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Blutrache.

Von Rebecca Harding Davis.

Seit zwei Tagen bereits hatte Lucy Coyt ihr Elternhaus verlassen. Sie hatte sich längst darnach gesehnt, auf eigenen Füßen zu stehen und dampfte nun durch das sonnige Virginien, um irgendwo in einer verlorenen Gegend die Töchter reicher Baumwollenpflanzer, für die sie als Lehrerin engagiert war, zu unterrichten. Der Zug jagte gerade über eine gewaltige Brücke, von der aus sich dem trunkenen Auge das herrliche Bild einer entzückenden Landschaft bot, als plötzlich der schrille Ton der Dampfpfeife und das Knarren der Bremsen die Passagiere und Lucy dazu aus ihrer Unterhaltung oder ihren Gedanken aufschreckte.

»Was ist?« rief es durcheinander. Man riß an den Fenstern.

Man sah nichts weiter, als ein Bündel von grauem Flanell und gelbem Leinen, auf das einige Männer zueilten.

»'s ist die alte Frau Crockers,« meinte der Zugführer, welcher der erste am Platze war. »Da drüben liegt ihre Hütte. Ich sah sie auf der Brücke. Vermutlich sprang sie hinunter, als sie den Zug kommen hörte.«

Während sich immer mehr Reisende um die ohnmächtig daliegende Frau sammelten, war auch Lucy herbeigeeilt.

Ohne sich zu besinnen, kniete sie neben der Alten nieder, bettete das blutüberströmte Haupt in ihren Schoß und rief: »Ist denn kein Doktor hier?«

»Ich bin Arzt!« antwortete ihr einer der Passagiere und beugte sich neben Lucy zu der wie leblos Daliegenden herab, um sie zu unterstützen.

»Sie ist wunderbar davongekommen,« äußerte er nach wenigen Minuten. »Abgesehen von der Kopfwunde, hat sie nur den Arm verstaucht.«

Inzwischen kehrte der alten Frau die Besinnung zurück.

»Vorwärts!« mahnte der Zugführer. »Der Expreßzug ist in zwei Minuten fällig. Wir müssen weiter.«

Lucy und der Doktor blieben zurück. »Lassen Sie sich nicht stören. Wir werden für die Frau sorgen,« erwiderte sie dem Drängenden, und mit größter Muße widmeten sich dann beide der Pflege der Verwundeten, die sie nach ihrer Hütte geleiteten.

»Was haben Sie denn hier in Virginien zu tun?« fragte plötzlich der Doktor.

»Ich gedenke in Otoga die Stelle einer Lehrerin zu bekleiden,« entgegnete Lucy.

»Haben Sie Freunde in der Gegend?« forschte Frau Crockers.

Nein!«

»Mein Sohn Orlando lebt dort,« fuhr die Alte fort. »Mir scheint, daß ich mich von dem Orte fern halten würde, wenn ich ein junges Mädchen wäre. Orlan hat mir allerhand Dinge erzählt.«

»O, das interessiert mich!« rief Lucy. »Bitte erzählen Sie!«

»Da ist nichts weiter zu erzählen. Die van Cleves leben dort. Sie haben natürlich von denen gehört?«

»Von den van Cleves? Nein!«

Der Doktor verließ hastig die Hütte.

»Sie werden Ihnen wohl nichts zu Leide tun. Es gibt keine hochsinnigeren Leute als die van Cleves und die Suydams. Nur leben sie zuweilen in einer unliebsamen Art von Krieg. Sehen Sie,« – die Alte zündete sich gemächlich eine Pfeife an einem Holzscheit an, – »die zwei Familien haben sich schon vor hundert Jahren den Tod geschworen, und seitdem ist kein Mann aus einer derselben in seinem Bette gestorben. Sie lebten in Tennessee. Orlan hat mir die ganze Sache erzählt. Vier Brüder der van Cleves belagerten einige Suydams fünf Wochen lang in ihrem Hause, und als sie säst verhungert waren und herauskrochen, da schossen sie sie tot. Das waren die Großväter der jetzt Lebenden. Aber sie haben ihre Sache so weitergeführt. Jeder Mann aus ihrem Geschlechte ist in seinen Stiefeln gestorben; 's ist nur ein Suydam übriggeblieben, und das ist Cunnel Abram. Sein Vater ist von den van Cleves erschossen worden. Und als Abram noch ein Junge war, sagte er: ›Nun werde ich die ganze Geschichte zu Ende bringen.‹ So fing er an, sich im Pistolenschießen zu üben, und als er dachte, er wäre so weit, da forderte er den Richter van Cleve und schoß ihm das Blei mitten durch den Kopf. O, Orlan sagt, es war ein ehrlicher Zweikampf, kein hinterlistiger Mord. Nun waren noch zwei van Cleves übrig, schmucke Bürschchen, Neffen des Richters, und die waren nach Kalifornien gegangen. Aber Cunnel Abram folgte ihnen und erschoß den einen auf dem Deck eines Schiffes, das nach China ging. Der andere ist ihm listig entwischt und lebt in Otoga. Aber man wird ihn finden. Cunnel Abram wird ihn ausspüren!«

