser Josef eingekehrt war), er würdigte auch das Auge Gottes keines Blickes, das hoch vom Linienwall herabsah; alle diese wichtigen Gasthäuser ließ er links liegen, und ging hinüber in die Leopoldstadt, wo er in einem niedrigen Kaffeehause geheimnisvolle Bankgeschäfte abschloß, Hafersäcke abstieß, Schuldscheine erwarb und erbärmlich seufzte, so oft der Kellner ihn umsummte, denn er enthielt sich Weins und allen scharfen Getränks und deshalb auch des Trinkgelds.

Heute war Herr Graslitz dort, Schweizer Uhren en gros, und verwickelte ihn in eine tiefe Unterredung, wobei der Name Schwerengang öfter vorkam. Der Händler horchte auf. Also war auch hier etwas im Werk? Er zog die Achseln und seufzte: Was soll ich tun? Und mit dem Ausdruck des Bedauerns wanderte er gegen Mittag eilig zurück. Fröhlich schien die Wiener Sonne, das Pflaster war trocken, und er trug die Stiefel seiner Frau, obwohl er feierlich versprochen hatte, sie nur bei Regenwetter anzuziehen.

Die Uhren rannten vorwärts. Der Meister war noch immer nicht zu Hause.

Punkt zwölf Uhr verfinsterte sich der Ladeneingang und wie ein voller Hafersack schob sich's schnaufend herab, dahinter liniendürr Herr Juricek, der Amtsdiener.

Herr Feuerschein war da: »Ich werde die Sache leiten!« rief er wie ein Feldherr und rollte sich dem Sofa zu; doch unsichtbare Kräfte hielten ihn zurück. Dort auf dem Sofa stand der kleine Grazian und geigte. Ein Sonnenstreifen umgoldete seinen Kopf. Bald ließ er sich aufs linke Bein fallen, bald aufs rechte, die elastischen Federn hoben spaßig die Füße, und er tanzte stehend seinen Walzer, dessen Stakkato den Hafersack wie ein gefälltes Bajonett abhielt.

Herr Juricek stand teilnahmslos. Orion Feuerschein schwoll an, der Walzer wollte ihn schier kreiseln, die goldene Luft im Raum mit allen Sonnenstäubchen fing zu wirbeln an, die Ähren tanzten wirbelnd, und es ward ihm heiß.

Er kratzte seinen Kopf. Was tun? Er wartete. Als es nicht aufhörte, rief er mit halber Stimme: »Ist denn niemand da?« Dann ermannte er sich. Die eigene Stimme gab ihm Mut, er wurde etwas lauter: »Is denn niemand da? Was is?«

Doch niemand hörte. Der Knabe geigte lustig weiter, wie wenn er's jetzt zu fleiß täte. Er schützte das Haus. Juricek klopfte ungeduldig mit dem Fuße. Feuerschein war wehrlos: »Ich bin doch nicht gekommen, um a Konzert zu hören,« sagte er. Die stärkere Absicht überwog: Durch die verteidigenden Töne drang er vorwärts bis zur Küchentür und schrie hinaus: »Herr Schwerengang? Was is?«

Damit aber gab er selbst der Sache eine andre Wendung, und eine überraschende. Denn aus der Küche kam nicht Schwerengang. Frau Christel stürzte ihm entgegen.

»O weh!« entfuhr es unwillkürlich Herrn Feuerschein. Denn Frau Christel war gefährlich.

Sie war im Jahre 1848 geboren und in Döbling stellte man nicht ohne Kühnheit Zusammenhänge zwischen den Weltereignissen und ihrem Naturell her: »Ja, das revolutionäre Temperament,« pflegte Vater Schwerengang zu sagen. In der Tat, sie hatte etwas mehr mitbekommen und der Grazian fand Genugtuung darin, die Frau Mutter, die ihm energisch das Gesicht wusch und rote Kratzwollstrümpfe über die Füße zog, und überhaupt sämtliche Regierungsgewalten an sich gerissen hatte, den Löwen zu nennen, ein Wort, das in Augenblicken von besonderen Herrschertaten zum dichterischen Leu gesteigert wurde.

Dem Löwen sah sich jetzt Herr Feuerschein gegenüber, und flötete mit süßgesenktem Kopfe: »Ich hab' die Ehre, guten Tag zu wünschen, gnä' Frau …«

Es stieß die Christel, als sie das Gestell sah: Die Bären-Beine, die ihm in den Bauch wuchsen, die kurzen Hosen und den Schädel, der ihr vorkam wie eine Kanonenkugel im Bett. Wie ein Tanzbär, dachte sie, und hätte beinahe herausgelacht, doch sie verbiß es, ging ihm dicht an den Leib und drängte ihn: »Mei liaber Freund und Zweschbenröster,« sagte sie entschlossen, während sie ihn in den Laden schob, »was wollen S' denn eigentlich scho wieder da?«

»Frau Schwerengang, Sie werd'n doch wissen –«

»Nix waß i! Is däs a G'hört si? Können S' net a Kart'n schreiben, früher?«

Wozu zwei Kreuzer herauswerfen? dachte Feuerschein, und fügte eingeschüchtert hinzu: »Ich hab' ohnehin eine schreiben – wölln …«

Haushälterisch hatte er den Willen für das Werk gesetzt, allein die schwarze Christel wurde puterrot, und wie sich einst die kaiserlichen Reiter auf die Muselmanen warfen und die christliche Gesittung vor dem Roßschweif retteten, so drang sie auf den schwergeblähten Haferhändler ein: »Was geht denn Ihna eigentlich die ganze G'schicht an? An Schmarn geht's Ihna an. Schaun S', daß S' weiterkommen. Federn derft' uns nur der Gabesam, Se net, Se net! Denken S' an den Buam da, Sö Blunzen, Sö Handlé!«

Die Lanzenstiche waren fürchterlich. Mir nichts, dir nichts wagte diese Frau die Rechtsgrundlage der Zession zu leugnen. Und noch mehr: sie hatte ihn Handlé genannt. Er wurde blaß und nahm die Haltung einer Gräfin an, der man nachsagt, daß sie früher beim Chantant war. Er sah die Tage, wo er seine Wiener Laufbahn mit dem Bündel auf dem Rücken begonnen und zur Gilde der Hosenhändler und Rockeintauscher gehört hatte. Er sah die Tage, wo er in den Höfen stand und in die Fenster schrie: Nix zu schachern? Nix zu handeln? Damals war er auf der untersten Sprosse der kaufmännischen Rangleiter und jetzt, wo er schon auf der zweiten oder dritten stand, wurden seines Lebens halbverwischte Spuren hier vor dem Juricek erörtert. »Gemeinheit!« rief er aus tiefverwundetem Gemüte: »Ich bin a Handlé? Wer sind denn Sie? Ihr Herr Vatter soll Ihnen das Haus zurückgeben, was er verschustert hat. Und Ihr Herr Sohn soll arbeiten, statt zu geignen. Überhaupt, der Bub muß weg! Der Bub macht mich noch ganz verrickt!«

Er nahm den dicken Kopf in beide Hände, er stampfte, er schüttelte sich. Noch immer schwirrten diese Geigentöne, sie drangen in sein Fleisch, er kam sich vor wie eine gellende Glocke. Er schrie, die Christel überschrie ihn – da schritt Herr Juricek zur Tat.

Der Worte schienen ihm genug gewechselt: er packte teilnahmslos das grüne Sofa auf der einen schmalen Seite, an den krummen Füßen. Ein Ruck und es war hoch.

Die Geigerei brach ab, der Grazian purzelte herab und stieß ihm mit dem Fuß das Amtskappel vom Kopf. Schnaufend suchte Juricek das Sofa aufzustellen. Es sträubte sich, es wollte nicht seine Eingeweide sehen lassen; es machte sich schwer, es schnitt dem Kerl in die Schulter, der es mit roten Fäusten packte; die Federn knackten in diesem Kampfe des Geschlechterstolzes mit der Pöbelgewalt. Endlich war es überwältigt, seine andere Schmalseite berührte den Boden. Das Sofa stand gedemütigt auf dem Kopfe und streckte seine Beine kläglich in die Luft. Schon zog Juricek aus seiner Ledertasche eine Gurte, um es zu fesseln und auf dem Rücken wegzuschleppen. Triumphierend blickte Herr Feuerschein, entsetzt Frau Christel auf die Tat – da ging die Gassentüre auf und Meister Schwerengang erschien.


Endlich kam er an. In den dichten Haaren glänzte ihm der Schweiß. Er nickte stumm: alles war gekommen, wie er sich's gedacht hatte. Tief atmend setzte er sich nieder und wischte die feuchte Stirn. Frau Christel erinnerte sich noch später dieses Augenblicks, wo sie ihn so sitzen sah, nach Atem ringend, hungrig und besorgt, und hinter seinen Sessel trat, weil sie ihn mit einem Male so gern hatte. Doch zeigte sie es nicht, sondern trommelte mit den Fingern auf seiner Schulter.

Schwerengang schien sich erholt zu haben. Er zog aus seiner Hosentasche ein Päckchen zusammengewühlter Guldenzettel, zählte zwölf heraus und wandte sich zu Feuerschein und Juricek, die versteinert standen: »Stehen lassen, stehen lassen! Nur kein Aufsehen! Bitte, bestätigen!« Und reichte dem Feuerschein das Geld.

Juricek ließ das Sofa auf die Füße sinken, rollte seine Gurte zusammen, Feuerschein erstaunte, wurde wieder lebend und überzählte seufzend das Geld, wie wenn er es eben sauer verdient hätte und übervorteilt worden sei.

Dann verlangte er noch drei Gulden für die Kosten. Als auch diese Summe ganz beglichen war, begann er sich zurückzuziehen.

»A brave Frau haben Sie, Herr Schwerengang«, sagte er, das Geld einschiebend; »aber entschuldigen Sie, haben Sie das nötig gehabt? Wegen alte Schulden? Wären Sie bei die Sparmeister eingetreten! Alle Woche zwei Gulden, und Sie hätten Ihre Lose, machen a Treffer – wer weiß? – Und brauchen nicht herumzurennen. Treten Sie ein! Noch bin ich nicht der Obmann; doch die Fäden hab ich in der Hand. Was Orion lenkt, ist wohlgelenkt!«

»Is schon gut!« erwiderte Frau Christel. Sie wußte, er saß alle Samstag beim Weißen Kreuz, als Kassier des Losvereines »Die Sparmeister vom Weißen Kreuz«; aber sie widersprach ihm, auch wenn er recht hatte. »Gehen S' nur! A schöner Mensch hat halt ka Glückt« Diesen letzten Pfeil sandte sie dem werbungslustigen Händler befriedigt nach.

Als der Zubringling verschwunden war, schoben beide Gatten das Sofa wieder an den alten Platz: da stand es nun, wie ehedem, und freute sich in Dankbarkeit, daß seine Ehre unangetastet blieb.

Plötzlich erstarrte die Frau Christel. Sie hatte in die Ecke gesehen, und in der Ecke war ein leerer Fleck. Wo war die Stockuhr?

Mit einem fürchterlichen Blick suchte sie das Antlitz ihres Mannes: »Brosi! Wo is die Stockuhr?«

Aber Brosi hatte an der untern Lade gerade sehr wichtig zu tun und mußte unters Sofa schauen.

»… Brosi! Wo is die Stockuhr?«

»Was für a Stockuhr?« Er verstand heute schwer,

»Brosi, mach mir kein Blimelblamel vor! Was is mit unsrer Stockuhr?«

»Ja, die Stockuhr, Gott, der alte Scherben …«

»Brosi, wo hast du 's Geld her? Du hast die Uhr verkitscht! Ich seh's an dein G'sicht –«

Er kam schüchtern auf die Oberwelt zurück: »Verkitscht? Weißt, Christel, ich hab' sie nur versetzt.« Er sagte es mit reuig-schmeichelnder Stimme und suchte sich der Gekränkten anzunähern. Er wurde zärtlich, er wollte seinen Arm um ihre Hüfte legen. Doch sie entzog sich: »Schau, daß d' weiterkommst!«

»Aber Christelweibi, was hast denn? Geh, sei gut! Wir wer'n die Uhr schon wieder auslösen …«

Sie stieß ihn mit den Achseln weg und begann jetzt einen Dauermarsch längs der vier Zimmerwände.

Er marschierte nach: »Aber Christelweibi, geh, paß auf …!«

Sie aber paßte nicht auf, sie war taub geworden.

Er verfolgte sie: »So red doch, Christel!«

Aber Christel redete nicht. Und marschierte taub und stumm durchs Zimmer. So oft er ihr schon nahe war und sie mit der Hand erreichte, stieß sie ihn weg. Er kannte diese Schickung. Sie war imstande und blieb acht Tage völlig stumm und taub, gesichtslahm, scheintot, was man wollte. Sie hielt es aus; er nicht.

Er rannte ihr wieder nach: »Christelweib, Christelfrau, wir werden s' schon wieder auslösen! Geh, sei gut! Ich tritt dem Feuerschein sein' Verein bei. Ich wer's schon z'sammensparen. Kriegst wieder dei' Stockuhr! Geh, sei gut!«

Sie marschierte weiter, wahrnehmungslos, erstarrt. Er hinterdrein mit Worten und Gebärden.

Endlich hatte er das Glück, sie an den Schultern zu erwischen. Er verklammerte sich, suchte sie zum Stehen zu bringen, suchte sie herumzukriegen. Sie wehrte sich, und stieß noch bockiger um sich. Allein nun hatte er die Löwin in beiden Armen und drehte sie und schraubte sie aus Leibeskräften um die Achse; sie machte sich steif wie ein Stock, sie hielt das rundliche Gesicht weg und Brosis Versöhnungskuß ging in die Luft. Acht Tage Wahrnehmungslosigkeit schienen gewiß: die Starrheit war nicht zu erweichen.

Da gab's ihr einen Ruck.

Beide horchten … Wiener Walzerengel wiegten sich weich herbei, Walzerengel, die den Tänzern die Augen schließen und ihnen die Köpfe in den Nacken legen. Sie flogen aus der schlechten kleinen Geige des Grazian, kreisten um die verschlungenen Leiber, sie schoben die Meisterin, der Meister schob nach – ein Ruck – und die Füße begannen zu federn, sie kamen ins Schleifen und Scharren.

Der Kopf der Christel war steinern und wollte nicht; die Füße mußten. Der Jubel rauschte dem Meister durchs Blut und trieb ihn mit ihr die Wände des Zimmers rundum herum. Die Meisterin im fliegenden Rock sah bald giftig dem Brosi, bald gallig dem Grazian ins Gesicht: doch war es kein Unterschied.

Er aber stand lecker und verschmitzt auf dem Sofa und kekerte wie ein junger Fuchs, und legte sich erst recht in die Saiten. Die Sonne fiel breit durchs Fenster ein wie früher, er stand im Schein und fiel von einem aufs andre Bein wie früher.

Der süßbuhlende Walzer, den der Feuerschein vorhin aus dem Zimmer gejagt hatte, war zurückgekommen, denn heute war sie wieder einmal bei Grazian: die geheimnisvolle Singerin des Tages. Sie hatte ihm die alte Musik schon zeitlich in der Früh gebracht, sie hatte sie jetzt zurückgebracht. Sie brachte ihm fast jeden Tag ein andres Lied, bald eins vom Heurigen, bald von der Spieluhr eins, dann borgte sie's einmal vom Werkel oder sang ein wunderbares Lied ganz ohne Herkunft. Nie war's das gleiche. Doch klang's den ganzen Tag, und unterm Spielen oder Essen, in der Schule, wenn der Lehrer redete, plötzlich hörte er das Tageslied der Singerin. Aus seinen Augen brach die Seligkeit, er war dann wie ein Haus, das man von innen schön erleuchtet hat, und aus den Fenstern fällt der rote Schein.

So geigte er hoch auf dem Sofa den alten Lanner und tat's zu fleiß: die Löwin mußte tanzen!

Dem Vater Brosi aber war's wie Einem am Sonntag im Prater: er kam sich so »ledig« vor, er zärtelte die schöne feste Frau und drückte verliebt sein Gesicht ganz nah an ihres. Er spitzte die Lippen und suchte ihren Mund, sein Bart kam schon heran – – da streckte Frau Christel – schlubbs! – die Zunge. Und eilig zog er die Nase zurück. Und tanzte selig weiter inmitten der wiegenden Engel, und sah mit Entzücken auf die Frau, denn er wußte: wenn sie nur einmal die Zunge zeigt, dann wird sie wieder gut, dann öffnet sie die Himmel der Verzeihung.


Meister Ambros saß am Werktisch und las die Zeitung. Es war seine Abenderquickung, zumal heute, wo ihm der ganze Tag nicht eine freie Leseminute gegönnt hatte. Und nun las er. Las sich tief hinein: die Augen saugten die Worte, auf den Knien hatte er einen Band des Meyerschen Konversationslexikons liegen, worin er eben einem Fremdwort nachgegangen war.

Die ganze Welt stand in der Zeitung und im Lexikon. Und da er solche Werke liebte, worin die ganze Welt stand, so las er nur die Zeitung und das Lexikon. Er war in einer wichtigen Stelle, die vom Burgtheater handelte, mitten in einer Faustkritik, und sah vornehm aus, denn beim Lesen trug er einen Zwicker.

Gesichte schwebten vor den Gläsern: er sah sich selbst, hockend hoch oben auf der harten Lehne der rotbelederten Sitzgalerie, im vierten Stock, wo sein Schädeldach die Decke des Hofburgtheaters berührte, hinunterstarrend auf die Geschichte vom Menschengeiste, auf den Mephisto, den der Lewinsky spielte, der pudelschwarz den monderhellten Pfad überschlich. Dieser Auftritt war ihm unvergeßlich wie sein eigener Hochzeitstag. Von allem anderen hatte er nicht viel verstanden und nicht viel behalten; den Mephisto aber, der dem Faust nachschlich, sah er stets vor sich – »ja, so ist es!« – und er lobte diesen »guten Einfall Goethes«, denn »der Teufel« erschien ihm als ein Sinnbild des Geschickes, das jedem braven Mann im Rücken, auch ihm natürlich, gespensterhaft und zehenleise nachschleicht.

»Ein guter Einfall,« murmelte er beim Lesen und sein zweigezipfter Kaiserbart las mit und lobte auch den Einfall Goethes, und murmelte überhaupt gescheite Sachen, fort und fort. Frau Christel kam aus ihrer Küche und sah den Kaiserbart, immer heftiger und gescheiter, und während sie den Eßtisch in die Mitte rückte und das reine Tuch darüber auswarf, verwünschte sie den versunkenen Leser und den gescheiten Bart, denn oft stand der ungeduldige Kunde vor dem Werktisch wie Banquos Geist beim Gastmahl, doch der Meister gewahrte nichts, bevor sie nicht hinter der Türe hervorspektakelte: »Dös verfluachte Bücherhocken! Sieht d' Leut' am hellen Tag net!«

Auch heute war er wieder abwesend. Sie glättete das Tischtuch mit der Hand, und als es sauber lag, lauerte sie eine Weile, dann schlug sie dröhnend mit der Faust darauf. Der Meister hob den Kopf, denn der Schlag dieser Turmuhr war ihm neu. Er schaute verirrt über den Zwicker, doch als er sah, es war nur seine Gattin, sank der Kopf sogleich wieder ins Burgtheater zurück; der Bart freilich hing jetzt still, denn er ärgerte sich, daß die Frau ihn störte, so oft er sein seligeres Leben führte, und immer mitten in der schönsten Stelle. Nicht lange aber und der Bart fing wieder klug zu reden an, die Uhren flüsterten behaglich: Feierabend – die Nachtmahlzeit war da.

Frau Christel setzte eine Kasserolle auf den Tisch, die Fenster standen offen und die laue Gassenluft bewegte den köstlichen Dampf, der wie aus Kratergluten geheimnisvoll der Schüssel entstieg. Grazian kam herbei und schnupperte. Gelbe Butter war, die noch vorzüglich und neben jedem der drei Teller lag ein Gschradiwecken oder ein Schusterlaibel; Grazian setzte sich und drückte seinen Wecken, um die »Reschen« festzustellen, und in der befriedigten Hand krachte laut das Gebäck.

Frau Christel begann nun auszuteilen und hob den Deckel von der Kasserolle, deren Geheimnis an Wochentagen fast immer die Kartoffel war. Doch sie verstand es, die feine Gabe des fruchtbaren Marchfeldes in wechselnder Verkleidung darzubieten und erzielte Überraschungen, um die sie ein Regisseur beneidet hätte.

Freilich floß ihr reicher Stoff für theatralische Effekte zu, denn die Krowotin Leni schleppte täglich andre Sorten in die Küche: dicke Riesenköpfe, runde Westenknöpfe, feine Kipfler, rosafarben und zartgelblich, und das Leckerste vom Leckern, die Heurigen, die jungen Feldkartoffeln, die Frau Christel mit Petersilie bestreute und die allen Duft des sonnigen Ackerlandes ausdampften. Und sie lobte täglich im Stillen das große Kartoffelparadies, das des alten Horneck »gemeines Sprichwort« bestätigte: Die Erblande sehen zu Essen und Trinken eigentlich gemacht.

Aber Meister Ambros merkte nicht die Nachtmahlzeit und ihren Duft, er hörte auch nur halb, als ihn Frau Christel schon zum dritten Male anrief: »Brosi! Essen! 's wird ja alles kalt!« Endlich stand er auf, versorgte erst das Lexikon und näherte sich zögernd dem Kartoffelschmaus. Im Gehen las er weiter, setzte sich mechanisch, griff mechanisch nach der Gabel, dann stach er mitten in den Butterstritzel: Die Stelle, die vom Burgtheater handelte, war zu wichtig. Der gute Grazian kaute vor sich hin und ließ sich's schmecken; Frau Christel aber sah mit gereizten Augen diesem Manne zu, der sie und ihre Schöpfung ungewürdigt ließ, und der ein Viertelkilo Butter auf der Spitze seiner Gabel balancierte. Eine Weile sah sie funkelnd auf sein Tun und Lassen, plötzlich sprang sie lauernd wie ein Löwe – ein Griff – die Zeitung war ihm aus der Hand gerissen, breit und triumphierend setzte sie sich drauf, und freute sich des glücklichen Besitzes. Der Meister aber fiel vom vierten Stock des Burgtheaters, mitten vom Juchheh auf die platte Erde, wo es keinen Mephisto und keine Illusionen gab; erst war er ärgerlich, doch als er den aufgespießten Butterstritzel sah, die Herrlichkeiten des Nachtmahls, die still grinsenden Gesichter, fing er auch zu lächeln an, und was die Hauptsache war, auch brav zu essen.

Frau Christel hatte ihm die hartgebräunte Rinde, des Schmarrns begehrtesten Teil gegeben, denn der Pater erhielt vom Guten stets das Beste, vom Besten das Meiste, vom Brot das Scherzel und vom Schmarrn die Rinde. Doch übernahm er damit die Verpflichtung, alles aufzuessen, und wenn er schon schwer im Stuhle lag und nicht mehr konnte, rief sie mit beleidigtem Achselwurf: »Gott, schon wieder laßt du alles stehen, und kost' an Haufen Geld!« Der ganze Schmaus, der diesen Samstagabend krönte, kostete ja auch fünfundzwanzig Kreuzer und Frau Christel dachte ungefähr den Gedanken: man kann mit einem Viertelgulden ein Verschwender und mit tausend Gulden ein Knicker sein. Und als der Grazian mit feiner Vorsicht in der Stimme fragte: Keine Augsburger heut? – schnitt sie alle Begehrlichkeiten mit einem Worte ab: »Naa, heut' augsburgert si nix.«

So saßen und aßen sie alle drei mit Fleiß, die Uhren liefen, und die Teller klangen hie und da, und die Zufriedenheit, die gern in unterische Zimmer steigt, saß unter ihnen mit einer stillen Weise.


Eine Fliege war dem Meister ins Bier gefallen, eine dicke, gelbe Sommerfliege, und er schob das Krügelglas zurück, das der Grazian vom Gasthause gegenüber gebracht hatte, und worin die Störerin von Nachmittagsschläfen und Abendtrünken und vielen andern Genüssen schwamm. Die Tafel wurde aufgehoben, jeder machte sich an seine Arbeit.

Frau Christel räumte ab und trug die Kasserolle und die Teller in die Küche; dann riß sie in der Küche Tür und Fenster auf, damit die gute Luft vom Garten und vom Hof die Wohnung über Nacht durchziehe. Meister Ambros legte den hölzernen Laden vor das Gassenfenster und schloß damit das Auge des Geschäftes; dann hob er vorsichtig die hohlen Messingstangen aus, woran die Taschenuhren hingen, und legte diese Stangen über die Lehnen zweier Sessel. Der Grazian zog die Schottenuhren auf, daß die Ketten rasselten, dann stellte er zwei Stockerl vor die Türe auf die Gasse, küßte dem Vater und der Mutter die Hand und bezog sein altes Schlummersofa.

Der Meister aber löschte die Lampe und ging mit Christel vor den Laden: beide saßen still im Dunkel, die Ohren wachten, die Augen gingen spazieren, und beide hatten ihre Vergnügung an dem schönen Gassenabend.

Die Wasserleitung, die Basséna, sprudelte von ferne, der Abendwind in seinem Schlottermantel hatte sich aufgemacht: neugierig flog er von der Heiligenstädter Lände und schaute trällernd um die Ecken, was es gäbe. Der Wachmann ging im Takt, sie hörten seine Schritte hallen. Dann flüsterte es heran: ein Dienstmädchen im Abendliebesplausch. Der Feuerwerker hielt das Mädchen zärtlich und das Mädchen hielt im Arm den Bierkrug.

Schwerengang nahm die feste Hand der Christel und legte seinen Kopf auf ihre Schulter: er lehnte gerne so; so fühlte er sich sicherer. Sie saßen regungslos, und er erzählte leise, was am Nachmittag geschehen war: wenn sie es hörte, ward es leichter.

Es waren Kappelbuben gekommen, Strizzi von Lichtental mit vorgewichsten Sechsern, die wollten Taschenuhren sehen. Der Grazian mußte am Verkaufstisch stehen und ihnen höllisch auf die Finger passen, so oft der Meister Uhren von der Fensterstange holte und sie vorlegte. Denn sie kamen, um zu stehlen, das wußte jeder. Sie griffen mit einer Hand an den blanken Gehäusen herum, bis sie schweißig wurden, hielten die Uhren ans Ohr oder steckten sie mit dem Bügel zwischen die Zähne, um den Schlag zu prüfen; die andere Hand behielten sie in der Tasche, murmelten unwirsches Zeug, und sagten nicht, was sie eigentlich kaufen wollten. Und als sie endlich draußen waren und wenigstens nichts gestohlen hatten, atmete der Meister auf.

»Mir ist's nicht so um mich, ich bin es schon gewohnt; aber unser Grazi – schau – es ist mir wirklich leid um ihn. Soll der Bub nichts Besseres werden? Soll er sein Lebtag hinter der Budel stehen und Kappelbuben bedienen? Und paßt er denn dazu? Wir haben ihn in die Welt gesetzt; aber wenn Eltern wissen wollen, was sie sind, so brauchen sie nur ihr Kind anzusehen.« Er seufzte. »Ich möcht' nicht, daß er fremde Leute um einen Bissen Brot am Rock zupfen muß, wenn wir einmal nicht mehr sind. Der Grazi ist – weil der Ambros und die Christel sich einmal so recht gern gehabt haben – nicht wahr? Muß er da nicht zu etwas Feinerem sein? Mit deinen Augen, mit meinen Händen? Warum soll er denn nicht ein Musikus werden? Soll man ihn zwingen? Siehst Du, wenn man Söhne zwingt, dann gibts Beamte, die geborene Künstler sind, und Landgerichtsräte, die geborene Schuster sind.«

Er sagte es mit Absicht, denn er kannte ihren Widerstand. Frau Christel, die von alten Uhrmachergeschlechtern stammte, konnte sich nicht vorstellen, daß ihr Sohn nicht werden sollte, was sein Vater war, denn sein Vater war, was ihre Väter waren. Er sollte halt ein paar Klassen der Mittelschule machen, dann das Geschäft übernehmen. Nun, da ihr Mann ihr so ins Herz redete, wurde sie ein wenig schwach. Sie zuckte mit den Achseln und meinte: »Schau deinen Bruder an! Da hat's immer geheißen: ein großes Kirchenlicht, der wird einmal Professor oder so. Und was is' er worden? Ein armer Musikalienhändler. Und ein halber Narr! Na, mir werden's ja sehen, i will net dreinreden.«

Und er, erfreut, an diesem schönen warmen Abend nicht so starken Widerstand zu finden wie sonst, feierte insgeheim seinen halben Sieg und fügte mutiger hinzu: der Schuster Wlk sei dagewesen – ja, der Schuster Wlk – und habe ihn gebeten, den Wenzel in die Lehr' zu nehmen. Denn der Wenzel ist bald schon vierzehn wie der Grazi und kommt aufs Jahr in die Gewerbeschul'. »Das könnt' ich ganz gut brauchen, es wär' mir gerade recht. Es ist doch jemand, den man kennt. Aber ich hab' g'sagt, ich muß mir's noch ein bissel überlegen, ich mag nicht nein sagen, ich werd's natürlich mit dir bereden.«

Frau Christel schwieg. Sie konnte zwar nicht sagen, warum, aber sie hatte eine Abneigung gegen alles, was Wlk hieß, und Abneigungen, die Frauen nicht begründen können, sind die stärksten. Und er wußte, sie war dagegen, wenn sie schwieg. »Was hast denn immer gegen ihn? Tut er dir was? Was willst? Ist ja selbst an arme Haut!« Und eifrig erzählte er weiter, der Wlk wollte heute Geld haben, zwölf Gulden auf den Zins. Niemand habe es ihm geben wollen –

»Und da warst du wieder amal der gute dumme Kerl? Gelt?« fiel ihm Frau Christel in die Rede.

»Warum nicht gar! Woher nehmen und nicht stehlen? Nur fünf Gulden hat er 'kriegt. Was halt übrig war …«

»Übrig?«

»Na, von der versetzten Stockuhr«, flüsterte er verlegen und seine Stimme sank um fünf Töne hinab. »Und zwölfe braucht er. Der Hausherr sagt ihm sonst auf. Wo findet man denn jetzt a Wohnung in Wien? Vielleicht bringt er 's Geld zusammen. Ich wünsch es ihm. A grundehrliche Haut: er hat so traurig dreing'schaut.«

»I versteh di net,« entgegnete nach einer Weile Frau Christel. »Wer kümmert sich denn um uns? Wer leiht denn uns was auf'n Zins? Und ob der Wlk so grundehrlich is –« seufzend brach sie ab. Sie kannte die einfaltige Güte ihres Mannes und sah darin nichts Gutes, denn alle anderen beuteten ihn aus.

»Ah, was verstehst denn du! Der Wlk is immer freundlich und immer höflich. Da schau den roten Krutz an! Der hat mich heut' wieder so schäbig gegrüßt – wenn die Leut' nur wüßten, wie weh sie einem mit dem Hut tun können. Aber der Hut geht nur vom Kopf, wenn er glaubt, es könnt' was hineinfallen: aus dem andern sein Sack. Gott,« seufzte der Meister plötzlich auf, und die Stimme stieg wieder um fünf Töne, »wenn ich nur einmal aus allen diesen G'schichten draußen wär! G'rad mich muß es so verfolgen! Daß ich noch einmal Gemeindeuhrmacher bin – das erleb ich gar nicht mehr. Der rote Krutz, der sitzt gar fest bei die Herren!« Sein Bart redete erregt.

Doch Frau Christel schien von allem gar nicht überzeugt. »Ja, warum versteckst dich nachher immer vor die Herren? Wann'st net unter d'Leut gehst, werden d'Leut net zu dir kommen. Geh zum Weißen Kreuz, geh zu die Sparmeister –«

»Sparen, Christel? Von was soll ich denn sparen? Sparen kann nur der, der schon was hat.« Und die fünf silbernen Brüder fielen ihm ein, von denen sie nichts wußte, und die sich heimlich auf vierzig vermehren sollten. »Und dann – ich geh' nicht gern ins Wirtshaus. Was soll ich denn mit diesen Leuten reden? Das Geschäft vergrößern! Ja! Daß wir einmal aus diesem Kellerloch heraus und ein bisserl in die Höhe kommen! Aber zu die Sparmeister, da bringst mich nicht!«

»Mir kummt nur vor, du hätt'st mir's heut versprochen,« sagte sie mit anspielender Stimme. »Und mir z'Lieb, Brosi, nein, sixt, dem Buben z'Lieb könntst es tun …« Sie schaute in die Nacht auf und wartete und nickte leise.

Er fühlte sich gefangen. Und um von diesen Gegenstand nur loszukommen, sagte er: »Nun ja, wenn man mit seiner Frau spricht, hat man immer Unrecht. Wann du durchaus willst, ich werd halt schauen …«

Nun feierte die Christel im stillen einen halben Sieg und nahm gleich die Gelegenheit wahr, ihn ein wenig zu befestigen:

»Schau, Brosi, ich wer' dir etwas sagen. Mir kommt immer vor, dein Unglück ist, daß du mehr bist wie die andern. Und es zeigst. Manche Leut' sollen halt nicht studieren, das macht sie traurig; studieren soll nur, wer es ganz kann. Der Krutz, bitt' dich, war ein Uhrenagent, und glaubt, er ist der Mittelpunkt von Wien. Wann er was g'lernt hätt, dann möcht er wissen, er is ein Esel. A leere Null. Aber weil er nix g'lernt hat, weiß er halt net, daß er nix is. Und ist glücklich!«

Der Meister schwieg. Die Frau erregte wieder seine quälenden Gedanken, und der quälende Gedanke war: sie hatte recht. Es war sein großer Schmerz, daß er das Untergymnasium nur bis zum elften Jahr besuchen konnte. Nun kam es wieder über ihn und fraß an seinem Herzen mit scharfen Schnäbeln. Er sah ja, daß er nichts war; aber seine Berufsgenossen, die nicht das Untergymnasium gemacht hatten, sahen nicht, daß sie nichts waren. Darum war Ambros Schwerengang – weil er es einsah – schon etwas mehr; aber jene machten sich hoch wie Käfer, die ihre sechs Beine aufstemmen: sie dünkten sich mehr und liefen mit einer geheimen Wut herum, denn sie fühlten: er will nicht Ihresgleichen sein, weil er's nicht ist. Der Herr Gemeindeuhrmacher, der rote Krutz, stand immer wichtig vor seiner Tür, und so oft der arme Schwerengang vorüberkam, dachte er: »Der büldt sich halt was ein.« Denn Krutz unterschied nicht: es kann jemand ein Uhrmacher sein und doch etwas mehr bedeuten als einen Uhrmacher; was seinesgleichen war, glaubt er, muß auch ihm gleich sein. Schwerengang aber litt darunter, daß er einmal von der lateinischen Sprache etwas gehört hatte und wie durch einen schmalen Schlitz in eine Welt sah, die vor der seinen lag; und wenn er auch das Wort antik nur zur Hälfte richtig empfand, so fühlte er sich unglücklich, wenn Krutz antik sagte und eine Uhr aus dem Jahre 1848 meinte. Er beklagte, daß seine Eltern verarmten, daß er das Studium aufgeben mußte, wozu er sich geeignet hätte, und Geschäftsmann wurde, wozu er sich bei aller Fertigkeit doch niemals eignete. Und diese Dinge kränkten ihn von neuem, wie der Fehler eines Uhrwerkes, den er nicht abstellen konnte. Man muß die Menschen zum Narren halten, oder sie karniffeln, sonst kommt man mit den Menschen nicht aus, am wenigsten wenn man sie meidet. Frau Christel redete so etwas; er hörte ihr nicht zu. Nur ihre letzten Worte fing er auf, denn sie sprach sie wärmer, weil er schwieg und sie wußte, daß er sich kränkte, wenn er schwieg:

»Ich mein dir's ja gut, mein Lieber! Sollst ein bissel mehr unter die Leut' gehen! Tritt dem Feuerschein sein Losverein bei. Was hast denn von dem ewigen Büchelgucken? Geh, sei g'scheit, mei liaber Brosi! Und wann dich einer schäbig grüßt, so denkst dir halt: es kummt amal die Zeit, wo ich dich schäbig grüßen könnt! Aber sixt, du tust's akkrat net, weilst a Weaner bist, und immer mehr warst wie die andern! Für alles kummt der zahlende Tag. Oft kummt er spät, brauchst gar net traurig sein, geh, Brosi, schau, er kummt!«

Er fühlte, sie hatte wieder recht, wie immer; er faßte Pläne für die Zukunft; sie hatte ihn sicherer gemacht und vertrauensvoll gestimmt: so war aus ihrem halben Sieg bereits ein Dreiviertelsieg geworden. Stärker schmiegte er sich an die warme Frau, körpernah und herzensnah saßen sie in der Gassennacht, und wie die Wolken über dem Himmel, so zogen Gedanken über ihre Seelen.

