Max Dauthendey
Raubmenschen
Max Dauthendey

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IV. Der Totenpfad

Oben auf meinem Zimmer fand ich europäische Post vor, und unter andern Briefen einen aus London, von einer Dame geschrieben. Es war die Engländerin, die ich in Pouldu kennengelernt hatte, und die mir für einen Gruß dankte, den ich ihr vor Wochen gesandt hatte, und in dem ich mich nebenbei nach den andern Bekannten, nach den amerikanischen Malern und nach der Österreicherin, erkundigt hatte.

»... und außerdem habe ich Ihnen noch eine recht traurige Nachricht mitzuteilen«, so schloß der Brief. »Die Österreicherin, die uns allen so rätselhaft erschien, ist nicht mehr unter den Lebenden. Sie hat sich in Paris in ihrem Atelier erschossen. Man sagt, sie habe einen Polen kennengelernt, den sie liebte, der sie vor kurzem verlassen hat, und den sie nicht vergessen konnte. – Die Liebe will ihre Opfer haben wie der Atlant«, fügte die Engländerin hinzu. –

Ich saß am Schreibtisch. Meine Zigarre war ausgegangen. Ich hatte den Brief zu mir gesteckt. In der linken Brusttasche trug ich die Einladung zur Mexikanerin, in der rechten Brusttasche die Todesnachricht der Österreicherin, und beide Briefe kämpften jetzt in mir wie zwei Farben, die mich beschienen. So wie das Gesicht eines Menschen, der in ein rotes flammendes Kaminfeuer schaut und zugleich noch von einem weißen Fenster und dem weißen Wintertag dahinter beleuchtet wird, so rot lebensvoll und schneeweiß tödlich blaß war mir mein Blut von beiden Briefen in der Brust beleuchtet. Die Liebe will ihr Opfer. Wie Wasser, Feuer, Luft und Erde ist sie ein wildes Element, die Liebe; ein Element, das, weise genommen, beglückt und selig macht und den Himmel zur Erde bringt. Aber töricht genommen ist sie eine Hölle, ein Krater, der Menschen und Schicksale verschlingt und Menschen ausrotten kann, daß nichts von ihnen bleibt. Doch wo ist der Gott, der der Liebesleidenschaft jemals Weisheit lehrt! Nichts, nichts blieb mir von jener warmen Begegnung am Atlant als in meinem Koffer der verfluchte Graphitkarbonstift, der damals an einem Morgen voll aufkeimender Annäherung zwischen zwei Menschen die Fühlung ausgestrichen hatte. – So sprach ich mit mir.

Der Tropenregen stürzte draußen von der Verandatür in den Hofschacht des Hotels hinunter. Von drunten hörte ich das Wolkenwasser wie Kieselsteine auf das Pflaster prasseln. Ich mußte meine Tür schließen; der Regen spritzte bis an meinen Schreibtisch herein. Er war so heftig, laut und herrisch, als wäre er ein Mensch, der Haus und Erde mit Ruten peitschte. Unmäßig betrunken von Wut, wie ein von Pulque berauschter Indianer, tobte der Wassersturz draußen überall und schlug überallhin und war wie eine tobsüchtige Masse, die sich auf die Erde stürzte und sich in die Steine und in die Erde beißen wollte, sinnlos, atemlos, keuchend und schäumend wie ein Epileptiker, der hinstürzt und schreit, um sich schlägt und den Menschen von Teufeln besessen scheint.

Die Stimme dieses bestialischen Tropenregens draußen war wie das verwilderte Geheul und der Wutausbruch, dem ich hätte verfallen mögen, wäre ich nicht zu Beherrschung, zu Zucht und Maßhalten in allen Leidenschaften durch Erziehung, Umgebung, Beruf und Bluttradition geschult worden. Ruhe behalten und schweigen können in den leidenschaftlichsten und heftigsten Augenblicken des Lebens sind mir aber so zur zweiten Natur geworden, daß ich mich für affektiert und verlogen halten würde, wenn ich mit irgendeinem Ausbruch von Wut und Heftigkeit die Stunde begleiten wollte, in der ich ein Unglück erleiden muß.

So ging ich nun vom Fenster fort, setzte mich in die Sofaecke, hielt die Hände vor die Ohren, um nicht von der Regenheftigkeit aufgeregt zu werden, und stellt mir vor, daß die arme Österreicherin jetzt kalt, steif und einsam in dieser Erde lag. Wahrscheinlich von den Eltern noch in letzter Stunde verstoßen, vom Geliebten verlassen und voll Angst, Mutter eines vaterlosen Kindes zu werden, hatte sie zur Pistole gegriffen. Wenn es jetzt regnete drüben in Europa, fiel der Regen auf ein Grab mehr, das ich dort verlassen hatte. Europa, das mir oft als ein großes Grab erschienen war, ehe ich es verlassen hatte, schien mir aber jetzt heimlicher durch seine Gräber zu werden, weil es mir warm im Herzen wurde, wenn ich an alle die geliebten Toten dort dachte. Tote wärmen einen in der Fremde bei fremden Menschen oft mehr als die Lebenden...

Ich war über diesen Gedanken in der Sofaecke in einen Halbschlaf verfallen. Das Erdbeben heute morgen, der lange Ritt, die Aufregungen der beiden Briefe hatte mich ermüdet. Ich schlief und verschlief die Korsostunde; und als ich aufwachte, brannten draußen die elektrischen Lampen im Hotelhof und schienen in mein Zimmer. Ich hörte im Hoteltorweg unten die Zeitungsjungen, die die Abendblätter ausriefen, und ihre Rufe: »El Mundo de la mañana!!« – »Continente Americano!!« trompeteten wie aus großen Muschelhörnern hohl in den Hof, unter der Torbogenwölbung durch, in die Hausstille.

Der Regen hatte längst aufgehört, die Wasser waren längst verlaufen; alles kommt und geht hier in der Tropenwelt eilig und heftig – auch die Sonne, die jeden Abend, im Sommer und im Winter, Punkt sechs Uhr verschwindet, Punkt sechs Uhr morgens erscheint, keine Dämmerstunde kennt und schnelle Dunkelheit hinterläßt, wenn sie untergegangen ist. Gleich einer Lampe, die man ausgedreht hat, einfach, sachlich, traumlos, vollständig uneuropäisch benahm sich selbst die Sonne in dieser Zone des amerikanischen Kontinents.

Ich erwachte und wußte sofort, daß ich den Korso versäumt hatte. Aber da mich die Mexikanerin sehen und sprechen wollte, brauchte ich mich nur morgen abend zur Korsostunde einzufinden. Sie würde wahrscheinlich jeden Abend die Wagenfahrt machen wie alle Damen der Gesellschaft; ich hatte nur bis heute noch nicht Zeit gehabt, an den Abendkorso zu denken, hätte sie auch im Wagengewühl wohl schwerlich gesucht, da ich sie unter den Reiterinnen auf dem Reitweg vermutet hatte.