Dabei bewegte sie den Kopf aufgeregt hin und her.

»Aber gibt's denn hier gar keine Gesetze?« rief Lucy. »Ich kann mir gar nicht denken, daß solch ein schlechter Kerl irgendwo herumlaufen kann, ohne gehenkt zu werden.«

Der Doktor klopfte an das Fenster. »Der Zug ist in Sicht. Sie müssen sich von unserer Freundin verabschieden.«

Lucy schüttelte der alten Frau hastig die Hand und eilte, von deren Segenswünschen begleitet, hinaus.

Als sie den Zug bestiegen hatten, ordnete der Doktor ihren Sitz in sanfter, gemächlicher Weise und brachte ihr die Richmonder Zeitung der letzten Woche. Er nahm nicht, wie sie erwartet hatte, den leeren Sitz an ihrer Seite ein, sondern verschwand und erschien erst wieder, als der Zug in Abingdon anlangte. Dann sagte er:

»Dieser Wagen wird Sie nach dem Hotel bringen, mein liebes Fräulein. Ich habe dem Wirt ein paar Zeilen geschrieben, und er wird Ihnen jede Aufmerksamkeit erweisen. Nein, keinen Dank!« dabei schlug er die Wagentür zu, und sein behäbiges, angenehmes Gesicht schaute noch einen Augenblick lächelnd herein. Er bot ihr nicht die Hand, wie doch alle die Herren aus Lucys Bekanntschaft es getan haben würden. Er lüftete den Hut und zögerte einen Augenblick, bevor er halb widerwillig hinzufügte: »Es ist wahrscheinlich, daß ich Ihnen wieder begegnen werde. Meine Geschäfte rufen mich nach Otoga.«

Lucy verbeugte sich höflich, doch als der Wagen durch die Straße rasselte, lachte sie laut auf und errötete. Sie wußte selbst nicht warum. Es war sicherlich sehr gefährlich für ein junges Mädchen, sich so unter Mörder und Totschläger zu wagen.

Drei Tage, nachdem Lucy Abingdon verlassen hatte, rumpelte sie in einem alten Wagen an den Berghängen hin und sah dann ein Dutzend graue, verwitterte Häuser, die sich an der Kante einer Krümmung der Schlucht unten aneinander schmiegten.

»Da liegt Otoga,« sagte der Kutscher, indem er mit der Peitsche darauf hinwies.

»He, Dumfort!« rief eine Männerstimme. »Haltet an!« Ein kräftiger, junger Bursche in nußbraunem Flanell erschien im Unterholze. »Ihr könnt nicht nach Otoga. Das gelbe Fieber ist schon vor euch da. Seit gestern früh sechs Tote.«

»Der Kuckuck auch!« Dumfort hielt die Maulesel an.

Lucy, die durch das Fenster guckte, konnte das frische Gesicht des jungen Landmannes sehen, der ihren Kutscher, angehalten hatte. Er strich sich eben seinen roten Bart und krauste die Stirn aus schicklichem Bedauern für seine Nächsten.