Die Döblinger Kirchturmuhr, die die Gassennächte in harten und in guten Stunden schon begleitet hatte, drückte das Gesicht heute tief in den Schatten ihres alten Helmes, als der Mond, der Gutennachtsager, für einen Augenblick trüb aus seiner Wolkenwohnung schaute. Und knarrte bös-verschlafen: 's ist schon elf! Der Wind war in den Hof geflogen und vom Hof in den Garten, und der Nußbaum oben seufzte schwer und traumgestört.


Mit einem Mal fuhr Frau Christel auf. War da nicht jemand hinter ihnen? Ein Mensch im Laden?

Der Meister hatte nichts gehört. Er hob den Kopf von ihrer Schulter, ließ ihre Hand los, beide horchten, regungslos. Es hatte metallisch geklungen, wie wenn etwas losgehakt würde, doch im Uhrenrauschen und im Windgeträller war nichts Bestimmtes auszunehmen.

Sie horchten wieder. Doch jetzt? War es nicht, als ob ein böses Tier auf leisen Krallen schliche?

Meister Schwerengang erhob sich und ging mit festen Schritten in den Laden hinunter. Er hörte nur den feinen Atem Grazians.

»Ist wer da?« rief er in die Dunkelheit. Keine Antwort. Er ging weiter in die Küche, während Frau Christel vor dem Laden stehen blieb und gespannt hinabstarrte; auch hier war nichts. Er trat in die offene Küchentüre und schaute in den Hof. Wieder nichts.

Schon wollte er umkehren, da war's ihm, wie wenn er eine schwarze Gestalt sähe, die auf den Zehen schlich und gerade in diesem Augenblicke aus dem trüben Mondlichtstreifen, der im Hofe lag, unters Dach und seinen Schatten trat – dort in der Nähe, wo die Schusterwohnung lag. Er sah sie nur eine Sekunde lang und wußte nicht: war es ein Wolkenschatten, oder war es der Mephisto aus dem Burgtheater, den er sich so oft vorgegaukelt hatte?

Er lauschte. Nichts war hörbar als der Nußbaum, den der Wind schon wieder aufzuwecken suchte.

Er ging zurück. Frau Christel stand noch immer spähend und gespannt.

»Nichts war's, nichts!« flüsterte er.

»Aber ganz bestimmt! Ich hab' doch g'sunde Ohren!«

»Geh', du hörst das Gras wachsen,« scherzte er, um sie zu beruhigen.

Sie gingen hinab. Frau Christel zündete die Lampe an und leuchtete alles ab: die Uhren, den Tisch, den Grazian, die Küche; zuletzt stellte sie die Lampe auf den Fußboden, legte sich platt auf den Bauch und spähte unter die Betten. »Vielleicht ist gar der Rosa Schandor hinten,« spottete der Meister.

»Natürlich, du, du merkest es nit früher, als bis dich net a so a Grasel beim Krawattel hätt'!« erwiderte Frau Christel überlegen und erhob sich.

Spät war es schon, als sie sich zu Bette begaben. Frau Christel konnte nicht gleich Ruhe finden. Sie schloß die Augen, sie legte sich auf die Schlummerseite; doch der innere Mensch wollte nicht schlafen. Unter den Lidern hatte Frau Christel wache Augen, und ärgerte sich nebenbei über ihren Mann, der bald aus seinem Bette einen Schlaf von teilnahmsloser und beneidenswerter Festigkeit ertönen ließ. Jeder laute Atemzug ärgerte sie von neuem. Das ging so gleichmäßig wie ein reguliertes Pendel, und wenn man diesen Atem pendeln hörte, auf und ab, und ab und auf, so schläferte es ein.

So kam es, daß die innere Frau Christel allmählich ruhiger und müder wurde, die äußere drehte ihrem Manne den Rücken und seufzte sich hinüber in die ungestörte Welt.

Mitternacht war schon vorbei. Der Mond blieb unsichtbar. Noch immer starrte Meister Schwerengang mit trockenen offenen Augen in das dunkle Zimmer, noch immer suchte er sich den Mephisto vorzugaukeln. War's eine Wolke, war's ein Mensch gewesen? Es ließ ihm keine Ruhe. Er stellte sich von neuem alles vor, den Hof und die schwarze Gestalt; doch die Bilder ließen sich nicht zwingen, alle rannen durcheinander. Er hatte das täuschende Atmen eingestellt, die Christel schlief und ärgerte sich nicht mehr. Er fühlte sich so unheimlich im Leben, in dieser Stunde so allein. Die Christel schlief, er hatte sie ja selbst beruhigt, und doch – so dumm und kindisch war dies Herz – wenn sie mit ihm gewacht, mit vollen bloßen Armen seinen Hals umschlungen hätte! Wie sicher hätte ihn die Zärtlichkeit gemacht! Er wollte es nicht denken, er wies es ab, und doch kam der Gedanke immer wieder: in seinen schwersten Stunden ist jeder Mensch allein.

So blieb er still wie eine Schildwacht, die an die Heimat denkt.

Im blassen Schimmer des jungen Sonntags waren schon die Fensterkreuze sichtbar, da übermannt' es auch ihn und er schlief ein.

Frau Christel erhob sich in der Frühe, sie war ja täglich die erste auf, und während sie im Bette saß und ihre Haare aufsteckte, dachte sie, er schläft noch immer. Und begriff nicht recht, warum der Mann so kummervolle Züge hatte. Sie sah ihn an. Er lag, den Kopf ins Kissen schief gebeugt, wie wenn er jemand fragen wollte: ist es nicht traurig? Ist dieses Leben nicht ein Kreuz?


Es schien ihn wirklich zu verfolgen. Übernächtig und wortkarg saß er heut' am Frühstückstisch. Im Sonntagslichte lagen leuchtend die stillen Gassen, und schon zeigte sich ein neues Unheil im Gesichtsfeld. Dieses Unheil war ganz zeitlich in der Früh zugleich mit Juricek erschienen, der unter sehr bedenklichem Gesichterschneiden eine Vorladung gebracht hatte, eine Vorladung zur Einvernahme im Bürgermeisteramt. »In Sachen des Grossisten Graslitz«, hieß es kurz auf diesem Zettel, »haben Sie am Montag 9 Uhr früh vor dem Unterzeichneten zu erscheinen. Der Bürgermeister Dr. Krügl.«

Es schüttelte den Meister, als er den Zettel wieder las. »Was kann der Graslitz von mir wollen? Ich hab' doch alles pünktlich abgezahlt? Achthundert Gulden waren's und fünfhundert sind noch Rest. Er wird sie kriegen wie das andere. Was will er denn? Er verbarg den Zettel vor Frau Christel, denn die Frau war heute grandig und zuwider. Ach, ums Leben gern hätte er die Sache irgendwem erzählt, nur um sie zu erzählen; oder wäre am liebsten gleich ins Bürgermeisteramt gelaufen, um es auf der Stelle los zu sein. Fröstelnd ging er auf und ab, Widerscheine sonnbestrahlter Fensterflügel blitzten in den Laden, und er murmelte: »Um 9 Uhr früh, zur Polizei!«

Heute konnt' er ja nicht abkommen: Sonntag war das Hauptgeschäft. Vom Sonntag nährten sich die sechs Wochentage und was am Sonntag nicht hereinkam, blieb für immer aus. Schon kamen Kunden, der ganze Laden war bald voll. Aus Nußdorf kamen die Herren Hauer in Röhrenstiefeln und mit blauem Fürtuch reichten den Kellerburschen die Tür, die den Weingeruch aus den Kellereien mitbrachten. Dann kamen Fleischerburschen im weißen Janker, und die unheimlichsten von allen, die Schwerfuhrleute aus den Ziegelwerken, Riesen mit rotbestaubten Händen und ungefügen Rösseln an den silbernen Panzerketten. Die Leute hatten nur am Sonntag Zeit, und ein Uhrenkauf am Sonntag war ein feierlicher Akt wie das Hochamt. Die aber, die ihre Uhren holten, waren in der Regel aufgebracht. Leute, die zum Doktor kommen, pflegte Schwerengang zu sagen, sind immer mißvergnügt, ob's der Bader, ob's der Uhrenonkel ist. Denn diese beiden Künstler fangen dort an, wo's bei anderen nicht mehr geht. Wenn ein Menschenkind sein schönes Gehwerk verdorben hat, und er legt sich hin und stirbt – was ist? Der Doktor hat ihn verpatzt. Und wenn ein ausgedienter Brater nicht mehr mag – was ist? Der Uhrmacher hat ihn verpfuscht. So ist es, liebe Christelfrau. Die Kranken sind im Versprechen stark, die Gesundgewordenen im Vergessen – drum wird alle Sonntag hier gestritten: um die Heilungskosten!

Heute ging's besonders stürmisch zu. Ein Schwerfuhrwerker war mißgestimmt. Der Meister suchte ihm die Sache von der künstlerischen Seite klar zu machen. Er sprach vom Spindelgang und von der Kette, die sich vom Federhause auf die Schnecke wickelt. Was eben ein veraltetes System bedeute, denn die Brechbarkeit sei groß. Und wenn man dies System aufs Straßenpflaster schleudere, so kann ihm das nicht wohltun. »Ein Gulden ist doch nicht zu viel für so viel Arbeit; aber, na, weil Sie's sind, mach' ich's halt um achtzig Kreuzer.«

Der Schwerfuhrwerker begehrte auf: »Was? A Gulden?« Das ist überhalten, so viel ist der ganze Scherben nicht mehr wert. In Währing ist es billiger. In Währing wird auch gutgestanden für das Richtiggehen, viel länger als in Döbling. Zwei Jahre wird dort gutgestanden. Und überhaupt, das ist ein Schwindel. Die Uhr ist immer gut gegangen. Seit dem Reparieren ist es mit dem Gutgehen aus – der weitere Gedankengang verlor sich in einem bedrohlichen Hantieren mit der Peitsche.

Der Meister fühlte sich beleidigt, der Atem ging ihm aus, er kämpfte mit dem Husten und dem Ärger. Ein Gulden wär' zu viel!

In diesem dramatischen Augenblick kam die Frau Christel wie von ungefähr und gänzlich ahnungslos hinter der Glastür hervor, wo sie gehorcht hatte: »Guten Tag!« Mit einem Griff versicherte sie sich zunächst der Uhr, denn beim Streiten ist das Haben allemal von Vorteil. Dann setzte sie mit Menschenkennerblick den Steuersatz fest, bevor sie sich in weiteres einließ. Sie hatte eine Steuerordnung ausgeheckt, die alle Möglichkeiten deckte und stufenweise aufstieg: von der Spindel- zur Zylinder-, von der Zylinder- bis zur Ankerremontoiruhr. »Guten Tag«, flötete sie beim Denken, denn sie erforschte rasch noch das Gehäuse – ob Packfong oder Silber – und die Vermögenslage ihres Opfers. Den letzten Ausschlag gab die Uhrenkrankheit, und die war immer furchtbar.

Nach dieser stillen Vorarbeit ging sie mitten in die Dinge. »Was? Zu viel? Ein Gulden fünfzig ist dem Herrn zu viel? Wissen S' denn, was Ihrer Uhr da g'fehlt hat? Das große Schaufelrad war hin! Das grrroße Schaufelrad …!«

Der Kutscher riß den Mund auf und verstummte. Die seinem Anschauungskreise naheliegenden Dampfschiffe im Donaukanal erschienen vor seinem geistigen Auge, er sah die Drehung: das große Schaufelrad. Die Vorstellung einer ungeheuer wichtigen Triebkraft überwältigte ihn. Er war befriedigt und bezahlte einen Gulden fünfzig Kreuzer.

Vorteil treibt's Handwerk, war der Grundsatz der Frau Christel und dieser Grundsatz befeuerte ihre Phantasie zu den liebenswürdigsten Sünden der Zunge: sie triumphierte über ihre Zuhörer wie ein arabischer Märchenerzähler.

Meister Ambros schüttelte den Kopf: mit aller Künste Kunst kam er nicht zu solchen fetten Steuern wie sein Sprechminister; er wußte nicht, daß immer der Wollende über den Erkennenden triumphiert.

So war es heut' den ganzen Nachmittag gegangen. Es schlug bald fünf. Schwerengang war abgespannt. Es war auch heute anders: sonst freute ihn jeder Gulden, den die Frau eroberte – an diesem Sonntag hatte er den Kopf im ungewissen Morgen, immer quälte ihn die Vorladung, kaum war ein Kunde abgefertigt, fiel ihm wieder ein: Montag 9 Uhr früh …

Plötzlich wandte er sich an die Christel, die im blau gestreiften Sonntagskleide saß: »Gehen wir vielleicht spazieren?« Er sagte »vielleicht«, obwohl er sich schon entschlossen hatte; aber als guter Wiener wollt' er damit sagen: es ist für dich nicht verbindlich, ich will nicht lästig fallen, kann auch alleine gehen.

»A belei,« antwortete die Christel, 's könnten noch Leut' kommen.« Sie fühlte sich nicht aufgelegt, dann wollte sie auch ihren Vater erwarten, denn der alte Köckeis pflegte jeden Sonntag auf Besuch zu kommen. So ging der Meister denn allein.


Der Meister ging mit seiner Zeitung unterm Arm im Sonnenschein nach Unterdöbling, durch die Herrengasse in die unerzählbar schöne Stadt, und wenn er dort um eine Ecke bog, so sah er seine eigne Jugend sitzen. Sie saß, den Kopf in beiden Händen, auf einem Steine und er feierte ein schmerzlich-schönes Wiedersehen. Da war er schulstürzen gegangen zwischen geheimnisstillen Häusern, wahren Klausnereien, Häusern, von denen er nie wußte, wer drinnen wohne, von denen er nur ahnte, eine Größe, oder ein persischer Reichtum, ein Philosoph oder ein Weinhändler müsse drinnen wohnen. Denn sie standen mit gelassenen Mienen und sahen so großhändlerisch aus, sie ruhten so beständig auf breiten Wallmauern bollwerkartig, hoch über der fallenden Straße, und hatten patrizische Spiegelscheiben und schienen ohne Eingang zu sein. Ein Haus war, das trug auf dem Kopfe gleich den Garten: um seine Stirne liefen statt des Daches schöngereihte Baluster und die Bäume schwankten über den Rand wie die Federn auf dem Hute einer großen Dame. Ein andres hatte eine wunderlich verschindelte Fassade und kniff die Augen zu, daß er lachen mußte, wie über ein Komikergesicht, und auf der andern Seite war es ein ganz andrer Mensch, wie einer, der allerhand zusammendenkt, denn es hatte drei jonische Säulen, dazwischen ein adeliges Hochfenster und rechts und links davon die lieben weißgerahmten Guckerln der Großväter aus den zehner- und zwanziger Jahren. O, wenn er nur gewußt hätte, welche Romangräfinnen es seien, die hinter diesen Fenstern wohnen, und den armen Meister, der trostwandern ging, mit einem Finger zum glücklichsten der Uhrmacher erheben könnten; ach, wenn er nur in diese tiefen, tiefen Gärten hätte können, die so wunderbare Winkel machen, Winkel, in denen das Salettel und das Geheimnis steht. Er war weit in der Welt herumgekommen, nach Dresden, ja bis nach Hamburg hatten ihn die Wanderjahre des Gehilfen geführt; aber nirgend hatte er solche Althäuser gesehen, Häuser, mit dieser Stille, dieser eingezogenen Haltung, nirgend solche feine Weltmänner, mit so langen Lebensgeschichten, und mit so viel Musik. Denn gerade jetzt, an Sommerabenden fingen sie alle heimlich zu leben an, taten die Münder auf, wie gehaltvolle Leute, die nur in schönen Augenblicken sprechen: da pflegte er Lichtfelder zwischen schwarzem Baumlaub leuchten zu sehen, und eine Serenade sang herab, ein Quartett von Haydn, die Veränderungen des »Gott erhalte«, oder ein Quartett von Beethoven, das die Liebhaber meisterten. Er lauschte diesen Nachtmusiken, und wenn er an Frau Christel auch mit der Dankbarkeit des Magens gefesselt blieb, an diese Häuser blieb ers mit der Dankbarkeit des Ohres.

Er ging ein Stück hinauf längs der dicken Gartenmauer, hinter der einst Lenau im Wahnsinn gesessen; doch er kehrte wieder um, die Leidesdorfsche Anstalt sollte ihn nicht traurig stimmen, und ging die Silbergasse hinab, zu einem andern Hause, vor dem die Jugend saß. Hier im Garten hatte er die Nachbarstöchter abgeküßt, auch die Hausherrntochter, auch die Christel, rittlings auf der Planke schwebend, oder durch die Bretterklinze wie Pyramus und Thisbe. So lieb er die Frau Christel hatte, an den alten Küssen all dieser schönen Mädel litt er heute noch, nach zwanzig Jahren, wenn sie ihm einfielen in schlafloser Nacht. Es waren süße Sachen, die nur mit sechzehn gelebt werden, wo Lehrbuben die Prinzessinnen erobern, Sachen, die nur die erste Jugend einfädeln und nur der Hausbesorger hemmen konnte, wenn er mit der langen Stange kam, um Nuß zu klopfen und Lehrbub und Prinzessin zu versittlichen.

Vielleicht, dachte er, dauerts nicht mehr lang, und der Grazian machts ebenso, rittlings auf der Planke. Dann bin ich alt. Doch was kann der Vater, was kann der Hausbesorger hemmen? Die Christel will, er soll ein Uhrenonkel werden, und ich möcht halt, er soll was Bessres sein. Warum kein großer Künstler? Kann nicht ein Hofkapellmeister in der Oper Schwerengang heißen? Macht sich das nicht gut: Grazian Schwerengang, k. k. Hofkapellmeister? Mein Gott, wie wahr war das neulich im Tagblatt geschrieben, wo es geheißen hat: »Der alte Beethoven wollte aus seinem Sohne einen Mozart machen; und es wurde ein Beethoven daraus …« Ja, liebe Christel, ein Beethoven ist draus worden, und wer weiß, er hat einmal ein schönes Haus in Döbling, und wir sitzen alle beieinander, und am Abend spielt er vor, und die Christel sieht, wie schön das Leben ist.

Mit diesen Zukunftsträumen kam er tief nach Unterdöbling. Das alte Oberdöbling war ein Vorort Wiens und eines seiner Sommerparadiese, Unterdöbling war des Vororts Vorort und bei Menschen aus der Hermannstraße war das Gefühl lebendig: in der Silbergasse ist ein anderer Schlag zu Hause, In den Straßen von Ober wohnten die bessern Leute, Zuckerbäcker, Apotheker, Hausbesitzer, und wollten kein Connubium mit den Wäschern und den Milchmeiern, in deren Gassen es nach Kühen und Wäschewaschen roch und die die Krimmineser hießen. Es war ein Rassengegensatz, und nach der Schule gab es Dippeln, die die jungen Rassenkämpfer einander in die Denkerhäupter schlugen.

Ein Stamm war von besonders kriegerischer Stimmung: der Stamm der Krimmineser, gefürchtet und berühmt und zubenannt nach seinem Wohnsitz, nach der Krimm, die sich am Fuße der Türkenschanze breitete, vom Krottenbach umflossen. Hier hatte sich der Geist der Türkenzeit noch frisch erhalten und der deutsche Jüngling, der die Krimm betrat, mußte wild wie Kara Mustapha sein, denn die Krieger von der Krimm suchten ihres Gleichen im »Füaßlgeben« und andern feinem Kampfesarten. Weshalb der Grazian nie ohne einen unbehaarten Fiedelbogen hier erschien, und die Waffe durch die Luft pfeifen ließ. Aber lächelnd wandelte der Meister, wie alle »Besseren« aus Oberdöbling, denn ihrer war des Geistes Überlegenheit, wenn sie das Wirtshausschild erblickten, das unbefangen in der Krimm hing: »Bubas Gemeinde-Gast- und Fleischhauerei.«


Lächelnd ging er also über den Döblinger Rubikon, und stieg hinauf zu den überraschenden Bergen. Auf den Höhen dieser dünnbegrasten Hügel war ein wunderbares Pilgern, hier ging man über die Weltgeschichte, hier war der Tag der großen Avantage gewesen, da hatte die Bataille zwischen Christ und Türk gestanden, den Vorgeistern der tapferen Krimmineser. Im glorreichen Jahre des Herrn 1683 rief Herr Karl von Lothringen: »Marchons donc!« Und um die Mittagszeit des 12. Septembers begunnte die Bataille zu avancieren. Die kaiserlichen Musketiere rannten. Die Türken rannten hinter den Krottenbach. Die Sachsen persequierten die Viktorie. Und sechs Geschütze warfen sie hinab, sechs Geschütze von der Schanze. So hatten sie am Abend »mit Ehr' und großer Avantage« den Türken aus dem Lande geworfen. Das war die Weltgeschichte von der Türkenschanze, es war die Weltgeschichte überhaupt, und als der Grazian in der Realschule zum erstenmal von der Weltgeschichte hörte, dachte er, aha! Das waren die Christen, die sechs Geschütze von der Schanze warfen.

Der Geist des Ortes hatte sich nicht ganz erhalten. Denn die Christenmenschen, die am Sonntag über den Scheitel gingen, kammauf, kammab, gingen nicht der Weltgeschichte nach. Dem Frühling liefen sie ein Stück entgegen, dem Herbst spazierten sie ein Stück nach, denn der Frühling war hier früher, der Herbst war länger als unten in der steinernen Stadt; aber sie gingen auch in Sommertage hinein, wenn die Bäume mit geschlossenen Kronen standen, sie gingen in Frühlingssonntage hinein, wenn die Bäume in zarten Linien standen, sie gingen in alle Jahreszeiten und Zwischenjahreszeiten. Auch heute waren Leute oben, und der Meister sah von unten die Bewegung vieler dunkler Punkte. Dann waren sie wie weggeblasen; denn, weil ein Uhrmacher nur einen kleinen Gesichtskreis hat und Lupe oder Zwicker braucht, so konnte er nicht sehen, daß die Leute lagerten, jüngere Pilger mit schönen Mädchen, ältere mit ihrem Hund, und aus der Erde Vorweltschnecken gruben. Sie lagerten in Mulden, die der Rücken angenehm und schmiegend fühlte. Der steile Hang war eine der Terrassen, die die Urdonau zu Adams Zeiten genagt hatte, und lag nun wie ein breites Kissen, lebzelten-braun und gelb, recht zum Lagern, Lungern, Ausfaulenzen, Weltbetrachten. Und wer die Welt betrachtet, will sie meisthin vergessen. Aus demselben guten Grunde stieg denn Schwerengang den Weg hinauf.

Die Landschaft riß sich auf. Rastend stand er oben. Von Sonnenaufgang kamen die Berge her in langsamem Aufzuge, der Leopoldsberg und der Kahlenberg, der Vogelsang, von dem er nur die grüne Mütze sah, der Lange Berg und der dunkle Hut des Hermannskogels; und von Sonnenuntergang kamen sie im Winkel langsam zurück: der Dreimarkstein wie ein gewappneter Fürst, und die wellige Zierleiten, wie ein Teppich, der vor dem hohen Herrn gebreitet wird, ein langer Teppich, fort bis über die braunen Weingelände, die beiden Schoßen des Nußbergs.

Der Uhrmacher-Meister legte sich in die weißblühenden Schafgarben. Und alle Berge hatten nun die Gesichter zur Stadt gerichtet und schauten still wie Bewunderer über aufgestützte Arme nach Wien.

Er lag mit einer süßen Melancholie des Leibes und sah der Hochlandschaft ins Angesicht. Die sanften Rücken aber, worin die Friedfertigkeit die weißen Häuschen gebaut und Wege zu den Häuschen geritzt hatte, sah er nicht von hier. Sie kannte er von der Donauseite her, von der Klosterneuburger Au, wo über die Gebüsche die beiden dicken Kuppeln des Stiftes ragen, die eine Kuppel mit der Krone wie ein wartender Kaiser.

Diese Berge, dacht' er, haben uns gern, uns arme Teufel: sie sind nie gefährlich, sie fangen keine schweren Wetter ab, sie singen ihre Wein- und Windlieder und tun ihr möglichstes. Dulden auch in den Tälern kein Geheimnis, denn sie lassen tief hineinschauen. Ja, sie haben uns gern wie die Stadt, die sie umgeben.

Die anderen Pilger in den Schnurr-Mulden neben ihm vergaßen den Tag so wie er, denn man konnte den ganzen Tag freudiggrüne Wälder anschauen und verblauende Wälder, links vom zackig ausgewipfelten Hameau an bis hinunter an die Donau. Die Welt schlief drüben wie herüben, der Wind kam bergauf, bergab, kreisend, schwach und spielte am Barte des Meisters. Es war eine Luft für Kenner, eine Kardinalsluft.

Der Meister atmete den Laubwald in den Hals und wurde leicht und freudig. »Hab' ich nicht die Auswahl? Luft vom Kahlenberg und Luft vom Kobenzl? Und diese Luft vom Kahlenberg kann mir kein Herrgott pfänden, die Luft vom Kobenzl kein Hausherr kündigen, keine Polizei verbieten! Es ist meine Luft!«

Er sah die Bäume in der Sonne, die Buchen und die Ebereschen, jeden Baum im Walde mit der vollen Freiheit, seine Form zu bilden, ohne Druck und Bruch, und ohne Kümmernis. Er kam sich selbst so frei und unbekümmert vor wie ein Wiener Baum, und wollt' in die Luft juchezen. So hatt' er eine schöne Schau- und Atemstunde. Dann stand er auf und ging den Kamm entlang. Alles war hier still-beschaulich, die Gebäude standen voller Rätsel, wie Einsiedler; in ihren Augen war der Schlaf. Er kam am wehrhaft dicken Gemäuer vorbei und schaute durch die schmalen Schießscharten. Es glänzte aus dem Dunkel schwach von Kanonen und Gewehren, denn hinter den schwarz-gelbgebalkten Toren schliefen friedlich und verstaubt die stummgewordenen Zeugen alter Kriege in den kaiserlichen Magazinen. Weiter unten, mitten im sandigen Hang, brütete ein altes Gasthaus, es wollte sein Gesicht nicht sehen lassen, wie einer mit schlechtem Gewissen.

Überall war Platz, im Wind zu schlafen, die Sonne in den Magen scheinen zu lassen, selbst die Zeit war eingenickt im blauen Paradies des Müßigganges. Nur ein kleines Haus, zwei Fenster breit, war aus der Stadt heraufgekrochen und störte die nickende Zeit; mutig drang es vor mit seinem frechen brenngelben Wändchen und sagte: es kommen andere nach.

Er wollte lesen, doch nach einer Weile merkt' er, er schaute übers Blatt. Was war ihm heute das Burgtheater? Der Tag schlief süß und weich, Goldwolken schwammen hoch, und aus den Wolken fielen manchmal Glorienstrahlen auf die alten Türen, wie wenn die Vorhänge des Himmels sich geöffnet hätten und er sah zu seinen Füßen die Stadt der milden Stunde.

Wiederum legte sich der Meister in die Blumen und schaute über aufgestützte Arme lang hinunter. Goldene Giebel standen in der azurnen Luft, im braunen Schatten unten gingen unsichtbar die vielen Leute. Da lag das Riesenuhrwerk, lautlos, abgestellt. »Und wenn der alte Herr in Ödenburg mir hundert Briefe schreibt, nein, ich geh nicht mehr zurück. Die Sorgen wären nicht, und Geld wär' da, und alles – aber auch kein Leben nicht. Was nützt mir Geld im Kerker? Man kann nicht leben, wo die Gesichter mürrisch sind; man kann nur leben, wo die Stadt den Mund fröhlich, die Gesichter freundlich macht. Du liebes Wien! Manchmal kommst mir vor, du streckst die Zunge grad auf die, die dich am liebsten haben; dann nimmst sie wieder um den Hals. Wie die Christel, wenn sie gut aufgelegt ist. Manchmal kommst mir wieder vor wie der Feuerschein: möchst einem das Beste wegpfänden. Und schließlich tust einem nichts. Nicht wahr? Wer dich nicht lang kennt, kennt dich nicht. Die Menschen bauen ihre Städte, um das Glück zu finden, darum ist jede notwendig, wie sie ist. Und du am notwendigsten wie du bist. Es wird ja fleißigere Städte geben, und gescheitere Städte; aber keine, die so lieb ist, wie du, du liebes Wien!«

Das waren seine geheimen Gedanken in dieser Stunde. Sie plauderte er nicht aus, und lamentierte sonst mit den andern um die Wette über das liebe Wien. Er stand auf, und sprang und lief, und tanzte im Wechselschritt den Weg nach Neustift hinab, den Bach entlang. Es war noch die Zeit der uneingewölbten Bache und dieser Murmler an seiner Seite war kein Dutzendbach, so wenig wie die andern: er erzählte von dem nobeln Umgang, den er hatte, von den Herren Malern, die ihn eigens aufsuchten und ihn so recht verstanden, bis ein Krimmineser Bub daher kam, einen Stein schmiß und ihm das Dasein trübte. Er ließ den vornehmen Bach laufen und warf noch einen Blick zurück, dann eilte er unter Tanzen hinab nach Sievering, hinüber zur Agneskapelle beim Kothbauer, wo es gesteckt voll war und hoch herging, und kam nach Grinzing.

Das war heut' ein tüchtiger Seelensturz gewesen – so nannte er seine Spazierläufe – denn alles war nun ausgestürzt, aller Schutt und Staub aus seiner Seele: drinnen war es rein und ausgeputzt. Es war aber auch ein tüchtiger Renner gewesen, den er hinter sich hatte, heiß war er und hungrig, schon schlug es von der Kirche sieben Uhr, die Dämmerung kam bald, der Marsch nach Döbling war noch weit. Man wird nicht vom Luftatmen allein satt, dachte er, und sah nach einem Imbiß aus: fast unter jedem zweiten Tor war sonst ausg'steckt, da ließ sich bald ein Plätzchen finden.

So viel hatte er heut' auf den Höhen gesehen, die Wangen glühten ihm von der Luft. Aber zwei Augen hatte er nicht bemerkt, die aus dem Garten nach ihm stierten, als er beim Kothbauer vorüberlief. Dort saß an einem Tische der Wlk und feierte den Sonntag unter den Leuten: er hatte Wein und G'selchtes kommen lassen und war begeistert. Sein Arm lag schwer auf dem Nacken eines Frauenzimmers, der die frechen Schädeln aus dem Kopftuch schauten; er lag wie auf dem Halse eines Gauls und tätschelte ihren dicken Busen. Und sie gröhlten, denn sie hatten bei der Agnes Glückszettel gezogen und lauter hoffnungsvolle Trostsprüche und Weissagungen bekommen. Als Meister Schwerengang vorüber eilte, duckte sich der Schuster und verbarg sein Froschgesicht am warmen Rücken seines Frauenzimmers; dann stierte er dem Freund mit bösen Augen nach. –


Vor einem ostereiroten Plakat an einer Hausmauer blieb der Uhrmacher stehen, denn dieses Plakat zog ihn ganz eigentümlich an. Oben in seiner linken Ecke sah man trotz der Dämmerung einen dicken Geiger, der die linke Backe in den Leib der Geige drückte und den Kopf geneigt hielt, wie wenn er in das Innere horchte. Der rechte Arm war weit hinausgestreckt und die Brust verlor sich in eine schwarze Strichelwolke, dort aber fingen mächtige Buchstaben an: » Heute Schrammelabend. Konzert der Brüder Schrammel.«

Die Schrammeln waren da. Und der Uhrmacher überlegte: soll ich, soll ich nicht? Wie mit unsichtbaren Händen griffen die Buchstaben nach ihm, mit unhörbaren Tönen lockte ihn der dicke Geiger, und eh' er sichs versah, stand er schon im Hausflur und öffnete die nächste Türe. Der Lampenschein fiel gelb heraus, laute Stimmen stießen ihm entgegen, er sah die Weinbeißer im ausgeräumten Zimmer klumpenweise hocken: die schöne dicke Luft war ihnen lieber als der reinste Äther. Und wie ein gemeinsamer Heiligenschein schwebte der Qualm um die roten Köpfe, die sich scharf von der grüngestrichenen Wand abhoben. Hier war kein Platz, hier waren keine Schrammeln, so ging er durch den kleinen Hof, der das berühmteste Dach von Grinzing trug, denn ein einziger Weinstock hatte diesen Hof übersponnen, und stieg hinauf zum Nußbaumgarten.

Da sah er die drei wohlbekannten Gesichter am runden Tisch, in dessen weinbegossener Fläche sich schon die Windlichter spiegelten. Der eine links arbeitete über die Ziehharmonika gebeugt, der Magere rechts hielt die Gitarre an der Brust und dieser war der Schrammel-Pepi; in der Mitte aber saß er selbst, üppig und verführend, der Tannhäuser vom Nußberg, der Schrammel-Hans, der Bruder Pepis. Und weil er der eigentliche war, hieß er kurz »Der Schrammel«. Er grub die linke Backe in den Leib der Geige, während er die Rechte mit dem Bogen weit von sich warf – es war genau wie auf dem Plakat – der Finger rutschte auf der Saite, am Geigenhalse bebte schwelgend die linke Hand, und die Leute an den Tischen hielten ihre Seitelgläser mit beiden Händen fest, und schauten nur und horchten. Vom Baume sprang eine frühreife grüne Nuß herab und tanzte auf dem Tisch; sie sahen es nicht, sie horchten, sie warteten auf den Refrain. Ein junger Bauer saß, die Virginier steif im Munde, wortlos, ernst vor Freude; es fing in ihm zu arbeiten an, er wurde »umarmerisch« gestimmt, er rückte seinen Hut schief. Der Augenblick kam näher. Noch eine letzte Stauung, die Töne der drei Instrumente preßten sich dicht aneinander, sie standen wie in der Leidenschaft erstarrt: – da wiegten sich die Leute in den Sesseln. Langsam floß es her wie dicker Zuckersaft – der Kehrreim! Sie sangen den Dreivierteltakt, die hohe Erlösungsmelodie der Geige im Chore mit, es war ein Chor von Hausbesitzern, Kutschern, Offizieren, Damen, Bretzelweibern, Ottakringern, Böhmen, Katzelmachern, ein Chor von allen Landessprachen, die sich in dieser Ode an die Freude verbrüderten. Ein alter Herr in einer karierten Glockenhose stieg auf den Tisch und schrie begeistert, während er den Hut schwenkte: »Halt' ma z'samma! Die Juden halten a z'samm!« Wie wenn Freudenschüsse abgegeben würden, krachte das Gelächter; dann hörte man die Zehnerln und Gulden auf dem Teller klappern, den der Blasbalgspieler von Tisch zu Tisch trug.