Ich stand auf und ging auf das Dach des Torgewölbes, von wo und neulich die Frau des Astronomen auf der Straße unten zwischen der Mauleselherde gesehen hatte.

Die Gesimse der gegenüberliegenden Geschäftshäuser waren mit Reihen aus Hunderten von Glühlampen illuminiert, so wie es bei uns in Europa nur an fürstlichen Geburtstagen Sitte ist. Aber hier in Mexiko illuminiert man alle Häuser jeden Sonntagabend.

Ich sah viele Wagen voll Frauen; diese waren in weißen Spitzenmantillen, geschmückt mit Blumen im Haar, in hellen dekolletierten Seidentoiletten, rosa, weiß, blaßgrün, orangefarben, vom Korso zurückkehrend wie von einem Ball.

Die meisten ließen auf der Heimfahrt die Fächer im Schoße ruhen, und ich sah oben von der Brüstung des Daches auf viele schöne graziöse Hände, die auf den Knien in den Wagen ruhten, und sah manche Finger, die ein Taschentuch nervös zerknitterten. Ich sah lässige Hände, die bereits einen Handschuh ausgezogen hatten; sie spielten mit den Ringen an den Fingern der entblößten Hand, der Hand, die sie wahrscheinlich eben beim Abschied einem Kavalier zum Kuß gereicht hatten. Denn an dem Platz Glorieta di Colon stehen gewöhnlich die Wagen in einem Halbkreis um das große Monument des Kolumbus, der jeden Abend zum Tagesabschied die ersten Schönheiten der mexikanischen Gesellschaft um sich versammelt. Am Wagenschlag plaudern die Herren in Gruppen mit den Damen. Man verabredet ein Wiedersehen im Theater oder in einer Soiree und plaudert angenehm beim letzten silbergrünen und orangegelben Sonnenuntergangslicht, indessen eine Musikbande, eine weiß gekleidete indianische Militärkapelle, die alte Liebesmusik beliebter spanischer Opern und Operetten liebenswürdig und sentimental unter den riesigen Korkbäumen des Platzes geigt, flötet, trommelt und trompetet.

Dies alles stellte ich mir vor, als ich jetzt auf die mit Spitzenmantillen verhüllten Köpfe und Schultern in den Wagen unter mir hinabsah. Und da und von oben die Gesichter nicht beobachten konnte, unterhielt ich mich mit den vom Korso heimkehrenden Händen der Damen in der langen Wagenreihe.

Da bemerkte ich in einem Wagen zwei sehr erregte Hände in langen schwarzen Handschuhen, die einige weiße Briefe in den Fingern hielten und zerknitterten. Den Kopf der Dame konnte ich unter der schwarzen Spitzenmantille nicht erkennen, aber einige Linien an den Schultern und um die Knie beschrieben mir die junge Mexikanerin. Wenn sie es ist, wird sie vielleicht halten und mich aus dem Hotel an den Wagen rufen lassen! Jetzt war der Wagen gerade senkrecht unter mir. Unter Millionen Fingern hätte ich diese Finger und Handknöchel wiedererkannt, die damals so geschickt die Ventile der Lokomotive am Bahnhof von Orizaba aufgedreht, und deren Bewegungen sich in der Sekunde des allgemeinen Schreckens wie ein Gesichtsausdruck in mein Gedächtnis geschrieben hatten. Aber der Wagen mit den erregten Händen und mit den Briefen in den nervösen Fingern hielt nicht und fuhr vorüber. Ich ärgerte mich jetzt und erwachte wie aus einer Betäubung. Es war ganz elend von mir, daß ich eingeschlafen war, schalt ich mich; es war sicher etwas ganz Wichtiges gewesen, was die erregten Finger, die am Korso auf mich gewartet, mir hatten übergeben wollen. – Ich konnte den nächsten Abend kaum erwarten. Lange, ehe der Korso begann, setzte ich mich in das dem Korso nahegelegene Café an einen der weißen Onyxtische, die draußen auf der Terrasse stehen, und musterte die Wagen unter den Bäumen des Paseo, die langsam heranfuhren oder stampfend vorbeijagten.

Warten zu können ist eine Kunst, die nicht die meine ist. Ich gestehe diesen Fehler meines Charakters gerne ein. Es war mir, als wären meine Kleider alle zu eng, so unbequem wurde mir das Stillsitzen vor den beweglichen Pferden und Wagen. Hundertmal tauchte das Gesicht der jungen Mexikanerin in der Ferne in einem Wagen auf, um sich beim Näherkommen in ein gleichgültiges, fremdes Gesicht zu verwandeln, dem ich, wenn es näher kam, nicht mehr ansehen konnte, wie ich es für die Erwartete hatte halten können. Ein Spukteufel spielte mit mir. Ich saß bei dem Tisch im Café wie auf einer Folterbank. Heiß und kalt sank das Blut in mir auf und nieder, und der ganze Korso verwandelte sich vor meinen Augen in einen Drehkreisel, auf den tausend junge Mexikanerinnen gemalt waren, die, wenn der Kreisel sich drehte, alle zusammen das Bild jener einzigen erwarteten Dame gaben, die aber, wenn der Kreisel stillstand, tausend gleichgültig fremde Gesichter zeigten. Mitten unter den Damengesichtern sah ich plötzlich den Abbé – den Abbé der Mexikanerin. Er saß allein in einem Wagen. Und – es war kein Spuk – er hielt ebenfalls einige Briefe in der Hand, die er erregt zerknitterte. Er sah geradeaus nach der Plaza de la Reforma und fuhr im Trab vorüber.

Vielleicht kommt sie noch! Vielleicht haben sich der Abbé und die Mexikanerin verabredet, einander hier zu treffen, dachte ich mir. Ich wartete nun etwas ruhiger. Es war, als ob wenigstens der Schatten der Erwarteten bereits auf dem Korso angekommen wäre; sie selbst konnte nicht mehr fern sein. Ich betrachtete jetzt auch die jungen Mexikaner, die in gelben Ledertrachten auf silberbeschlagenen Sätteln saßen; ihre kleinen Pferdchen hatten mächtig wallenden Mähnen und einen wallenden Schweif, der wie eine seidige Schleppe fast bis auf das Pflaster reichte. Diese reichen jungen Herren trugen kostbare graue Filzsombreros, reich mit Goldbroderien verziert; und mancher dieser Herrenhüte sollte viele hundert Dollars kosten, hatte man mir erzählt. An der Seite der mit schönen Frauen besetzten Wagen galoppierten oft mehrere Kavaliere in dieser reichen nationalen Reitertracht, aber auch viele Reiter auf gestutzten englischen Rennern begleiteten die Karossen.