»Ich habe auch die Post. Und 'nen Passagier,« sagte Dumfort, indem er den Kopf nach dem Wagen zurückbog. »Was um alles in der Welt soll ich denn tun?«

»Die Post verdirbt nicht. Fahr nach meinem Hause, und meine Frau gibt euch und dem andern Manne Unterschlupf bis morgen früh.«

»'s ist kein anderer Mann!«

Der junge Farmer trat mit einer sofortigen Änderung seines Benehmens vor. Er nahm seinen durchsteppten, breitrandigen Hut ab: »Ich wußte nicht, daß eine Dame darin wäre,« sagte er. »Ich habe meine Neuigkeiten in zu rauher Weise vorgebracht. Kommen Sie nach meinem Hause! Meine Frau wird Ihnen sagen, daß keine Gefahr vorliegt.«

»Ich werde sehr gern dorthin gehen,« entgegnete Lucy.

Dumfort fuhr einen holprigen Bergpfad hinaus und hielt vor einem Blockhause. Lucy trat in dasselbe ein. Alles darin war höchst einfach, aber anheimelnd.

Während sie sich umsah, kam eine rundliche, sommersprossige, blauäugige Frau, ihr Kind auf dem Arme, vom Felde herein.

»Frau Thomas,« sagte Dumfort gewichtig, »darf ich Sie mit Fräulein Lucy Coyt bekannt machen. Sie war im Begriff, nach Otoga zu gehen, um dort zu unterrichten.«

Die beiden weiblichen Wesen lächelten einander an und warfen sich durchdringende Blicke zu. »Der Junge schläft,« flüsterte die Mutter. »Ich werde Ihnen die Hand zum Willkommen bieten, sobald ich ihn niedergelegt habe.«

Lucy lief hin, um das Kissen in der Wiege zurechtzulegen. »Er ist mächtig groß,« flüsterte sie, indem sie half, das Kind einzuhüllen.

»Nun laß uns zu Abend essen, Dorcas!« ries der Farmer von der Tür her, vor der er mit Dumfort schmauchend saß. »Unsere Freunde müssen einen Bärenhunger haben.«

Dorcas lächelte, und mit unerträglich lässiger Langsamkeit streifte sie die Ärmel auf den weißen Armen hoch und begann das unvermeidliche Hühnerbraten.

»Sie sind so gütig und freundlich!« sagte Lucy.

Frau Dorcas warf ihr einen belustigten Blick zu und fuhr in ihrem Braten fort. Da Lucy bemerkte, daß der Junge erwacht war, nahm sie ihn auf und ging hinaus nach der Treppe, wo sein Vater und Herr Dumfort noch bei den gelblichen Strahlen der untergehenden Sonne plaudernd saßen.

»Wie heißt der Junge denn?« fragte sie.

Frau Dorcas trat in die Türe. »Sein eigentlicher Name ist Humpty. Aber er ist Alexander getauft – Alexander van Cleve.«

Lucy sprang in die Höhe. »Van Cleve?« rief sie, den Farmer anstarrend. »Ich dachte, Ihr Name wäre Thomas?«

»Thomas van Cleve,« erwiderte er lächelnd. »Was ist dabei nicht in Ordnung?«

Lucy hatte die Empfindung, als wäre ihr ein Schlag versetzt worden, der sie wanken machte. »Man sagte mir in Virginien, daß die Suydams auf Ihrer Spur wären.«

Ein tiefes Schweigen folgte diesen Worten, doch Lucy, die sehr erschüttert war, fuhr fort: »Ich hatte nicht gedacht, daß ich in Ihren Weg geraten würde – ich bin nicht an solche Dinge gewöhnt. – Und dieser arme Junge,« indem sie ihn leidenschaftlich an sich drückte, »ist auch ein van Cleve?«

Der junge Mann nahm den Knaben. »Beruhigen Sie sich, Niemand wird Humpty etwas zu leide tun,« sagte er, setzte ihn auf seine Schulter und ging nach dem Hühnerhofe, während seine Frau, ohne ein Wort zu sagen, ins Haus hineinging und die Tür hinter sich schloß. Lucy setzte sich nieder. Nach geraumer Zeit sagte sie zu Dumfort: »Ich habe recht töricht gehandelt.«

»Ja, aber sie konnten es ja nicht wissen. Ich habe noch nie gehört, daß vor einem van Cleve der Name Suydam ausgesprochen worden wäre.«

Sie verfielen beide in Schweigen, bis sie zum Abendbrot ins Haus gerufen wurden. Lucy hatte das Gefühl, als hätte sich eine eisige Scheidewand zwischen ihr und den van Cleves aufgerichtet. Sie fürchteten sich vor ihr. Und ihr war zu Mute, als müßte sie zum Essen ersticken. Doch nach dem Abendbrote brachte Frau Dorcas ein Babykleidchen hervor, das sie für den Knaben arbeitete, und Lucy bestand darauf, es dem Kinde anzuprobieren. Sie hatte kleine Kinder sehr gern. In ihrem Koffer befand sich ein Kleidchen, daß sie für ihres Bruders Joe Baby stickte.