Der alte Herr stieg von der Rednertribüne und gab dem Buben, der unten stand, einen zärtlichen Klaps, und der Bub, der sich ganz verhorcht hatte, wachte auf. Er war dem Uhrmacher aufgefallen, wie er so stand, den Kopf schief an der Schulter und in der Luft geigend, indem er die Rechte von sich schnellte, als würfe er etwas weg, genau so wie der Schrammel. Auch die drei weißen Haarschöpfe des alten Herrn kamen dem Uhrmacher bekannt vor, sein Schwiegervater Köckeis trug ja diese Clown-Frisur, und er ging langsam näher: richtig, da saß auch die Frau Christel, der Grazian erkannte ihn jetzt und lief ihm rasch entgegen.

»Na, warst wieder mariataferln? Is guat ausg'fallen?« fragte die Frau Christel lachend, indem sie auf den tröstenden Spaziergang auf der Türkenschanze und die »spazierengehende« Leidenschaft ihres Mannes überhaupt anspielte. Sie hatte heut' den Laden schon um sechs geschlossen, denn »keine Katz' war mehr gekommen«, und die Überredungskünste des »Herrn Vatters« waren stark: er hatte zwar nur eine allgemeine Richtung bestimmt – Zum Heurigen –, doch als der Bub das rote Plakat sah, war auch das Gasthaus bestimmt – der Hengl – denn von dem Geiger war der Bub nicht wegzubringen.

Frau Christel packte einen Imbiß aus. »Was hast denn?« fragte der Uhrmacher unterm Essen seinen Sohn. »Warum ißt denn nichts? Bist ja ganz in der Höh'? Hat dir der Großvater 'leicht einen Grinzinger gegeben, du?«

»Nein, Vater«, erwiderte der Bub. Er konnte es nicht sagen. Er hatte sehnsüchtig auf ihn gewartet, er wollte ihn schön bitten; nun war der Vater da, und er traute sich's nicht zu sagen. Als er den Vater sitzen sah, der so gebeugt wie jetzt die ganze Woche saß, kam ihm sein Verlangen so ungeheuerlich, so verräterisch vor; und doch wußte er nichts Schöneres, als so dort zu sitzen, üppig und verführend, den Bogen werfend wie der Schrammel. Er blieb stumm, dann sprang er wieder zum Geigentisch und horchte.

Man wollte aufbrechen, man rief ihn. Doch der Bub war heut' nicht wegzubringen. »Noch ein Stückel«, bat er, und nachdem dies letzte Stückel aus war, bat er wieder: »Noch ein Stückel.« Man blieb und hörte von den Schrammeln noch ein Stückel, bis die Mutter ungeduldig wurde und zu kommandieren anfing: »Jetzt is aber gnua!« Der Großvater Köckeis zog ein zitronengelbes Lampion aus der Brusttasche, faltete es rund und zündete die Kerze an, worauf er seine Leuchte an der Spitze des Spazierstockes befestigte. Das war das Zeichen zum Abmarsch, das letzte, das endgültige Zeichen. Der Uhrmacher holte den Grazian vom Geigentisch: »Die Mutter is schon bös! Komm!« Schweren Herzens ging der Bub mit. »Ja, Vater, ja …« Er unterdrückte eine Bitte.

Den Großvater Köckeis aber, der das sechzehnte Viertel hinter sich hatte, verlangte es plötzlich nach dem Weibe und in Ermangelung einer geeigneteren Dame ergriff er seine Tochter und wackelte mit ihr Arm in Arm voran. Das Lampion baumelte am schiefen Stock und erhellte seine Nase, und so oft jemand des Weges kam, wurde es geschwenkt und der Alte schrie mit Demokratenstimme: »Da schauns her, Herr Nachbar! I hab' m'r heunt' a fesche Gredl auf'zwickt! Was!« Ärgerlich riß die Christel ihn am Arm, und begann an ihm zu zweifeln: »Bist denn närrisch, Vater?«

Hinten nach gingen zwei ganz Stille: der Vater Schwerengang und sein Sohn, sie waren keineswegs des höheren Geistes voll, wie der Ahnherr mit dem Lampion. In der dunkeln Grinzingerstraße, deren Allee nach Heiligenstadt hinabführt, fühlte der Vater plötzlich die Hand des Knaben in der seinen.

»Vater«, flüsterte der Bub, »ich möcht dich um was bitten. Aber – du mußt Ja sagen, bevor's die Mutter hört. Ja?«

»O, du Schlankl, du kennst dich aus!« Und flüsternd verschworen sich der Vater und der Sohn hinter dem Rücken der Frau Mutter. Der Grazian war erst etwas unsicher.

»Ich möcht halt gern … Weißt, Vater … An Geigenlehrer möcht ich gern.« Und fügte rasch hinzu, um jede Angst hinwegzureden: »Ich möcht a Geiger werden. Ich möcht so gern zum Schrammel gehen!«

Es war heraus. Ein großer stiller Kampf war ausgekämpft, aber, es war heraus. Der Bub hatte plötzlich eine andere Stimme, er drückte sich innig an den Vater, sein ganzer kleiner Körper schien zu bitten, und zwischen Furcht und Hoffnung wurde er zärtlich: »Vater, ich wer' sehr brav sein, riesig brav. Wirst sehen!«

Der Vater schwieg. Da war schon wieder diese Bitte, die ihn freute und doch beängstigte. Er sah in seinem Sohne seine verbesserte Jugend. Oft saß er am Werktisch, in der stillen Hoffnung: er wird einmal ein zweiter Maurice Dengremont und so berühmt …« während der Grazian sich um eine reine Terz auf der kratzenden Geige bemühte. War's ein Schicksal, war's eine Dummheit, wenn er jetzt Ja und Amen sagte? Auch er hatte einst seine Träume gehabt, Träume von Kunst und Erfindung. Denn die Kraft, die sein Leben trieb, war eine stille Sehnsucht nach der Höhe und die Melodie seiner Seele wie eine weiche Cantilene auf der G-Saite, die aufwärts geht; aber da seine Konkurrenten auch G-Saiten-Cantilenen sangen, die aufwärts wollten, war der Kampf recht schwer. Seine Fähigkeiten hatte er gleichsam nur im Privatbesitz und war allmählich verbittert worden, weil er Unmögliches verlangte: daß man ihn nach seinem wahren Werte schätze. Jeder Mensch muß sich in einem Punkte siegreich fühlen, aus einem Punkt die Welt aus den Angeln heben können. Und das war vorbei. Mit vierzig Jahren sieht man die Hoffnung still zur Tür hinausgehen.

Als er noch Gehilfe war, hatte er mit jungen Medizinern bei der Schmauswaberl zu Mittag gegessen, und bewunderte nach, was die Studenten bewunderten. Die Namen Rokitansky, Skoda und Oppolzer waren ihm heilig, und er sprach sie mit einer stillen Ehrfurcht aus, daß die Frau Christel öfter sagte: »Mir scheint, denen zu Lieb' möchtest du am End' noch krank werden.« Die medizinische Wissenschaft war so für ihn der Inbegriff der Wissenschaft geworden und im Glauben an jene Größen, an Rokitansky, Skoda, Oppolzer, hatte sein Glauben an das Genie den Gegenstand gefunden, seine Sehnsucht nach großen Menschen sich erfüllt. Es war nicht ohne Stolz, wenn er sich selbst für einen Arzt hielt, und er »behandelte« seine Uhren als beseelte Organismen, als Wesen, die nicht bloß der Nummer nach, sondern dem Charakter nach verschieden waren, und die berühmten Ärzte erschienen ihm nur als die letzte mögliche Steigerung des Mysteriums aller Heilkunst überhaupt.

Nun erwachte dieser Glaube an die großen Menschen wieder, als der Grazian ihn bat. Er legte den Arm um den schmalen Rücken des Knaben und eine rätselhafte Rührung kämpfte sich herauf. »In Gottes Namen, so will ich halt dazuschauen. Will mit dem Schrammel reden …«

Der Grazian rieb die Fäuste aneinander und sprang heimlich in die Höhe. »Aber sag' a mal,« besann sich der Uhrmacher, »was wär's denn mit dem Onkel? Mit dem Wahnfriedrich? Willst ihm nicht einmal vorspielen? Der tät's vielleicht umsonst!«

»Nein, um Gotteswillen, nur den nicht, Vater, dann lieber gar keinen …!« Der Vater schüttelte den Kopf. Sein Bruder, das Musikgenie der Familie, sah wohl sonderbar aus, und das schadete ihm am meisten bei den Buben. So bewilligte Schwerengang den Schrammel, um die Freude voll zu machen. Sein Ehemannsverstand war allerdings so ausgebildet, daß er ihm sogleich die Frage stellte: »Und die Christel? Was wird die Christel dazu sagen?« Aber heute war ihm einerlei, was die Christel dazu sagte, denn er hatte noch nie einen Menschen gesehen, der sich so freute wie der Bub. »Ich wer' sehr brav sein, Vater, du bist so lieb! Die andern Buben haben gar kein' Vater.« Die närrische Freude des Buben machte dem Vater Mut und er gedachte es selbst mit der Christel aufzunehmen.

In diesem Augenblicke waren sie an einem kleinen Hause angelangt, das sich still im Dunkeln hielt. Schwerengang wußte, was für ein Haus es sei: Nummer 64 in der Grinzingerstraße. Links stiegen über das Weingelände die schwarzen Schultern und das Haupt des Kahlenberges, und über das Gelände auf die Schultern und das Haupt desselben Berges hatten einst zwei große Männer geschaut. Schwerengang nahm es als eine Fügung: unter diesen Guckfenstern, vor dem Hause Grillparzers und Beethovens hatte er die Zukunft seines Sohnes bestimmt, es war zu schön, als daß es nur ein Zufall hätte sein können. »Ob er einmal ein Dengremont wird oder ein Bratlgeiger – einerlei! – er soll den Menschen Freude machen, dazu ist der Mensch ja da. Und auch sich selbst.« Er sah das Bild des üppigen Schrammel, wie er auf dem roten Plakat geigte, und sah den Buben, wie er's ihm nachgetan hatte.

Plötzlich drehte sich die Christel und fragte scharf zurück: »Ja, was ist denn das?« Auch der alte Köckeis machte Kehrt und fragte heuchlerisch: »Ja, was ist denn dös?«

Er hatte seine Tochter immer tiefer ins Gespräch gelockt und als sie mitten drinnen war, maß er ihr von hinten ein paar feste Gertenhiebe auf den ausgewölbten Körperteil, daß es schnalzte, während er mit der Linken in irreführender Absicht das Lampion vor sich hielt. Wütend suchte sie den Täter. Auch Vater Köckeis suchte ihn: »Ja, was ist denn dös?« Zuerst erschraken die beiden Stillen, die unschuldig hinterdrein gingen und sich ertappt fühlten; Grazian aber kannte diesen Lieblingsscherz und schrie verräterisch: »Der Großvater, der Großvater!«

»Du verflixter Kumpel!« wetterte Frau Christel und machte sich von Köckeis los. »Jetzt hab i gnua von dir, laß mi aus mit dein' Schwül.« Sie griff nach dem Arm ihres Mannes und zog ihn mit nach vorn; der alte Köckeis aber hieb sich den Hut schief auf den Kopf, schulterte das Lampion und verlangte, die Christel solle mit ihm den Mondscheinbruder singen, dessen Kehrreim er sofort ermunternd anstimmte:

Weil mir zwa Mondscheinbrüder san,
Dö in der Fruah erscht z'haus gehn tan.

Als aber niemand in die Lieblingshymne mit einfiel und er nur sein eigenes Solo hörte, begehrte er auf und stimmte einen Trutzgesang an:

Mir lassen uns nix nehma,
Mir brauchen a nix g'schenkta,
Weil m'r Östreicha san!

Sein Nationalbewußtsein war erwacht: daß Österreich ein sich selbst genügender Staat sei, und er gröhlte mit einem Überzeugungsbaß, von dem die Überzeugung allerdings der bessere Teil war. Schwerengang ging mit seinen Leuten rasch voran, am Kroneshaus vorüber, zur Hohen Warte hinauf. Ihm war dies Schreien peinlich, denn er wollte die Stille der Nacht genießen und seine ruhigen Gedanken, und diese fürchterliche Stimme riß gleichsam alles in Fetzen: »Wöh, wööööh … Estreicha san!« Das war die Wirkung des Schrammel auf den alten Köckeis.

An der Ecke der Nußwaldlgasse mußten sie auf den Sänger warten, denn hier pflegte er sich zu verabschieden: seine Wohnung lag in Unter-Döbling, in der Silbergasse. Endlich kam er schwitzend nach: »Dös gibt's nöt!« schrie er schon von weitem, daß die Gasse hallte. Er wollte sie nicht gehen lassen. Sie sollten mit ihm. Er lud sie ein. Er faselte von einer Schüssel Umurkensalat, die zu Hause alleine stand. Umurken löschen den Durscht, Umurken dürfen nicht übernächtig werden. »Alsdann kommt's! Wos is?« Doch seine Gründe prallten wirkungslos am Widerstande seiner Tochter ab. Nie betrat sie mehr ihr Vaterhaus, seit der alte Köckeis darin als Mieter wohnte.

Das Riedingerhaus in Unterdöbling hatte einst der Familie gehört. Es maß nur drei Fenster in der Breite, vom Haustor abgesehen, und hieß deshalb das Handtuch. Aber Glorius Köckeis legte an das Handtuch so eifrig und andauernd Hand an, baute so gründlich daran herum, bis es in andere Hände fiel. Sein Faktotum war der Maurermeister Peter Maxintsack. Und zu allem, was dem Glorius einfiel, sagte der Maxintsack Ja und Amen, denn er zog aus dieser Baupassion einen sanft fortrieselnden Nutzen. Eines Tages machte Glorius die Entdeckung, daß das Handtuch zwar alle Anzeichen feinster Döblinger Reparaturkunst, aber nicht einen Ziegelstein mehr aufwies, der ihm gehört hätte. Das schadete dem Humor des alten Kampels nicht im mindesten, er kniff die Mädel in die Backen und wohnte im Handtuch ruhig als Partei. Aber Frau Christel hatte ihren Humor verloren, als sie davon hörte, und betrat das Haus nicht mehr, das ihre Mädchenliebe gesehen hatte, ihre Hoffnung gewesen war und ihre unerfüllte Sehnsucht blieb.

Sie weigerte sich entschieden. Auch Meister Ambros winkte ab: »Morgen muß ich zeitlich heraus,« sagte er, und die Vorladung zum Bürgermeister fiel ihm wieder ein, diese unglückselige Vorladung für 9 Uhr früh. So setzte sich der alte Glorius allein in Bewegung. »Alle Gmüatlichkeit is hin!« fluchte er. »Fade G'sellschaft überanand. I iß mein Gurkensalat allani!«

Er nahm die traute Weise des Mondscheinbruders wieder auf, und das zitronengelbe Lampion schwankte langsam die Gasse hinab. Sie sahen ihm nach. Im Dunkeln wackelte das Licht und wurde immer kleiner, bis es nur ein tanzender Punkt war. Der trotzige Baß verlor sich allmählich zwischen den Häusern; immer schwächer und verschwommener hörten sie den selbstbewußten Kehrreim: »Weil m'r Österreicher san … Österreicher san …«


Uhrmacher Krutz hatte sich verstiegen. Er war in den zweiten Stock hinaufgehumpelt und das Amtszimmer lag im ersten. Blasend kam er zur Tür herein und steuerte einem Sessel zu, worauf er sich niederließ, ohne erst jemanden zu fragen. Er legte den Krückstock zwischen die Beine und wischte den Schweiß vom spärlichen strohernen Haar.

»Aber Herr von Krutz«, sagte der Bürgermeister vertraulich lächelnd über seinen Tisch, »Sie hätten sich nicht so beeilen müssen! Es ist keine Gefahr im Verzuge.«

»Akkrat wann ma furt will, kommen a Massa Leut' daher,« erwiderte Krutz unwirsch. Und fügte mit einem Seitenblick auf Schwerengang hinzu, der ruhig an der Wand des Zimmers stand: »I hab nia wos z'tuan da herinn – bis auf die Uhrn versteht si – in Gedanken bin i bis zum Dach aufigangen.«

Der Bürgermeister schnitt die Feindseligkeiten ab: »Sie, Herr von Krutz, Sie kennen ja den Herrn Schwerengang?« Ein Konkurrentenblick des Herrn von Krutz antwortete: »Na und ob!«

»Alsdann, Sie kennen ihn. Und sollen uns als hiesiger Bürger sagen, was Sie wissen über ihn. Der Fabrikant Max Graslitz hat ihm goldne und silberne Uhren verkauft, im Betrage von … von 800 Gulden. 300 Gulden sind abgezahlt, und fürchtet der Herr Graslitz, der Schwerengang kann ihm den Rest nicht zahlen, und will die Uhren zurück. Was wissen Sie? Ist der Herr Schwerengang vielleicht fluchtverdächtig?

»Fluchtverdächtig? Ja, mein Gott – i waß net – er is halt a Zuagraster. Da kann ma nia wissen –«

»Ich bin ein Wiener, geborner Wiener, Unterdöblinger,« warf Schwerengang ein. »Freilich bin ich net immer in Döbling g'sessen.« Und wandte sich zum Bürgermeister: »Entschuldigen Sie!« Herr Krutz war genau genommen selbst ein Zugereister, denn er war aus Steiermark, aus Knittelfeld eingewandert; aber er hatte eine schlaue Taktik: wenn er sich angegriffen sah, verteidigte er sich nie, sondern griff den andern an. Darum erwiderte er jetzt aufgebracht: »Und i? I bin schon über dreiß'g Jahr am Platz, a jedes Kind kennt mi, und hab an alt's anständig's G'schäft, und Se kummen daher und machen a G'schäft auf mit nix, und glauben, Se san wer! I wir Ihna scho zag'n!«

Der Bürgermeister hatte zwar großen Respekt vor einer Standesperson und Zutrauen zu einem Mann, der 30 Jahre »am Platz« war; doch glaubte er bei allem Respekt, nicht ans Ziel zu gelangen.

»Nun ja«, sagte er und zwirbelte mit der Linken seinen Advokatenbart, »es mag schon sein, daß für den Ortsbedarf zwei Uhrmacher zu viel sind; aber der Herr Feuerschein hat uns früher gesagt, daß das Geschäft nicht schlecht geht. Der Herr Schwerengang soll nicht unbeliebt sein. Ihm wenigstens zahlt er seine Sachen ziemlich pünktlich. Nicht wahr?« – Feuerschein verbeugte sich.

»Beliebt?«, fauchte der rote Krutz, »ja, bei die Strizzi! Bei die Schwerkutscher aus die Ziegeleien. A feinere Kundschaft geht eahm gar net zua. Die feinere Leut' hab i, Gott sei dank – das wissen Sie recht guat, Herr Bürgermeister!« Er bekräftigte die Rede durch einen Stoß mit dem Krückstock.

Freilich wußte es der Bürgermeister. Wem der rote Krutz die Taschenuhr reparierte, dem gewährte er eine Gnade. Und wem es zu lange dauerte, den warf er auch hinaus. Denn er betrieb kein gemeines Handwerk wie ein Tischler oder Tapezierer, sondern eine Mystik. Niemand konnte ihn kontrollieren, er wirkte wie ein Alchimist oder Astrologe, und seine Preise waren die Preise eines Goldmachers. Die Kinder mußten sich vorsichtig an das Fenster heranpirschen und konnten ihn dann durch ein horizontales Spalier von Messingstangen beobachten, ein Spalier, woran die Uhren wie goldne oder silberne Birnen hingen. Denn für Kinder gab es keine größere Seligkeit, als zu sehen, wie eine Uhr auseinandergenommen wird, zu sehen, was dahinter ist. Beim Schwerengang sahen sie, wie er mit einem feinen Stift das Innere eines Braters erforschte, den Patienten leise beutelte und kopfschüttelnd horchte, und dann die Knöchelchen, Gelenke, Nerven mit einem Schraubenzieherlein auseinanderlegte. Beim Krutz sahen sie öfter, wie ein volles Bierglas hinter dem Spalier geleert wurde, offenbar aufs Wohl der Gemeinde, und wenn sie dann den Trinker nachmachten, der sich eben zurückbeugte, erschien er plötzlich selbst unter dem Schilde »Gemeindelieferant« mit dem feuerroten Bart und dem Krückstock vor der Tür: ein Kinderschreck, und alles staubte davon.

Der Bürgermeister saß nachdenklich, Bein auf Bein: »Ja, sagte er, ich weiß, ich weiß.« Er zog seine Uhr. »Wir müssen zu einem Ende kommen. Es ist schon – was? Sieben Uhr ist? Das kann ja doch nicht sein? Mir scheint, sie steht.« Er legte die goldne Uhr ans Ohr. Vor zwei Tagen hatte er sie erst vom Krutz geholt, und zwei Wochen hatt' er warten müssen, jetzt ging sie grad so gut wie früher. »Ja, wie viel Uhr is' denn eigentlich?« Er drehte sich nach der Pendeluhr, die oberhalb des Sessels hing. Doch merkwürdig: – auch die Pendeluhr gab keine Auskunft. Seit sie der Krutz behandelt hatte, hatte sie sich aufs Schweigen verlegt, und kein Erdbeben hätte sie aus ihrer Philosophenruhe gebracht.

Der rote Krutz wurde verlegen. »I hab ka Zeit, hab i scho' g'sagt. Die Massa Kundschaft. Und wegen den da stell i mit net her!« Er rauchte wie Salpetersäure.

»Alsdann Herr Graslitz?« fragte ungeduldig der Bürgermeister.

»Ja«, erwiderte der Fabrikant, »machen wir der Geschichte halt ein End'! Der Herr Schwerengang soll mir die goldnen Uhren zurückgeben. Die braucht er so net, weil – die Leut kaufen sie nur beim Herrn Krutz. Sechs Stück waren's. Zusammen 300 Gulden, die schreib' ich ihm ab, den Rest soll er halt in Gottesnamen abgeben.«

»No, Herr Schwerengang?« fragte der Bürgermeister. Schwerengang überlegte. Von rechtswegen brauchte er die Uhren nicht zurückzugeben, denn sie waren verkauft, und er empfand es als Demütigung, daß ihm Graslitz vor dem Krutz die Ware abverlangte. Aber, er wollte keine Geschichten machen und dann dachte er an die Frau Christel: »Für alles kommt der zahlende Tag.«

»Meinetwegen,« sagte er, »einverstanden,« und wandte sich zur Türe. Er zog die Taschenuhr aus der Weste und verbeugte sich vor dem Bürgermeister: »ich dank' Ihnen, daß Sie so viel Geduld gehabt haben. Um zwölf Uhr bring ich dem Herrn Graslitz die sechs goldnen Uhren wieder zurück.«

Gutmütig wie er war, hatte er sich einen Triumph entgehen lassen. Doch bevor er seine Uhr wieder einsteckte, schielte ihm Feuerschein über den Arm und sagte behend: »Damit Sie 's wissen, wie viel 's g'schlagen hat, Herr Bürgermeister, es ist jetzt zehn Uhr drei Minuten genau!«


Die sechste goldene Uhr war nicht zu finden. Eine Narrenfreude hatte die Christel zuerst gehabt, als sie von der Niederlage des Krutz erfuhr. »Der wird an Gitzi haben! Das vergunn' i eahm.« Die Geschichte, die mit einem so bösen Gesicht begonnen hatte, war überraschend ausgegangen, ja hatte sogar mit einem Sieg geendet. Dann standen beide plötzlich wie gelähmt, der Ambros und die Christel.

Sie suchten. Sie kehrten Laden um. Sie rissen Schachteln auf. In alle Winkel lockte sie die Hoffnung. Nichts. An der hohlen Messingstange hingen fünf goldene Uhren und daneben war ein leerer Haken, und es blieb so, wie es war, ob auch die Uhren wiederum und wiederum gezählt wurden: eins, zwei, drei, vier, fünf – das Schicksal ist also über unseren Weg gegangen, dachte der Uhrmacher, das Schicksal hat uns gestraft.

Gegen Mittag kam der Grazian aus der Schule. Er war in Jubel, die Singerin rumorte, denn er brachte eine gute Note heim. »Lobenswert! Lobenswert!« rief er schon unter der Türe und wollte alles genau erzählen und hoffte auf die glücklichen Gesichter der Eltern. Doch keine Antwort. Er sah die Eltern, die Gesichter in Kasten und Ecken. Still nahm er seine Geige hervor, legte das Notenheft auf den Tisch und begann zu stimmen. »Hör auf mit dein' Gefiedel!« fuhr ihn die Mutter an. »Das Bratlgeigen, das ewige! Lauter so unnütze Sachen. Geh' liaber arbeiten.' Lern' was!« Traurig setzte er die Geige ab und hängte sie an den Nagel; es war ihm schwer zum Weinen, die Singerin verstummte. »Wie schaust denn du heut überhaupt wieder aus?« grollte die Christel fort, »die Haar zerrauft, die Maschen offen! Immer schlampig!« Und er dachte: Die Mutter hat immer Nadeln im Mund.

Menschen, die vergebens suchen, sind ärgerlich und je emsiger sie suchen, umso kriegerischer wird ihr Sinn. So war es bei der Christel. »Du bist Schuld daran, nur du allein!« sagte sie zu ihrem Manne. Sie hatte es ja gleich gewußt: die Uhr kann nur gestohlen worden sein. Gekauft hat sie doch niemand. Und Füße hat so eine Uhr gewöhnlich nicht. Also war am Samstag abend einer hier im Laden. Sie brach ab: »Jetzt hast die Bescherung!«

Er wollte es noch immer nicht glauben: »Gestohlen? Warum denn gleich gestohlen?«

»Na, sagen wir halt: g'schnipft! Is g'hupft wie g'sprungen. Weilst dich immer vor die Leut' genierst! Schau ihnen ordentlich auf die Finger. Sicher war's a Kappelbua. G'wiß hat's ana schon Samstag nachmittag grapsen wollen, und is dann in der Nacht herein.«

»Das Haustor war ja zu!«

»Na so is er halt über'n Garten von der Hermannstraßen her. Fragen wird er di! Oder von der Neugassen uma, vom Pfannkuchgarten. Is a a schöner Weg! Du schlafst natürli alleweil.«

Aber so scharfsinnig die Vermutungen, so gut gebaut die Anklagen waren, sie führten nicht zur Uhr: die war und blieb verschwunden.

Es ging auf zwölf, und der Meister mußte den schweren Weg zu Graslitz gehen. Er konnte dem Händler nur fünf Uhren zurückgeben, und vermochte die sechste nicht zu bezahlen. Wer hätte ihm geglaubt, daß diese Teufelsuhr gestohlen worden sei, und gerade jetzt im Augenblick: das sah doch wie ein aufgelegter Schwindel aus. Sein guter Ruf stand wieder auf dem Spiele – Diebstahl, Polizei, Aufsehen, Untersuchung – der Gemeindelieferant rückte wieder in die Ferne und war schon heute vormittag so hoffnungsvoll, so nah gewesen. Der Uhrmacher ließ das Mittagessen, denn er schämte sich, zu sitzen und zu schmausen; er hatte keine Ruhe, er rannte fort zu Graslitz.


Der Schuster Wlk stand plötzlich in der Ladentüre. Er hatte keinen Hemdkragen und sah aus wie ein Straßenköter, ohne Halsband, scheu und schnüffelnd.

»Mir ham ka Geld,« sagte Frau Christel kurz angebunden, um ihn los zu werden.

Wer ihr sage, daß er um Geld komme? fragte er tranig und gekränkt. Unsereiner, brummte er, muß sich immer selbst helfen. Und erzählte, daß er Leder und Stiefel ins Versatzamt getragen habe, das halbe Geschäft, um den Rest zusammenzubringen, daß er den Hausherrn bezahlt und den Buben gebeutelt habe, denn der Wenzel, sonst ein guter Bub, sei eigentlich schuld gewesen. »Unsereiner muß sich selbst zu helfen wissen,« schloß er mit bellendem Lachen.

Frau Christel hörte das Wort Unsereiner mit Verdruß. Es schien ihr eine Unverschämtheit des Schusters, der nicht eine deutsche Zeile lesen konnte, sich mit ihrem Manne auf eine Stufe zu stellen. Und dann fühlte sie in dem Worte auch eine beleidigende Undankbarkeit: »Ihr habt mir nicht geholfen!«

Doch Wlk tat heute sehr vertraulich. Er werde den Fünfer, den entliehenen, schön zurückbringen: »auf d' Wochen«, wenn er die Sachen ausgelöst habe. Überhaupt, fuhr er süß und redselig fort, wenn nur zwei so patente Kerle zusammenhalten wollten, wie er und der Schwerengang, ganz Döbling könnten sie einstecken, ganz Döbling! Am Donnerstag sei die kleine Linzer Ziehung. Er kniff die Augen. Es habe ihm geträumt, drei gute Nummern seien ihm in der Sonntagnacht eingefallen. Seine Frau dürfe es nicht wissen, aber man sollte doch in die Lotterie setzen. Vielleicht kommt ein Ambo, vielleicht gar ein Terno. »Kann ma wissen?« Da er aber »a ganz a armer Teufel« sei, so könne sich der Meister an der Ziehung beteiligen: Vierzig Kreuzer ein jeder, und jeder den halben Gewinnst! Und er rückte ihr näher und griff nach ihrem bloßen Arm.

»Ah, lassen S' mi aus, i bin grad aufgelegt! Setzen S' nur allani!« fertigte ihn die Christel ab.

Der Schuster ließ nicht nach. Es werde ihr leid tun, wenn die Nummern gezogen würden. Es seien gute Nummern und die paar Kreuzer – –

»Hören S' ma auf, hab i schon g'sagt! Sie segen, i hab' ka Zeit.«

Hiermit schloß sie die Unterredung und ließ ihn stehen. Er sah ihr eine Weile mit Aufmerksamkeit zu, wie sie mit dem umgekehrten Besen unterm Kasten stöberte und das Sofa an der Wand schob. Es entstand eine verlegene Pause. Dann drückte er sich zur Türe hinaus.


Der Grazian hatte sich an den Werktisch gesetzt und las in einem Buche, wobei ihm zumute war, wie einem Hungrigen, der an einer schlechten Suppe würgt. In Physik war er schwach und der Professor Wallentin, der das Buch geschrieben hatte, pflegte ihn zu höhnen: er sagte »Schöngeist« und die Klasse lachte.

Grazian las den Versuch mit dem Elektroskop, denn am nächsten Tage wurde er vielleicht schon aufgerufen; aber in der vierten Zeile rannte jeder Sinn ins Nichts davon, und obwohl er noch einmal begann und mit dem Finger nachfuhr, so schwirrte in der vierten Zeile wieder alles durcheinander. Der Vater, der ihm öfter half, so gut er konnte, war abwesend; die Mutter, die nichts davon verstand, war heute mehr als abwesend, mit ihr war überhaupt kein Wort zu reden. So nahm er alle Kraft zusammen, und den Kopf zwischen die Hände gepreßt, las er mit lauter gewaltsamer Stimme las Wort für Wort, um Wort für Wort zu halten und zu fassen: »Der Versuch mit dem Elektroskop, das in einer isolierten Drahthülle sich befindet, die etwa mit dem Elektroskopknopfe in leitender Verbindung steht und beliebig stark elektrisiert wird, wobei die Blättchen nicht divergieren, während eine Divergenz derselben auftritt, wenn die Verbindung zwischen Knopf und Drahthülle aufgehoben, ersterer elektrisiert, letztere (Drahthülle) zur Erde abgeleitet wird, zeigt, daß das Elektroskop nur die Potentialdifferenz zwischen dem Knopf und dem Gehäuse angibt.« Ganz umsonst. Er war doch nicht so dumm; aber vor dem Sinn des Satzes standen, grinsend die etwa – wobei – während – ersterer und letztere – und ließen ihn nicht weiter, so daß er sich zuletzt ganz unfähig fühlte und nicht einmal das Wort Elektroskop mehr aussprechen konnte. Und wenn er seinen Schädel noch so preßte, er brachte den Versuch nicht hinein. Er beneidete den Wenzel Wlk, der so vertrackte Bücher weder lesen, geschweige denn studieren mußte. Er legte den Kopf auf den Arm und stierte auf die Gasse: er hatte brav sein wollen; das Buch da machte ihn gemein und liederlich und faul.

In diesem Augenblick erschien der kleine Wenzel oben und lachte durch die Fensterscheibe. Er zog aus seiner Hosentasche eine kleine weiße Scheibe, ein Blättchen aus steifem Papier, das er zwischen zwei Fingerspitzen nahm und dem Grazian zeigte. Ein rotes Seidenfädchen hing daran. Der Grazian winkte, der Wenzel kam herein und reichte ihm das Blättchen, worauf mit Tinte eine Ziffer geschrieben stand. Das habe er im Hofe gefunden, sagte er, es gehöre sicher hierher.

Frau Christel riß dem Buben den Zettel aus der Hand. Und schrie auf: »Jetzt wird er mir's doch glauben! Jetzt gibt's nix mehr! G'stohlen is sie worden! G'stohlen!«

Es war der Zettel, den jede Uhr an ihrem Bügel trug und der die Nummer und den Preis angab. Sie schlug das Warenbuch auf. Natürlich. Es stimmte auf ein Haar. Sie legte den Zeigefinger auf die Nummer 2566. Und 2566 fehlte. Nur der Zettel war zurückgeblieben. Der Wenzel mußte ihr noch einmal alles ganz genau erzählen: im Hof, vor der Gartenstiege, hatte er's gefunden. Es war kein Zweifel mehr. Sie gab dem Buben gute Worte: »Bist a braver Kerl« und legte sich ein Kernwort für den ungläubigen Ambros zurecht. Der Wenzel grinste ins Leere.

Vater Wlk aber schlenderte inzwischen die Hauptstraße hinauf und begab sich in die Lottokollektur. Er setzte einen Gulden zwanzig auf drei Linzer Nummern.

»Sie gebens aber nobel heut'?« meinte die Madam Zehentner, während sie den Riskontozettel ausfüllte.

»Wann hätt' me net, so tät me net« zitierte der Schuster und pfeifend verließ er den Laden des Glücks.


Grazian nahm die Geige von der Wand und schob sie unter den Arm: er ging mit seinem Freunde fort, ins Abenteuer, aufs Pantzerfeld. Bis an die gepflasterte Hauptstraße wuchs das Korn, dort gab es wunderbare Abwege die Raine entlang und weltversteckte Spielplätze. Die Feldsonne glühte herab und sie gingen gebückt im Schatten der Ähren; der Versuch mit dem Elektroskop jagte den Grazian heute weiter und immer weiter. Er erschrak, denn plötzlich brummelten fagotthaft zwei dicke Hummeltiere an sein Ohr. »Das war b–d« erklärte er dem Wenzel: »hast gehört?« Und summte beide Töne nach. Doch der Wenzel hatte keinen Sinn für Terzen.