Der Wagenstrom eilte auf der sehr breiten belaubten Straße der untergehenden Sonne nach. Es sah aus wie eine Flucht allen Reichtums, der mit der Abendstunde die Häuserstrecke verlassen hätte und zu Pferd und Wagen auf diese breite Promenadenstraße in die Ebene vor die Stadt hinausströmte, und als müßten die Pferde im Wettlauf die verschwindende Sonne einholen. In einem Wagen sehe ich plötzlich auch Angela heranfahren an der Seite eines Subjektes, das einem der Raubmenschen ähnlich sieht. Arme Angela, dachte ich. Du arbeitest mit noch mehr als drei Armen, mehr als dein mißgeborener Bräutigam, um dir ein Hochzeitsgut zu verdienen. Der junge Mann hatte den Arm im Wagenfond hinter Angelas Rücken liegen, er hatte den Hut keck schief sitzen und trug eine feuerrote Nelke im Knopfloch. Er flog mit Angela vorüber, als habe der leibhaftige Teufel Leichtsinn das schöne Indianermädchen im Arm und führe übermütig mit ihr direkt zur Hölle.

Nun hielt es ich nicht mehr in der Ruhe auf der schmalen Kaffeehausterrasse; ich mußte mich unter die Figuren des kreiselnden Korsos mischen. Alles lebte hier; das kleine Indianermädchen jagte seinem durchgehenden Herzen nach. Die Blicke der schönen Frauen reihten sich wie Edelsteine in der Luft vor meinen Augen auf; die Fächer schienen alle zu winken. Alle winkten: Eile dich, die Sonne vergeht! Eile dich, jeder Tag endet unter der Erde! Eile dich und lebe!

Ich fand nichts. Ich betrachtete alle Wagen, die beim Musikkiosk in zwei Reihen standen. Ich fand sie nicht. Auch den Abbé konnte ich nicht mehr entdecken.

Jemand ruft meinen Namen. Der junge Reitlehrer aus der Schule des Österreichers reitet zu mir an den Trottoirrand und spricht rasch:

»Die Dame hat Sie gestern erwartet. Vorhin war sie bei uns im Stall und erklärte, sie müsse bis nächsten Sonntag verreisen. Sie käme aber nächsten Sonntag zum Stiergefecht, das da stattfindet, in die Stadt zurück.«

»Sie hat nichts hinterlassen, daß ich sie dann sehen könnte?«

»Nein, sie sagte nichts mehr von Ihnen. Ich kam nur hierher, weil ich annahm, da Sie sich gestern verfehlten, würden Sie vielleicht heute zum Korso kommen, um die Dame zu suchen. Und ich wollte Ihnen ihre Abreise mitteilen.«

Ich dankte dem jungen Mann. Der nickte nur, als wollte er sagen: ich weiß, wie das tut, wenn man wartet. Dann ritt er zur Stadt zurück, und an mir rollte die lebende Mauer der Wagen von neuem vorüber. Aber nun war alles ein unsinniges Gewirr von Pferdehufen und Rädern. Ich blieb noch einen Augenblick an der Reforma stehen und hörte auf einen spanischen Tanz; es war jetzt ganz dämmerig.

In einigen der eleganten Häuser um den Promenadenplatz, die da in Gärten liegen, leuchteten Lampen auf Balkons. Zu Füßen der Kolumbusstatue lag die stillstehende Wagenwelt im Abenschatten. Wie ein weißer Eispalast mit grünlichen und goldenen Toren leuchteten in der Ferne die Kratergletscher des Ixtaccihuatl und des Popocatepetl unter den Korkbäumen durch. Die Welt begann sich eben vom Tag in die Nacht umzukleiden. Die Sonne war verschwunden. Wie ich noch schaue, ging dich neben mir ein junger Mann vorüber. Der hatte große Augen, unruhige, geistesabwesende Augen, wie einer, der mehr und Schrecklicheres sieht als die andern Leute. Ich schaute ihm nach, da er so wunderbar fortgerückt aussah. Er schien meinen Blick im Rücken zu fühlen. Er wendet sich um, lächelt, kommt zu mir heran, und mit einer Stimme sie sich freut, daß sie reden darf, fragt er mich, ob es schon zehn Minuten nach sechs sei. Im gleichen Augenblick sieht er am Hause hinter mir hinauf; er wartet meine Antwort nicht ab. Ich wundere mich ein wenig und gehe weiter. Ich habe eben noch gesehen, wie oben eine weiß gekleidete junge Dame in kurzen Kleidern auf den Balkon trat. Ich gehe im Rhythmus der Musik, die eben die letzten Takte des »Danza« spielt, der immer der Abschluß der Korsomusik ist, weiter. Die Bratschen, die Pauken und die Messinginstrumente spielen rasend wie eine wilde Jagd. Es schien mir, man sah die Notenmasse wie ein berstendes Schlußfeuerwerk in die Lüfte verprasseln, und es war, als könnten nun alle großen Korkbäume sich plötzlich entwurzeln und wie die Besen von Hexen und Teufeln in die Lüfte davontanzen in das finstere Loch der riesigen plötzlichen Tropennacht.

Mir entgegen sehe ich mit einem Male viele Leute kommen. Ein Tumult entstand. Die Menschen drängen und reden, und einige stolpern und fallen vom Trottoirrande. Die Pferde an den Wagen scheuen, unter den Hufen der erschrockenen Gespanne knattern bläuliche Funken; viele Damen richten sich in den nächsten Wagen auf, und auf den meisten Gesichtern malt sich ein fragender Schrecken und eine geisterhafte Blässe. Einige halten die Fächer vor das Gesicht und schauen fort, blaß, als ob sie einer Ohnmacht nahe wären. Die Musik schweigt. Ich werde vom Menschenstrom an ein Gartengitter gedrückt. Ich sehe Polizistenhelme an mir vorübereilen. Es ist ein Unglück, irgend etwas Unerwartetes in der Luft. Niemand scheint noch Ende und Anfang zu wissen.

Dann schiebt man mich zu einem Menschenknäuel, aber ich kann nicht weiterkommen; ich erfahre nur, daß sich einer erschossen hat. Plötzlich entstehen gellende Schreie, Rufe, oben in demselben Haus, auf demselben Balkon, wo eben das weiß gekleidete Mädchen gestanden hat.

»Ein junges Mädchen und ein junger Mann haben sich Aug' in Aug' erschossen«, höre ich neben mir einen Polizisten ein paar Damen in einem Wagen zurufen. »Das junge Mädchen erschoß sich oben auf dem Balkon, der junge Mann mitten auf der Straße!«

Warum? – danach fragte niemand. Alle wußten und fühlten, warum. Die Damen sahen sich mit tränenden Augen an. Die Kutscher schlugen nicht mehr auf die Pferde, um nicht mit den Peitschen laut zu knallen.

»Leise! leise!« hörte ich viele Damen ihren Kutschern zurufen.

Zwei Liebende waren mit der untergehenden Sonne vom Korso fortgegangen und hatten ihre Körper bei den letzten Takten des wilden »Danza« hingelegt.