»Ich will es herunterholen, damit Sie das Muster sehen,« sagte sie und eilte hinauf.

Van Cleve betrachtete es über die Schulter seiner Frau hinweg. »Probieren Sie es Humpty an, Fräulein Coyt,« sagte er, und als der Junge damit bekleidet war, hielt er ihn mit ausgestreckten Armen hoch. »Ein hübsches Bild – nicht, Dumfort?«

»Ich will es für ihn fertig machen,« rief Lucy in einer Großmutsanwandlung. »Ich kann Sam ein anderes machen.«

Frau Dorcas erging sich in entzückten Danksagungen. Sie sprang auf, um es dem Kleinen zuzuknöpfen, während ihr Gatte, der ebenso eitel und stolz wie sie war, ihn hielt. Es schien Lucy ganz unglaublich, daß dieses Schreckgespenst, das man niemals erwähnen durfte, allezeit hinter den dreien stand, daß diese alltägliche kleine Familie zu Bett ging, aufstand, sich zum Mahle niedersetzte und dabei den Tod zum steten Begleiter hatte, in dumpfer Ahnung lauernd, wenn er seinen Streich vollführen werde.

Der nächste Morgen glich einem rechten Apriltag. Die ganze Welt war in Nebel und graue Feuchtigkeit gehüllt, um im nächsten Augenblick im Glanze der Sonnenstrahlen zu erscheinen.

Der junge van Cleve war schon mit Tagesanbruch ausgegangen und pfiff, während er hinter den jungen Ochsen herschritt. Noch vor Mittag kehrte er zu den Bergen mit gesenktem Haupte, schweigsam und mürrisch zurück. Selbst seine frische Farbe war verschwunden; sein starkknochiges, fröhliches Gesicht war wie vom Alter durchfurcht.

Dorcas eilte ihm entgegen. Sie wechselten ein paar heimliche Worte.

Er zog die Ochsen in die Umzäunung. Als er sie abschirrte, warf er einen forschenden, flüchtigen Blick in die sich verdunkelnden Wälder. Inzwischen hatten sich die Wolken gesenkt, sie säumten das Gebirgsplateau ein; der Tag war düster und unheildrohend geworden.

Dumfort trat zu Lucy heran, die mit dem Baby auf den Stufen saß.

»Thomas ist eine Warnung zugegangen,« sagte er in leisem Tone, »Cunnel Abram ist auf seiner Spur.«

Lucy, die sehr ängstlich gestimmt war, beobachtete van Cleve scharf, als er ins Haus kam.

»Dorcas, bring Humpty herein!« sagte er ruhig im Vorbeigehen. »Haltet euch heute im Hause.«

Er ging nach dem oberen Stockwerk und machte die Falltür hinter sich zu, und Lucy schien es, als hörte sie das Knacken eines Hahnes.

Dumfort ging vor Erregung die Pfeife aus. »Er ladet die Gewehre! Suydam kommt!« flüsterte er.

Er stand plötzlich auf und ging unruhig hin und her. Dorcas hatte ihre Arbeit verlassen und saß mit Humpty aus dem Arme am Fenster, die durchdringenden Augen unverwandt auf das Kieferndickicht geheftet, welches das Haus einzäunte und schwarz und regungslos in der unbewegten Luft dalag.

Lucy stand während einiger Minuten unschlüssig; sie hatte das Gefühl, als könnte sie nicht atmen, die Luft war von Todesahnungen erfüllt. Dann zog sie die Kappe ihres Regenmantels über den Kopf und ging den Weg entlang.

»Ich will die erste sein, die dem Wolfe entgegentritt,« dachte sie.