Sie schlichen weiter die Schlupfwinkel hinab. Endlich machten sie Halt. Sie glaubten schrecklich weit zu sein: am Rande von Europa, mitten in den Pampas oder weiß Gott wo in Afrika; eine Planke kam, an deren Fuß der feingelaubte Kümmel wuchs, und die Planke sperrte das Feld für den Trapper. Dahinter aber lag der Nil. Das war der letzte Punkt von Döbling: ein Gasthaus an der Linie aus der Kaiser Josef-Zeit, dreispitzig, und vergartet bis über das niedrige Dach. Die Straße gabelte sich hier. Wer nach Döbling wollte, mußte vorbei, und alle Kutscher, die nach Nußdorf strebten, tränkten sich und ihre Rosse gern im Nil, falls sie nicht weiterzogen zum alten Feldmarschall Wurmser, der im weißen Waffenrock, mit kaiserblauen Augen aus einem Wirtshausschild an der Heiligenstädter Straße hervorschaute. Wer vorüber ging und den bezopften Krieger sah, sah den ganzen österreichischen Erbfolgekrieg, wie man beim Nil die Pampas schaute.

Am Fuß der Planke, wo die Knaben hielten, wuchs nur wenig Gras, denn Trapperhände hatten es ausgerissen und tiefe Löcher in die Erde gegraben. Alles ehrliche Handarbeit. Der Grazian stieg in eine dieser Gruben, worin sonst heimliche Feuer brannten, und setzte sich auf dem Grunde nieder. Der halbe Grazian war unterirdisch, der halbe oberirdisch und der oberirdische fing alsbald zu geigen an. Er sah aus wie ein Jungfuchs, der die Hühner lockt. Und spielte allerhand, zuerst das Kaiserlied, dann ein altes Wiener Lied:

Bitt Herr Hauptmann, bitt recht schön,
Lassens mi auf Urlaub geh'n!

Die Singerin war heute freigebig und der Herr Hauptmann verlor sich in eine längere Phantasie, machte eine Rundreise durch die Tonarten, worin kunstvolle Variationen vorkamen, die schließlich wie alle anständigen Variationen in den Anfang zurückführen:

Bitt Herr Hauptmann, bitt recht schön,
Lassens mi auf Urlaub gehen …

Aus dem Getreide klatschten zwei Hände. Die Buben erschraken, und die Geige hörte auf. Sie sahen einen roten Sonnenschirm in der blauen Luft, die gelben Ähren rauschten auseinander: eine Dame trat hervor. Eine Spaziergängerin. Lächelnd blieb sie stehen, als sie den Künstler nur zur Hälfte erblickte, und fragte sehr lieb: »Die Knaben verzeihen, wenn ich störe? Darf man näher treten?« Die Knaben schwiegen verlegen. »Du kannst es aber schön!«, lobte sie den Grazian, »kannst du auch den Radetzkymarsch?«

Grazian lächelte überlegen. Die Dame trat näher zu ihm und stieg in seine Grube hinab, er sah auf dem gelben Lehmboden zwei spitze Lackstiefelchen, sie setzte sich auf den Rand, und nun saß er mit ihr unterm Sonnenschirm im roten Geleuchte.

Die Geige hallte stärker, stolz stieg der Radetzkymarsch. Grazian setzte ab und sah die Dame an. Er schien zu sagen: Bitte nur um Aufträge, ich habe alles vorrätig! Die Dame dachte nach und zog die goldenen Brauen zusammen. »Kannst du auch die Blaue Donau?« Und sogleich begann er mit dem Donauwalzer: er schwang die Melodie mit einem Strich heraus, die Backe an der Geige, ganz wie es der Schrammel machte. Leise wiegte sich die Dame und summte mit, und über beiden wiegte sich der rote Sonnenschirm.

»Famos! Bravo!« rief sie vergnügt, »da sieht man halt – ein echter Wiener! Bei uns kommen schon die kleinen Kinder mit einem Walzer auf die Welt!« Sie nestelte in ihrem Täschchen und brachte ein zusammengefaltetes Papier hervor. »Na so nimm doch, avanti!« Grazian saß und rührte sich nicht. Sie versuchte das Papier in die Tasche seines braunen Sammtröckels zu schieben. Er stand auf, stieg aus der Grube und blieb oben stehen, starr wie seine Mutter Christel. Draußen am Rande der Welt, am milchweißen Himmel stand eine rosig-weiße Wolke, so absonderlich und still, wie wenn sie barocke Gedanken hätte. Grazian schaute über die Dame weg, ins Weite. Der Guldenzettel sank auf den Grund der Grube.

Sie lachte. »Hast schon so was g'sehen?« sagte sie zu sich selbst und schaute den komischen Starrkopf verwundert an. »Wer bist denn du? Wem gehörst denn du? Was ist dein Vater?«

Doch er fand kein Wort. Da rief eine helle dünne Stimme aus dem Korn: »Das ist ja der Grazi!« Es rauschte wieder in den Ähren und ein winziges Fräulein im blaugeblümten Dirndlröckchen trat heraus. »Weißt, Clemy, vom Uhrmacher in unserm Haus. Vom Schwerengang!«

Frau Clemy erhob sich, stieg aus der Grube und schüttelte die Erde von den feinen Röcken. Sie sagte: »Also du bist der Mozart von Döbling! Meiner Seel', du bist ja ein kleiner Künstler, das heißt ein großer! Allen Respekt! Bei wem lernst du denn?« Die Frage lockerte ihn auf, und er fand die Sprache. »Ich hab' noch keinen Lehrer gehabt, erzählte er, der Vater hat mir halt ein bissel geholfen. Jetzt soll ich – den Schrammel kriegen!«

»Was? Den Schrammel? Saperlot!« Sie schnalzte mit den Fingern. Dann stellte sie den aufgespannten Sonnenschirm auf den Boden und richtete mit dem Zeigefinger ihr schönes Haar; ein Goldschimmer wurde um ihren Kopf und sie erklärte ihm: »Weißt, ich habe dich nicht beleidigen wollen. Was man sich ehrlich verdient, kann man immer nehmen.« Sie gab ihm die Hand und es war ihm, als habe er noch nie eine Hand gedrückt. So leise, so glatt, und die Spitzen der mandelförmigen Nägel leuchteten rosig wie die Finger einer Kaiserin.

Sie zog den Sonnenschirm zu und steckte ihn unter den Arm. »Nun, wenn du schon nichts nehmen willst, das Mascherl darf ich dir doch richten?« Sie stand dicht vor ihm und zog und band die schwarze Masche, die aufgelöst in zwei Fahnen flatterte. Er wagte nicht zu atmen. Er schlug die Augen auf und schaute ihr heimlich ins Gesicht. Ihr weißes Kleid war ausgeschnitten und sie berührte ihn mit der Brust.

Die Masche wollte ihr nicht glücken. »Ich bring' keinen Schwung hinein, es läßt sich nicht binden, sagte sie und löste das Genestel auf. Sie versuchte noch einmal ihre Kunst am Knoten, aber umsonst.

»Geh weg!« rief plötzlich das kleine Fräulein, »Patzerin! Paß auf! Stell' dich in die Grube, Grazi!« Das sommersprossige Dirndl tepschte das grüne Hütel auf und drängte die Schwester weg. Sie hatte aus ihrem Haar ein schwarzes Band gezogen, der Grazian stellte sich in die Grube, sie stand mit ihm Nase an Nase, und eins, zwei, drei, die Masche war gebunden. »Jetzt hält's,« lachte das Dirndl, »jetzt bist du wieder schön!« Sie gab ihm einen Klaps. »Nun, danke hättest du schon sagen können!«

»Aber Herdrix! Na, kommen Sie, Herr Grazian, gehen Sie mit uns!« sagte Frau Clemy, »wir bringen Sie nach Haus. Ja? Grazi ist ein hübscher Name, ein Künstlername!«

Die Feldsonne brannte auf die Wangen, und die ferne Wolke, die langsam höher schwebte, sah jetzt komisch aus wie ein Tscherkessenkopf. Nun gingen sie im Gänsemarsch: Frau Clemy voran, den Weg durch die Ähren mit der Hand bahnend, Grazian mit der Geige in der Mitte und das Dirndl als Nachhut. Am Rande des Pantzerfeldes, beim Nil, war ein Standplatz und Frau Clemy winkte einem Fiaker. »Zum Fünfundzwanziger Haus!« befahl sie, »dort halten, und dann zum Sechsundsechsziger, zu mir!« Und gab dem Kutscher gleich das Fahrgeld, wieder einen neuen schön zusammengelegten Guldenzettel.

Grazian war noch nie in einem Fiaker gefahren und wußte nicht, wie er sitzen und wohin er schauen sollte. Der Wagen stieß, und Grazian berührte die Kniee der Dame. Sie kamen ihm wie Gummibälle vor, er zog die Füße auf und kauerte verlegen. Der Luftzug blies ihr die Stirnlöckchen auseinander und die roten Lappen der Mohnblume zitterten im Haar und sie saß leicht: wie jemand, der es gewohnt ist und weiß, daß ein Fiaker erst schön wird, wenn schöne Damen darin fahren. Sie fragte ihn allerlei: wann der Schrammel kommen werde und ob er noch in die Schule gehe, sie lächelte ihn an: er fand den Mut zurückzulächeln, aber schämte sich sofort und sah schnell zu Boden und dachte an das Elektroskop, das ihn eigentlich in diesen Wagen gebracht hatte, aus dem er jetzt am liebsten ausgesprungen wäre.


»So, da bringen wir den jungen Herrn!« rief Frau Clemy fröhlich. Der Wagen hielt und der Uhrmacher erschien in der Türe, mit einem Arm vergeblich in den Rockärmel suchend. Inzwischen sprang der Grazian aufs Pflaster, und als der Vater endlich empfangsfähig war, trat er verwundert und verwirrt an den Schlag.

»Auf den werden Sie ein bissel stolz sein, was? Na, machen Sie keine Geschichten, bitt' Sie. Der wird einmal was werden. Der kommt in die Oper. Sagen S', ich habs g'sagt!«

Der Uhrmacher sah seinen Sohn an und wurde rot. Zwar war er selig wie ein Kind auf der Schaukel; aber er wehrte ab und hob die Hand. Doch Frau Clemy erzählte sprudelnd vom Konzert im Pantzerfeld. Oben öffnete sich das Bauchfenster und der alte Herr schob seinen weißumrahmten roten Kopf heraus und schaute. Die Damen grüßten aus dem Wagen mit der Hand hinauf. »Du kommst am Abend so zu uns hinauf, nicht wahr, Papa? Geh, komm! Sei net z'wider!«, rief Frau Clemy. Dann wandte sie sich an den Kutscher: »Also, Nummer 66!«

Es fiel ihr noch etwas ein und sie beugte sich zurück. »Sie, Herr Schwerengang, Sie müssen einmal kommen! So viele Uhren hab ich, und glauben Sie, eine geht? Heraußen und drinnen in der Stadt. Ich weiß nie, wie ich dran bin; mein Mann auch nicht. Kommen S' einmal, ja? Bestimmt!« Der Uhrmacher verbeugte sich geehrt, und schon flog das Gefährt. Er und Grazian schauten dem weißen Kleide und der winkenden Hand nach.

Im Wagen fragte Frau Clemy tadelnd: »Warum empfiehlst du dich denn gar nicht, Herdrix?«

»Ach, der hat mich nicht einmal angeschaut, der garstige Ding«, erwiderte die Kleine, »… da schau …!« In diesem Augenblick sprengte ein Ulanenoffizier heran und streckte vom Rosse herab Frau Clemy die Hand entgegen. Es war so schnell, daß sie die Hand verfehlte und dem hagern Reiter nur über die Schulter einen erkennenden und bedauernden Blick zuwerfen konnte. Sie lächelte ihm lange nach und hörte nicht, wie Herdrix sich beklagte: »Mich schaut er nicht an …! Das ist heute schon der zweite!« Und die Kleine warf die Lippen auf und war ernstlich böse. –

Aus der Küche kam Frau Christel in einer nassen blauen Schürze, es schien ihr etwas nicht ganz richtig und sie maß die beiden Männer der Familie mit Polizeiblick. Meister Ambros aber schob die rechte Hand vorne zwischen die Westenknöpfe, legte die Linke auf den Rücken und näselte: »Was wünschen Sie, Sie Frau von Zwiderwurzen, oder wie Sie heißen?« Er stand mit hohlem Kreuz wie Monarchen bei der Audienz.

»Geh, du narrischer Ding«, sprach die Untertanin unehrerbietig, »wer war denn die, die Putzdocken? Die hat di' ja ganz verdraht?« Sie malte Wolken in die Luft.

»Gehst net! Das war ja unsere liebe Frau von Chiaramuzzi …!«

»Ja wohl! Die Frau von Salamutschi, geborene Maxintsak …« höhnte die Christel und gab dem Monarchen den Stich zurück. Im Geheimen beneidete sie die Chiaramuzzi, die fast jeden Tag vorübersauste, wenn sie zur Balletprobe in die Stadt fuhr. Mit dem ersten Lerchenschlag pflegte die Tänzerin in Döbling zu erscheinen und blieb dort bis zur Weinlesezeit: sie wohnte im neuen Haus ihres Vaters, oben im Eschenhause, aber hatte auch eine eigene Wohnung in der Stadt. Wenn sie vorübersauste, wehte die Feder vom schiefgebogenen Rembrandthut; und neben ihr der Herr von Chiaramuzzi, wie der Abgeordnete des Kaisers. Der Kavalier im feinen grauen Spitzbart ging über schwere alte Teppiche, zwischen Fischer von Erlach-Säulen, und aus der Kaiser Karl-Kuppel fiel der Schein von hundert Kerzen: à giorno war der Saal erleuchtet und die goldenen Schüsseln und Krystallpokale glitzerten und die Damen saßen in Brokat … Die Christel wußte zwar nichts von Fischer und von Kaiser Karl; aber ein Abglanz der goldenen Schüsseln und der Krystallpokale fiel mit dem Namen des Hofbeamten von Chiaramuzzi aus der kaiserlichen Burg in den Uhrenladen.

»A so a Balletfee hats halt guat«, seufzte sie, »besser als wie unserans. Die hat a Glück g'macht …!« Und sie dachte an das Köckeis-Haus, an ihr verlorenes Handtuch.

»Sie, Frau Christelweib, bitte, richten Sie jetzt die Pietra-Dura-Gemächer her« befahl der Monarch, »und Sie, Herr Hofkapellmeister, bitte lassen Sie uns das Konzert von heute nachmittag hören! Hier, vor dem Wintergarten bitten wir!« Er zeigte huldvoll auf den dunkeln Wasserfleck, der sonst von der Stockuhr verborgen, jetzt anmutig die Wand wie eine Palme zierte.

»Geh, du Narrentattel, hör' auf mit dein' Theater!« Die Christel wischte die glänzend-nassen braunen Finger in der Küchenschürze ab und wandte sich entrüstet weg. Grazian sah die Finger seiner Mutter an, das Hofkonzert unterblieb. Schwerengang legte rasch das Zepter ab und nahm die Gattin um die Hüfte. »Schau, Christel,« sagte er zärtlich und untertänig; »du bist immer gegen seine Geigerei. Aber wenn du wissen möchtest …! Die Geigerei ist nicht so unnütz. Du kannst sagen, was du willst – die erste noble Kundschaft ist im Wagen vorgefahren, und – die Geige hat sie hergebracht!« Frau Christel legte die Ohren zurück, und nun mußte alles haargenau erzählt werden, von Anfang an. »Ja, auch in die Stadt muß ich zu ihr, in die Stadt!«, schloß der Uhrmacher. Nun war sie befriedigt, ja sie trieb ganz unerhörte Dinge: sie strich dem Sohne Grazian über den Schopf, und am Abend krönte ein Riesen-Schmarrn den Lisch wie eine Kaiser Karl-Kuppel.

Aber einen Triumph hatte sie sich aufgespart.

Die Geschichte mit dem Graslitz war gut ausgegangen, wider Erwarten gut. Denn kaum hatte Schwerengang von der sechsten Uhr begonnen, so unterbrach ihn Graslitz: Er habe sichs überlegt, der Bürgermeister meinte auch … »und wenn Sie noch wollen, so können Sie die Uhren behalten, oder wenigstens drei. Es war nur wegen meiner Frau«, wispelte der Händler, »sie ist halt a bissel a Angstmeierin, wissen S'. I, i fürcht' mi' net, Herr Schwerengang.« Doch den Gewinn aus dieser glücklichen Entwirrung zog nicht Herr Schwerengang, sondern die Frau Christel. »I hab was g'funden« sagte sie mit einem Mal am Abend.

Brosi fuhr auf. »Vielleicht die Uhr? Nicht wahr, sie ist nicht g'stohlen worden?«

»Ah, warum net gar! Hin is' hin, Anna Maria Fiedlerin! – – Ganz was anders hätt' i da. Was – is – denn – dös – mei' liaber Freund …?« Sie zog aus ihrer Tasche fünf Silbergulden und legte sie in eine Reihe an den Rand des Tisches, Stück für Stück.

Sie schaute von unten in seine Augen.

Er wollte darnach greifen. »Das ist ja – – hörst – –!«

Doch die Christel – wie ein Blitz dahinter her, und die Gulden waren schon gegrapst. Sie ließ sie in der Schürze klirren und tanzte trällernd auf und ab. »Hoch der Losverein! Hoch der Feuerschein!« Sie war diebisch froh – sie hatte suchender Weise das Sparnest ausgehoben – sie rieb die Zeigefinger übereinander, schrie »Schleckerbartl!« und entschwand. Mit ihr die Hoffnung auf die neue Geige.

Noch jemand kam an diesem schönen Tag auf seine Rechnung, und das war der Wenzel. Als die Damen mit dem Grazian das Feld verließen, blieb er sitzen und schaute ihnen nach. Dann stieg er in die Grube und nahm den Guldenzettel auf. Er hielt ihn an die Nase. Ein himmlischer Geruch. Er steckte den Gulden ein und schlich durchs Feld nach Hause. Sie hatte ihn nicht angeschaut, aber er fühlte sich entschädigt.

Der Grazian saß in dieser Nacht so wunderschön wie nie ein Geiger oder nur ein einziger. Denn er saß glückselig auf dem Schoß der Dame und sie küßte ihn, wie die Kaiserin Maria Theresia den kleinen Mozart geküßt haben soll. Er war in einem kerzenhellen Saal, der Pietra Dura-Saal hieß oder so. Die Kuppel wölbte sich, die Säule stieg, und er schluchzte laut an ihrem Halse. Sie streichelte ihn mit leisen Fingern, woran der weiße Diamant flammte, und er seufzte:

»Geh du, heirat mich doch!« Da lachte sie. »Sie kleiner, kleiner Mozart! O, Sie großer, närrischer Ding! Wenn Sie ein Künstler werden wollen, müssen Sie sich immer sehnen!« Er fühlte, wie er wuchs; sie konnte ihn auf ihren Knieen nicht mehr halten, er fing zu schweben an und flog davon. Sie streckte ihm die Arme nach, der Mantel fiel von ihren Gliedern, ganz weiß war sie und feenhaft, und wurde immer kleiner, bis sie zuletzt ein Punkt war und verschwand.

Dann saß er auf dem alten Sofa in der Finsternis: er hielt die Kniee umschlungen und hatte feuchte Augen.


»Ah, zalt si' net aus«, sagte der Herr Schrammel, »von mir aus brauchens Ihnen kane Sorgen machen, mir werd'n schon gleich werd'n.« Und geigte mit dem Grazian weiter. Sie standen vor einem Notenpult und spielten aus demselben Heft dieselbe Übung von Mayseder, und der Hausherr im ersten Stock hörte mit Verwunderung, wie scharf es wieder herging und murmelte: »Der kanns für zwei.«

Der Schrammel war für zwei Stunden in der Woche aufgenommen worden, und kam, wenn es ihn freute; es schien ihn oft zu freuen, öfter als dem Herrn Vater lieb war. Acht Gulden monatlich waren grade zu erschwingen; zwölf oder sechzehn aber, oder noch mehr warens nur im Traum. Doch der Schrammel kümmerte sich nicht um zwölf, um sechzehn: er wirtschaftete drauf los, und hatte nur die eine Antwort: »Ah, zalt si' net aus!« Und geigte ruhig weiter und schaute in die Noten. Und die Christel betrachtete ihn wie den Gott der Musik selbst und stieß ihren Mann heimlich in die Seiten: »An echter Künstler!«

»Nur fesch! Nur g'schmiert! und ordentlich schleifen! Finger fest auf die Saiten! So is' recht!« rief der Schrammel und sah dem Grazian zu. »Man muß die Leute nehmen können!« Der Ton war frei und singend, der Bogen flog aus dem Gelenk. Das war schon recht. Woher ers hatte? Von einem Lehrer nicht. Er konnte es.

So ging es eine Weile fort, dann tauschten sie die Rollen: der Schrammel spielte vor und der Grazian hörte zu und war gleichfalls sehr befriedigt. Dem Schrammel stand der Schweiß in Perlen auf der Stirn, und als er fertig war, tupfte er mit dem blauen Sacktuch um den Kopf. Der Uhrmacher sah lächelnd weg: Schrammel fing den Blick auf und packte seine Fiedel ruhig in den Sack. Schwerengang bedauerte den Mann im Stillen: ein ausgebildeter Konservatorist, Schüler des Professor Heisler, und ein Heurigenspieler! Ja, die Frau Resi und vier Geigenkinder wollten leben und das machte sich nicht »bei der Kunst.« So pflegte denn Schrammel mit Selbsthohn zu sagen: »weils mit dem Ewigen nicht geht, geh' ich halt zum Heurigen. Und schließlich – ist das gar so schlecht? Die Leute freuen sich und ich bin halt ihr Klassiker.« Dennoch hoffte der Uhrmacher bei sich: der Grazian werde nicht dort enden wo sein Lehrer.

Schrammel wollte sich entfernen, doch der Uhrmacher hielt ihn zurück. Er hatte acht Silbergulden auf einander gelegt, das Säulchen stand auf dem Werktisch. »Herr Schrammel, bitte, heute ist der erste!« Aber Schrammel hob mit den Fingerspitzen blos die vier ersten Silbergulden ab und sagte: »ich krieg nur fünfzig Kreuzer für die Stund'. Sonst ist es ein Gulden … aber – mit dem Buben hab' ich meine Freud', und der Bub mit mir – nicht wahr? – gehns, hörens auf! Ich hab nicht Zeit. Zahlt si' net aus!«

In der Türe drehte er sich um, band sich das Halstuch um und sah ihn an. »Gelt, jetzt schwitzen Sie? Und ich muß lachen. Früher hab ich g'schwitzt, und Sie haben g'lacht. Schauen S', ich will Ihnen was sagen. Wann einer vorspielt, beim Bösendorfer oder im Prater – und sein Hemd bleibt trocken, dann soll ers lieber stehen lassen. Dann soll er Hofrat werden. Ein Hofrat ist zum Schwitzen nicht verpflichtet. Warmsein und Warmmachen – das ist das Geheimnis – Grazi, gel? – Man muß die Leute nehmen können! Du bist noch ein kleines Oferl; aber 's brennt schon. Kommst bald zu mir. Habe die Ehre, leben S' wohl!«

Der Hausherr schob sich in das Bauchfenster und sah dem Schrammel nach. Also daher kam die scharfe Geigerei! Er fühlte sich geehrt, daß dieser große Mann in seinem Hause verkehre und wunderte sich nur, daß der Uhrmacher sich in solche Unkosten stürze. »Ja die Kinder, die Kinder!«, seufzte er, »ein teurer Spaß …«

Der Uhrmacher schaute die vier Silbergulden an, die auf dem Werktisch standen. Es stimmte etwa nicht. »Zahlt si' net aus.« Er konnte sich den Ausnahmspreis nicht recht erklären.

Nach einer Weile trat die Christel ein. Ihre halbe Seele war widerstrebend gewesen, als vor einem Monat der Schrammel im Gewölb erschien; als sie aber jetzt hörte, er habe nur die Halbscheid verlangt und doppelt so viel Stunden gegeben, gab auch die andre Hälfte ihrer Seele nach.

Sie kam von einer Feierlichkeit zurück: sie war »Zinszahlen« gewesen, und hatte fünfzehn Gulden in der Hausherrnwohnung abgeliefert.

»Dreizehn …!« unterbrach sie der Gatte vorwurfsvoll, »zwei sind doch noch für das Reparieren! Verschenkst du meine Arbeit?«

Die Christel fühlte sich verkannt und warf dem Himmel einen Blick zu. Mit beiden Händen fing sie zu erklären an: Für einen alten Knauser, wie den Hausherrn gibts doch keine größere Erfreunis, als wenn er einmal etwas umsonst kriegt. Nicht wahr? Und er ist Gemeinderat und hat bei der Vergebung ein Wörtel mitzureden. Nicht wahr? Und so können die zwei geschenkten Gulden vierhundert Gulden Zinsen tragen. Nicht wahr? »G'scheit sein, hab i mir halt denkt«, sie tippte auf die Stirn, »und wie er so hrumg'redt hat, hab ich nobel abgewunken und hab g'sagt: »Ah, Hausherr, zahlt si' net aus!«

»Da war er selig – hätt'st ihn sehen sollen! – bis zur Tür hat er mich begleitet! Geht dir endlich eine Gasbeleuchtung auf?«

Sie ging ihm auf, und in diesem Augenblick hätte er sämtliche Turm- und Taschenuhren in Döbling umsonst ausgebessert, um sich, »ein Bildl einzulegen.«

Am Nachmittag begab er sich, die Monatsrechnung in der Tasche, zur »Ballet-Fee« ins Sechsundsechziger-Haus. So hieß das Eschenhaus, denn in der Mitte des Gartens erhob sich eine mächtige Trauer-Eberesche, deren Äste sich wie eine Domkuppel wölbten, während die Zweige fast bis zum Boden hingen. Er trat in den Rasen und spähte durch das Laub, er hörte, wie sie lachte, aber er wagte sich nicht hinein, sondern wartete. Als das Gespräch verstummte, ging er leise auf den Weg und hob die Zweige. Im Inneren der grün durchdämmernden Baumglocke war Platz für eine Gesellschaft, es standen auch einige weiße Tische da, und vor einem saß sie auf der Bank, Bein auf Bein und links und rechts von ihr ein Herr. Sie war schön frisiert wie eine Paradieselster und rauchte eine Zigarette. – »Ihr rauchts viel zu viel, meine Herren«, sagte sie lachend, »Ihr seids Kettenraucher! Dies edle Laster muß mit Pausen genossen werden!«

»Es ist halt wie bei den Frauen«, warf der braune Herr in der Uniform ein, »man muß hübsch pausieren … eine nach der andern!«

Sie stieß ihn mit dem linken Fuß wie mit einer Hand. »Aber gehns zu, Sie …!« Der Uhrmacher sah in ein herrliches Gestöber von schneeigen Spitzen und Rüschen und weißen Strümpfen, woraus die Lackstiefelchen wie dunkles Metall hervorglänzten. Er war verlegen und wollte sich zurückziehen; aber in diesem Augenblicke schaute ihn die Dame, rief ihn an und nötigte ihn herein – »o, Sie stören gar nicht!« – und fragte, was er bringe.

Die Herren trugen Lackschuhe, er stand beklommen und hatte nur den Wunsch, einmal im Leben so auszusehen wie diese Herren jeden Tag. Sie stellte vor: »Baron Godler, Herr Dr. Krügl … ah, Sie kennen ihn ja schon.« Der Bürgermeister nickte ihm zu. Frau Clemy aber stimmte eine wahre Lobeshymne an: die Uhren gingen jetzt und schlügen, daß es eine wahre Freude sei! »Ja, meine Herren, das ist kein Uhrmacher, was man so sagt! Das ist ein Hofuhrmacher: er kann Künste – nun, wie der King-Fu!« Sie fragte ihn noch einmal, was er bringe; aber die Kehle war ihm eingetrocknet, er fühlte sich von den Herren wie gemustert. Die Stimme rackste wie ein ungeölter Zapfen und er brachte nur ein paar heisere Laute hervor. Plötzlich sagte er, um davonzukommen: »Wir werden halt Jahresrechnung machen, gnä' Frau. Wenns Ihnen recht ist. Obs Ihnen recht ist, hab ich fragen wollen …«

»Aber freilich, freilich. Alles ist mir recht! Einen schönen Gruß an den Herrn Grazian!«

»Der zieht ja bei Ihnen den ganzen Tag Uhren auf?« neckte sie der Bürgermeister.

Der Uhrmacher ging mittlerweile mit dem Rücken voran aus dem Baldachin, und war draußen. Gott sei Dank!


»Und was is' mit der Rechnung?« fragte die Christel ungeduldig, um das Wesentliche zu erfahren. Da wurde Schwerengang verlegen und kraute sich am Kopf. »Gott, weißt, ich hab halt g'sagt, ich hab mir gedacht …«

»Was hast du dir gedacht?« Ihr Ton war kühl.

»Ich hab mir halt gedacht: Zahlt si' net aus! – Wir werden halt Jahresrechnung machen, hab ich –«

Die Christel faltete die Hände überm Kopf und schien zu einem unbekannten Gott aufzubeten. Nach einer Weile stummer Andacht nannte sie den Gott: »O du heiliger Laudon! Weil si' die »Frau von und zu« an Krenn gibt, traut si' das Mannsbild net! So a Hirngrillerl!«

Er stand vernichtet. Aber trotz allen Anrufungen des heiligen Laudon – wenn er noch einmal mit seinen verhatschten Stiefeln vor den Lackschuhen unter der Esche gestanden hätte, hätte er seine Rechnung wieder nicht herausgezogen.

Die Christel kam in Zug. »Du kannst di' Heimgeigen lassen mit deiner ersten nobeln Kundschaft! Wie i g'sagt hab: die hat euch Mannsbildern ganz den Kopf verdraht! Du gehst mir nimmer hin. Bon nun an geh ich einkassieren! Übrigens i geh glei'!«

Nur mit Mühe wurde sie abgehalten, diese Drohung wahr zu machen, und er hörte gottergeben die weiteren Anrufungen des heiligen Laudon an.

»Zahlt si' net aus!« Wie komisch es doch war: an diesem Tage hatten vordem schon zwei Menschen dasselbe gesagt und jedesmal war es gut und richtig. »Und gerade bei mir soll es eine Dummheit gewesen sein? Immer hab ich Unrecht!«


Dieses Jahr war kein gewöhnliches gemeines Jahr wie man sich das so vorstellt: eins mit Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Dieses Jahr war ein besonderes Jahr denn es hatte drei Herbste und keinen Winter. Ja, dreimal kam der Herbst des Weges und wollte schier nicht Abschied nehmen. Zuerst kam er über die Schossen des Nußbergs herauf als der alte gute Onkel mit der traubengefüllten Butte und bog die Äste und sammelte für die Münder der Kinder und türmte das bunte Obst auf dem Naschmarkt und Am Hof, denn die Kinder hat er gern. Dann kam der Herbst zum zweiten Male. And kam als Maler mit dem großen Pinsel und setzte sich auf die Goldwiese und die Baaderwiese und alle andern schönen Wiesen, die da Namen und Charakter haben und putzte sie zuerst einmal blank wie die Griffe an den Haustoren und die Möbel bei einer ordentlichen Wiener Hausfrau. Der blaue Rauch stieg lässig in die klargewordene Luft und die Buben liefen mit Kastanienketten um den Hals. Der Herbst ging in die Wälder und ließ die Stauden eines Morgens schreckrot glühen und totgelb und als die Blätter tanzten, war es ein Totentanz der Farben.

Das hatte er schön gemacht und die Herren Maler von der Akademie schauten ihm genau auf die Finger. Aber zum dritten Male kam er als Wassermann mit der Gießkann, wusch alle Farben wieder weg, die Maler sagten: das können wir auch – er aber hörte nicht auf, zu gießen. Die Kälte kroch in die Häuser, in die Ärmel, in die Ellenbogen, und der Wenzel lief jetzt in die Gasfabrik: jeden Sonntag lief er wie alle Döblinger Buben. Und zog an einer Schnur ein Kistel, das von einem Kinderwagen zwei Räder ausgeborgt hatte. Auf dem Kistel stand eine Wahrheit aus vergangenen Tagen, wie sie oft auf dem Gesichte eines sauren Frauenzimmers steht, nämlich »Zucker«. Und alle Buben holten in dem Zuckerkistel Coaks.

Das Weihnachtsfest war wässerig, denn wie der Schneemann sich zeigte, goß ihm der Wassermann die volle Kanne über den Kopf und er zerrann wie manche schöne Hoffnung. Und es regnete nicht mehr, es suppte nur vom Himmel, und im Winde standen den Leuten die Augen unter Wasser.

Bei Schwerengang sah es so trostlos aus wie draußen in der Regenwelt. Vater Ambros, Mutter Christel und Herr Grazian standen um den leeren Christbaum. Die neue Geige lag nicht darunter, und die alte Stockuhr war nicht vor ihren Wasserfleck zurückgekehrt: dazu hatte es nicht gereicht, und zwei Lotteriegewinnste, die inzwischen gemacht worden waren, hatte der Schuster Wlk gemacht und nicht der Ambros Schwerengang. So hatte der Herr Grazian vor der Mutter Christel, und die Mutter Christel vor dem Vater nichts voraus: drei Hoffnungen waren zu Wasser geworden, wie der Schneemann. Der Uhrmacher beschuldigte die Christel, denn zweimal hatte sie den Schuster abblitzen lassen. Wenn sie mitgehalten hätte, wäre gewiß die Stockuhr da und die neue Geige. Frau Christel wiederum beschuldigte den Gatten: noch immer war er nicht dem Losvereine beigetreten, und ein Mitgliedsbüchel wäre eine nette Aufmerksamkeit gewesen. So hatte den Erfolg der Schuster Wlk, denn der Neid, und sei er auch so leise wie bei der Christel, ist doch die menschlichste Form der Anerkennung.

Über die Donau hingen graue Schleier hinab und hinter diesen grauen Schleiern hingen wieder graue Schleier, hinten denen neue graue Schleier hingen. Die ganze Welt schien nur aus grauen Schleiern zu bestehen, und aus allen ließ der Herbst es suppen. Vornehme Bäche wie der Krottenbach, der Nestelbach wurden tobsüchtig, und mancher Unband raste auf die Donau zu und verklexte ihre Fluten.

Am Neujahrstag riß der alte Köckeis die Ladentür auf und schrie, den Hut im Nacken, ins Gewölb hinab: »Die Welt geht unter! Überschwemmung is'! Das Sperrschiff habens schon eing'hängt! Überschwemmung! Die Welt geht unter, gehn m'r 's anschauen!« Seine Augen waren zwei vergnügte Schlitze, er brachte Schwung in die Familie, er riß sie fort, man mußte gleich mit ihm, nach Nußdorf hinaus, und das Sperrschiff anschauen.

Kein Mensch war heute in den Laden gekommen, denn aus allen Gassen strömte es in schwarzen Schnüren, und unterm Himmelsgrau marschierten Hunderte auf ganz durchweichter Straße nach Nußdorf.

In der Nacht, erzählte Köckeis unterm Gehen, seien die Wasser herabgeschossen, von Linz und Pöchlarn; die Kuchelau ist schon verschwunden, die Schmiedhütte am Wasserkopf weggetragen wie ein Papierschinakel. Haufenweise stehen die kleinen Leut' am Ufer, Gemüsegärtner, Müllner, Floßausstreifer und andre arme Teufel: Haus und Hütte, Lang- und Kurzholz, Rad und Vorrat hat das Wasser abgeholt.

Hinter grauen Schleiern hatte sich der Bisamberg verkrochen, der sonst die Gegend sperrte wie ein knorpeliges Ungeheuer. Wo war die Donau? Die große blaue, und die kleine grüne Donau? Hier breitete sich ein kotiggrauer Riesensee ins Weite, und es war Grimm in seinen Wassern. Der Inn, die Enns, die Traun schwellten diesen See und mit Zorn und Ungestüm fuhr er wider den Sporn, der die große Donau vom Kanal trennt. Schon von weitem hörte Grazian, wie die Fluten brüllten, er sah sie über den Sporn springen, dann wider die eisernen Flanken des Sperrschiffes fahren, das quer über den Kanal gelegt war, um die Wasser abzudrängen und die Stadt zu retten. Er sah, wie sie ihre Stirnen daran zerbrachen und noch einmal dawider fuhren, um es zu zerscheitern, und noch einmal, und unaufhörlich noch einmal.