»Leise – um Gottes willen leise!« Dieses Rufen, diese Furcht, Tote zu stören, nahm ich mit mir; und als ich dann zu Fuß der Statt zuschritt, an den Lichterketten der Millionärspaläste vorüber, die den Anfang des Paseo säumen, da war mir so schwer ums Herz. Und wie der junge Selbstmörder vorhin meinen Blick im Rücken gefühlt hatte, so fühlte ich jetzt den Blick des Todes hart und drückend in meinem Rücken.

Ich hatte ein Stelldichein mit dem Leben erwartet und war dem Tod begegnet.

Gestern, als mich zum erstenmal wieder das Leben im Brief der Mexikanerin zu sich geladen, da stellte sich sofort auch eine Tote aus Europa daneben und machte mich todmüde. Heute, als ich mich anstrengte, das Leben aufzusuchen, schlaflos, aufgeregt, erhitzt, da begegnete mir einer, der nach der Uhr fragte, nach der Zeit, die ihm seine abgelaufene Zeit verkünden sollte, und statt des Lebens sprach mich einer an, der jetzt in der Nacht bei der toten Geliebten ausruhte, still, kühl, müde. –

Welch ein Doppelgesicht hatte dieses unbarmherzige Land für mich! Ich fürchtete mich früher nie im Dunkeln. Als ich aber im Hotel in mein dunkles Zimmer trat und an den Schreibtisch stieß, wohin ich heute den Bleistift der Österreicherin gelegt hatte, und der Bleistift zu rollen begann und vor keine Füße kollerte und ich mich bückte und den Bleistift aufhob – da durchschauerte es mich, als hätte ich in dem Bleistift die Knöchel von Toten angerührt. –

Ich schloß die Glastür sorgfältig, noch ehe ich Licht angemacht hatte. Das mußte man hier im Tropenland, sonst stürzten in den Lichtschein abends tausend Moskitos herein, tausend winzige Teufel, die spöttisch singend die Luft durchzogen und aus deinem Gesicht einen unförmigen Fleischklumpen machen konnten. Sie sogen sich zu Dutzenden an deinen Poren fest, hinter den Ohren, am Hals, in den Augenwinkeln, in deinen Nasenflügeln, auf den Augendeckeln, auf den Wangen und auf der Stirn. Sie rissen dich aus deiner Gefühlswelt, aus jeder Schwärmerei in die blutdürstende Wirklichkeit hinein. Sie sahen dich nicht als ein Mitgeschöpf an, sondern als ihre Nahrung, als ihr Wild, dem sie auf die schlaueste Weise vom Abend bis zum Morgen nachstellten. Am Tag zogen sie in die Sonne hinaus oder schliefen in Möbelritzen oder hinter den Tapeten oder an der Zimmerdecke von ihren nächtlichen Treibjagden aus. Jeden Abend tötete ich hunderte und hunderte, und es gehörte eine Kunst und Gewandtheit dazu, unter das Moskitonetz ins Bett zu gehen, ohne daß dir Trupps der blutlüsternen Teufel nachfolgten. Zweien oder dreien gelang es aber immer, unter den Musselinbaldachin zu schlüpfen, und diese zwei und drei wurden gegen Mitternacht, wenn du sie abgewehrt hattest, zu Wütenden, Verzweifelten, die dich aus den Falten des weißen Betthimmels belauerten und dann sanglos, vorsichtig und bissig den Moment abwarteten, wenn dir nach ewiger Notwehr einen Augenblick die Augen zufielen. Sofort bildeten sich Beulen an den Stellen, wo sie dein Blut anzapften, und sie flogen triumphierend singend davon, wenn du dich von neuem wehrtest. Zuletzt nimmst du ein Buch, drehst das elektrische Licht an und beginnst im Bette sitzend zu lesen und ab und zu mit dem Buch um dich zu schlagen, bis die Sonne morgens um sechs Uhr aufgeht, die die Teufel verschwinden macht.

So habe ich jede Nacht alle die Monate in Mexiko bei Licht bis zum Morgen lesen müssen. An Schlaf war in diesem Moskitoland nicht zu denken, und ich hörte von Europäern erzählen, die bereits seit Jahren dort waren, daß sie seit Jahren nicht mehr geschlafen, sondern nur gelesen hätten. Der ganze Schlaf der so gequälten Europäer besteht aus zwei, drei Schlafstunden nachmittags nach dem Lunch zur Siestazeit; die Nachtzeit ist mit dem Kampfe gegen die blutdürstigen kleinen Bestien ausgefüllt. An diesem Abend ging ich zwar noch nicht zu Bett; aber nach der Schreckenszene am Korso und nach dem verfehlten Stelldichein mit der Mexikanerin wollte ich ein wenig allein sein, ehe ich in den deutschen Klub zum Essen ging.

»Ein Telegramm!« Der Indianerboy klopfte von außen an meine Glastür, und ein Telegrammbote mit einer Blendlaterne in der Hand stand auf der Veranda. Ich erschrak, als hätte ich jetzt erst den Schuß aus der Pistole des jungen Mannes gehört, den Schuß des Selbstmörders, der mir vorher auf dem Korso bei den letzten lauten Paukenschlägen der Musik entgangen war.

Ich ging, um zu öffnen, und fürchtete etwas Unbestimmtes, als ich draußen die gelbe grelle Blendlaterne sah, die wie ein Zyklopenauge durch die Glasscheibe hereinsah. Ich hatte das Gefühl, als ließe ich jetzt, wenn ich die Tür einmal aufmachte, eine Unzahl von Dämonen und Ungeheuern herein, eine Sintflut von Unglück und Sorgen, einen Berg, der sich aus Schrecken und Finsternissen aufbaute, und als dessen Vorbote mich diese Blendlaterne des Telegraphenboten grinsend und fürchterlich ansah. Und was waren die blutsaugenden Teufel, die Moskitos, gegen diese Schrecken, denen ich jetzt die Tür öffnete! –

Eine halbe Stunde später stieg ich umgekleidet im schwarzen Frack und weißer Weste drunten vor dem Hotel eilig in ein Auto und fuhr zur Kinderoper, wohin mich das Telegramm, das ich jetzt in den Händen hielt und beim elektrischen Glühlicht im Automobil immer wieder las, bestellte. »Bitte, kommen Sie, wenn Sie dieses Telegramm erhalten, zur Kinderoper. Es erwartet Sie in Loge 23 eine Dame, die dringend Ihres Rates bedarf, und die Ihnen von der Fahrt nach Mexiko her bekannt ist. Ich ersuche Sie, während eines Aktes (wenn das Theater dunkel ist) in die betreffende Loge zu kommen. Es gilt ein Menschenleben!«