Der Weg wandte sich durch den dichten Wald nach der Schlucht hinunter. Als sie näher an das Wasser herankam, hörte sie das Stampfen von Pferdefüßen, welche die Furt durchschritten. Sie versuchte herauszuschreien, daß er käme, sie wollte warnen, doch kein Laut entrang sich ihrer Kehle; die Beine versagten ihr fast den Dienst; sie klammerte sich, von kindischer, entsetzter Furcht gepackt, an einen Baum. Als Pferd und Reiter in Sicht kamen, atmete sie aus.

Es war der gutmütige Doktor. Er grüßte sie sehr höflich, band sein Pferd fest und trat mit der gemächlichen, geräuschlosen Bewegung, die ihm eigentümlich war, zu ihr heran.

»Sie sind erschrocken. Wovor fürchten Sie sich, Fräulein Coyt?«

»O, vor einem Ungeheuer!« sagte sie, indem sie zu lachen versuchte, »vor einem menschlichen Raubtiere, das hier in diesen Bergen weilt. Sobald sich ein Zweig bewegte, dachte ich, daß ich sein mörderisches Antlitz schauen würde.«

»Ich habe niemanden gesehen,« antwortete der Arzt gleichmütig.

»Es handelt sich um eine Blutrache,« fing sie an. »Ich habe bei Gelegenheit jenes Bahnunfalls davon gehört.«

»Sie sollten sich doch von dem Geschwätz in den Bergen nicht so aufregen lassen,« unterbrach er sie sanft, doch seine Augen, die auf sie herablächelten, schienen ihr plötzlich hart und undurchdringlich wie Granit. »Ich fürchte, ich muß Sie verlassen. Ich muß noch vor Mittag Otoga erreichen.«

»Sie dürfen nicht nach Otoga gehen,« erwiderte Lucy, ihn beim Arm ergreifend. »Das gelbe Fieber wütet dort. Die Hälfte der Bevölkerung ist tot.«

»'s ist noch schlimmer, fürchte ich,« sagte er ernst. »Wir hörten heute morgen, daß weder Arzt noch Pflegerin, noch irgend jemand, um die Toten zu beerdigen, dort sei.«

»Und Sie wollen hingehen und ihnen helfen?«

»Ich bin Arzt,« sagte er gleichmütig, »und ich kann pflegen, wie sich's gehört, und wenn es zum schlimmsten kommt, so kann ich auch ein Grab graben.«

»Das ist gewiß sehr – heldenhaft,« stieß Lucy heraus. Die Tränen traten ihr in die Augen.

Er zog die Stirn in Falten. »Nichts derart! Aber ich will Sie erst sicher nach Hause geleiten. Wo wohnen Sie denn?«

»Dort drüben in dem Häuschen. Hinter den Fichten, 's ist Thomas van Cleves!«

Der Doktor war vor sie getreten, um durch die Büsche zu spähen. Er blieb plötzlich stehen und stand, den Rücken ihr zugewandt, regungslos da. Als er sich umdrehte, trug sein Gesicht einen durchaus andern Ausdruck, den sie nicht zu deuten vermochte.

»Der junge van Cleve lebt in dem Häuschen?«

»Ja, mit seiner Frau und seinem Kinde.«

»Einem Kinde? Ist es ein Junge?«

»Ja, ein süßer, kleiner Kerl! Weshalb fragen Sie?'«

Ein Lächeln – es konnte auch ein nervöses Zucken sein – huschte über das liebenswürdige Gesicht des Doktors. Sein Ton wurde außerordentlich sanft und träge.

»Van Cleve ist's, mit dem ich eine Angelegenheit zu ordnen habe. Ich habe schon seit langer Zeit nach ihm gesucht.«

»Dann wollen Sie mit mir nach dem Hause gehen?«

Sie war im Begriffe, voranzuschreiten, blieb aber beunruhigt und erschreckt, sie wußte selbst nicht warum, stehen. Der Mann hatte sie nicht gehört; er stand sinnend da und strich sich langsam das Kinn.

»Ich habe lange Zeit nach ihm gesucht,« wiederholte der Doktor, als ob er mit sich zu Rate ginge. »Doch was wird aus Otoga? Sie bedürfen meiner dort.«

Kein Ton ließ sich hören. Die Welt schien in Schweigen versunken.

Er blickte nach dem Häuschen hinauf; es war nur ein Schritt. Er war van Cleve seit Jahren gefolgt. Er zog den Atem scharf ein, schlug die Büsche auseinander und fing an, den Felsen hinaufzuklimmen.