Wird das Sperrschiff halten? Die Stadt geschützt sein? Die Leute, die am Ufer standen, schauten wie einem schönen Theater zu, sie vertrauten diesem Schiff und der Überschwemmungskommission. Sie hatten keine Sorgen und aßen heiße Würstel.

Frau Clemy stand erregt in ihrem Wagen, sie sah den Grazi nicht, sie schaute nur scharf hinüber über diese endlos graue Fläche, an deren fernem Rande die letzten schwarzen Giebel sanken. Ihr blaues Samtkleid schimmerte und der Grazian sah nicht mehr das Sperrschiff, sondern nur die überschöne Dame. Er ging näher hin an die Seite des Wagens und zog seine Mütze; dann trat er vor die Pferde und grüßte noch einmal mit der Mütze und den Augen. Aber seine Grüße gingen in die leere Luft. Wie sie stand und schaute, hatte er mit einem Male den Wunsch: die Donau möge kommen und die Dame samt dem Wagen greifen und hinabschlingen, dann spränge er allein von allen Menschen, die da standen, in die Fluten und zöge sie an sich und küßte sie als Held und Retter oder ginge gleich mit ihr hinab und starb mit ihr unterm Wasser armverstrickt und leibumschlungen.

Plötzlich wandte sie sich an Herrn Maxintsack, der ruhig im offenen Wagen saß und die Virginier rauchte. »Und das löbliche Zentralkomitee hat nichts gewußt! Das Komitee hat nichts getan. Natürlich! Nur sich patzig machen mit dem großen Titel, das verstehen die Herren!« Ihr Vater rauchte und schwieg. »Schlamperei!« rief sie ganz laut. »Sie soll sich heimgeigen lassen, diese Zentralkommission für Überschwemmungs-Angelegenheiten!« Der lange Titel machte sie noch ärgerlicher, der Widerstand der Zunge erhöhte die Entrüstung. »Was sagen Sie, Herr Bürgermeister,« rief sie jetzt zu Doktor Krügl hinüber, »eine solche Schlamperei ist nur in Wien möglich!« Der Bürgermeister kam gerade in seinem Wagen an und nickte notgedrungen und für alle Fälle. Er war selbst Mitglied der großen Kommission und bestätigte die nur in Wien mögliche Schlamperei. Jetzt mischte sich auch Vater Köckeis ein; er fühlte sich mit angeredet und begann zu schimpfen, und alle andern Leute mischten sich jetzt ein und schimpften mit: »Ist nur in Wien möglich! A so a Schlamperei!« Einige der obdachlosen Gärtnerfrauen drängten sich bis an den Wagen. Unterm bunten Umhängtuch hatte eine den Säugling und erzählte, wie's geschehen war: die Dächer sind so niedrig, daß man von der Gasse mit einem Schritt hinauf kann, »und in der Nacht im besten Schlaf, da schreit mein Mann: die Donau kummt –« Frau Clemy öffnete ihr Täschchen und teilte Geld aus, sie teilte links und rechts aus an die Überschwemmten und an Nichtüberschwemmte, solange, bis sie blank war. »Herr Bürgermeister,« rief sie, als Doktor Krügl Miene machte wegzufahren, »wir reden noch mitsammen! Morgen komm' ich! Da muß etwas geschehen!« »Ja, ja,« erwiderte der Bürgermeister mit halbamtlicher Stimme, denn er schwebte zwischen Dienst und Dame, »es muß etwas geschehen!«

In diesem Augenblick ging es wie ein Stoß durch die schwarze Menge. Die Leiber taumelten. »Die Donau kommt! Die Donau kommt!« Der Schrei der Massen übertönte das Gebrüll der Wasser. Schon war die Donau da. Die schwarzen Katzenleiber der Fluten übersprangen die Böschung und erreichten Sprung auf Sprung die Straße. Die Leute machten Kehrt und rannten, und im Rennen lachten sie. Sie rannten wie die Kinder vor dem Wachmann und die Wasser jagten hinterdrein. Der alte Köckeis zog die Christel vorwärts und die Christel packte ihren Mann. »Na, nur ka Wasser nöt!«, johlte Köckeis und hatte seine Hetz'. Von einer höheren Seitengasse kam Militär herab: Geniesoldaten rückten schweigend an und stellten Schrägen auf, um Notstege zu bauen.

Es wurde Abend und über die wilden Wasser blitzten irre Lichter.

Auf der Heiligenstädter Straße sah Grazian den Wagen der Frau Clemy jagen. Sie saß erregt neben ihrem Vater, der mürrisch lehnte und die Virginier rauchte. Nach einer Weile sprach Herr Maxintsack: »Heunt hast aber wieder a mal ordentlich die Spendierhosen ang'habt! Was?« Er gedachte des verschenkten Geldes. Seit dem neuen Jahr war er in verdrießlicher Stimmung. Die Wohnungsglocke läutete in einem fort: der Rauchfangkehrer und der Bäcker, der Mistbauer und der Briefträger, einer reichte dem andern die Klinke. Dazu das Dienstmädchen und der Caféhausmarkör – plötzlich wurde er gesprächig; »Wann i zu mir selber Neujahrwünschen kummet, so hätt' i kan Kreuzer Geld für mi'! Da heißt's immer: ma soll net über seine Verhältnisse leben. Tuat ma ja eh net. Aber andre Leut leben über unsre Verhältnisse! And du, du könntst aa 's Gerstl z'sammhalten. Ewig wird's aa net so fortgehn. Aber na, du schmeißt' es außi für wildfremde Leut! Ah hör' mir auf! Dir wird's no amal schlecht gehen! Paß auf auf mi! I hab' dir's g'sagt!« Frau Clemy schwieg beleidigt. Sie hatte Fingerprickeln und spielte Flöte auf dem Knie. Es war in ihr ein Drang zu helfen, ein Drang nach glücklichen Gesichtern, der sie drückte wie eine unbezahlte Rechnung. Sie hätte ihre Kleider hergegeben, wenn's geholfen hätte, und ihr Vater hatte keinen Sinn dafür; sie wünschte sich weit weg von ihm und seinen verletzenden Anspielungen. Ihr Herr Vater verstand das nicht, warum sie eigentlich den Beschenkten dankbar war. Und sie wußte einen andern Jemand, der ihr Herz besaß, weil er es kannte, und der ihr Gefühl wenigstens nicht für Verschwendung hielt …

Der Grazian ging mit seinen Leuten; aber sein Herz flog mit dem Wagen und beneidete Herrn Maxintsack, der neben der Dame sitzen konnte. »Was rennst denn so verrückt?« schrie keuchend der Großvater, der nicht nachkam. Doch Grazian hörte ihn nicht. Die Dame hatte ihn ja nicht angeschaut, als er um einen Gruß bettelte … Seine Sehnsucht fuhr so ungestüm und wild auf wie die Donau wider das Sperrschiff. Ihretwegen wär' er auf der Stelle in die Abgründe der Wasser hinabgegangen, um ihretwillen wär' er auch an ihrem Halse ertrunken.


Frau Clemy ließ nicht locker: sie hatte mit dem Bürgermeister eine lange Unterredung, und Herr Doktor Krügl war kein Freund von Überstürzen; zwar hörte er sich selbst gern reden, doch wenn eine Dame da war, trat er dieses Recht auch ab. So war er heute noch nicht zu Wort gekommen, denn die Dame Clemy konnte man schon gar nicht unterbrechen: mit einer eisgekühlten Liebenswürdigkeit hielt sie das Wort fest, sobald sie es ergriffen hatte.

»Immer sagen Sie piano! Und die Leute möchten schon was sehen! Vom piano könnens nichts herunterbeißen.«

»Meine sehr verehrte Gnädige, bitt' tausendmal um Entschuldigung, Sie wissen, wie ich Sie verehre, oder nein, Sie wissen es nicht … aber bitte zu bedenken« – er legte seine Hand auf ihre Hände und genoß den Augenblick – »es sind ja leider Nußdorfer und Kahlenbergerdörfler, gnä' Frau; und wir, die Gemeinde Döbling, wir haben unsre eigenen Armen, die liegen uns im Sack. Nicht wahr, gnä' Frau, es ist ein Kreuz – –«

»Aber Döbling hat auch seine eignen Millionäre,« unterbrach die Dame den drohenden Erguß, »und Döbling ist noch niemals überschwemmt worden« (außer von den Strömen deiner Rede, setzte sie in Gedanken hinzu). »Grad' weils andre sind, soll etwas geschehen … Schließlich können doch die Nassen nicht die Trockenen herausziehen.«

»Wir werden halt schauen. Wir werden ja sehen, was in der inneren Stadt g'schieht oder am Alsergrund. Wann die sich rühren, dann –«

»Ach, gehen S', hören S' auf, Herr Doktor, immer schauen, was die andern machen! Fangen S' selbst was an! Bei uns in Wien – da wartet einer auf auf den andern, und weil alle warten, bis der andre sich rührt, so rührt sich keiner!«

Der Bürgermeister fühlte, wie er schwach wurde, und kämpfte einen stillen Kampf zwischen einer schönen ritterlichen Zuvorkommenheit, die die Unterredung beendet, und einer amtlichen Schwierigkeitmacherei, die sie verlängert hätte. Er entschied sich fürs Verlängern, denn er sah die Chiaramuzzi, die an seinem Schreibtisch saß, plötzlich im Trikot, wie er sie in der Hofoper als Sylvia genoß: er schloß die Augen und schwebte zwischen der wirklichen und der vorgestellten Dame.

Da erhob sie sich und stand vor ihm, von einem Einfall aufgeschnellt. »Herr Bürgermeister! Sie sollen recht haben und ich auch. Ich will Ihnen etwas sagen, damit wir fertig werden. Wir machen halt den Abend beim Wendl und was hereinkommt, wird geteilt! Die Hälfte in Gottes Namen – Ihren Herrn Ortsarmen! Die andre Hälfte geben wir den armen Nußdorfern und so weiter – jetzt werden Sie doch zufrieden sein?« Er zeichnete mit dem Bleistift vor sich hin und sie nahm ihm den Bleistift sanft aus der Hand wie eine sehr wertvolle Sache. Er erwachte, faßte sich und hob den Zeigefinger: »Das ist ja salomonisch, gnä' Frau, ich sag's halt immer: eine g'scheite Frau schlagt zehn Männer und –« In dieser Pause, die die Ritterlichkeit machte, um eine Huldigung zu erfinden, ernannte Frau Clemy den Herrn Bürgermeister rasch zum Obmann, und der Bürgermeister blieb im Vergelten nicht zurück und setzte seine Rede fort, indem er die Trikotdame zur Schutzfrau des Komitees ernannte. Alles war in Ordnung, und nach langen bürgermeisterlichen Händedrücken rauschte die Dame ab und warf die Augen zum Himmel, als sie im Vorzimmer war.


Als der Schrammel wieder im Uhrenladen erschien, brachte er eine geheimnisvolle Miene und eine neue Geige mit. Aber statt zu unterrichten, ging er auf und ab, gähnte und zog an den Ketten der Küchenuhren, was ihn sehr zu fesseln schien. Der Uhrmacher meinte, er sei übernächtig, und wollte ihm schon die Stunde erlassen, als Schrammel sich umdrehte und sagte, während er seine Stiefel betrachtete: »Es geht etwas vor. Schöne Sachen hört man da. Wollen S' wissen, was?«

»Da muß ich mich erst niedersetzen,« entgegnete der Uhrmacher, der wieder eine Vorladung oder Pfändung oder eine andre Schikane nahen sah.

»Na, halten Sie sich nur fest an. Morgen steht's auf alle Ecken. Plakatiert!« Und er sagte, die Silben unterstreichend: »Erstes Auftreten des Herrn Grazian Schwerengang, Geigenvirtuos aus Oberdöbling!«

Diese Mitteilung des Schrammel bewirkte, daß Frau Christel zunächst dem Manne schärfer ins Gesicht schaute und der Vater sich klingen fühlte wie ein frisch gestimmtes Klavier. Er stand auf. »Was sagen Sie da? Auftreten? Der Grazi? Ja wie denn …?« Erleichtert sah er, wie Vorladung und Pfändung aus dem Gesichtskreise verschwanden und sagte lächelnd: »Na, Sie haben mich schön aufsitzen lassen. –«

Schrammel deutete mit dem Daumen auf ihn und lachte. »I hab nur wissen wollen, wie Sie dreinschauen. Na, nix für ungut! Sie werden ein berühmter Vater. Und berühmten Vatern hab ich noch keinen g'sehen!« Er trat näher an ihn heran, nahm seine Hand und streichelte sie. »Wissen S',« sagte er, »wir haben halt an Schlager haben wollen. Ohne Schlager ist heute nichts zu machen. Auch bei der Wohltäterei nicht. Und unser Schlager ist hier – unser Paganini!« Er schlug dem Grazian anerkennend auf die Schulter; als er aber die ratlosen Gesichter sah, hielt er es für notwendig, den Vorhang gänzlich aufzuziehen. »Ja sehen S',« erzählte er, »alles für die Überschwemmten! Zuerst Prolog mit Gasbeleuchtung, da werdens spitzen! Dann kommt einer aus der Oper, da werdens wieder spitzen, und am Schluß – Theaterstück, da werdens erst recht spitzen: da spielt der junge Herr, als Mozart oder so. Wissens, die gnä' Frau hat alle Frauenzimmer sanft hinausgewimmelt. Was Ihnen da für Frauenzimmer 'kommen sind! Alle Wiener Hofräte haben ihre Töchter loslassen: mitsingen, mitgeignen, mittrommeln – und alle hat sie –« er erläuterte es durch eine Handbewegung – »ft! Sie mag die Frauenzimmer net, hat sie zu mir g'sagt. Und hat recht! Wir müssen einen Schlager haben! Der junge Herr, der zieht! Da kommen Leute scharenweis! Alles für die Überschwemmten! Ich sag' Ihnen, es is' a wahres Glück, wenn einer überschwemmt is': das tragt heut was! Also, fragen S' mi' net weiter, Sie werden ja alles sehen!«

»Na, und so mir nix dir nix geschieht das – i wer' gar net g'fragt?,« warf die Christel ein, deren Busen fieberte. »I als Mutter hätt' doch auch ein Wörtel mitz'reden …?«

»So redens halt Ihr Wörtel. Sie werden doch nicht Nein sagen! Bei so einer Gelegenheit!« Und er erläuterte die Gelegenheit, er ließ sie hinter die Kulissen schauen: Ganz Döbling wird zusammenkommen, ganz Sievering, ganz Grinzing. Beim Wendl ist der Abend. Erhöhte Preise. Schon jetzt ist ein Geriß um Karten, und der Bürgermeister hat nichts zu tun, als Leute vorzumerken. Hinterher ist Tanzkränzchen. »Und im Gemütlichen – natürlich wir, die Schrammeln, der Binnagl, die Gumpendorfen Mirzl. Alles wunderbar und fein, und alles für die Überschwemmten!«

»Ja, um Gotteswillen!,« rief Frau Christel, die mit verschränkten Armen auf und ab ging »was soll der Bua denn anziehen? Er hat ja net amal a schöne Hosen! Daß man solche Sachen immer z'letzt erfahrt!« Vater Ambros fand einen andern wunden Punkt und sagte: »Es ist ein Elend, auf seiner kleinen Schmarrngeigen – wird's da überhaupt gehen?«

»Ah was,« beruhigte der Schrammel die besorgten Seelen, »tuns Ihnen nur nix an! A Hosen wird si' finden und a Geigen is' schon da! – Er öffnete den Geigenkasten lächelnd und alle schauten voll Erwartung. Eine wunderschöne Geige! Im grünen Kastenfutter glänzte morgenrotgolden der Lack, und als der Schrammel sie am Hals herausnahm und wendete, sah man die bernsteinfarbigen Ringeln auf dem Rücken. Im Kasten las Schwerengang den Namen der berühmten Firma Lemböck; die Geige aber war viel weiter her, sie stammte aus Italien. Ihr Holz hatte vielleicht den Schrei des Adlers vernommen, das Flüstern von Waldbaumblättern gehört, das Rollen des Donners und das Rieseln von Quellen – lauter Sonnenkraft – und wer sie spielen konnte, zog aus dem Holze diese Kraft: ein Stück Sonne ist in aller Kunst.

»Die leih' ich ihm,« unterbrach der Schrammel die feierlichen Gedanken des Vaters, »sie g'hört – no, sie g'hört mein, und der Paganini soll drauf spielen. Mußt sie mir aber wieder zurückgeben, du, hörst? Die Frau und die Geigen darf ein Mann net hergeben!« Er legte ein Heft aufs Pult, der Grazian begann zu stimmen, erhob die Geige, durchflog die Noten und spielte das neue Konzert vom Blatt. Es war Gounods Paraphrase des ersten Präludiums aus dem wohltemperierten Klavier von Johann Sebastian Bach. Der Schrammel schlug den Takt und machte mit geschlossenem Munde die Begleitung, die leise gehenden Sechszehntel, und obwohl niemand ahnte, wie geistvoll das Gerüst ist, womit Gounod den alten Bach überwölbt, so ging es ihnen doch ins Herz, als sie den Gesang vernahmen, die langen Noten, die zu rufen schienen, und die dem Grazian eine neue Stimme gaben, eine Stimme, die sie nicht in ihm vermutet hatten. Die Mutter Christel saß, die Hände im Schoß, und dachte nur noch dunkel an die Hose; der Vater Schwerengang stützte den Kopf mit der Hand.

»Da sieht man, was ein ordentliches Werkzeug macht!«, rief der Schrammel fröhlich, als es zu Ende war, und klopfte seinem Schüler auf den Rücken.

»Ein Stück Sonne …« flüsterte unhörbar Vater Schwerengang.


An der Ecke der Donaugasse machte der Vater Ambros plötzlich halt. Ein Maueranschlag hielt ihn an, und er las mit murmelndem Bart. Fett und schwarz stand es in der Mitte und schrie die ganze Hauptstraße hinab: Grazian Schwerengang, zehnjähriger Violinvirtuose aus Oberdöbling!

Zehnjähriger Violinvirtuose … Im ersten Augenblick wollte er es schon glauben, denn es stand so fett und schwarz gedruckt, und mit so sicherer Stirne … dann traute er sich doch zu lächeln, denn um die Wirkung zu erhöhen, hatte der Theaterdirektor den Jungen einfach auf zehn Jahre herabgesetzt. Plötzlich stieg es ihm heiß vor Scham auf, da er seinen Namen prangen sah wie ein leichtsinniges Versprechen: die Leute würden schon dahinterkommen, die Leute würden fürchterlich enttäuscht sein – Schwindel und Betrug – – Und auf einmal packte ihn die große Angst, er mußte vorwärts und es auslaufen. Denn die große Angst fragte ihn fortwährend: »Wie wird es ausgehen? Wenn der Bub zittert? Wenn er falsch spielt? Gixt? Stecken bleibt? Um Gottes willen – die Leute werden dann ganz still und gespannt wie bei einer Hinrichtung, und ich sitze dabei und kann nicht weg. Ich möchte dann – was möchte ich? – nein, ich möchte am liebsten gar nicht hingehen. Um Gotteswillen nur nicht stecken bleiben! Nein, ich geh' nicht hin! Ich wart' zu Hause. Ich geh' nicht hin …«

Er lief vor seiner eignen Angst davon. In der Kuchelau standen die Bäume mit kotigen Füßen, sie waren aus dem Wasser getreten, und die kleinen Lachen auf den Pfaden zwischen dem Gebüsch spiegelten die blaue Himmelsfarbe. Er durcheilte die Au kreuz und quer, der Kot flog von seinen Stiefeln. Plötzlich kniete er hin. Er faltete die Hände einen Augenblick und betete. Aber die rotgedeckten Dächer von Klosterneuburg schauten die stiftlichen Türme herab, feist und behäbig. Er blickte sie an, wie wenn Gott selbst dort wohnte und aus den Fenstern lächelte. »Was quält Ihr Euch denn alle, nicht wahr? Die Zeit rauscht fort, und alle liegt Ihr einmal still. Wozu dies schwere Herz?«

Der Abend hatte eine Wolkenwand in den Azur der Himmelstiefe gebaut und die Wolkenwand feuerflammengelb überhaucht. Graufarbige Nebel krochen wie Riesenspinnen über die Wand, und die Lachen auf den Pfaden spiegelten grün-blaue Widerscheine. Er schaute den Abend und kam sich nach dem Beten frei und rein vor, so entlastet von der Sorge wie die Au vom Wasser.

Als er nach Hause kam, brannte die Lampe auf dem Tisch und auf dem Boden kniete die Frau Christel. Sie kniete vor ihrem Sohn, der im hellen Schein stand, und fühlte mit den Händen brustauf, bauchab, ob der Mozartrock auch gut sitze. Denn diesen Mozartrock aus schwarzen Samt hatte sie selbst gebaut, die halbe Nacht war sie daran gesessen und das Werk bezeugte ihre Kunst wie ihre Sparsamkeit. Im Munde hielt sie Nadeln und spendelte von Zeit zu Zeit die Nähte zu, riß die Nähte wieder auf und spendelte sie von neuem zu, während der Grazian vor ihr Habt Acht stand und sich unendlich schön vorkam. Die Christel erhob sich und betrachtete noch einmal prüfend die Gesamtwirkung. Dann sagte sie befriedigt: »No, er wird uns keine Schänd' machen …« »Nein« erklärte der Vater, »er kann ja seine Sachen: er bleibt nicht stecken!« »Von was redst denn du?« fragte die Christel beleidigt: sie hatte ihren Rock gemeint, der Vater seinen Sohn. Da schämte er sich der ausgestandenen Angst und setzte sich rasch, damit die Christel nicht die feuchten Flecke auf seinen Knien sähe.


Ein Fiaker hielt beim Wendltheater an, Grazian stieg mit dem Geigenkasten vorsichtig heraus und der Wagen fuhr mit den Eltern feierlich zum Haupteingang zurück.

Hier also war das Schlachtfeld. Gegenüber lag das kleine Haus, worin der Lanner gestorben war und heute sollte nach dem Wunsche des Herrn Schrammel ein neuer Lanner auferstehen. Das sollte Grazian sein. Der Wendl war auf der einen Seite ein alter Einkehrgasthof geblieben, auf der andern hatte er sich zum Theater aufgeputzt; seine innerste Seele war eigentlich ein Tanzsaal, aber sein gemütliches Dach hatte auch noch einem Branntweinschank Unterkunft gegeben, und das Geburtshaus des künftigen Lanner vereinigte höchst verschiedene Geister.

Grazian stieg die dunkle Treppe auf der Theaterseite hinauf und hatte das beklommene Gefühl, abenteuerlichen traumverzogenen Geschichten entgegenzugehen. Er machte mit der Linken stumme Geigengriffe.

Oben kam ein blonder Neger auf ihn zu und flüsterte ihn an: »Na hörst, es is' höchste Zeit! Daß du schon kommst!« Kühle Luft schlug an seine Wangen, im Gange rauschte eine Gestalt vorbei, ihr weißer Arm kam aus dem wehenden stromblauen Seidenmantel hervor, sie nahm den blonden Neger zart am Ohr und drängte ihn: » Avanti direttore, avanti!« Der Neger verbeugte sich geschmeichelt und lächelte mit breitem Munde: »Gleich, Signora! … ein Monumento, dann geht's an!«

Mit einem Male war der kleine Wlk da. Er lehnte mit gespreizten Beinen an der Türe eines Verschlages und lächelte. Wie kam er her? Was hatte er für sonderbare weißliche Augen? Doch der Wenzel tat heute ganz ehrerbietig, er nahm ihm den Kasten ab, führte ihn in den Verschlag, sah eifrig zu, wie die Geige gestimmt wurde und half ihm darnach sie wieder in den Kasten legen.

Grazian trat heraus und ging mit dem Wenzel durch dunkle Spinnwebecken. Da stand der Vater Wlk, der einen dicken Strick in Händen hielt und den Neger scharf anschaute, wie wenn er auf Befehle warte. Plötzlich flüsterte der Neger: »Vorhang!« und hob die Hand. Der Schuster Wlk stemmte sich wider den Boden und zog am Seil, der kleine Wenzel rollte das Ende auf, und nun fiel eine Helle herein, das Summen vieler Stimmen war ganz nahe, wie wenn die Tür zum Schulzimmer aufgegangen wäre, der Zigeuner trat zwischen hohen gemalten Bäumen hinaus, deren Stämme samt den Felsen im Luftzuge schwankten, die Stimmen waren mit einem Male verschluckt, es wurde furchtbar still.

Das also war ein Theater. Grazian sah, wie der glänzende Zigeuner sich draußen auf einen Steinblock setzte. Er schien zu träumen oder zu schluchzen, denn er hatte den Kopf in den Händen. Dann nahm er die Geige und strich sie mit lockenden Geberden und nun schien die Geige zu träumen und zu schluchzen. Aber sonderbar, die Töne kamen gar nicht aus der Richtung des Zigeuners, sie entsprangen anderswo – Grazian schaute sich um: da stand der Schrammel und geigte mit schiefem Kopf, und vergrub die linke Backe in den Leib der Violine, und der Zigeuner machte draußen ganz die gleichen Striche, blickte manchesmal verstohlen her und vergrub die linke Backe wie der Schrammel.

Auf einmal erschien ein wunderbares Wesen in einem stromblauen Seidenmantel am Rande des Waldes. Es hob die weißen Arme aus dem Mantel in die Höhe, die Frau fing leise zu zittern an, wie eine windbewegte Blume am Waldrand, die Knöchel bebten, und mit einem weiten Sprungschritt setzte sie über die Bühne, während draußen ein Klavier aufperlte und Töne zu kreiseln und zu schwärmen begannen. Die goldbraunen Haare flatterten und es funkelte silbern vom Kopfe, die blauen Gewänder flogen und wehten, die Frau wirbelte um den Zigeuner herum, dann schien sie wieder mit den Fußspitzen einen Punkt zu berühren, um den sie sich drehte, die Tanzlust zuckte durch ihren schlanken Körper und die schwärmerisch ausgebreiteten Arme bildeten einen schimmernd weißen Querbalken. War der Walzer eine Dame geworden? Oder war diese Dame der Walzer geworden? Mitten drinnen brach sie zusammen. Man sah nur einen blauen Hügel, der Zigeuner stürzte herbei und kniete nieder. Er hob die Frau, sie kam langsam empor, stand wie starr, dann warf sie sich schwelgend in seine Arme. Der Grazian sah, wie der Mantel über den Rücken herabfiel, er sah die weißen Schultern, und darüber den braunen Kopf des Zigeuners, der die Schulter küßte. So hielten sie einander umschlungen und standen plötzlich in einem milchweißen Glanz, vom Mond beschienen, nur der Kopf auf ihrer Schulter blieb im Dunkeln. Es war zauberhaft anzuschauen, und dem Grazian wollte das Herz immer höher steigen, wie wenn es beim Halse herauswollte, es wurde ihm so wundersam feucht um die Augen, denn die Seligkeit und der Schmerz drängten in die Augen. Da hob der Zigeuner die Frau von Chiaramuzzi hoch, sie schwebte auf seinen Armen, ein Blick ihrer Augen ging dem Grazian durch und durch, und der Zigeuner trug sie in den Wald, leicht und glücklich, wie eine Prinzessin aus Luft und Schaum, während von draußen die Hände hereinklatschten und einen jubelnden Lärm schlugen.

Der blonde Neger im schwarzen Gehrock zog den Grazian an der Schulter fort: »Jetzt kommst du! Wo hast denn deine Waffen?« Und setzte ungeduldig hinzu: »Herrschaft no amal!« Der Grazian erwachte; er hatte alles vergessen. Mechanisch ging er mit dem Direktor, seine Geige zu holen. Als er den Verschlag betrat, sah er seinen Freund Wenzel, der sich darin zu schaffen gemacht; aber er fragte ihn nicht erst, und schon nahm Wenzel die Geige aus dem Kasten und reichte sie ihm mit der einen Hand, den Bogen mit Daumen und Zeigefinger der anderen Hand. Wie ein Bedienter. Grazian nahm sie unter den Arm, schraubte das Bogenhaar fest und fuhr mit den Fingern leise über die Saiten: die Quinten klangen rein. Dann stand er plötzlich draußen, wo vorhin der Zigeuner gesessen hatte und sah vor sich ein schwarzes Meer von Menschen.

Als er auf der Bühne erschien und sie zu klatschen begannen, zog sich der Vater Schwerengang auf seinem Sitze zusammen, denn er scheute sich und wäre gern unter ein Bett gekrochen, wie früher der Grazian, wenn Fremde in die Wohnung kamen. Eine Pause entstand, bevor es. anging, und es war ihm, wie wenn ihn die Leute mit Lupen und Fernrohren betrachten würden. Er wurde im Gesichte rot und murmelte hastig und verworren, doch die Christel sah ihn nur an und antwortete nicht, worauf er noch verlegener wurde und ohne es zu wissen, den Programmzettel in kleine Fetzen zerriß. »Was genierst dich denn?« flüsterte nach einer Weile halblaut die Christel. »Sixt, dein Herr Bruder, der is gar net da, der laßt si' gar net anschau'n. Warst auch z' Haus blieben! Sei froh, daß die Leut' einmal dich anschau'n. Besser sie schau'n uns an, als wir müßten sie anschau'n. Mir sind halt der Mittelpunkt. Kann ma nix machen.« Allein die Rede machte ihn nicht kühner. Er duckte sich noch mehr und dachte: Was schau'n sie hier? Was ist ein Mittelpunkt? Wenn die Mizar-Menschen mit Fernrohren auf die Erde herabschauen möchten, dann wären wir alle zusammen nur ein leuchtendes Mineralpünktchen: ich, der hier in Ängsten sitzt, und die, die mich anstarren wie einen Menschen vom Mizar. Ist nicht alles so furchtbar einerlei! Lacht nicht der Herrgott über uns Mittelpunkte?

Er hörte die Geige klingen und schaute flüchtig zwischen den Köpfen der Vornesitzenden zur Bühne hinauf. Es kam ihm vor – das war gar nicht sein Sohn. Das war ein ganz fremder Mensch. Wie? Dieser Geiger, der von ihm durch hundert andere getrennt war und inmitten eines feierlichen Schweigens stand und so große Gebärden machte, er sollte sein Sohn sein? Der Bub, der im Uhrmacherladen mit ihm Augsburger Würstel an einem Tisch' aß? Dann fiel ihm ein, wie der Bub geboren wurde. Wie sich die Christel in der letzten Zeit geschleppt hatte, und hier saß sie in einem schönen schwarzen Kaschmirkleide in der feinen Luft, so nobel angezogen. Aus dieser Frau sollte der junge Mann da oben gekommen sein? Und alle Leute waren hier so angezogen, wie wenn sie mit ihren Kleidern geboren worden wären und gingen Tag und Nacht darin, und niemand läge je bloß im Bette, und ächze und warte auf den Tag. Aber wenn dann der Tag kam und das Morgenkonzert im Garten begann, das Singen der alten Erde, diese Vogelroller und Vogeljauchzer und die Sonne ins Fenster rückte, dann war es wie jetzt, wo die selige Hoffnung ihm in die Augen stieg, wo er fühlte, es muß besser werden: mit dem Buben, mit der Christel, mit uns allen, es muß! Nein, es war ja doch nicht alles einerlei. Wenn es irgendwo so rätselhaft schön singt, aus einem frischen Garten, vom Kirchenchor herab, oder aus einem einzigen Menschen, wie dem da oben, dann fühlen wir es: wir sind nicht Mittelpunkte, sondern wir sind geboren, damit Liebe und Leid, Hoffnung und Sehnsucht dieser Erde irgendwo lebendig seien.

Während er so horchte, geschah etwas ganz Unerwartetes. Man hörte einen Schlag gegen den Körper der singenden Geige wie einen Gertenhieb. Der Grazian zuckte zusammen und das begleitende Klavier ging allein weiter, einen Atemzug lang rollten seine Noten unbedeckt. Vater Schwerengang griff nach der Hand der Christel, wie wenn er sich festhalten wollte – die E-Saite war gerissen. Nun war es aus. Ohne die Saite ging es nicht weiter. Im Saale wurde es ganz still, in den letzten Reihen standen einige auf und schauten. Ein herzbanger Augenblick. Aber da fuhr der Grazian mit der Hand blitzschnell am Geigenhalse hinauf, ein Blick des Schrammel, der unten am Klavier saß, half ihm gleichsam nach, und nun spielte er hoch oben rein und leicht auf der A-Saite weiter und schaute drein, als ob gar nichts geschehen wäre. Die Zuhörer, soweit sie unmusikalisch waren, schauten auch drein, als ob nichts geschehen wäre und begriffen nicht. Die Geigenkundigen aber, und das waren die meisten, folgten triumphierend der Tat, und da sie gelungen war, freuten sie sich wie einer eigenen Tat und des Erfolges. Es summte im Saal durcheinander: Einer erklärte dem andern, die E-Saite wäre gerade gerissen, als die Gounodsche Melodie in die Höhe stieg, eine kitzliche Stelle, keine Kleinigkeit, ein so junger Mensch, und diese Geistesgegenwart, das Summen schwoll an, und plötzlich war es dem Vater Schwerengang, wie wenn ein Dutzend Bretter brächen. Es krachte schrecklich von allen Saiten, er sah die Hände vibrieren und die letzten Akkorde des Klaviers erstickten im Aufruhr des ganzen Saales. Mitten im stürzenden Lärm kam der Bürgermeister auf ihn zu, der Herr Bürgermeister im schwarzen Frack und mit dem Advokatenbart, und lachte breit, während er ihm beide Hände entgegenstreckte: »Gratuliere, gratuliere! Wunderbar! Und wie er sich zu helfen gewußt hat! Soll einer nachmachen!« Schwerengang erhob sich, das Blut schoß ihm wieder heiß in die Wangen, er stammelte etwas, um abzuwehren, er suchte die Sache zu verkleinern: »Na, er ist ja noch jung, mein Gott, jung ist er halt.« »Nein, nein,« rief der Bürgermeister, »da gibts nix, das war ein Sonnenaufgang!« »Wenn's der Herr Bürgermeister sagt, wird's schon so sein,« warf die Christel dazwischen und sonnte sich wohlig im jungen Glanze der Familie. Das Wort lief herum, einer sagte es dem andern und bald hieß es im ganzen Saale: »Ein Sonnenaufgang! Wir waren bei einem Sonnenaufgang!«

Die Damen riefen: »Herzig! Schau, wie herzig!« und klatschten den Grazian immer wieder auf die Bühne, teils um seine possierlichen Verbeugungen zu sehen, teils um sich an seinem Spiele aufs neue zu entzücken, und richtig, er gab auf seinen drei Saiten einen küßlichen Walzer zu, worauf die Damen noch wütender klatschten: »Sei mein! Laß dich umarmen!« Es war ein Beifall von Temperatur und Liebe. Der Schrammel saß wie unter einem Rosenregen im »Orchester«, dann eilte er hinter die Bühne. In seinem Musikantenherzen klang es und er umarmte seinen Schüler wie seinerzeit die Frau Resi am Hochzeitstage, dann wischte er mit dem blauen Sacktuch zärtlich über Grazians Gesicht und Haar, worauf er diese Prozedur am eigenen Antlitz gründlicher wiederholte: »Was? heut hat's uns ordentlich g'habt. Uns zwei! Fix Laudon, no a mal!« Er erkundigte sich nach der Saite: sie war doch ganz neu gewesen, frisch aufgezogen? das hätt' gefährlich werden können. Fix no a mal! Man muß die Saiten immer früher anschaun, bevor man drauf spielt.