Dieses Telegramm konnte natürlich nur von der Mexikanerin sein. Aber der Rittmeister sagte doch, sie sei heute abgereist und komme erst am Sonntag zum Stiergefecht wieder! Vielleicht war es doch die blonde Astronomenfrau, welche telegraphierte?! Ist ihrem Mann etwas zugestoßen? Es ist nicht unmöglich. Vielleicht hat ihr Mann Fieber! Aber warum kommt sie dann nicht in das Hotel? Warum in die Kinderoper? Ich war ratlos. Da lese ich die Aufgabestelle des Telegrammes, die außen unsleserlich vermerkt war. Der Ort hieß nicht Mexiko, sondern Ameca-Meca und Hazienda San Isidro. Es war also doch die Astronomin, denn die Mexikanerin konnte nicht zugleich im Theater und auf dem Lande sein. Und ich dachte mir zuletzt, die Astronomenfrau sei vom Land hereingereist. Vielleicht haben sie und ihr Mann von Ameca-Meca aus den Popocatepetl besteigen wollen, denn dafür ist Ameca-Meca der gewöhnliche Aufstiegort. Ihr Mann, der Astronom, wird auf einer Hazienda verunglückt liegen, und sie wollte als ehrbare junge Frau einen einzelstehenden Mann wie mich nicht in dem Hotel bei Nacht aufsuchen. Sie kommt eben erst zur Nacht in Mexiko an, und sie wählte ein Theater, um mich dort, da ich einige medizinische Kenntnisse besitze, über den Gesundheitszustand ihres Mannes zu befragen und sich Rat zu holen... Aber nein! Alles das war erst recht unmöglich! »Es gilt ein Menschenleben!« So schloß das geheimnisvolle Telegramm.

Es gilt ein Menschenleben! Wie das schwerwiegend klang. Drei Menschenleben hatte ich in diesen zwei Tagen um mich verschwinden fühlen, eine Bekannte gestern und zwei Fremde heute. Und Schauder rieselte mir durch das Blut. Es war mir, als säße ich vollständig nackt in einem dichten, eisigen Schneefall, so kalt war mir von den eisigen Ereignissen.

Das Theater, das ich erreichen sollte, nannte sich für diese Saison die »Kinderoper«, weil dort eine spanische Kindertruppe Opern aufführte. Die kleinen Spanier waren eben erst aus Madrid über das Meer gekommen und spielten zweimal täglich, nachmittags und abends. Mir erschienen solche Aufführungen zu abgeschmackt, und ich konnte mir nicht vorstellen, wie unreife Kinder mit ihren kleinen krähenden Stimmen und ohne sonoren Grundton die langen Partien ernster Opern singen sollten. Ich war deshalb noch nicht in diese Oper gegangen und besuchte abends meist das Nationaltheater. Aber ich konnte mir gut denken, daß die indianische Bevölkerung und die mexikanische, die doch auch das Mißgeburtenmuseum und die verzwickten grauenhaften Götterknäuel mit Behagen betrachteten, an dem überreizten Sinnengenuß, den Operndivas von neun und zehn Jahren und Tenöre von vierzehn und fünfzehn Jahren bieten, Gefallen finden mußten. Nein, das konnte doch nicht die blonde Astronomin sein, die die Kinderoper wählte! Das wäre unmöglich! Das war die Mexikanerin!

Und jetzt mit Bestimmtheit annehmend, daß ich heute abend nicht blondes, sondern schwarzes Haar bewundern dürfte, traf ich mit dem Auto vor dem Theater ein.

Die Oper hatte längst angefangen, und man war beim zweiten Akt von Puccinis Boheme, wie mir die Logenschließerin der Loge 23 sagte, die mir zugleich zuflüsterte, ich würde schon lange von einer Dame erwartet.

Von einer Dame! Während ich mein Gesicht im Spiegel eine Sekunde betrachtete und meine weiße Krawatte ordnete, dachte ich mir: es ist nicht die Mexikanerin! Eine spanische Dame geht niemals allein ins Theater und verläßt überhaupt niemals allein das Haus zur Abendzeit. Es ist eine Europäerin. Es ist die Blonde.

Dann trat ich in die Loge, wo die Schließerin bereits flüsternd meine Ankunft gemeldet hatte. Dann im dämmerigen, beinah dunkeln Logeninnern stand die Mexikanerin vor mir.

In einer Ecke erkannte ich die Umrisse einer zweiten Frau, einer Dienerin, wie mir schien. »Oh, mein Herr«, so empfing mich die Stimme, die ich so gut noch von der Eisenbahn her im Ohr hatte, und die ich sofort in der dämmerigen Loge wieder auf die Lokomotive versetzte, von wo sie zuerst zu mir herabgerufen hatte.

In diesem »Oh, mein Herr« lagen alle Worte einer langen Entschuldigung, einer Bitte, einer großen Angst, einer Hoffnungsfreudigkeit; ich brauchte nicht mehr zu hören. Es gibt Menschen, die so suggestiv zu sprechen verstehen, daß man mit drei Worten alles weiß. Ich wußte sofort: es handelte sich nicht im geringsten um meine Person. Das war mir gleich klar, als ich dieses »Oh, mein Herr« hörte, das mich in Distanz halten sollte wie ein leiser, kühler Degenstoß einer eleganten Florettfechterin. Ich war von vornherein durch dieses »Oh, mein Herr« zwar in einen Abstand gestellt, doch zugleich gebeten, zu helfen, zu retten, aber nichts zu erwarten und vorläufig nichts dafür zu fordern.

Ich sollte als Gentleman die Ehre des Vertrauens für genügenden Dank hinnehmen. Und ich sollte dafür den Genuß haben dürfen, einer ratlosen Frau zu helfen, ein Menschenleben aus Gefahr zu retten. Alles dieses lag in dem »Oh, mein Herr!«

Die Mexikanerin händigte mir dann ohne viele Umstände drei Briefe ein, die sehr zerknittert waren und die ich beinahe als alte Bekannte geküßt hätte, wenn das nicht störend gewesen wäre. Es waren dieselben Briefe, die ich gestern abend unter dem Hotelbogen in ihren Händen gesehen hatte. »Um der heiligen Madonna willen, lesen Sie, bitte, lesen Sie, mein Herr, und dann sagen Sie selbst, ob das Ernst, Scherz oder müßige Laune eines hysterischen Menschen ist.«

Sie deutete mit dem Fächer auf deinen Stuhl neben sich, weit von der Logenrampe, und winkte ihrer Dienerin, daß diese an der Brüstung Platz nehmen sollte, um uns zu verdecken. Das Theater war fast dunkel, und nur ein schwacher Schein von der Bühne beleuchtete die Decke. Die Logenbrüstung legte einen hohen Schatten über uns, die wir im Hintergrund der Loge standen, wo alle Glühbirnen ausgedreht waren.

Die Mexikanerin holte jetzt aus ihrem Ridikül eine winzige elektrische Taschenlampe, die sie auf die Briefe leuchten ließ.

Die Luft war heiß, die Lampe zitterte in der Hand des jungen Mädchens und beleuchtete bald die Briefe, bald die tief dekolletierte Brust, die sich tiefatmend hob und senkte, indessen die leidenschaftliche Musik der Boheme von drunten herauf aus dem Orchester die Luft liebeslüstern und verführerisch durchzog.