Da brach die Sonne plötzlich hervor; ein Vogel flog aus dem Buschwerk auf, er setzte sich auf einen Strauch dicht an des Doktors Seite und schmetterte einen klaren Triller heraus. Der Doktor blieb kurz stehen, und eine schnelle, freudige Röte huschte über sein Gesicht.

Er wartete einen Augenblick, bis der Gesang beendet war. Dann schob er mit einer nervösen Bewegung seinen Hut zurecht.

»Ich will zu den armen Teufeln nach Otoga gehen. Mir scheint doch, daß dies das Rechte ist.«

Und indem er sich umwandte, bestieg er eilends sein Pferd. – »Leben Sie wohl!« sagte sie.

»Leben Sie wohl, Fräulein Coyt! Ich werde Sie niemals wiedersehen. Gott segne Sie!«

Er ritt den Weg hinunter. Seine gedrungene Gestalt und der flatternde Leinenrock verschwanden im Nebel.

Vier Tage gingen hin. Eines Morgens kam Dumfort herein und winkte van Cleve heraus.

»Einer von den armen Kerlen liegt draußen am Wege. Er hat die Pest. Nach meiner Überzeugung kann er keine Stunde mehr leben.«

»Ich werde kommen.«

Van Cleve sammelte hastig einige einfache Hausmittel; er besaß nicht Heroismus genug, um seine Familie zu verlassen und sich für seine Nächsten zu opfern, aber er war ein gutmütiger Bursche und konnte einem sterbenden Geschöpfe, das sich bis zu seiner Tür schleppte, nicht den Rücken wenden. Die beiden Männer gingen zusammen den Berg hinab.

»Ich wollte ihn unter einen Felsen ziehen,« erzählte Dumfort. »Aber er sagte: ›Nein, lassen Sie mich im Freien sterben.‹«

Dumfort sah seinen Genossen von der Seite her an. »Er hat den armen Seelen drunten in Otoga ärztliche Hilfe geleistet. Ging freiwillig hin. Ich habe schon vor zwei Tagen von ihm gehört. Er will Euch sehen, Thomas, Euch persönlich!«

»Mich? Wer ist's denn?« fragte er, stehen bleibend.

Dumfort senkte seine Stimme zu einem leisen Geflüster. »'s ist der Mann, der Euch und den Euren gefolgt ist, Thomas!«

Van Cleve wollte einen Fluch ausstoßen, doch das Wort erstarb ihm auf den Lippen. »Und er liegt im Sterben?« fragte er zögernd. »Was will er von mir?«

»Gott weiß es. Ich glaube es zu ahnen.«

Die Männer standen still.

»Er hat die armen Seelen in Otoga gepflegt, und will wohl Frieden machen.«

Noch immer rührte sich van Cleve nicht. Dann sprang er mit einem Satze den Hügel hinab.

»Ich will zu ihm gehen,« sagte er. »Holt Ihr gleich noch die andern Arzneien, Dumfort!«

Als Thomas den Sterbenden erreichte, sah er, daß es für Arzneien zu spät war. Er kniete neben ihm nieder und legte ihm den Kopf zurecht, während er Dumfort ein Zeichen machte, daß er fern bleibe. Was zwischen den beiden vorging, hat kein Mensch erfahren.

Als aber die Sonne zur Rüste ging, kehrte van Cleve in sein Haus zurück. Er sah bleich und abgezehrt aus, doch versuchte er, freundlich zu sprechen.

»Da unten im Walde, Dorcas, da liegt ein armer Kerl, der am Fieber gestorben ist. Dumfort und ich haben ihn begraben. Aber ich möchte, daß du mit Fräulein Coyt zum Grabe gingest. Es würde mich freuen.«

Er trug den Knaben auf dem Arme hinaus, und als sie den Ort erreichten – es war eine sonnige Rasenfläche, und die Vögel sangen darüber ihr Lied – sagte der Mann: »Kind, ich möchte, du knietest an diesem Grabe nieder und sprächest dein kleines Gebet. Ich glaube, der dort unten hört es, fühlt sich glücklicher und freut sich, daß auch von deinem Haupte der alte Fluch genommen ist.« – –


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