Der Grazian wollte sich entschuldigen und ihm anvertrauen: er vermute – da fühlte er, es schaut ihn jemand an. Er drehte sich um. Der Wenzel lehnte an der Türe des Verschlages und grinste hämisch her. Doch wechselte er augenblicklich das Gesicht aus und sah harmlos vor sich hin. Auf einmal war der Grazian dort und schwang den Fiedelbogen wie einen Säbel. »Was willst denn?« rief der Wenzel erschreckt: »Hab d'r ja nix tan!« Aber trotzdem fing er gleich zu rennen an, die Flucht war sicherer. Der Grazian im Galopp ihm nach. Der Schrammel hinterdrein, erstaunt, besorgt: Ja, was is denn? Was is denn das? Die Geige war ihm in die Hand gedrückt worden, und als er nachkam, war die Schlacht im vollen Gange, ja das Kriegsglück schon entschieden. Sein Lieblingsschüler hatte dem Gegner »das Füßl« gegeben und saß nun rittlings auf dem Rücken des Besiegten. Mit fürchterlichem Pfeifen sauste seine Waffe auf das unverwehrte Hinterteil des Wenzel, das sich vor ihm wölbte wie der Haufen vor dem Steinklopfer. »I hab nix tan« schrie der Wenzel, mit den Füßen stoßend. »I wer' dir geben, Saitenzwicken!« schrie der Sieger. Und peitschte auf die festgespannte Hose. Von allen Seiten fuhren Leute, durch die Geräusche angelockt, schattenhaft durchs Dunkel, der alte Köckeis tauchte auf, Herr Feuerstein, der seine Frau am Arme hielt, der alte Wlk kam schnuppernd, der Direktor mit dem Negerkopf erschien und schrie mit Burgtheaterstimme dazwischen: »Werds not aufhören, Mistbuam! So ein Skandal in meinen Instidutt!« Doch der Grazian fuhr fort zu pleschen, die Leute drängten sich um ihn in einen Kreis und sahen seiner Tätigkeit mit so viel Anteil zu, daß sie den Zwischenaktscharakter der Hauerei vergaßen, und er pleschte, bis ihm der Schrammel den Bogen aus der Hand riß. Mit beiden Händen hielt der Wenzel die durchgegerbte Hose, und durch die Nähe seines Vaters ermutigt, stieß er Drohungen aus: »No du wirst di anschaun! I hol an Wachmann!« Der Grazian war von einer Schar von Enthusiasten umgeben, die gekommen waren, um die aufgegangene Sonne zu beglückwünschen, und sofort für ihn Partei ergriffen, obwohl er den neuen durchschlagenden Erfolg mehr mit dem Bogen als mit der Geige errungen hatte: wer siegt, hat immer recht.

Plötzlich hörte man den entsetzten Sopran der Frau Christel: »Na, so was! Das ganze neuche G'wand is hin! Das ist der Profit! Immer schlampig und zerzaust!« Der Grazian sah an sich hinunter. Der schöne schwarze Samtrock war wie mehlüberstaubt, die weiße Masche lag schmierig auf dem Boden. Und die Mutter schaute drein wie acht Tage Regenwetter. Er aber strahlte sonnig: »Was? Ordentlich hab i ihm's gezeigt! I wir dir geben!« Und während ihn die Mutter halbwegs in Ordnung brachte, schaute er drohend nach der Richtung, in der der Feind verschwunden war. »Jetzt wird er nimmer lachen!« Im Triumph verließ er dann das Schlachtfeld, geführt von seinen Eltern, gefolgt von einer lauten Menschenmenge und erfüllt von einem großen Stolz, denn an diesem Abend hatte er mit einem Schlag zwei große Siege ausgefochten. Er hörte nicht die Flüche des Direktors, der um den Ruf des »Instidutts« besorgt war. Er vergaß sogar die Frau von Chiaramuzzi.

Die schöne Tänzerin erschien im Straßenkleide auf dem Schauplatze und hinter ihr das Stubenmädchen, das in einer Riesenschachtel den stromblauen Theatermantel trug. Sie lachte kollernd und schlug lustig Hand auf Hand, als ihr der Schrammel von der Fiedelbogenschlacht erzählte. »Das ist fesch! Das is a Red!«

»Nun, eine Rede war's grad nicht,« warf der Bürgermeister vorsichtig dazwischen.

»Aber, bitt' Sie, alle haben gejammert: o du armer Hascher … Und Sie, Sie sind käsweiß worden an ihrem Klavier, wie ihm die Saiten g'rissen ist, mein lieber Schrammel! Aber, ich hab' mir gedacht: jetzt werden wir sehen! Wer ein Mozart sein will, muß auch mit der Rasen spielen können!«

Der Bürgermeister wollte sich beliebt machen und stimmte schmeichelnd zu: »Man muß dem Schicksal in den Rachen greifen, hat schon der Beethoven gesagt.« »Jawohl! Das Schicksal! Im Notfall muß man es auch auf den Popo wichsen; nur zur Polizei soll's einen nicht bestellen. Was?«

Es fiel ihr ein, das Schicksal hieß in diesem Falle Wenzel Wlk, und beschloß bei sich, es mit zwei Silbergulden zu beruhigen.

Der Bürgermeister bot der schönen Dame galant den Arm: »Jetzt, meine Gnädige, jetzt fängt's im Gemütlichen an! Darf ich bitten?« In demselben Augenblicke aber schob ein anderer Arm sich in den ihren, und der schlanke Zigeuner führte sie davon. »Nein, dank' schön, lieber Freund«, sagte Baron Godler, »der Wagen wartet draußen. Nicht bös' sein! Heute ist einmal nichts mit dem Gemütlichen!«


Am Morgen nach dem Konzert lag der Grazian auf wohligem Rücken im Bett und hörte noch einmal den ganzen Abend: das Rauschen des blauen Seidenmantels und die herüberwehenden Stimmen der vielen Menschen, den Ton der gesprungenen Saite und das Pleschen auf dem Hinterteil des Wenzel, und es war sehr lustig, wie er gegen das Plantschen und Plauschen der Uhren ankämpfte und sich für Augenblicke die Klänge des Abends hörbar machen konnte, bald gegen die tiefe Stimme einer Pendeluhr, bald wieder gegen einen frechen Kuckuckruf.

Dann wurde es auf einmal ganz bläulich licht im Zimmer, und als er den Kopf zum kleinen Auslagfenster wendete, sah er es in schiefen Strähnen vorbeiflocken: still fiel der erste Schnee und leuchtete herein. Der Grazian zog sich unter der warmen Decke zusammen, denn irgendwo mußte der Schneemann die Decke gehoben haben und die Kälte kroch herein und griff nach seinem Bein. Der Winter war da, der Winter, der unhörbar über die Welt kam, über die Donau-Auen und übers Pantzerfeld stieg, und es aus seinem Sack auf den Nil rieseln ließ, und die Gruben leise ausfüllte, worin man im Sommer so frei und herrlich saß. Und er schaute den Flocken zu, die in schiefen Strähnen wirbelten. Es war ganz anders als das Regenrauschen: ein stummer Tanz, lastlos, schön im Takt vom Himmel her, vom Himmel her.

»Dös kann nur mir passieren! Nur mir! Wann i mit'n Schirm geh', brennt g'wiß die Sunn oba, daß' a Freud' is'; und wann i kan hab, nacha schneibts, daß ma glaubt, der Himmel is' zerplatzt!« Großvater Köckeis war mit diesen Worten eingetreten und schlug den Schnee aus seinen Haaren. Das Lauschen war vorbei und Grazian wollte aus dem Bette. Doch der Alte ließ ihn nicht. Der junge Ruhm des Enkels war schon bis in die Rußwaldelgasse geflogen, man hatte das Familienoberhaupt beglückwünscht und das Familienoberhaupt hatte Wichtigkeitsgefühle bekommen: er war voll Stolz, und heut' am Sonntag hatte er Zeit zum Stolzsein. Er drückte den Grazian nieder und huldigte ihm mit Eifer: »Aber das Bett, mei' Lieber! Das Bett! Da sieht ma', wer g'scheit is' und wer net! Denn wann Aner im Bett liegt und schlaft, der is' g'scheit; wann aber Aner im Bett steht, und schlaft, sixt, dös is' a dummer Kerl!« Er wiederholte diese Erfahrung mit erhobenem Zeigefinger und sagte: »Alstern du bist g'scheit! Aber dein Onkel zum Beispiel, der Herr von Schwerengang – na, i will nix g'sagt haben – der hätt' si' auch können anschaun lassen. Sixt, dös is' Aner, der im Bett steht! Lauter Heuschrecken in Kopf! Ideen, Ideen! Immer in Himmel, nie auf der Welt. Mir sind ihm zu minder, du a!«

Der Onkel Fritz war beim Konzert nicht gesehen worden, und das war das einzige, was die Familienfreude zu beschädigen vermochte. Aber der Onkel war schon ein verdrehter Hahn und man nahm es hin.

Der kluge Köckeis setzte sich an den Rand des Bettes, um sich alles aus bester Quelle berichten zu lassen; besonders fesselte ihn die Hauerei. »I versteh' a was von der Musik«, grollte es in ihm nach. »Es war großartig! Sag, i habs g'sagt! I hab' a fein's Ohr, mei Lieber! Glei' hab ich's g'hört, wie die Saiten g'sprungen is'! Der Herr von Onkel natürlich« – er verbeugte sich ironisch vor dem Abwesenden – »der braucht nix hören, der –« Mitten im besten Groll wurde er gestört, denn es läutete an der Ladentüre, ein Dienstmann stampfte den Schnee von den Füßen, trug einen Geigenkasten herein, wischte den Kasten sorgfältig ab und stellte ihn auf den Tisch. Dann zog er einen Brief aus der Tasche, den er vor sich hin hielt.

Grazian war ärgerlich, denn er brannte drauf, alles noch einmal gründlich zu erzählen; doch ein Dienstmann war im Hause Schwerengang ein Ereignis, und die Christel kam auch gleich aus der Küche, riß den Brief auf und las die Unterschrift. Sie bekam rote Flecke über den Augenbrauen und schaute ihren Sohn an, dessen Kopf aus der Bettdecke guckte. Vater Schwerengang setzte sich und las murmelnd. Dann stand er auf und ging lesend auf Grazian zu. »Mein lieber Grazi«, sprach er über das Papier, »du hast gestern auf einer fremden Geige gespielt und heute gehört sie dir.« Er drückte den Brief an die Brust. »Es gibt doch noch gute Menschen …!« Weiter kam er nicht, denn schon war der Grazian mit einem Turnerschwung aus dem Bette und riß den Geigenkasten auf. Da lag sie mit ihren drei Saiten. Er nahm sie in die Arme, wiegte sie, und tanzte mit ihr, bloß wie er war, durchs Zimmer, daß das Hemd flog. »Aber, du weißt ja gar nicht …«, rief der Vater, »du mußt erst lesen! Nein diese Freud'!« Und nun las er laut und langsam, damit auch der Großvater verstehe, der die Hand an sein Ohr hielt, weil er etwas harthörig war.

 

»Junger Mann! Für Ihre freundliche Mitwirkung beim Wendl kann ich Ihnen kein Honorar schicken, weil alles zum wohltätigen Zweck ist. Aber Sie haben so viel zum Gelingen beigetragen, daß ich glaube, ich muß Ihnen mehr geben als Geld. Nehmen Sie also diese Geige und behalten Sie sie zum Andenken an Ihr erstes Konzert. Möge diese Geige in Ihren Händen noch zu vielen guten Werken erklingen und manche Träne trocknen helfen, außer denen, die sie selbst fließen macht. Dies wünscht Ihre dankbar ergebene

Clemy v. Ch.«

 

Alle schwiegen. Auf dem Tische lag der weiße Briefumschlag mit der goldenen Krone. Der alte Köckeis nahm ihn an die Nase. »Junger Mann«, sagte er auf Hochdeutsch, das sich aber bald verlor, »jetzt heußt es zusammpacken und glei Hinrenna und schön d' Hand küssen: so was muß ma' si' warm halten, junger Mann!« Er sog den Duft des Briefes ein und drückte die Augen zu: das roch nach Hochwohlgeboren. »Und Briefschreiben kann dö …! Ihre ergebene … Großartig! Des hat ihr Aner diktiert!«

Grazian legte still die Geige wieder in den Kasten. Er sah den Zigeuner, wie er die Dame hinaustrug, und sah sich selbst, wie er den böhmischen Buben wichste – ach! wenn er's doch nicht gewesen wäre! Sie verschwieg ja die Hauerei – aber konnte er zu ihr noch sagen, ohne daß sie lachte: »Geh heirat mich?«

»Nun, junger Mann«, fragte der Großvater, »hats Ihnen 'leicht die Red' verschlagen?« »Er freut sich halt«, sagte entschuldigend der Uhrmacher, »laßts ihn gehen!« Grazian aber schaute unverwandt in den Geigenkasten und antwortete gedankenvoll: »Großvater, weißt, ich werde einen Brief schreiben, auch einen wunderschönen Brief! Selbst muß ich doch nicht hingehen …«

»Net selber hingehen? Is' das a G'hörtsi?« Was der alte Köckeis zuerst als Einfall hingeworfen hatte, verdichtete sich durch Widerspruch zu einer Überzeugung und seine Überzeugung ließ er sich nicht nehmen. Erst recht bestand er jetzt darauf. »Ja, mei' Liaber, bist denn ganz aufs Hirn gefallen? So was laßt ma' do' net aus! Wer hat denn den Schrammel zahlt? De is' in Stand und geht her und führt di' zur Firmung, und … und auf amal hats dir's Haus g'schenkt, das ganze Haus mit Putz und Stingel! Ja, die Weiber, wann 's verliebt san! Hab i net Recht?«

Die Eltern standen ohne Antwort um den Kasten, worin die teure Geige lag wie ein glänzender Vorbote des Köckeishauses. Die Christel fühlte sich unangenehm berührt, weil ihr Vater wieder vom verlorenen Handtuch sprach; dem Uhrmacher kam vor, der alte Köckeis entkleide die Dame, von der er sprach, und Grazian wand sich, denn der Großvater sagte »Verliebt«, und er sah immer den Zigeuner, der die Dame trug. »Na so was!« ereiferte sich der Köckeis weiter. »Der Bub hat ganz dein' Kopf.« Er kämpfte sich an den Schwiegersohn heran. »Ganz dein' Kopf. Den kannst net verleugnen! Du und der, und dein Herr Bruder dazu, der Wahnfriedrich, alles ein Schlag, alles ein Rappel! Verrückte Familie!« Er bekämpfte die Linie Schwerengang noch weiter; doch vor dem Buben wollten die Eltern nicht widersprechen, und der Köckeis, der im Schweigen die Zustimmung der Niedergeschmetterten und in der Zustimmung Ehrerbietung sah, verkündete energisch den unbeschlossenen Familienbeschluß: »Alstern, da gibts nix! Es wird hingangen und Rest is'«.

Er steckte den duftenden Briefumschlag zu sich, stand am Tisch und trommelte mit den Fingern. Plötzlich schien ihm etwas abzugehen, dann fuhr er sich mit dem Zeigefinger um den Hals herum, der blaue Stehkragen wurde ihm zu eng: »Ja, Herrschaft no amal, was is' denn das? Was seids denn ihr für Leut?« Er schüttelte seinen stummen Schwiegersohn am Arm. »Dös muß ja begossen werden! Glaubt's, i bin zum Vergnügen da? Mir sind zur Arweit da! Laßts an Wein holen, meine Herrn! Wann ma so a Glück hat, muß ma' a drauf trinken!« Er war kein Freund von trockener Sachlichkeit.


Einige Tage darnach stand Grazian vor einer vornehmen Türe, die dunkel war wie das Geheimnis und ein feines gelbglänzendes Messingschild trug, worauf der eine Name stand: v. Chiaramuzzi. Singend war er den weiten Weg von Döbling hergewandert, denn über Nacht ändern sich die Augen, und was am Abend schwarz und lästig aussieht, ist am Morgen hell und lustig. Er hatte dem Befehl des Großvaters zuerst getrotzt und wollte vom Besuch bei der schönen Dame nichts wissen; doch wie hatte sich inzwischen auch die Welt geändert! Da waren feine kleine Briefe gekommen, zumeist von Döblinger Damen, die den Grazian einluden: er sollte kommen und am Abend spielen. Alle wollten das Wunder bei sich haben, die Hofrätin Stocker in der Alleegasse, die junge Frau von Nentwich, die musizierenden Fräulein Schuster. Und die Christel glitt in Seligkeit auf und ab. »Nur die Frau Mutter kann Ruhm empfinden«, hatte der Schrammel gesagt. Ja und dann, während der Grazian ging, drehten sich nicht die Mädchen nach ihm und nannten einander seinen Namen? Es war herrlich so zu gehen und noch herrlicher zu ihr zu gehen, zu der überschönen Dame. Stolz reckte er seine Gestalt auf, sein Aussehen wurde schwärmerisch, und wenn er daran dachte, wie sie die Arme öffnen würde, dann leuchteten seine Augen.

In der Reisnerstraße, wo sie Winters wohnte, lagerten die Gebäude nicht so wie die Döblinger Häuser gleich an der Straße; sie standen zurückgezogen und zwischen ihnen und der Straße lag ein Achtungsgebiet: durch die hochbeschneiten Rasenplätze zog sich die Allee und führte den Besucher langsam und mit Würde auf. Hinter Spiegelscheiben hingen schwere weiße Jalousieen, die die Welt abwehrten, und niemand musterte die Straße durch ein Bauchfenster wie in Döbling der alte Maxintsack.

Dem Grazian war warm geworden und im Schnee trieb seine Seele Rosen. In ihrem Garten standen graue Göttinnen mit weißen Mützen und lächelten; doch es war ein Marmorlächeln und vielleicht schon hundert Jahre alt. Sie würde auch wie eine Göttin lächeln, aber schöner; er würde sie ja so anblicken … und dann säße er vor ihren Knieen, still und geduckt wie in der seligen Zeit auf dem Pantzerfeld und lauschte ihrer königlichen Stimme und fühlte die Wärme ihres Körpers wie damals auf dem Pantzerfeld. Vielleicht nähme sie wieder seinen Kopf an ihre Brust mit diesen rosenfarbenen Damenfingern und er verging im Duft ihrer Kleider, in der Berührung ihrer Hände. Er wollte sie mit dem Blick an sich ziehen, und weil dies alles in ihm lebte, leuchteten seine Augen.

Unschlüssig stand er vor der schwarzen Türe und schlug den Schnee von seinem Schlapphut, dann zog er über die Hände die roten Wollstützerln herab, die ihm die Mutter immer aufnötigte. Diese Pulswärmer sahen vorstädtisch-ordinär aus wie die Frisur eines Gastwirtes. Er legte die Hand an den Knopf und zog sie wieder zurück. Er lockerte ein wenig seine Schmetterlingsmasche, denn wenn sie aufging, mußte sie doch wieder gebunden werden. Und vielleicht ging sie auf. Und wer würde sie dann binden? Er lächelte. Er las noch einmal diesen schönen Namen auf dem Messingschild, und als er die Hand auf den Drücker legte – gab die Tür nach. Die Tür war nur angelehnt; welch wunderbares gutes Zeichen! Ein Druck der Fingerspitzen und lautlos trat er ein.

Er kam in einen halbdunkeln warmen Raum und sah ein Tischchen in der Ecke, worauf ein ganzes Arsenal von köstlichen und seltsamen Lampen stand. Der Winternachmittag hatte seinen schwarzen Mantel schon über das Haus gebreitet – wie mußte es in diesem Hause strahlen, wenn die schönen Lampen brannten! Eine hatte eine Säule von Ebenholz und im schwarzen Felde glänzte mattes Perlmutter. Auf der Säule schwebte eine große gläserne Kugel und daraus fiel abends ein Rosenschein, ein Rubinenschein ins Gemach, fiel auf die schöne Dame, die im Nachtgewande lag, allein und weiß. Sie lag zwischen feinen Dingen, den Kopf auf dem Arm und schaute in die rötliche Luft und hatte Sehnsucht, weil niemand, niemand bei ihr war.

Irgend woher kam ein Wispern, er glaubte durch die Wände leise Stimmen zu hören; doch dann war es wieder nichts. Das ganze Haus schien tief zu schlafen wie Dornröschens Schloß. Er ging auf den Zehenspitzen. Er wünschte nur, daß jemand käme, daß jemand mit ihm spräche: das Schweigen dieses Hauses war wie ein großes Staunen über seine Ankunft.

Von einer Tür hob er vorsichtig den schweren Samtvorhang. Dahinter war es völlig Nacht, der Schweiß bedeckte seine Hände, er tastete herum und kam sich wie ein Einbrecher vor. Die Tapetentür ging auf. Er stand in einem kleinen Saal. Ein feiner Duft schlug ihm entgegen: es war der Duft des Briefumschlags, ein Duft von fernen Gartenrosen, der bis ins Herz ging. Es war der erste Bote ihrer Nähe.

Gegenüber an der Wand sah er in goldenem Schnörkelrahmen das Lichtbild eines mächtigen Gebäudes hangen und darunter stand in hoher Schrift: K. K. Hofoperntheater. Wien. Zur Erinnerung. Ein blauer Seidenmantel lag halb auf einem Sessel, halb auf dem Boden. Sie hatte diesen Mantel hier gelassen, sie hatte dort gesessen. Er wollte diesen Mantel an die Brust drücken, doch er fühlte sich so unerlaubt, so fremd in dem Saal, und ein roter Riesenteppich trennte ihn vom Sessel wie ein breiter See. Er blieb am Ufer stehen: mit seinen nassen Stiefeln wagte er sich nicht hinüber.

An der Wand zur Linken sah er ein wunderbares Bild, er hatte es bisher noch gar nicht bemerkt. Es war ein zauberhaftes Bild: der Rahmen ein breiter Kranz von gläsernen Rosen und Ranken, die das letzte Licht des verlöschenden Tages aufbewahrt hatten, und deren krystallene Säume nun glänzten wie von silbernem Feuer. Und je länger er es ansah, desto stärker zog es ihn an: er hatte diesen abgewendeten Kopf der schönen Dame schon gesehen, er hatte ihn – es waren erst drei Tage – beim Wendl gesehen, denselben Kopf, von dem das Haar herabfloß und – er blickte schärfer hin – und auf der einen dieser Damenschultern das Gesicht des Mannes, das ihm entgegen schaute. Unwillkürlich ging er näher. Ein Stoß des Blutes jagte durch sein Herz. Lebte dieses Bild? Hatte es sich nicht bewegt? Der Mund der Dame nicht gelächelt? Und die Stirn des Mannes, jetzt an der Stirn der Frau – die Köpfe wurden eins – und waren nun verschwunden …

Zwischen diesen Rosen und Ranken blieb leeres glattes Glas. Ein Spiegel …

Wie aus einer Mauer kam eine halberstickte heisere Stimme …: »und schön bist Du … un pezzo di donna! Eine Genueserin … so aus den alten Zeiten.«

»O, Du Bubi – sehr schmeichelhaft! Genueserin? Kann schon sein! Sehr gut …! Meine Mutter war a Böhmin!«

Das war ihre müde scharmante Stimme, ihr kollerndes Lachen, es kam von dort: aus dieser halbverdeckten Tür … Und er setzte über den Teppich und schaute durch den Vorhang. Mit geschlossenen Augen lag sie jetzt auf dem weißen Fell und lächelte in den Himmel. Vor ihr kniete jemand in einem blauen Waffenrock und preßte sein Gesicht an ihren Leib. Ihr linker Arm schlang sich um seinen Nacken, ihre geöffneten Finger glitten durch sein Haar. Er drehte den Kopf. Es war der schlanke Zigeuner! Und sie … sie riß plötzlich die Augen auf, und mit dem Sprunge eines erschreckten Tieres flog sie auf, und stand vor Grazian, ganz groß und heiß. Ihre Augen irrten wie Lichter im Nebel – er fürchtete sich und wich zurück. Sie schlug die Arme auseinander und griff nach den Vorhängen. Ihre Haut schimmerte in blassem Rot durch das Hemd. Sie bemerkte seinen Blick nicht und stierte ihn an, wie wenn sie ihn nie gesehen hätte. Dann sank sie erschöpft an den Türpfosten und lehnte daran. Mit der einen Hand bedeckte sie die Stirn, mit der andern hielt sie sich am Vorhang fest.

»Um Gottes willen … die Tür war offen …« Sie atmete erregt und heiß. Plötzlich wurde sie ganz wild und hart. »Was wollen Sie? Wer hat Sie hereingelassen? Gehn S', gehn S' nur! Adieu …!«


Da lief der Grazian hinaus und lief im wehenden Schnee durch den Park. Am Gittertor schaute er sich noch einmal um; allein die hohen Spiegelfenster blieben tot, es öffnete sich kein Flügel, keine Hand winkte ihn zurück, die schweren Jalousien hingen abwehrend und verbargen das Geheimnis. Die Flocken peitschten sein erhitztes Gesicht, er rannte fort in eine Ferne, in eine Nacht, wo alles endete, wo man kein Herz mehr spürte. Sterben! Sterben! Und das Sterben fühlen, das Verlöschen in die Ruhe!

So rannte er zum Ring hinab, wo die Laternen trübselig brannten und Zitter-Scheine in die dunkle Luft warfen. Die schwarze Masche flatterte wirr um seinen Hals: Niemand hatte sie gebunden. In der kaiserlichen Burg war es still und weiß, und unwillkürlich ging er langsamer. Unten in der Tiefe lag der epheubewachsene Burggraben, der im Sommer von verliebten Spatzen wimmelte; hoch oben, über dem Schwibbogen waren die stärksten Männer Europas, denn die beiden Riesen hielten ihre Gegner so lange in die Luft, wie niemand. Und droben wohnte der Kaiser. Es war, wie wenn die Elemente keine Macht hätten über sein wettergraues Haus. Wie mußte der Kaiser glücklich sein, und alle berühmten Prinzen, die in dem Hause wohnten: sie brauchten nur mit der Hand vom Thron zu winken und hatten alles. Wenn ein Prinz zur schönen Dame Clemy kam, dann sagte sie gewiß nicht: »Gehn S', Adieu!« Nein, sie sank vor seine Kniee, und er küßte sie im Glück. Oder sollten die berühmten Prinzen auch unglücklich sein wie er, sind berühmte Leute nicht geplagt über alle Menschen auf der Welt? Der Wenzel Wlk und die andern; die ihn jetzt beneideten – wußten sie, wie es hinter seinem Ruhme aussah …?

Er verließ die Burg, es litt ihn nicht in dieser Ruhe: aufs Pantzerfeld und in die Gruben stürzen! Des Himmels Nähte sollten platzen und Lawinen auf die Erde donnern – dann läge er erstickt darunter und im Sommer würde sie ein dünnes Klingen hören: sie setzte sich mit den roten Sonnenschirm in die Grube, doch was da klang, war keine Geige; es war ein Herz, und sie würde weinen … Aber sie lachte ja kollernd, sie lachte mit dem Zigeuner, sie konnte gar nicht weinen. Und was der Großvater erzählte, war nur Leinwand: »Ja wie i no jung war! Mir san die Weiber nachg'rennt! Zehne auf einmal! Net zum Wegbringen!« Das kam niemals vor. Keine Dame ist, die nachrennt; man rennt den Damen nach und sie sagen: Gehns! Adieu! Nichts ist wahr in diesen Liebesgeschichten, die man hört und liest. Nichts ist wahr! Diese Gräfin Helene, die den Lorenz Juranitsch umhalst, dieser Vater Zriny, der die Liebe segnet – alles lächerlich und ausgedacht, wie die Geschichten des Großvaters. Er hatte es ja selbst gesehen, vor einer Stunde hatte ers gesehen: die Damen halsen nie den Helden, immer halsen sie den andern – und er suchte sich vorzustellen, was sie dabei sagte, welches Gesicht sie machte und was ihre Hände dabei taten. Er fluchte ihr, er gab ihr Namen, er stampfte wütend in den Schnee. Er fluchte allen Frauen, er rannte, die Augen zur Erde gerichtet, er wollte keine sehen. Es gibt kein Glück von Frauen, und man muß sterben können.

Von der Nußdorferstraße stieß mit einem Male ein gruselkalter Wind herab, der durch den Ärmel fuhr und sich bis in die Knochen bohrte. Der Wind kam von der Türkenschanze und machte den Winter hier viel kälter als in der Stadt. Grazian lehnte seinen Körper dagegen und schraubte sich vorwärts. Die kleinen Häuschen des Himmelpfortgrundes lagen unter dem Damm der steilen Straße halb verkrochen und hatten das Dach wie einen Hut über die Augen gezogen: »komm herein, hier ists warm!« Er schaute über das eiserne Geländer in die kleinen erleuchteten Zimmer, wo die Ehemänner mit ihren Frauen beim Nachtmahltische saßen. In einem Fenster lag eine Frau mit hohem Haar. Er sah den dunkeln Körper und die Spitzen ihrer Frisur. Er stand still. Sie hatte den Arm gehoben. Warum hatte sie gewinkt? Das Herz schlug ihm laut. Gewiß? Das war das Glück! Es hatte doch gewartet! Er lief über das Gewirr von Stiegen in das Gäßchen hinab. Unter dem Tore ihres Hauses begann die Holzstiege, er flog hinauf, und als er ankam, ging schon die Tür auf. Es war die zweite Tür, die sich heute vor ihm öffnete – und vor ihm stand mit nackten Knieen ein mächtiges Frauenzimmer. Sie hatte eine Rosamasche in der Ballfrisur und griff nach seiner Hand. »Jessas, Du bist kalt! Und so viel schöne Haar hast!« Sie wollte ihm über die nassen Locken streichen. Er sah die schwarzen Fingernägel an ihrer dicken Hand. Sie aber nahm seine andre Hand und führte sie an ihren Leib und fragte zärtlich, ob er Geld bei sich habe.

Er riß sich los und schlug nach ihr mit seinem Schlapphut, seine Tritte erdröhnten auf der Holzstiege und ein Guß von schmutzigen Worten kam ihm nach.

Er atmete tief auf. Der abscheulich süße Dunst hatte ihn beinah erstickt. Doch nun war alles aus, jetzt war es entschieden: in den Tod, zu den Gruben! Und er stürmte gegen die eisige fauchende Nacht. Es blies nicht der Wiener Spitzbubenwind, der die Hüte von den Köpfen reißt und sie fortrollt; das war der wütende Vorstadt-Blizzard, der die Ziegelsteine von den Dächern schleudert und damit die Köpfe einschlägt. Dieser Teufelswind hatte hinter dem Nil gelauert und warf den Grazian mit einem furchtbaren Stoß fast die steile Viriotgasse hinab. Er taumelte zum kleinen Baumdreieck und hielt sich am Geländer fest. Das Linienamtsgebäude schützte dieses Dreieck und zwischen den kahlen Bäumen glühte ein sanftes Rot aus bemalten Fensterscheiben. Grazian ging die Stufen zur kleinen Kapelle hinauf und schaute in das stille Innere. Er fühlte sich geborgen. Vielleicht geschah ein Wunder, das alle Last von seinem Herzen höbe. Vielleicht war es gut gewesen, daß er diesen fürchterlichen Tag erlebte? So ruhig strahlte diese matte Ampel durch die Finsternis, als gäbe es keinen Sturm auf Erden.

Eine dunkle Gestalt kämpfte sich die Gasse herauf; ein junger Mensch, der unter jedem Arm einen Pack trug und den Kopf fast wagrecht hielt. Keuchend hielt er vor der Kapelle. Er mußte schnell gelaufen sein, er warf die Last auf das hölzerne Geländer und rastete. Er hob den Kopf, es war der Wenzel. Der wollte gewiß auch nach Döbling heim, denn sonst wäre er nicht im Sturm die Viriotgasse heraufgeklettert, die in die Hauptstraße führte. Grazian wandte das Gesicht ab, doch schon hatte ihn der andre erblickt und rief ganz lustig: »Jö, der Herr Grazi! Wo kommst denn Du daher?« Er schien sich an den Wendl-Abend gar nicht zu erinnern.

»Ich habe einen Weg gemacht!«

»Ich auch!« schrie der Wenzel durch den Wind und erzählte, daß er von der Ölfabrik in der Brigittenau komme. Es ist sehr weit, dort wo die Sandstätten anfangen. Aller vierzehn Tage holt sein Vater die Stiefel der Arbeiter zum Ausbessern ab: riesige Bündel, oft dreißig, vierzig Paar. Einige nimmt er in die Tramway mit, die andern aber »muß halt ich nach Hause schleppen, denn der Vater will das Fahrgeld sparen. Da heißts antauchen und den Wagen nachlaufen.« Der Wenzel sollte stets zu gleicher Zeit zu Hause sein: »na, gute Nacht, wenn der Vater warten muß – da gibts Haarbeutler und die tun net wohl!« Er wischte mit dem Ärmel seines Zwilchrockes den Schweiß aus dem Gesicht. »Heute wird der Vater aber nicht beuteln können, ha, ha! heute bin der erste ich! Servas, Servas!« Er nahm seine schwere Päcke unter die Arme. »Renn mit!«, schrie er auffordernd, »renn mit! Das is' a Hetz!« Und stach mit dem Kopf in den Wind hinein und warf die Füße fidel zurück. Er wäre auf den Bauch gefallen, wenn ihn nicht der Wind gehalten hatte.

Grazian sah ihn in der Nacht verschwinden. Es war ihm, als müßte er sich schämen. Wie hätte der Wenzel gegrinst, wenn er erfahren hätte: wegen einer schönen Dame! Deshalb nicht nach Hause! Der Wenzel war ein Mistbub und schüttelte die Hiebe ab wie – aber hatte er nicht auch sein Teil zu tragen? Wie gemein war dieser Vater Wlk! Um zehn Kreuzer zu ersparen! Das war ja gar kein Vater! Und in dem Maße, als Grazian Mitleid mit dem Wenzel faßte, verschwand das Mitleid, das er mit sich selbst fühlte.

War es nicht die alte Singerin, die sich nun meldete mit ihrer treuen Stimme und ihm zum Trotz eins anstimmte? O, Teufel! Er wollte nicht und ärgerte sich, aber da fings auf einmal an: O, Du lieber Augustin … und war nicht wegzubringen. Er stieß es hinunter. Was für dummes Zeug! Aber sowie er wegdachte, war es wieder da, zudringlich und frech wie ein Liechtenthaler Gassenbub: O Du lieber Augustin …!

So kam er singend nach Döbling zurück, von wo er viele Stunden früher singend weggegangen war. Die Kirchturmuhr schlug aus der Ferne, er zählte die langsamen Schläge, und jeder neue ging ihm ins Herz wie eine Anklage: Zehn Uhr! Die Eltern … Sie hatten beim Nachtmahltisch allein gesessen. Was würde er zu ihnen sagen, ja wie würde er sie nur ansehen? Überhaupt, wie kam er zu ihnen? Heimlich? Und dann erfinden? Lügen? Wie klingt eine Stimme, die lügt? Das bekümmerte Gesicht des Vaters … und sagen ließ es sich doch nicht, was heut geschehen war. Und wenn er es nicht sagte – warum kam er heut so spät nach Haus, zum erstenmal?

Der Eiswind war müde geworden und gab seine letzten Kräfte in einzelnen schwachen Stößen aus, der Schnee lag hoch und hell blinkend auf der Straße und in ihren weißen Pelzen beugten sich die Sträucher. Das Wetter schien zu rasten.