Ich nahm der Dame endlich die Lampe sanft aus der Hand und beleuchtete einen Brief nach dem andern, und als der Lampenstrahl nicht mehr die nackten Brüste des schönen Weibes beschien, wurde ich sachlich und las.

Dreimal stand dasselbe da geschrieben, in jedem Brief das gleiche; nur war die Schrift dreimal verschieden verstellt.

Der Schreiber sagte, daß dem Abbé eine Lebensgefahr drohe, und daß es in des Schreibers Hand liege, diese Gefahr abzuwenden. Wenn die Dame, deren Ergebenheit für den Abbé er kenne, dem alten Herrn das Leben erhalten wolle, müsse sie durch ein Inserat in der Zeitung antworten und eine hohe Summe angeben, die sie dafür zahlen wollen, weil nur dann ein beabsichtigter Mord unterlassen würde.

Die Mexikanerin fuhr mich eifrig an: »Ist das Ernst oder Witz, oder was ist es? Ich frage Sie. Ich weiß niemand, den ich hier fragen könnte. Sie wissen vielleicht, daß wir auf der Reise im Eisenbahnzug nachmittags viel von Handschriften, vom Charakter einer Schrift und vom seelischen Zustand des Schreibenden sprachen, und daß Sie damals versicherten, Sie getrauten sich zu, aus jeder Schrift zu erkennen, ob der Schreiber ernst, leichtsinnig, verlogen oder gewalttätig sei. Vor vier Tagen, als ich den ersten dieser Briefe erhielt, dachte ich sofort an Sie und erkundigte mich überall nach Ihnen. Ich ruhte nicht, bis ich herausfand, daß Sie im Reitstall des alten Österreichers ein Pferd gekauft hatten, und ich kam dorthin, unter dem Vorwand, mir Pferde anzusehen. Aber ich wünschte Sie zu treffen. Der Reitlehrer fing zufällig von Ihnen an zu erzählen, und wir ritten aus. Als er den Weg zum Paseo nahm, war ich sehr froh, weil ich dachte, ich würde Ihnen dort, wo viele Reiter reiten, begegnen. Da kam das Erdbeben; die Pferde scheuten, und später gab ich dem Rittmeister den Auftrag, Sie zu mir auf den Korso zu bitten. Dort wäre eine Zusammenkunft ganz unauffällig gewesen. Wo alle Welt sich trifft, konnten wir leicht ein paar Worte wechseln. Sie kamen nicht.

Als ich dann aufs Land fuhr, zog mich im Eisenbahnzug meine Angst um den Abbé so stark nach der Stadt zurück, daß ich sogleich am Bahnhof in Ameca-Meca Ihnen telegraphierte und Sie bat, in meine Loge hierher ins Theater zu kommen. Ich nahm den nächsten Zug und fuhr sofort wieder hierher. Dem Abbé habe ich gestern gesagt, daß ich Sie auf dem Korso erwarte. Er weiß noch nichts von jenen Briefen.«

Ich wollte eben sagen, daß ich den Abbé heute auf dem Korso gesehen hätte, und daß er ebenfalls Briefe in der Hand gehalten habe – da meldet die Logenschließerin der Mexikanerin, daß ein Herr sie zu sprechen wünsche.

Ich ließ die elektrische Handlampe verlöschen.

Die Mexikanerin war aufgestanden und stellte sich zwischen mich und die Logentür, so daß der Lichtschein vom Korridor nicht auf mich fallen konnte.

»Bleiben Sie,« sagte die Mexikanerin leise, »ich werde ihm entgegengehen. Es ist der Abbé. Es muß etwas ganz Besonderes sein, weil er selbst kommt. Ich werde ihn zuerst im Korridor sprechen. Zeigen Sie sich, bitte, noch nicht. Wir dürfen den alten Herrn nicht zu Tode erschrecken.«

Nun wurde die kleine Loge für mich so höllisch warm wie ein Hexenkessel.

Als das junge Mädchen die Loge verließ, stand ich auf und sah, ohne mich der Brüstung zu nähern, auf das dunkle Parkett und auf die grellhelle Bühne hinunter, aber ich sah, ohne sehen zu wollen. Da unten standen Knaben von acht und zehn Jahren an der Rampe mit künstlichen schwarzen Wollschnurrbärten. Mit Kohlenstrichen war ihnen das Milchgesicht künstlich faltig gezeichnet worden. Mädchen von zehn und zwölf Jahren mit künstlich gewölbten Brustkörben und hochfrisierten damenhaften Frisuren sangen quäkend.

Diese Kinderschauspieler standen an der Theaterrampe wie eine Schar widerlicher Zwerge mit unwahren alten Gesichtern, und ihre miauenden Katzenstimmen klangen, als ob sie fernher aus den Trichtern kleiner blecherner Phonographen kämen und nicht aus Kehlköpfen von Menschen.

Ein kleiner Knabe von neun Jahren, der als behäbiger Bürger mit künstlichem, rundem Philisterbauch ausstaffiert war, und der mit dicken Backen eine unmöglich tiefe Baßstimme zu markieren versuchte, der kaum noch ohne zu stolpern über Teppiche und Parkettboden gehen konnte, ekelte mich vor allem an. Der Held des Stückes war wohl sechzehn Jahre und sang besonders lasterhaft und herausfordernd den Damen in den Proszeniumslogen zu. Wie eine steife Marionette spielte er den Liebhaber, eckig, verlogen und unwahrscheinlich, und sah aus, als ob er immer noch jede Stellung in dem Spiegel vor sich sehe, vor dem er sich die Liebesszene eingeübt hatte. Er grinste, als wäre Liebe etwas schülerhaft Witziges, etwas gassenbubenhaft Unanständiges und etwas kirchlich Sentimentales.

Das Mädchen, das die Heldin sang, war überreif entwickelt, zeigte mit Vorliebe ihre dicken Mädchenwaden und schien überhaupt kein Kind mehr zu sein, sondern eine dicke wohlbeleibte Dame, die sich als Backfisch aufgeputzt hätte; sie sang mit fast männlich sonorer Stimme und trug ihren hohen Brustkasten bis unter das fette Doppelkinn hochgeschnürt.

Eine einzige Mißgeburtengrimasse war das Gesicht dieses ganzen Bühnenbildes da unten. Wie ein Wachsfigurenkabinett, das lebendig geworden ist, und dessen Wachsfiguren gehen, Arme und Beine bewegen und krähen, piepsen und grunzen können, so unnatürlich sah die geisterhaft beleuchtete Kindergruppe dort unten im Lampenlicht aus, Kinder, die hohläugig, verzerrt und verkrüppelt von der Verkleidung und der Anstrengung erschienen.

Mich ekelte vor diesen Kinderlippen, die aussahen wie künstlich gefärbte indianische Rosen, künstlich gefärbte Vögel und künstlich verrenkte Mißgeburten.

Als ich im stillen genug gestaunt hatte über das merkwürdige Treiben der zwerghaften Schauspieler unten in der Bühnenhelle, roch ich das Verbenenparfüm der Mexikanerin in der Loge von neuem stärker und nahm an, daß die junge Dame wieder eingetreten sei.

Ich setzte mich auf den Sessel im Hintergrund der Loge. Da kam ihre Stimme vom Vorhang der Tür her zu mir. Sie seufzte und sagte: »Der Himmel allein weiß, wie das enden will!« Dann hörte ich sie, ohne sie zu sehen, hörte ihr Kleid, das nahe bei mir rauschte. Ihr Parfüm wurde noch stärker; es war, als käme sie als dichte Duftwolke näher zu mir. Dem Rauschen der Kleider nach nahm ich an, daß sie sich auf einen Stuhl in meiner Nähe gesetzt hätte.

»Der Abbé hat heute ebenfalls gleich mehrere Drohbriefe bekommen, worin stand, daß man mir bereits geschrieben habe – mit jeder Post einen. Er fürchtete, daß ich mich zu sehr ängstigte, und war in unserer Wohnung in der Stadt gewesen, wo er von der Dienerschaft hörte, daß ich wieder vom Lande hereingekommen sei und mich im Theater befinde. Er wollte mich beruhigen und bewegen, morgen wieder zu meiner Mutter aufs Land zu reisen. Meine Mutter hatte ihm telegraphiert, daß ich nicht nach Ameca-Meca gekommen sei, wie ich versprochen hatte. Deshalb suchte er mich jetzt überall, der gute alte Onkel.«

Ich hörte zu und hörte auch dazwischen wieder nichts, sondern ließ mich von dem Verbenenduft in warme Phantasien fortlocken. Die Musik unten spielte jetzt mit schwärmerischen Geigen; die Flöten und Geigen lullten mich mehr ein als das Dunkel der Loge und als der Wohlgeruch des Verbenenparfüms. Ich wünschte, es möge auf der Welt nichts mehr geben als Dunkelheit, Blumengeruch, Frauenduft und Geigenmusik.

Die Kinderstimmen hatten einen Augenblick geschwiegen. Jetzt aber quäkte der kleine häßliche Kerl wieder, der den philiströsen Bürger spielte, aber seine Stimme war so klein, daß man sie, wenn man den zwergenhaften Sänger nicht sah, für die Stimme eines Wickelkindes hätte halten können. Wie aus weiter Nacht her hörte ich diese Wickelkinderstimme greisenhaft, vorwurfsvoll winselnd und gequält, sah plötzlich den dunkeln Strohgiebel eines bretonischen Bauernhauses, hinter dessen kurzem Kamin der Vollmond rund wie ein glänzendes Kindergesicht aufging, und hörte die Österreicherin neben mir tief aufseufzen.

Eine Tote war zu uns in die Loge gekommen. Der Verbenengeruch war mir jetzt wie der Geruch verwelkter Grabkränze; die Musik rauschte langgezogen wie ein ferner Atlant, die Dunkelheit war ungeheuerlich, endlos, als wäre alle Menschen und ich selbst gestorben, und gestorben die Heimat. Es gab kein Europa mehr; es gab kein Zurückkönnen mehr zu alten traulichen Tagen; es gab nur noch ein Untersinken in Ungeheuerlichkeiten, in Dunkelheiten, in Schrecknissen, Mord, Verwesung – Untergang ohne Auferstehung.

Dann hörte die Musik des Atlant auf. Hundert Hände klatschten, als ob ein kalter Regen unten ins Parkett prasselte. Ich erhob mich, und als mein Blick die Logenbrüstung streifte, sah ich die Zwergschauspieler unten in langer Reihe vor dem herabgelassenen Vorhang stehen, sich gegen das prasselnde Parkett verbeugen, und sah Hunderte von gelben Orangen und Hunderte von kleinen Blumensträußen, die über die Köpfe der Kindersänger hinflogen, und die den Vorhang tief in die Bühne hinein bauschten. Zwischen der Mexikanerin und mir wurde dann verabredet, daß ich die Briefe zu Hause bei Tag noch einmal ansehen und ihr noch morgen Antwort sagen sollte, ob ich die Briefe für ernste oder kindische Drohungen hielte.

Ich verabschiedete mich eilig, ehe der Zuschauerraum sich noch erleuchtete, und verließ die Loge, da ich der jungen Dame angemerkt hatte, wie peinlich ihr jedes Aufsehen war, und da sie mich im Telegramm besonders darum gebeten hatte, sie während eines Aktes in der dunkeln Loge aufzusuchen.

Als ich nach einigen Augenblicken unten an den zur Pause bereits geöffneten Parkettüren vorbeiging und den Theaterraum erleuchtet fand, sah ich die Mexikanerin an ihrer Logenrampe sitzen. Sie spielte mit ihren Armbändern und nickte nach mehreren Logen hin, wo sie offenbar Bekannte bemerkte, und ihr Grüßen war harmlos und unangestrengt.

Die Straßenluft, die Schreie der Zeitungsausrufer, das Klingeln der Trambahnen, Rufe der Eisverkäufer und Fruchthändler an den Toren des Theaters empfingen mich wie einen, der lange bei einem Sarge gesessen oder in einer schwülen Laube bei einem weltversunkenen Liebesgespräche geweilt hat. Ich fühlte mich erstaunt, daß die Welt aus lauten, ehrlichen, unerbittlichen Geräuschen bestand und nicht mehr aus Kinderstimmen, aus Totenerscheinungen und aus Wolken von unerreichbaren Düften, und nicht aus Angst und Dunkelheit allein.

Der Tod, der Mord, jeder brutale Verlust ist nicht so alpdrückend als die Angst vor dem Tod und vor dem Mord; die Wirklichkeit ist nie so quälerisch als die Gedankenwelt. So sagte ich zu mir und atmete tief. Und es war, als ob ich alle kristallenen Sterne am Nachthimmel über dem Theatertor mit einem Atemzug ein- und wieder ausatmen könnte, so stark und erlöst kam ich mir vor, seit ich nun endlich die Mexikanerin gesprochen und gehört und gesehen hatte, daß sie Fleisch und Blut war und nicht mehr eine unbegrenzte, unklare und nebelhafte Reiseerinnerung.

Morgen sollte ich sie wiedersehen! Ich hoffte für mich von diesem Besuch morgen gar nichts mehr. Aber ich empfand es als eine gesunde, glückliche Tatsache, daß ich für das schöne energische Mädchen morgen eine Notwendigkeit war, eine Erwartung. Ich zündete mit mir großem Wohlbehagen eine Zigarre an, ging dann zum Café Français und bestellte mir ein gediegenes Souper, wählte Austern und den besten Wein, besprach mit dem französischen Kellner eingehend die Temperatur des Weines und benahm mich, als hätte ich eine Dame an meiner Seite, für die ich in verständigster Genießerweise sorgen und mit dem größten Vergnügen mich aufopfern wollte.