Er kletterte rasch entschlossen über das Holzgitter des Pfannkuchgartens, lief bis zum Hausherrngarten und stieg über die Eisenstäbe in den Hof. Das Küchenfenster schloß nie ordentlich, er drückte es auf und stand mit klopfendem Herzen in der dunkeln Wohnung. Bis zu den Knien war er naß, die schweren Stiefel ließen sich kaum von den Füßen ziehen, und das schöne neue Gewand – ganz verknüllt. Er versteckte die Sachen hinter dem Herd, und in feuchten Strümpfen schlich er leise ins vordere Zimmer, wo die Eltern schliefen. Nur die Uhren waren wach und rauschten durch das Dunkel. Dazwischen tiefe Stille. Eine Schwarzwälder hob die metallische Stimme: halb elf … und die andern kamen nach. Inzwischen tat er einen Schritt und wieder einen. Nach jedem Schritt eine Pause … Endlich stand er vor dem alten Sofa, er berührte mit den Fingerspitzen das Bettzeug und fühlte sich in Sicherheit. Er blieb ungesehen und ungehört, und bis morgen war noch eine lange Zeit.

Da stieß er mit dem Körper an eine Gestalt, die auf dem Rande des Sofas saß. Er tastete erschrocken: – die Mutter! Sie hatte die Hände vors Gesicht geschlagen, wie wenn sie weinte.

Grazian ergriff sie sanft an den Gelenken.

»Mutter, aber Mutter …«

Keine Antwort. Er flüsterte verlegen scherzend: »Aber Mutter, das ist ja gar nicht Ihre Liegerstatt. Sie haben sich verirrt!« Doch als er mit dem Körper fühlte, wie sie so starr und angstvoll saß, und hatte vielleicht seit einer Stunde so gesessen und auf ihn gewartet, da sank er vor ihr nieder, es brach ihm in die Kehle, und er fing still zu schluchzen an, als ob die Mutter alles in ihm sah und alles hörte. Schwer von Schuld lag auf ihrem Schoß sein Kopf.

Da kam die Hand der Mutter und berührte seinen Kopf, leise strich sie über die Locken. Er rührte sich nicht: er sehnte sich nach einer lieben Hand, die zärtlich über seine Locken strich. Nach einer Weile beugte sie sich über ihn. »Grazi,« hauchte sie, »ich hab ja g'wußt, du tust mir das net an. Du kommst zurück …!«

Er suchte ihre Hand und drückte sie an seine Wange.

»Es is' schon alles wieder gut, mein lieber Bub. Du bleibst mein Bub, und wennst du noch viel berühmter wirst und wenn dich alle Frauenzimmer …« Sie stockte. »O, die Frauenzimmer sind so schlecht! Sie hat dich dort g'halten wollen, sie hat dich nimmer nach Haus lassen … nicht wahr? Mir kannst es schon sagen!«

Grazian hob den Kopf. Sie habe ihn nicht fortgelassen? Die schöne Dame wollte ihn behalten? Das klang wie eine Musik, die man mit falschem Schlüssel spielt. Er wußte nicht, ob er lachen oder weinen sollte, denn er hätte lachen oder weinen können, als er die Mutter hörte.

»Nein, nein, sie hat mich schon fortgelassen. Sie hat mich gar nicht dort behalten! Sie hat –« er zögerte, und plötzlich erzählte er ihrs und erzählte alles, und jedes Wort löste sich wie ein Steinchen vom Felsen, um einzeln hinabzukollern und sich zum Geröll zu vereinigen.

Frau Christel horchte in die neue Welt, die ihr der Sohn enthüllte; doch als er fertig war, fuhr sie in die Höhe. »A solchene is' das? I hab's ja immer g'wußt! Und gar net g'redt? Net amal g'redt mit dir? Außi g'schickt? Garstig war s' mit dir? O, die Frauenzimmer! die sind schlecht!« Und tief beleidigt über die Behandlung ihres Buben, der schon eines Blickes wert war, zog sie ihn an sich und ersetzte alle ausgebliebenen Küsse. Frau Christel schwor der schönen Nymphe im geheimen Rache: wer weiß, sie lag jetzt auf dem Lotterbett unter dieser Rosenlampe, und der arme Bub lag hier patschnaß und kreuzunglücklich … Sie nahm ihn auf das Sofa, wie damals als er noch drei Jahre alt war. Sie bettete die Füße gut ein, zog die Decke bis zum Hals hinauf, steckte sie recht fest, er sollte es schön weich und bacherlwarm haben, er brauchte es. Dann beugte sie sich über ihn und sagte: »Also gute Nacht! G'hörst wieder mir, mei lieber Bub! Schau, i wer' dir noch was sagen, i bin an einfache Frau, i versteh die G'schichten alle net – die Künstlerei – und wie man so sagt; aber i glaub halt, es is das g'scheiteste, du gehst zu gar keiner mehr von alle, die dich eing'laden haben, und dann – gibst ihr die Geigen z'rück. Laß das Ganze gehn, sag' i. Was kummt denn heraus? Du bist beleidigt und an Schnupfen kriegst umsonst drauf!«

Grazian machte eine abwehrende Bewegung und bat sie: »Mutter, hören S', nein! Alles können S' von mir haben, alles will ich tun – nur das eine nicht!«

Sie seufzte auf. »Na gut! Wennst schon durchaus dabei bleiben willst, so bleib dabei. Durchmachen muß a jeder was, und dir wird a nix g'schenkt. Aber sixt, das versteh i, wann i a die Kuchel reiben muß und net so viel g'lernt hab als wie du: – wennst bei der Künstlerei bleiben willst, dann bleib ganz dabei! Obs d' a Schrammel wirst oder a Ziegeldecker – nur nix halberts. Nur a ganzer Mann kann's zu was bringen. Und die Frauenzimmer sind die Leut, die an Mann halbieren. Alles Unglück in der Welt kommt von die Frauenzimmer! Was s' dir heute schenken, nehmens dir morgen doppelt weg!« Und da sie sich erinnerte, daß sie selbst eines der vielgeschmähten Frauenzimmer war, so fügte sie hinzu: »A Mannsbild hat unter alle Frauenzimmer nur an anzigen wirklichen Freund – das ist seine Mutter.« Die Tränen schossen ihr in die Augen und in langsamen Rücken sagte sie: »Gel, netwahr, das tust mir jetzt versprechen wie ein' Freund – dem Vater fallt ja das net ein, aber ihm versprichst es auch –: Du laßt dich mit kein' Frauenzimmer ein! Bis d' einmal heiratst, nachher reden mir mitsammen. Aber bis dahin rinnt no viel Wasser durch die Donau, und du gibst mir die Hand drauf – mir z' Lieb, daß i net weinen muß, wennst unglücklich bist, und dir z' Lieb, daß d' net unglücklich wirst, wennst mi weinen siehst: du laßt di' mit kein' Frauenzimmer ein!«

Er zog seinen Arm unter der Decke hervor und sie drückte ihn mit beiden Händen an ihre Brust. Sie hielt ihn fest und küßte ihren Sohn auf den Mund. Plötzlich lief sie weg, wie wenn sie sich in ihrem Aufzug vor dem jungen Mannsbild schämte, und bedeckte mit dem Handrücken ihre nassen Augen.

Der Grazian lag selig in dem frischen Bett und zwischen Wachen und Schlafen dachte er noch immer, was er die ganze Zeit gedacht hatte: Im Hausherrngarten ist ein Strauch, der blüht nur alle drei Jahr' einmal; aber dann gibt's wunderbare schöne Blüten, wunderbarer noch und schöner als alle andern. So ist die Mutter.


Frau Clemy von Chiaramuzzi hatte anspannen lassen und fuhr aus. Sie saß allein in ihrem Schlitten und der Schlitten flog mit ihr die schöne Straße von Döbling nach Weidlingbach hinab. Sie hatte ihren Mann beredet, mitzufahren, doch ihr Mann wollte von der Schlittenfahrt nichts wissen, der Dienst ließ ihm wie gewöhnlich keine Zeit. Schließlich war es ihr ganz recht, sie brauchte nichts zu reden, nichts zu hören, und es war so angenehm, die Hände im Muff, die warmen Füße unter der Decke in der frischen Winterluft zu fahren, an den mächtigen Eiszapfen vorbei, die reihenweise von den Absturzwänden hingen. Der Stadtlärm schien in dieser Stille wie verschluckt, und wenn die Glocken silbern klangen, oder die Pferde schnaubten, oder der Kutscher rief, hätte sie am liebsten gesagt: seid doch ruhig! Weckt nicht die Wälder! Die Wälder schlafen so schön, und es läßt sich träumen, träumen …

Auch beim Matuschka, in der warmen Bauernstube saß sie still, trank nur ein Glas Likör und schaute von ihrem behaglichen Winkel durchs kleine Fenster lang in das winterlich verhüllte Tal. Aber plötzlich ärgerte sie etwas: warum saß sie eigentlich hier? Sie war doch frei und unabhängig, und was die Leute redeten, konnte ihr ja gleich sein. »Aber bin ich wirklich unabhängig? Wenn man so bekannt ist, wie ich bekannt bin, hört die Freiheit auf …!« Und wieder fiel ihr ein, daß sie eigentlich nicht so ganz freiwillig hierher gekommen war.

Plötzlich stand sie auf und befahl dem Kutscher heimzufahren. Sonst war sie niemals ohne große Jause zurückgekehrt; auch der Wirt ließ ein enttäuschtes »Küß' die Hand, gnä' Frau« vernehmen, denn es freute ihn, wenn's dem Gast recht gut schmeckte.

Auf der Rückfahrt hielt der Schlitten vor dem Fünfundzwanziger Haus; Frau Clemy stieg aber nicht zu ihrem Vater hinauf, sondern trat in Schwerengangs Gewölb ein.

Die Christel kam ihr gleich entgegen und bot ihr einen Stuhl an; dann fragte sie im Geschäftston: »Und womit kann ich dienen, gnä' Frau?«

»Aber tun Sie doch nicht so, als ob Sie nicht wissen würden …,« entgegnete die Dame Clemy und tippte ihr mit dem Muff auf die Achsel.

»Ja, gnä' Frau, was sollt' denn i wissen? Nix waß i, rein gar nix. I hab' g'laubt, Sie kommen – jessas na! – da fegen S', wie dumm als i bin! I muß mi ja bedanken bei Ihnen. I als Mutter. Na, was der Bua mit dera Geigen für a Freud' hat! Die Tränen san ihm awerg'ronnen wie aus aner Wasserkunst!«

»Nun lassen wir es gut sein, Frau Schwerengang! Wo ist er denn heute? Traut er sich nicht heraus?«

»Ah der trauat si' schon außa. Aber er is' heunt zum Schrammel 'gangen. Spielen. Der Schrammel laßt'n nächstens auftreten. Da is a großer Fiakerball, beim Luchsen in Hernals, na, und im Gemütlichen soll er halt spielen. Lauter Grafen und Baron' sitzen da beisammen und hören ihm zu!«

»So, so! Nun das ist recht. Und der Herr Schwerengang?«

»Ja der! Hören S', der hat jetzt heiße Täg'!« Und sie erzählte von der Ausschreibung: die Sache müsse sich in einigen Tagen entscheiden. Der rote Krutz hat halt noch starken Anhang – von früher her – und Schwerengang müsse von Pontius zu Pilatus laufen. »Das ist alles, gnä' Frau, sonst waß i nix.«

Sie ließ eine Pause entstehen. Der Frau Clemy schien es unbehaglich zu werden und sie erhob sich. »Es ist furchtbar heiß herinnen!« Sie öffnete den Pelz.

»Ja wollen Se no dableiben …?« entfuhr es der Uhrmacherin; aber rasch murmelte sie darüber hinweg: »Ja, ja, natürli' – legen S' ab, gnä' Frau.«

»Nein, ablegen nicht, nur ein bissel umschlagen!« Sie schlug den prächtigen Schuppenpelz über die Schultern zurück und setzte sich wieder auf den einsamen Stuhl. Dann begann sie allerlei zu erzählen, um etwas zu erzählen: daß sie beim Matuschka war, und das war so schön. »Das Weidlingtal durchs Fenster, das hat Ihnen ausg'schaut wie ein Bild, ganz still im Rahmen.« Der Frau Christel fiel dabei ein anderes Bild ein, ein Bild, das sich sehr lebhaft bewegt hatte und sie dachte bei sich: wart', dir tunk' i 's heut no ein! – »Net wahr, gnä' Frau, das is so ungemütlich, wie S' da sitzen. Setzen S' Ihnen her zum Tisch; a Schalerl Kaffee trinken S' schon mit mir? I hab grad' an frischen 'kocht! Geln S'? Net na sagen!«

Verlegen lächelnd nahm Frau Clemy an. Während die Christel den Kaffee auftrug, ging sie im Laden auf und ab und schien mit etwas stark beschäftigt. Dann setzten sich die beiden Frauen einander gegenüber. Der starke Kaffee tat der Clemy nach der frischen Luft sehr wohl und das Brot dazu, das die Christel mit dem großen Küchenmesser aufschnitt, war ganz vorzüglich: ein so gutes gemischtes Brot hatte sie sonst nicht, sie bekam gar nicht genug davon. Während sie schmauste, fragte sie anscheinend ganz gleichgültig: »Nun und was hat er denn eigentlich erzählt, der Herr Grazian? Wie hat 's ihm bei mir gefallen …?« »Na,« sagte die Frau Christel und hob die Schale hoch vor den Mund. »Na und ob! Sehr! Und so viel freundlich, sagt er, waren S' mit ihm. Sie und der Herr Gemahl …!«

Frau Clemy räusperte sich. Sie wußte nicht, war es Scherz, war es Ernst, und im Drange, sicher zu gehen und etwas Freundliches zu sagen, kam sie aufs Glatteis. »Ja, freilich. Mein Mann ist …, wir haben, wissen S', wir haben ihn halt ein bissel kurz abgefertigt.«

»Kurz abg'fertigt?« Frau Christel schlenkerte den Rest des Kaffees in ihrer Schale und log tapfer darauf los. »Daß i net wüßt'! Er hat g'sagt, Sie haben so lieb g'redt! Und der Herr Gemahl auch! Wissen S', er hat g'sagt, er is halt so viel – na wie hat er denn g'sagt –, a freundlichs Wurt und er is' ganz anders, und wann ma schiach zu ihm is', da verdrießt 'n halt 's ganze Leben. Da is' er oft, da möcht er si' glei umbringen: Wissen S', er hat 's innerlich, er is' wie a große Uhrfedern. Wann ma draufschlagt, hört 's net glei' auf, dö zittert Ihnen no lang nach … No, und wie er halt so lang net nach Haus 'kommen is und g'schneibt hat's fest, da hab i zu mein Mann g'sagt: Brauchst ka Angst net haben, hab' i g'sagt. Er hat si' nur vergangen, a bissel verirrt. Wien is' groß. Und auf der Landstraßen drüben, in den noblichen Viertel, kennt si' net jeder aus, da kommt er nie hin …«

Frau Clemy wußte nicht, wie ihr geschah: war es der starke Kaffee oder die Hitze im warmgeheizten Laden, oder der ungewohnte Lärm der Uhren – das Herz fing ihr zu klopfen an und ihr Körper stand plötzlich in Glut. »Es ist mir doch zu warm, ich wer' doch ablegen …«

»Na freili,« sagte die Christel, »i hab's ja glei' g'sagt: schälen S' Ihnen nur ganz aus. Vor mir gibt's kan Schenierer net!« Sie nahm ihr den schönen Pelz von den Schultern, breitete ihn über das Sofa, und streichelte das feine Haar; Frau Clemy richtete sich die Stirnlöckchen, wehte sich mit dem Taschentuch an, es ward ihr leichter und sie setzte sich wieder an den Kaffeetisch.

»Ja was ich hab' sagen wollen, Frau Schwerengang, wie er bei uns war, haben wir uns grad' zum Eisfest ein bissel gerichtet. Wissen Sie, das Eisfest beim Stadtpark, eine große G'schicht'! Und es ist auch wunderschön gewesen. Mohreln und Gnomen und Salzgriesjuden! Wie da die elektrischen Sonnen beim Einzug losgehen und ich war Eiskönigin, und ich hab' den Prinzen Karneval hereingeführt. Mir ist ja schließlich nicht so viel drum …, aber mein Mann, wissen Sie, der geht so gern zu diese Feste, aufs Eis!« Und halb im Zuge log sie nun auch tapfer darauf los, rollte Brotkügelchen und zwang sich, der Christel fest in die Augen zu schauen. »Mein Mann, der ist ein großer Freund davon und da muß ich halt mit; was kann man denn machen? Der Mann ist doch maßgebend. Bei Ihnen wird 's auch so sein!«

In den schwarzen Augen der Christel funkerte etwas herum, und die Haut ihres Gesichtes spannte sich über die Nase. »Ja ja, der Mann,« meinte sie und sah vor sich hin. »Aufs Eis.« Plötzlich stand sie auf, legte den Arm ganz zutraulich über die Schulter der Frau Clemy und wisperte ihr lächelnd ins Ohr: »Wissen S', gnä' Frau, i sag' Ihnen was! Sie brauchen si' net so plagen. Mir derzählen S' nix. I waß so verschiedene Sacherln – no Sie därfen ganz stad bleiben dabei, geschieht Ihna nix – mir hat's zuerst a bissel weh 'tan; aber da laßt si' nix machen. Sie tuan ja schließlich so viel Guats, daß S' a amal a wengerl auf d' Seiten springen dürfen. Und mi gehts nix an. 's bleibt unter uns. Den Herrn Gemahl sag i nix, und den Herrn Vatern schon gar nix. Wird net plakatiert! Mir san ja von Wien alle zwa? Geltns?«

Das war die Rache der Frau Christel. Und nun fühlte sie sich ganz als Siegerin, sie gab der Dame Clemy, die sich erhob, die Hand und lachte sie von unten an, daß ihre weißen Zähne blinkten. »San ma wieder gut!« Die Dame Clemy sah sich erkannt. Sie hielt eine Weile das Taschentuch vors Gesicht, doch gab sie es plötzlich weg und schlug in die Hand der Christel ein. »Seien wir wieder gut!« sagte sie verschämt und gerührt und fügte nach einer Weile hinzu: »Sie sind eigentlich ein patenter Kerl! Ein Frauenzimmer kann zehn Mannsbilder verführen, sagt unser Ballettmeister; aber das freut sie lange nicht so, als wenn sie ein Frauenzimmer niederbügeln kann. Ja, seien wir wieder gut, Frau Christel!« Und beide Frauen standen Hand in Hand und sahen einander in die Augen wie zwei alte Freundinnen.

Die Dame Clemy nahm den schönen Pelz über die Schultern und mit wogenden Gefühlen stieg sie dann hinauf zu ihrem Vater. Er empfing sie mißtrauisch, doch sie entwaffnete ihn im Sturm. Sie packte ihn auf beiden Flanken, bei der Sparsamkeit und bei der Würde: man könne denken, wie man wolle, aber es sei doch ein ganz gewaltiger Vorteil, wenn der Schwerengang die Stelle bekäme, denn so billig mache es ja keiner und dann würde er zeitlebens alle Maxintsackschen Uhren reparieren. Ganz umsonst. Er habe es versprochen. »Das ist doch ein Punkt! Wie teuer ist der alte Krutz! Also nicht wahr, Vaterl, du hilfst ihm halt a bissel: der Bürgermeister ist auch für den Schwerengang, und was ihr zwei wollts, das geht auch durch. Die andern im Gemeinderat sind ja lauter Haubenstöck'!«

Sie wußte ihn zu nehmen, und er hätte das Gemüt des Schah von Persien haben müssen, wenn er den wirtschaftlichen Gründen widerstanden hätte. So schmolz denn seines Herzens Härtigkeit, er knöpfte seinen Rock zu und rief: »No jo! Das is' a mal a Red'! A braver Kerl, der Schwerengang! Kann man nix sagen! Mir werden schon schauen, was sich machen laßt. Is' eh' an arroganter Lackel, der Krutz. Na alstern! Ich will nix versprechen, geh' nur z'Haus, wir werden 's schon machen!« Er tätschelte seiner schönen Tochter die Wange und nun war es an der Dame Clemy, das Haus mit Siegergefühlen zu verlassen, denn seit langem schon hatte ihr der grantige alte Herr die Wange nicht getätschelt. Immer war er ja dagegen, wenn sie etwas verlangte, denn was sie zu verlangen pflegte, kostete meistens Geld. Heute schaute er beim Bauchfenster lächelnd herab. Sie schwang sich in den Schlitten, Frau Christel erschien in der Ladentüre und winkte mit der Hand, so fuhr sie im Triumph davon, mit dem Bewußtsein, freundliche Gesichter zurückgelassen zu haben. Der Kutscher war schon halb erfroren und ließ die Peitsche knallen, das Gefährt flog, die Schellen klangen silbern und die Federn wehten vom Hute. Sie genoß die Fahrt und auch sich selbst, denn es wallte in ihr wunderlich: diese Christel war doch ein patenter Kerl! Und sie hätte jauchzen mögen, einen Jodler nach dem andern auslassen!

Als sie ausstieg, rief sie den Kutscher an: »Warten S', Nußbaumer, da haben S' was! Sollen S' auch was davon haben, weil S' so gut g'fahren sind!« Und reichte ihm eine ihrer schön zusammengelegten Fünferbanknoten. Sie hätte wieder einmal ihr halbes Vermögen verschenkt, wenn es nach ihr gegangen wäre; denn noch nie war sie so fesch und selig von Döbling in die Reisnerstraße gefahren.


Der Tag, den Schwerengang herbeiwünschte und doch fürchtete, war gekommen. Nun sollte es sich entscheiden, wer das Wort Gemeinde-Uhrmacher auf den Ladenschild malen lassen durfte: Krutz oder Schwerengang, und schon im bloßen Nebeneinander beider Namen lag für Schwerengangs Gefühl etwas wie Anmaßung denn Krutz besaß den Titel schon seit Jahren, er verkörperte das Bestehende und Hergebrachte, und mit dieser Macht sollte Schwerengang den Kampf beginnen, er sollte Macht entreißen, Ansehen erobern. Er arbeitete ja sorgfältiger und zuverlässiger, vor allem rascher, und bediente sich manches neuen Werkzeugs. Krutz lachte darüber siegesgewiß und erklärte: »so schnell schießen die Preußen net«, ohne zu bedenken, daß die Preußen den Krieg von 1866 schon vorher gewonnen hatten, weil sie eben noch schneller schossen. Er ließ es selbst an rücksichtslosen Mitteln nicht mehr fehlen: wenn ein Käufer, wie es Brauch war, zu ihm kam, um eine bei Schwerengang gekaufte Uhr schätzen zu lassen, schätzte er nicht einmal die Hälfte, sprach von wertlosem Scherben und hetzte den Käufer. Und Schwerengang gab lieber das Geld zurück, nur um jetzt nicht vor Gericht gehen zu müssen. Zuletzt spielte Krutz noch einen Haupttrumpf aus. Denn Juricek erschien im Gewölb und fragte den Uhrmacher vertraulich und verlegen: »Is wahr? Sie sollen Jud sein?« Da kam er aber bei der Christel schön an. »Wer gibt denn Ihna an Juden ab, Sie abg'schuppter Spiegelkarpf?« Schwerengang fand kein Wort für diese Art des Kampfes. Sein Vater war so religiös gewesen, daß er immer sagte: Cum Jesu itis, non cum Jesuitis. Aber da das Latein auf Juricek nicht wirkte, mußte Schwerengang sich demütigen und seinen Taufschein holen. Der Amtsdiener überzeugte sich durch persönliche Einsicht: das Christentum stand schwarz auf weiß, er trug das Zeugnis aufs Gemeindeamt und der Angriff war zurückgeschlagen.

Die Gemeinderäte sollten heute über »die Vergebung einer Uhrenlieferung« entscheiden, und man sah den Bürgermeister Doktor Krügl sorgenvoll in seinem Wagen sitzen. Von seinem Hause in der Hauptstraße ging man fünf Minuten bis zum Rathaus, dennoch pflegte er zu fahren: er konnte sich im Fahren sammeln und dann sah es feierlicher aus. So oft er zum Theresienplatz einbog, mußte er sich ärgern, denn aus Pollaks Branntweinbrennerei an der Ecke kam jedesmal ein stechender Geruch von Essig, der Hunger machte und weithin in die Nasen stieg. Auch war man immer aufgehalten, denn ausgerechnet wenn ein Wagen kam, wurden gerade Fässer ins Tor gerollt und einer der Lehrbuben tanzte oben mit nackten Füßen, um sein Faß, halb arbeitend, halb spielend, hineinzutreiben. Heute mutete es ihn sinnig an, denn auch er, der eine folgenschwere Sitzung zu leiten hatte, tanzte gleichsam auf einem Faß, und wenn er es nicht richtig antrieb, stieß es an die Mauer und er lag unten. Für den Schwerengang sprach die Billigkeit des Offertes, denn er hatte nur 300 Gulden verlangt, während Krutz heuer »wegen der teuern Zeiten« von 400 auf 500 Gulden gestiegen war: woraus Freund Maxintsack, der Referent, gewaltig Kapital schlagen konnte. Und schließlich war der Schwerengang nicht mehr ganz unbekannt, ja man konnte sagen, er hatte für die Gemeinde das Seine getan, wenn nicht selbst, so wenigstens durch seinen Sohn. Allerdings der alte Anhang des Krutz! Da war der Zuckerbäcker Traub, dessen Opponentenstimme immer aus dem Rücken kam und der jede Änderung niedergröhlte, dann der Müllerfranzl, der seinen Landsmann nicht im Stich ließ. Der Schneidermeister Kraft, ein alter 48er, war vielleicht für Schwerengang, weil er der mindere war, und Krafts Genossen, die Demokraten, traten sicher für den neuen ein.

Der Wagen hielt. Mit einem Lächeln stieg der Bürgermeister zum Sitzungssaal hinauf und dieses Lächeln war ein Ausklang von Gedanken, die sich mit der schönen Dame Clemy hold beschäftigt hatten. Konnte er nicht seinen Einfluß so gebrauchen, daß im Ausgang eine Huldigung versteckt war? Und stärker als die Herren Kraft und Anhang war die schlanke Dame vom Ballett.


Unterdessen war Frau Christel ausgegangen und hatte ihre Schritte in die obere Gegend der Hauptstraße gelenkt. Sie trug ihr schwarzes Kaschmirkleid, denn sie wollte Eindruck machen, auch auf Frau Brunner, die ihre Hausmeisterin sein sollte – wenn alles gut ging. Mit dieser Voraussetzung schien Vater Maxintsack zu rechnen. Ein Gemeinde-Uhrmacher könne nicht gut unterisch wohnen, hatte er bemerkt und die Christel eingeladen, eine leere Wohnung samt Laden im Eschenhause zu besichtigen. Auch seine Ideale schienen sich dabei zu finden: eine anständige Partei und totsicher. 300 Gulden zahlte die Gemeinde jährlich, 300 Gulden war der Zins.

Frau Christel marschierte durch die Wohnung, vorn vom Laden bis zur Küche und von der Küche bis zum Laden. Drei Zimmer. Und neben der Küche ein Dienstbotenkabinett. Sie war entzückt. »Die Wohnung is' halt a lange Wurscht«, bemerkte Frau Brunner; allein die sachliche Bemerkung machte wenig Eindruck. Die Zimmer lagen nicht unterisch, sondern, ganz modern, zur ebenen Erd'; die Wand war zwar nicht überall, doch meistenteils schön trocken. Und die Umgebung! Vom Fenster sah man das Geripp der Esche und der Garten war kein verbotenes Paradies. Im ersten Stock – Frau Clemy. Gegenüber war der Bürgermeister, nicht weit davon das berühmte Weiße Kreuz, wo die besten sauern Nierndln wuchsen, der Zuckerbäcker Traub, Erzeuger von Schmankerl für Honoratioren – eine ehrenvolle Gegend. Und spottbillig!

Frau Christel war entzückt und richtete sogleich die Zimmer ein, sie stellte Betten auf, schob den Kasten an die Wand, schob ihn wieder weg, und da sie merkte, daß drei Zimmer mit zwei Betten, einem Kasten, einem Sofa etwas leer aussahen, kaufte sie das Nötige noch rasch dazu: Sessel, Nachtkastel, und den Traum der Träume – ein Dienstbotenbett! Und während sie dies alles von den 300 Gulden und der Hoffnung zahlte, kam ihr Mann gelaufen: »Christel! Es geht schief!«

»Was machst denn für a grünes G'sicht?«

»Der Juricek war grad bei mir. Sie haben den Krutz aufs Gemeindeamt geholt. Und tun mit ihm verhandeln!« Sein Erscheinen hob die weiteren Bestellungen und Möblierungsträume auf.

»Na, so g'fährlich wird's net sein,« antwortete die Christel ärgerlich, »da schau die schönen Zimmer an und das Kamanet, das sind kane Löcher wie da unten. Vorn hintern G'schäft da wern wir essen, weißt, und da in Hofzimmer hab' i mir denkt –«

»Ja, ja du bist a sehr a g'scheite Frau; aber wie a Frau a Wohnung sieht, verliert sie den Verstand. Wann wir uns jetzt schon breit machen, wo alles noch im Wigel-Wagel ist, dann kannst Gift drauf nehmen: wir kommen gar nicht herein! Bitt' dich, geh nach Haus! Du hast noch Zeit zum Einteilen, hoffentlich ein paar Jahr. Bitt' dich, komm! Ich halt's nicht aus!«

Er zog sie am Arm aus ihrer neuen Wohnung und schmerzlich nahm sie Abschied.

Als sie abends wieder in der unterischen Wohnung am Nachtmahltische saßen, stand die Christel noch immer oben und schob den Kasten, kaufte Sessel und ein Bett aus Eisen. Der Uhrmacher war schweigsam. Es war ihm peinlich, daß sie seinetwegen so lange berieten, es drückte ihn, der Held des Tages zu sein. Er seufzte unwillkürlich. Die Christel hörte auf zu essen. »Mir scheint, du hast a wahre Angst, daß du die Stell' kriegst,« sagte sie, »du wirst's weit bringen!« Er schaute von seinem Teller nicht auf, die Hitze stieg ihm in die Wangen und plötzlich wußte er bestimmt: die Stelle war sein. Und fürchtete nur den Augenblick, wo Juricek erschien.

Es läutete an der Ladentüre. Er schaute nicht hin. Die Christel rückte den Stuhl heftig und schoß jemandem entgegen.

Vater Maxintsack stand da. Er war im schwarzen Rock und schwang die Aktentasche. »I gratulier', Herr Schwerengang, i gratulier', Frau Christel!« Er kam herab und sagte, die Hand vor dem Mund, wie wenn er ein Amtsgeheimnis verriete: »Gut is gangen, nix is g'schehen. Alstern, ziehens nur ein bei mir!«

Frau Christel war in Riesenluftsprungstimmung. Sie küßte dem Hausherrn die Hand. »Ich danke,« sagte der Uhrmacher still, »Sie haben sich so viel Mühe gegeben.« Er hielt sich am Tischrand fest. »Sie wissen ja no' gar nix,« unterbrach Herr Maxintsack, »eigens renn i her, i hab' der Erste sein wollen … no, i mag mi' net selber loben, aber –«

Frau Christel nahm ihm den Hut und die Aktentasche ab, die zwar immer leer, doch zur Sitzung nötig war. »Hausherr, Sie tun uns die Ehr' an, tragens uns den Schlaf net aus, na na, Sie trinken a Glas Bier mit uns!«

»Eine Remasuri hat's geben wegen Ihnen,« erzählte der kleine Mann und setzte sich, »so was war no net da, seit die Welt steht!« Seine schlauen Äuglein blitzten in dem bartlosen Diplomaten-Gesicht. Der Krutz sei gerufen worden und der Bürgermeister selbst habe ihn bearbeitet, sein Gesuch zurückzuziehen: bei der Stimmung des Gemeinderates sei es ratsamer und klüger; aber Krutz sei wild geworden, bis in den Sitzungssaal habe man ihn gehört, die Gemeinderäte alle übereinander, der Bürgermeister blaß und ratlos. »Da bin ich auf ein' Gedanken 'kommen und steh auf, und – alle waren still: ›Zu was haben wir ein Provisorium, meine Herrn? Die Leut' lachen, aber mir san ja alle provisorisch auf der Welt. Dem Schwerengang verleihen wir die Stell' nicht schlechthin,‹ hab i g'sagt, sondern provisorisch! Auf die Dauer eines Jahres, meine Herrn, und der Krutz führt den Titel »früherer Gemeinde-Lieferant« und verzichtet halt auf die Ausübung wegen Gesundheitsrücksichten! No, was sagen S' jetzt? Provisorisch ist immer gut! Das kost' uns nix und der andere is' still! –« Er wies mit dem Daumen nach dem fernen Krutz. – »Das hat eing'schlagen! Abstimmung! Schluß und fertig! – Küssen S' mir die Hand dafür!« –

»Hausherr! zehnmal küß i Ihnen die Hand, wann S' wollen!« rief Christel, und beging die liebenswürdigsten Sünden der Zunge, sie war hingerissen und dachte an den feierlichen Einzug in das Eschenhaus. Schwerengang aber dachte an den Krutz. »Was für eine Nacht wird er heute zubringen! Was wird sein Schicksal sein …?« Und er fühlte Mitleid mit dem Gegner, der nun öffentlich besiegt war. Die Christel schenkte Bier ein, daß es hoch aufschäumte, und schlug mit vollen Griffen die Harfe des Lobes: »Wann Sie net g'wesen wären, Hausherr! A so a Mann wie Sie – alleweil hab i's g'sagt – Sie haben a Herz fürs Volk! Am Bürgermeister seine Stell, da g'hören Sie hin! Na, na, das laß i mir net nehmen!«

»Lassen wir das gehen …«, wehrte der Gefeierte ab, »i bin kan Advokat, aber mit'm Krügl nimm i's auf!« Er schaute sich im Laden um und beobachtete den Wasserfleck. »Es ist wirklich Zeit, daß Sie da amal heraus kommen. Bin auch da herunten g'sessen. Vor dreißig Jahren. Und war auch froh, wie ich draußen war …« Er hob das Glas und sah mit einem Auge durch. Er wollte von seinem Leben erzählen, wie er von der unterischen Wohnung in den ersten Stock gekommen war; aber sein Lebensweg führte über das Köckeishaus. Er wollte es umgehen, er brachte es nicht fertig. Immer stieß er an das Köckeis-Haus … da stand die Christel als kleines Mädel davor. »Alstern 300 Gulden ist der Zins!«, sagte er laut und etwas unwirsch, stellte sein Bierglas auf den Tisch und empfahl sich plötzlich.


Frau Christel gluckste vor Vergnügen, als sie mit Hilfe ihres Mannes das grüne Ripssofa hinausgetragen hatte. Es wurde auf den Handwagen gehoben und lagerte als Krone über dem Hausrat, über Reindeln und Matratzen. Der »Muß« war da, die goldene Ausziehzeit, und obwohl die Christel sagte: einmal Ausziehen ist schlechter als drei Mal abbrennen – dieses Mal war sie Feuer und Flamme.

Fröstelnd stand das Sofa oben auf dem Wagen, denn dreiachsige Schneesternchen siedelten sich auf seiner grünen Haut an, bis auf einmal ein dünner weißer Rasen über den Mulden lag, worin vergangene Geschlechter gesessen hatten. Langsam kam der Finger eines Knaben zum Vorschein, der durch die frische Schneedecke fuhr, und zwei gekrümmte Gräben aufwarf: man las die Nummer 66. Dorthin führte der »Muß« das Sofa. Der Wagen knarrte, vorne zog ein Dienstmann an, und hinten kam als Ehrenwache die Christel, in der einen Hand die Petroleumlampe, in der andern den Glaskrug, und ärgerte sich über die Flocken, die sich auf ihre Herrschernase setzten und sie wie freche Fliegen kitzelten. Den Zug beschlossen die Männer der Familie, doch sah man nur einen Regenschirm, der sich auf vier Beinen fortbewegte: das eine Paar gehörte Herrn Grazian, der den Geigenkasten, das andre dem Vater, der die Taschenuhren trug.

Der hochbeladene Wagen zog tiefe Geleise in den braunen Schneequatsch, und es spritzte unter den Stiefeln. Je näher die Prozession mit ihrem Baldachin dem neuen Hause kam, desto heller schien der Tag zu werden. Es war ein rechtes Spätwinterwetter und wenn sich das Gewölk verschob, fiel ein Sonnenstrahl durch die wasserschweren Flocken: die Fenster blitzten und es strahlte wie von neuer Zeit.

Einige Tage später stellte Schwerengang behutsam ein Kunstwerk in die neue Auslage: eine Göttin aus cuivre poli, die mit der Zehenspitze auf dem Erdball stand und den andern Fuß zurückwarf. Sie streckte beide Arme, wie wenn sie etwas brächte, und von den Händen baumelten drei leere Ketten. Daran hängte er eine lapisblaue Kugel mit Messingzeigern und gelben Ziffern, die Ketten wurden straff, er gab der Kugel einen leichten Stoß und sie drehte sich im Kreise. Die Leute blieben vor dem Fenster stehen und sammelten sich an, denn in Döbling hatte noch niemand eine Zeittänzerin gesehen, nur die feinen Stadtuhrmacher hatten eine aus der Großhandlung des Herrn Graslitz, und sie verschönte nicht nur das ganze Fenster, sondern den ganzen Ort. Die Leute schauten in den neuen Laden, musterten das gelblackierte Portal und die Goldbuchstaben des Schildes: Ambros Schwerengang. Uhrmacher. Gemeindelieferant.

Gratulanten kamen: der Schrammel rückte an, der alte Köckeis erschien natürlich und auch Herr Feuerstein. Orion trat diesmal nicht mit feindseliger Absicht auf, sondern mit Blumen, und fragte nach der Christel. »Früher hat ma hinunter gehen müssen zu Ihnen, Herr Schwerengang, jetzt geht man drei Stufen herauf. Andre Zeiten. Und was Sie für a große Jahresuhr haben. Von Graslitz? Was hat sie gekostet?« Er musterte die Jahresuhr, die schweigsam und streng auf ihn herabblickte wie der große Kaiser auf dem Josefsplatz. Frau Christel stand im Wohnzimmer, hoch auf einer Leiter, die Füße in Hausschuhen, um den Kopf einen Turban, und richtete die Vorhänge. Es roch nach Firniß und das Mittelrund der Betten war poliert, daß es glänzte wie von zwei Sonnen. Die Christel ließ Orion nicht zu nah kommen. »I hab ka Zeit. I muß no' Betten klopfen!« Ein heller Geigenton kam aus dem Nebenzimmer und schallte in der leeren Wohnung. »Der Herr Grazian ist fleißig ob oben oder unten«, bemerkte Feuerschein. »G'nä Frau, hören Sie, mir sind doch wieder gut, und ma freit sich, wenn das andere heraus is' aus der Schlamastik. Ich werd' auch nicht ewig mit Hafer handeln. Nehmen Sie die Veigerl, na, nehmen Sie … Was ich sagen wollte: Nämlich, ich bin auch avanciert, gnä' Frau. Ich bin geworden Obmann von die Sparmeister. Jetzt geht es aus an andern Ton. Jetzt werden Sie was erleben! Man muß lenken können und das Geld vermehren, auf die Treffer passen! Und jetzt, wo ich die Fäden in der Hand halte – jetzt treten Sie doch bei dem Losverein? Na? Der Wlk ist auch schon beigetreten! Ums Brot muß man sich plagen und die Sorgen singen in alle Lagen. Manchmal an Oktav höher, manchmal tiefer – Herr Grazian versteht das – es is' immer das gleiche Lied!« Er hatte ihr die Veilchen hinaufgereicht, sie steckte sie an ihren Busen und er griff in der Vergeßlichkeit nach ihrem Fuß. Sie trat ihm auf die dicke Hand und blieb – gleichfalls aus Vergeßlichkeit – drauf stehen, bis er sie wegzog. »No, in der ersten Woche brauchens net glei Trübsal blasen! Aber i bin a guter Kerl. Meinswegen. Sollns Recht haben. Mir gehn in Losverein. Wird uns außareissen! Hab die Ehre!«

Am Abend, bevor sie zu Bett gingen, nahm der Uhrmacher die Christel an der Hand und führte sie in den Laden. »Siehst Du nichts?« Sie schaute herum. Auf einmal blieben ihre Blicke stecken. Sie hielt es nicht für Wirklichkeit. Ein Lächeln kam auf ihr Gesicht, ein Lächeln des Erkennens: da stand die alte Stockuhr. In der Ecke, ganz still, wie unten. Die Säulen aus Alabaster, das goldne Pendel, das treue Gesicht. Er hatte sie ausgelöst, und heimlich wie er sie fortgetragen wieder zurückgebracht.

»Bist a guter Kerl!« flüsterte die Christel und lehnte sich an ihn. Alles war so schön: die ehrenvolle Gegend, die große Wohnung und der Garten, die Tänzerin, der Titel – aber alles war viel schöner, seit die Sockuhr da stand. Und wenn die Christel erst entzückt war, – jetzt war sie dankbar.

»Bist a guter Kerl!«


Schon am dunkeln Morgen stand Frau Christel hinter der glasdurchsetzten Ladentür und lauerte. Sie paßte die erste Person ab, die herein kam: das hatte Wichtigkeit, das nahm Einfluß auf die ganze weitere Entwicklung des Geschäftes. Weswegen sie beim Lauern murmelte: »um Gottes willen – nur kein altes Weib!« Ein altes Weib wäre ein Verhängnis gewesen; aber was da kam, war noch viel ärger, denn es spottete jeder Deutung. Frau Christel hatte schon einige Kirchenweiber mit dem Blick verscheucht, als sich der Eingang verfinsterte: ein Mensch stand da, so lang wie ein Mast. Ihre Augen liefen an ihm hinauf und hinunter und sie murmelte mechanisch: »Guden … Tag …« Das mußte ein Gespenst sein, ein ausgekommener Narr, oder ein Riesenschwammerl. Bis zu den Knöcheln war er in einen Havelock gewickelt und auf dem Kopf saß etwas wie ein Hut. Er streckte feierlich den rechten Arm und verbeugte sich, indem er den Zipfel des Havelocks vor die Brust drückte. Dann zog er langsam eine Taschenuhr heraus und sprach in erschreckendem Baß: »Gott zum Gruß, Frau Schwägerin! Wirf Dein Aug' auf diese Uhr! Sie ist gestern stehn geblieben. Zum ersten Male stehngeblieben!«

»Jessas, der Wahnfriedrich!«, entfuhr es der Christel, »auf den haben wir gewartet!«

»Vertausch' sie nicht«, fuhr er unbeirrt fort, »verlier' sie nicht. Diese Uhr gehörte einst dem Meister!«

»Dem Meister?« fragte Schwerengang und verbiß ein nachsichtiges Lächeln. »Grüß Dich Gott, Fritz! Aber – welchem Meister?«

»Ich habe sie erworben aus dem Besitze Richard Wagners«, erwiderte der Bruder ruhig, »nicht, was Du Dir denkst …« Meister Schwerengang bekam eine dunkle Erinnerung: beim Bühneneingang der Hofoper war einmal ein kleiner Mann gestanden, der auf der Geiernase einen goldnen Zwicker trug, und alle grüßten diesen Mann wie den Kaiser: Richard Wagner. Nun hatte ein leibhaftiger Mensch den Namen ausgesprochen, seine Uhr lag da, und es brandete heran wie von den Küsten einer fernen Riesenzauberwelt.

»Der ist in Döbling nicht bekannt«, warf die Christel völlig unergriffen ein, um mangelnden Anteil zu bekunden. Sie drehte ihm den Rücken. »Ja, so berühmt wie der Herr Schrammel ist Wagner nicht«, sagte Wahnfriedrich zuvorkommend und nickte den Rücken merkwürdig an. Grazian schnitt hinter seinem Onkel ein Gesicht wie der Drache von China, denn der Onkel trug gar keinen Hut: es sah zwar so aus, aber war ein wahnsinniger Haarbusch, der breit und verfilzt wie eine Krämpe stand. Die Mutter nahm ihm das Wort vom Munde. »Du Fritzonkel«, bemerkte sie wie beiläufig, »könnst Du Dir nicht a mal die Haar schneiden lassen? Mir scheint, es is' schon lang her. Oder is das heuer Mod'?« Wahnfriedrich ging auf die Toilettefrage nicht ein; sondern untersuchte den Grazian mit einem langen Blicke und sprach: »Also das ist Euer Paganini. Kein übler Bursch. Künstlermasche natürlich, Künstlerschopf. Glänzender Erfolg. Großes Renommé. Aber – unter uns –« er senkte die Stimme vertraulich, – »kann er auch etwas?« Das war ein Stich, und die Christel zuckte beleidigt die Achseln. »Ja, wer ihn gehört hat, braucht net erst fragen.« Sie verschränkte die Arme und klopfte mit dem Fuß. Dann wurde ihre Stimme nähnadelspitz: »Wenn man es natürlich nicht der Mühe wert findet … Er hat ja g'spielt beim Wendl, vor ganz Döbling! Prifatkonzerte gibt er nicht!«

»Na, warum«, sagte ihr Mann beschwichtigend, während er an der Wagner-Uhr horchte, »der Grazian kann ja dem Onkel einmal etwas vorspielen. Damit der Fritz sieht! Würde mich int'ressieren, was der Fritz sagt. Du! Na?« »Ich? O, bitte mit Vergnügen!« rief Grazian. Er verbeugte sich einladend und öffnete die Arme. »Wenn der Onkel will! Aber bitte! Auch auf drei Saiten meinetwegen. Bitte nur zu sagen!«

Er machte wiederholte kecke Verbeugungen.

– »Gut, Söhnchen, gut«, erwiderte Wahnfriedrich, »nur immer Mut! Dann wird es schon gelingen! Also, wenn ich wieder komme, schneidest Du keine Gesichter hinter meinem Rücken, sondern nimmst schön die Geige und gehst mit mir ins Spechtenhaus. Gott zum Gruß, Frau Schwägerin, und gebt mir auf die Uhr acht!« Er schritt zur Tür, kehrte aber wieder um und sagte: »Wenn der junge Herr besteht – dann bekommt er etwas aus meinem Geschäft, sagen wir eine Partitur! Wenn aber nicht, wenn die Perle der Familie sich als falsch erweist – liebe Christel, man redet nur davon – nun, dann macht Ihr mir die Uhr umsonst!« Und huldvoll hob er den Arm, die Hand wippte einige Abschiedsgrüße, und er rauschte ab.

Mutter und Sohn schauten einander in die Augen. Grazian zog die Mundwinkel herab und machte schauerlich tragische Falten. Die Christel setzte sich in der Luft nieder und schlug mit der Hand auf den Schenkel. Dann platzte sie heraus: »Ein Narrentattel! Ein kompletter!« Und tupfte mit dem Finger auf die Stirn. Dann aber wurde sie böse und grollte dem Verschwundenen nach: »Wenn ich wenigstens wüßt', was das zu bedeuten hat? Ein altes Weib wars nicht, und a hübscher junger Mann g'wiß net. Das ist sicher: das erste Geld bringt der amal net. A gute Ausred' hat er schon im Vorhinein. Was, Grazi?!« Und schlug ihm anerkennend auf die Schulter.


An einem milden Abend kam der Onkel aus der Stadt, holte seine Wagner-Uhr und nahm den Grazian mit sich. Sie gingen die Hauptstraße hinauf und Grazian tat anfänglich so, wie wenn er nicht zu Wahnfriedrich gehöre, er schaute in die Luft, ließ Abstände entstehen, denn die Leute machten so komische Augen, wenn sie den Pilger mit der Dantenase schauten. Am obern Ende, gegenüber dem Schwarzen Adler, verlor sich die Straße in einen Engpaß und über uralte, dicke Gartenmauern beugten sich Bocksdornbüsche nieder, und mit langen Fingern berührte der Teufelszwirn das Haupthaar des still Wandelnden. Sie kamen eben zu einem breiten Hause, es war zur Rechten das Biederhaus, als Wahnfriedrich den voranlaufenden Grazian plötzlich anrief: »Halt! Fermate! Coron'!« Erschrocken blieb der Angerufene stehen. »Da geht man nicht vorüber wie überall. Unter diesem Schindeldach wurde die Eroica geschrieben! Bitte, wann?« Und da Grazian verlegen zu ihm aufschaute, gab Wahnfriedrich selbst die Antwort: »1803! Im Lenz! Also gut! Hier sollte eine Kirche stehen, und der dicke Herr von Bieder steht vorm Haus und schmunzelt mich lieblich an. Ehrt Eure deutschen Meister! Also, euer Liebden, ziehen Sie wenigstens den Hut!«

Grazian zog etwas eingeschüchtert den Kalabreser. »Fermate! Coron'! Aushalten!« Abermals mußte er stehen bleiben. »Dieses Haus hier links, wo wir stehen,« erörterte der Onkel, »ja, schau es nur an – dieses Haus kann sagen: bei mir hat Herr Theodor Körner gedichtet und gewohnt. Begreifst Du? Und das Gartenschloß da vorne – Palais Wertheimstein – mein Lieber! das kann wieder sagen: bei mir ist auch ein Herr von zu Hause – – der Herr von Bauernfeld. Also grüßen! So. Jetzt schauen wir weiter.«

Die Straße fiel plötzlich in die Tiefe, ein Bachgemurmel klang herauf und der Wahnfriedrich zeigte auf einige Häuser: unten war das alte Nußwaldel, das Beethoven noch gesehen hatte. Dann bogen sie links herum ums Körnerhaus und gingen eine Gasse, die nicht zum Abkürzen, sondern zum Verlängern der Gehlust diente, zwischen Planken, unter niedern silbergrau verschindelten Dächern, die man greifen konnte: ein rechter lustiger, verliebter Weg, und verstohlen wie ein Diebsweg, und wenn der Grazian nicht etwas eingeschüchtert gewesen wäre, hätte er gesungen.

»Hier bin ich zu Hause«, sagte Wahnfriedrich. Sie standen vor einem engen Pförtchen und traten ein. Im Abwärtsschreiten dachte Grazian: »Das Haus steht auf dem Kopf! Es fängt ja mit dem Dache an? Wie der Herr Onkel: ganz verdreht. Ein anständiges Haus fängt doch mit dem Keller an, dann kommt – nicht wahr – das Erdgeschoß, der erste Stock und so –« sie aber stiegen die Wendeltreppe hinunter in den ersten Stock. Wahnfriedrich sperrte eine Türe auf und ließ den Grazian vorangehen.

Grazian blieb wie geblendet stehen. Denn fast nirgends sah er Wände: er sah nur Fenster, vorne, rechts und links, und die Helle schoß in vollen Strömen herein. Das Häuschen lag am Hang des Hügels und sein Bewohner wohnte wie der Specht am Baum, weshalb es Spechtenhäuserl hieß.

Der Onkel führte ihn an der Schulter durch den großen Saal an die offenen Fenster. Da lag die lichte Welt.

Links schaute man geradeaus in den Himmel (denn das ist der Berg, der hinter Sievering sein Haupt erhebt), und auf der andern Seite steckte der Leopoldsberg seine Nase zum Fenster herein, die Mergelschiefernase, die so bergab in die Donaubreite stürzt. Der Onkel deutete mit dem Zeigefinger auf die Schloßgebäude, die ganz winzig und weiß auf der Stirn des braven Berges standen. »Supercilia Istri!« erklärte er, »die Augenwimpern des Donauwächters.« Sie standen eine Weile in den Anblick versunken. Dann sprach der Onkel: »So lange kenne ich die alten Wälder, und so oft ich sie wiedersehe, sind sie schöner geworden. Es lebt in ihnen, sie haben Geschichte. In der Nacht kommen sie still ans Fenster, da sind sie am schönsten. Schläfst Du auch bei offenem Fenster?«

»Onkel, kannst Du auch spielen?«, unterbrach Grazian, denn er fürchtete neue Fragen, auf die er keine Antwort wußte.

»Nein … spielen? Nur so ein wenig, ganz für mich«, sagte Wahnfriedrich gedehnt. Er ging ans Klavier, öffnete es und begann. Grazian erschrak. Es klang so weltgewaltig, daß er glaubte, die Berge hätten sich erhoben und tönten wie Glocken in den Saal, und der Sturm durchfuhr die Riesenharfe der himmelhohen Bäume. Er schaute den Onkel an, der das mächtige Haupt zurückwarf und mit schwelgendem Lächeln zur Decke blickte. Aus seinen Fingern wuchs und wuchs es: das Haus stand in Musik. Der Onkel sprang auf und schritt durch den Saal. Er schlug die Hände in die Löwenmähne. »Das badet!«, murmelte er und schien ganz ferne zu sein.

»Du blutest ja, Onkel!«, rief Grazian, »schau!« und nahm sein Taschentuch, um das Blut zu stillen, das unter einem umgebrochenen Nagel aus dem Finger sickerte. »Was war das?«, fragte er ganz leise, während er den Finger besah, und deutete aufs Klavier.

»Was das war? Verbotene Musik! Siegfrieds Schwertschlag, vor dem die Professoren zittern! Das Lied vom freien Helden! Das spielt Dein Onkel …« Er schlug ärgerlich mit der Hand und sagte in barschem Tone: »Ach, Du sollst spielen, nicht ich. Fanget an!«

Zögernd holte Grazian die Geige und stellte sich in die Mitte des Saales, aber die roten Widerscheine des Abends fielen ihm in die Augen, und er kehrte den Fenstern den Rücken. Er legte die Backe schief und begann. Es klang nicht recht. Es klang so dünn und winselnd: die schöne Geige war wie verhext. In seinem Ohr hallte noch der Donner des Klaviers. Und dann – ein sonderbares Publikum: der Onkel schien gar nicht zuzuhören. Er war auf die Handleiter gestiegen und suchte oben auf den Spinden, die die Tür umkleideten, mit Notenheften angefüllt, Band an Band. Und auf den Spinden diese weißen Büsten, die mit toten oder stieren Augen, finster oder gelangweilt, schauten. Auch der Onkel warf einmal einen Blick herab, wie wenn er Gift geschluckt hätte. Nie hatte es so jammervoll geklungen, und je zorniger sich Grazian bemühte, desto schöner kratzte es. Und mit einem Male fing ein Läuten an: die Abendglocken dröhnten herein, es war ein gräßlicher Kling-klang von Schaben, Fiedeln und Gebimmel. Er riß die Geige vom Hals und warf zornig die Achseln, wie wenn er sagen wollte: es geht nicht, ich kann nichts dafür!

Der Onkel stieg mit zwei schwarzen Heften von der Leiter, schlug sie aufs Knie, daß der Staub flog, und stellte ein Notenpult vor den Grazian. Er setzte sich ans Klavier und wartete wortlos, bis das Abendläuten verhallt war. Das schwarze Heft trug einen zierlich ausgeschnittenen Schild. Nummer zehn! befahl der Onkel, und Grazian schlug Nummer zehn auf. O, das hatte er schon einmal gespielt, es war kinderleicht, das brachte er schon fertig. Und »fest geschmiert« nahm er die Sonate. Das Klavier fiel donnernd ein, Gott sei Dank, das ging.

»Haaalt! Fermate! Coron!« Was war? »Unter diesem Zeichen schwelgt die Melodie im eigenen Geist!«, schrie der Onkel herüber, »noch einmal!« Notgedrungen wiederholte Grazian die Fermate und eine Weile ging es wieder vorwärts. Hie und da nickte der bewaldete Schädel billigend, aber gleich fuhr die Trompetenstimme dazwischen: »Haaalt!« Und die Sonate holperte elend, jeden zweiten Takt war sie am Umkippen, der Onkel nahm an allem Anstoß. »O, Genie, o Perle des Jahrhunderts! Beethoven ist kein Schrammel!« Grazian bebte, ein spitzer Haß erfaßte ihn, so oft er dieses »Haaalt!« hörte: das war Absicht. Er ließ sich nicht mehr unterbrechen, und wenn ihm selbst auch davor graute, wie er heute geigte, er stemmte sich dagegen, er biß die Zähne aufeinander, es war ein Ringkampf mit dem Onkel, verzweifelt wie auf Tod und Leben, der Onkel sollte sehen, wer stärker war – auf einmal flog er aus dem Takt. Es ging nicht weiter. Besiegt. Jämmerlich geworfen! Und außer sich vor Ingrimm schleuderte er den Bogen weit in eine Ecke.

» Tacet, tacet«, sagte der Onkel und nickte gelassen über die Schulter, wie wenn er es erwartet hätte. »Nun, mein Sohn filius, sag mir einmal: wie gibt man den Viervierteltakt? Weißt Du das?« Und als Grazian die Fäuste ballte und schwieg, trat er hinter ihn, nahm seinen Arm wie einen Taktstock und machte damit die Bewegung. »Hinunter – zum Herzen – vom Herzen – und hinauf! Merk Dir das, es ist auch sonst zu brauchen!« Grazian kam sich wie ein Lehrjunge vor: Es preßte ihm die Tränen in die Augen, er warf sich mit den Armen auf den Rücken des Klaviers und verbarg den heißen Kopf. Aber der Onkel nahm keine Rücksicht darauf. »Glaubst Du vielleicht, das ist schon etwas, wenn man vor Tanten und Verwandten fiedelt, vergnügte Gipsköpfe bezaubert? Spiele immer so, hat der … ich weiß nicht wer … gesagt, daß der eine Mann im Saale, der es versteht, zufrieden ist!«

»Bitte, der Schrammel« versetzte Grazian vorwurfsvoll, »ist mit mir immer zufrieden!«

»O, heiliger Schrammel! O, ewig glücklicher Walzer, der unter Rosen weidet! Der Tannhäuser vom Nußberg! Braver Musikant! Ein Gott gab ihm zu sagen, was er nicht leidet! Höre ihm gerne zu; aber leben, siehst Du, kann ich ohne ihn!« Er kam heran und redete eindringlich, immer wilder und erregter: »Der Mensch soll nicht nur tanzen. Er muß auch knieen! Du beklagst Dich über mich – klage über Dich! Nicht con amore wird die Welt erobert, sondern mit der Liebe: mit Deinem Blut und Deinen Tränen, den Schauern fröstelnder Nächte. Denn Liebe heißt: Härte haben wider sich! Schau die Männer dort oben, die litten für unsre Freuden! Beim Wäschebügeln beginnt der Fidelio und endet mit einem Kerkersprengen! Aus dem Philisterium hinauf zum Empyreum! Aus den Tiefen der Not zum Äther der Welt! Das ist die Linie aller Tüchtigen! Beginnen beim Handwerk, aber endigen – beim Menschheits-Beruf!«

Grazian hatte den Kopf langsam gehoben, während Wahnfriedrich so sprach. In seinen Augen entzündete sich ein Leuchten, ein Krampf durchschütterte seinen Körper. Wahnfriedrich ging ins Nebenzimmer und schlug die Tür zu. Taumelnd folgte ihm der Jüngling, er riß die Tür auf – wie wunderbar! –: Die beiden Seitenwände des Gemaches waren ganz behangen mit Theaterzetteln und Konzertprogrammen, dazwischen Bilder von Helden und Heldinnen, die Leiber gepanzert, die Häupter in Flügelhelmen, die Locken quollen herab. Er trat zitternd über die Schwelle. In der Mitte ein langer Tisch, belegt mit Büchern, Briefen, Noten, Medaillen, Zeitungen in Mappen. An der Stirnwand aber stand eine schimmernde Figur. Vom roten Abendschein überglüht, leuchtete der Stein … es war ein Held, dem Flügel aus dem Rücken wuchsen. Alles schien an dieser Gestalt zu fliegen: die Arme, die sich in die Luft hoben, und die Füße, die sich gerade vom Boden schwangen. Das Haar umflatterte den Kopf, und die Rechte holte mit dem Hammer weit zum Schlage aus. Ein Weib kniete zurückgebeugt, sie warf die Arme auseinander und schaute zu dem Flieger auf. Der Sockel aber war beschrieben: Der Schmied der deutschen Kunst.

Es war in diesem Raum feierlich, wie in einer Kapelle, und die Figur war der Altar. Grazians Gesicht erglühte schwärmerisch, er streckte die Arme nach dem Onkel.

»Verzeih' mir«, rief er, »hörst Du! Stoß mich nicht weg! Laß mich bei Dir sein! Lehre mich, zeig' mir das Große!«

Erschrocken drehte sich Wahnfriedrich um. Wie sah der Knabe aus! »Heiliger Sechter und Rameau …!«, murmelte der Onkel halb verlegen, halb ärgerlich, »das ist tief gegangen …« Und flog ihm entgegen und schloß den sehnsuchtswirren Knaben mit beiden Armen fest an seine Brust.


Am späten Abend saß Wahnfriedrich allein mit einem Buch am Tisch, worauf sein einfaches Mahl stand: Früchte, Nüsse, Brot und Wein.

Mitunter schaute er auf und vergaß das Leben: sonderbare Gedanken klangen dazwischen. Es klopfte leise, und vorsichtig steckte jemand den Kopf zur Tür herein; Wahnfriedrich hob die Lampe: es war sein Bruder. »Nun, wo ist er denn? Schon fort? Wie?« Der Uhrmacher lächelte zuversichtlich und trat ein. Wahnfriedrich begrüßte ihn und tat, als ob nichts vorgefallen wäre. »Das ist schön, setz Dich her!«

Der Uhrmacher folgte der Einladung; aber sein Bruder las ruhig weiter. Nach einer Weile fragte Ambros von neuem: »Also, was ist denn mit dem Buben? Du sagst ja gar nichts! Du bist so merkwürdig …«

Wahnfriedrich warf das Buch auf den Tisch und stand auf. Er ging mit großen Schritten auf und ab, die Hände auf dem Rücken. Er brummte etwas vor sich hin, und der Uhrmacher verstand nur halbe Worte.

Verletzt erhob sich Vater Ambros: »Du bist wirklich, was die Leute …«

»Ja, verstehst Du nicht …? Du hast doch auch ein Kind. Deine Tochter wird Dir auch …«

»Schweig!« donnerte der Bruder, »davon schweig für immer …!«

Er war totenblaß geworden und sah mit einem Blick des Entsetzens auf den Bruder. Seine Brust arbeitete heftig und er preßte sie mit den Händen nieder. Dann faßte er sich und nahm gewaltsam seine Ruhe an. Er wollte etwas freundliches sagen. »Da liegt noch der Bogen des Paganini …«, knurrte er, nimm ihn mit. Adieu!« Ganz bestürzt holte der Uhrmacher den Bogen aus der Ecke, nahm die Geige vom Klavier und schlich hinaus.

Wahnfriedrich schaute lange in den Lampenschein. Dann sank er langsam in den Sessel und vergrub sein Antlitz in den Händen. Und konnte an nichts andres denken, als an Grazian, den er so schwer besiegt hatte und dessen Augen ihn immerfort zu bitten schienen: »Stoß mich nicht weg!«


Je mehr sich Wahnfriedrich mit dem Grazian beschäftigte, desto dankbarer war er ihm. Was er schweigend mit sich getragen hatte, was niemand mitverstehen konnte, worüber alle lächelten – hier hatte es einer eingesogen, wie der dürre Acker den Frühlingsregen. Er konnte einen Menschen bilden, ein frisches gläubiges Gemüt der heiligen Angelegenheit zuführen, und war es nicht eine Aufgabe? Wie hatte ihn der Jüngling angesehen! Wie einer, der mit der Fahne voranlaufen möchte! Wahnfriedrich dachte daran mit Freude und mit Schmerz. Er selbst war ja im Leben stecken geblieben. Was hatte er nicht wollen, was war er nicht gewesen, wie wenig hatte er vollbracht! Kapellmeister, Schmierant, Direktor in Komorn, in Neusatz, Coupletdichter und zuletzt – Coupletverkäufer: Musikalienhändler! Und wenn die Leute lächelten – in diesen Stunden fragte er sich: lächelten sie so ganz mit Unrecht? Diese drollige Heirat, dieses Leben mit einem Geschöpf, das unter ihm stand und ihn doch beherrschte … Bis eines Tages alles in Scherben lag: er war allein wie vordem, ohne Weib, ohne Kind, ohne Freund, und – ohne Zweck in dieser Welt. Die Wielandschwinge war gebrochen, und der Flieger lag am Boden, wimmernd, lahm und welk. Da aber war es über ihn gekommen im Schauer eines einzigen Erlebnisses, und das Erlebnis trug den Namen: Richard Wagner. Das war der Schmied, der neue Schwingen schuf; die deutsche Kunst, die eine neue Form des deutschen Lebens war und wer nicht groß im Wirken war, – wie wenigen ist es doch gegönnt! – der konnte im Empfinden groß sein. Und so war Friedrich Schwerengang genesen. Wie die Anachoreten in die Wüste, so floh er nach Bayreuth. Er hatte seine Grille: er fuhr nicht mit der Eisenbahn wie die Bequemen, es sollte eine Pilgerfahrt sein – er ging den Weg zu Fuß. Doch vor dem Haus des Gewaltigen, zu dem ihn Sehnsucht getrieben, kehrte er um: er scheute sich, den Mann zu sehen, von dem er Leben hatte und für den er lebte, seine Ehrfurcht siegte über seine Neugier. Er verehrte schweigend, und die Leute fanden für den wunderlichen Pilger den Namen Wahnfriedrich.

Da war nun dieser junge Mensch gekommen und hatte in Angst und Tapferkeit gespielt und schloß sich an ihn an mit seinem ganzen Herzen. Er nahm von ihm die Einsamkeit, er war sein Anhang, seine Partei – konnte er nicht alles Hohe, die Sonnengedanken seiner Seele in dies Herz pflanzen und in dieser Tat sich selbst beglücken? Mußte er nicht dankbar sein, hatte dieser Junge nicht ihn, den Alten gelehrt? Nein, er wollte sein Erkennen nicht verschließen in Geiz und Hochmut, wie eine Münze, die man nicht ausgibt, er wollte helfen, daß ein Wuchs ward, groß und schlank, zum Licht hinauf wie alles Tüchtige. »Wirke, solang es Tag ist!«

Einige Tage später erschien Wahnfriedrich im Gewölbe Schwerengangs, wo die ganze Familie versammelt war und eben Kriegsrat zu halten schien. Man empfing ihn mit feindlichen Mienen. Er tat, als ob er nichts bemerke, und fragte nach dem Grazian. »Ich habe ihm etwas mitgebracht«, sagte er, und holte einen schön gebundenen Klavierauszug aus den Tiefen des Havelocks. »Das gehört für ihn – – wo ist er denn?« Er legte das Geschenk auf den Ladentisch.

Allgemeines Schweigen. »Ohn' Antwort ist der Ruf verhallt« murmelte er, ohne Verständnis hervorzurufen, und traf seine Schwägerin mit einem starken Blick. – »Und dann, liebe Christel, verrat' mir: was bin ich denn schuldig? Ich muß ja meine Uhr bezahlen! Ich habe doch verloren!« Die kriegsbereite Christel fühlte sich zur Hälfte lahm werden, sie übersah die Lage nicht, doch auf jeden Fall erinnerte sie sich rasch. »Ja, die Uhr … Du willst –? Die Uhr is' zwei Gulden fünfzig Kreuzer!« Dann aber erstarkte sie wieder und voll gerüstet ging sie auf ihn los. »Ja, sag amal, was hast denn Du mit meinem Buben g'macht? Du hast ihm ja ganz den Kopf verdreht! Ich brauch' Dein Geld net! G'halt Dirs! Er ißt nix, trinkt nix, sitzt den ganzen Tag, den Kopf in die Noten, redt nix mehr mit uns – –«

»Auf einmal verstengan mir nix!« unterbrach sie knurrend der alte Köckeis und zeigte mit dem Daumen abschätzig nach dem abwesenden Kritiker. »Mir verstengan a was von die Tanz', mehr als g'wisse Leut', mir …«

»Lauter dummes Zeug schwalbelt er« fuhr die Christel ungeduldig fort, »der Meeei–ster und der Schwertschlag und wieder der Meeei–ster und Blödsinn übereinand. Jetzt hätt' er beim Schrammel so schön verdienen können – net wahr, Herr Schrammel? – und Du, Du –« sie fand im Zorn keine genügend schwere Beleidigung, holte das Taschentuch hervor und blies hinein und schluchzte: »Drei Gulden fünfzig Kreuzer is' für die Uhr, daß D' es weißt!«

»Also wart, da ist das Geld!« Er suchte in den Taschen. – »O, hab die Ehre, Meister Schrammel, Sie auch da?«

»Ja freilich, Herr Onkel« sagte Schrammel und erhob sich von seinem Plüschstockerl, wo er neben Köckeis gesessen hatte. Er sah besuchsmäßig aus und hielt einen feierlichen Zylinder in der Hand; doch schien er zur Familie zu gehören. »Ja wol bin ich da, und aufrichtig g'sagt – wegen Ihnen bin ich da!« Er hob anklagend den dicken kurzen Zeigefinger. »Was erzählen Sie dem Buben für Sachen? Mein' Schüler? Wagner, Wagner! Was versteht denn der davon?«

»Verstehen Sie's? Wissen Sie mir einen Bessern?« fragte der Wahnfriedrich und richtete sich hoch auf.

»Tun S' Ihnen nur nix an!«, sprudelte es aus dem Munde des kleinen Geigers. »Der Wagner! Habe die Ehre!« Er war geladen und schwang den Zylinder. »Jeder ordentliche Komponist muß einmal einen Walzer gemacht haben, verstehen's? Und hat er ein'? Alle haben ein' g'macht. Sogar der Beethofen, wissen S'! Was hat denn der Wagner? Lärm hat er g'macht, net amal a Simfonie bringt er z'samm! Opern, Opern, nix als Opern!« Er suchte die Zustimmung der Frau Christel und fand sie auch. »Sixt es?« sagte sie zu Wahnfriedrich und deutete auf den Schrammel als klassischen Zeugen. »Mein Lieber«, entgegnete Wahnfriedrich ganz gelassen, »Wagner!« Er schlug die Augen wissend zum Himmel auf. »Wer wie Wagner eine Krone auf dem Kopf trägt, braucht sich keine Zylinder aufzusetzen!«

Der Schrammel hieb sich geärgert den Hut auf den Kopf, Köckeis lärmte wie ein volles Orchester beim Stimmen. »Bitte, nicht so laut!« mahnte der Uhrmacher verlegen und schloß die Ladentür, »die Leut' bleiben stehen!«

Wahnfriedrich aber zählte das Geld auf den Ladentisch und fragte die glühende Christel: »Was sagst Du? Er geigt nicht mehr?«

»Naa, kan Strich mehr. Drei Gulden – fufzig – stimmt.« Sie wischte ihre Tränen. »Kan Strich mehr …! I habs ja glei g'sagt, Du bringst nur Pech herein! Kan Strich mehr …!« Sie brachte das Geld in Sicherheit.

»So, so«, erwiderte Wahnfriedrich, »er geigt nicht mehr. Nun 's ist gut. Dann ist er auf dem rechten Weg!«

Er schritt hinaus mit weiten Augen, hoch und zuversichtlich.


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