Ich aß zuerst mit heißhungrigem Appetit wie ein Genesender, trank gekühlten Rheinwein, süßen Chablis und gewärmten Burgunder, und zuletzt einige Gläser Champagner. Dann ärgerte ich mich, daß ich nicht nur Champagner bestellt hatte, und sagte mir beim Mokka, daß ich mir morgen eine Absage bei der Mexikanerin holen und dann schleunigst wieder nach Europa reisen wolle.

Europa war wieder auferstanden, als ich vom ersten Glas Rheinwein einen kräftigen Schluck getrunken hatte. Ich stellte es mir herrlich vor: die schöne Mexikanerin wie ein schönes Beutestück aus der Raubwelt von Amerika auf den heimatlichen Kontinent hinüberzubringen.

Ich fühlte einen Durst, als hätte ich den Durst aller Ozeane in mir. Ich trank und trank den eisigen Champagner in schnellen Zügen. Ich sah den Kellner, ob meines Durstes merklich verwundert, mit der Wimper zucken. Ich stand dann nüchtern von diesem einsamen Souper auf, setzte meinen Zylinder etwas in den Nacken, sprang in das bestellte Auto, als führe ich zur Mexikanerin, und ließ mich eine Strecke durch die Nachtluft fahren, den Paseo entlang, vorbei an den grünlichen Bronzestatuen der nackten Indianerkönige, vorbei an der finstern Statue des Christoph Kolumbus auf dem Rundplatz der Glorieta di Colon und hinunter bis zur Statue des Guatemozin. Der stand in dunkeln Umrissen, mit dem Federbusch geschmückt, der ihm wie ein Hahnenkamm über dem Scheitel senkrecht auf das Haupt gepflanzt saß, als sei er stolz mit dieser Adlerkrönung geboren. Ein Relief unten am Sockel der Statue zeigte diesen letzten Aztekenkönig, wie er auf einen Folterstuhl geschnallt ist und seine Füße über ein Becken mit Kohlenglut halten muß.

Cortez und die Spanier stehen dort um ihn. Man will ihn zwingen, den Ort anzugeben, wohin er den Königschatz aus Gold versenken ließ.

Aber der Stolze lächelt nur und sagt: »Meine Füße liegen auf Blumen gebettet.«

Und er verriet nichts und ließ seine Füße verkohlen. –

Die Statue dieses eisernen Azteken schwingt mit großer Geste das Kriegsbeil. Er steht aufgerichtet auf dem großen Sockel, und als ich im Auto um den im Sternengewimmel hingestellten todstillen König fuhr, da schien es, als wären die Sterne tausend Funken des Indianerhasses, die aus dem hochgeschwungenen Beil in der Rechten des Königs über die Ebene von Mexiko und über die Europäer in der Hauptstadt hinführen.

Es regnet Haß bei Tag und Nacht in diesem Land, sagte ich mir. Wer mag den alten freundlichen Abbé hier bedrohen? Der Haß der alten gefolterten Könige pflanzt sich auch unter den Europäern hier fort; selbst die Eingewanderten müssen sich untereinander bedrohen und vernichten.

Die Drohbriefe in meiner Brusttasche, die mir die Mexikanerin mitgegeben hatte, knisterten und erinnerten mich an zu erwartende Unheimlichkeiten. Und bei der schnellen Autofahrt flogen die Riesenbäume des Paseo zu beiden Seiten wie tausend aufgerichtete beilschwingende Aztekenkönige in der Nacht an mir vorüber.

Am Platz des Kolumbus bemerkte ich in später Nacht noch zwei Fenster bei meinem Balkon beleuchtet. Es war das Haus, in welchem die Leiche des jungen Mädchens lag, das sich heute auf dem Balkon erschossen hatte. Ich sah einen Augenblick die Reihe der Kerzen, die aus den Fenstern glitzerten, und die wahrscheinlich an der Leiche Nachtwache hielten.

Als ich dann in mein Zimmer heim kam und das elektrische Licht aufschraubte, grinste mir von der Glastür meines Zimmers ein Reflex von einer Scheibe zu – der verfolgte mich noch, als ich in der Sofaecke saß und die Drohbriefe untersuchte.

Der Reflex in der Fensterscheibe sah aus wie der Schein jener Blendlaterne des Telegraphenboten, der mir das Telegramm heute abend gebracht hatte – als wäre die Blendlaterne jetzt draußen für immer stehengeblieben und ginge nie mehr von meiner Tür fort und wolle mir noch Nachrichten von vielen Drohungen bringen.

Ich wußte schon nicht mehr, daß ich bei dem Rheinwein in Europa gewesen war. Ich hörte die Moskitos singen, teuflisch einförmig, einförmig hartnäckig ihrem Blutdurst folgend. Dann lag ich noch lange unter dem Moskitonetz wach und las in meinem Buch, das ich mir zur Nachtlektüre regelmäßig mit unter den weißen Mullvorhang zu nehmen gewohnt war. Und las und schlug mit dem Buch nach den singenden Blutsaugern und bemerkte erst am nächsten Morgen nach stundenlangem Kampf und Ummichschlagen, daß ich die Drohbriefe auf die Bettdecke gelegt hatte, und daß ich eigentümlicherweise gerade diesen Briefen ein paar ruhige Morgenstunden zu verdanken hatte; denn ich hatte einige Stunden geschlafen, ohne es zu wissen. Die Briefe mußten mit einer vergifteten Tinte geschrieben sein; vielleicht war vergifteter Fliegenzucker in der Tinte gewesen, jedenfalls lagen einige Dutzend der Moskitos festgesogen an den Buchstaben des Briefes und krümmten sich dort, ohne daß sie ein Schlag von mir getroffen hätte.

Ich staunte die giftigen Briefe mit verwunderten Augen an und stand auf und wusch meine Hände; denn vielleicht wären die Briefe so vergiftet, daß sie jeden töten konnte, der sie anfaßte, sagte ich mir. Vielleicht – und ich schauderte: ich mochte es nicht ausdenken –, vielleicht war der Abbé schon gestorben, am Gift der Briefe. – Ich konnte kaum die Stunde der Zusammenkunft mit der Mexikanerin abwarten.

Unten saß ich dann im Hoteltoreingang auf einem der hohen Stiefelwichserstühle und reichte einem der gewandten Indianerboys, deren Kleider aussahen wie aneinandergereihte Löcher, die man mit groben Fäden aneinandergereiht hätte, meine Füße, und seine Bürsten fegten leicht und schlangenhaft geschmeidig über das Leder meiner Schuhe. Ich las eine der Morgenzeitungen, las, daß sich gestern abend zur Korsostunde ein junge Mann und eine junge Dame – sie auf dem Balkon, er auf der Straße – Auge in Auge erschossen hatten. Die Eltern hatten den zu jungen Freier am Tage vorher abgewiesen. Die jungen Leute hatten sich heimlich verständigt, daß sie zusammen sterben wollten, wenn der »Danza«, das Schlußstück der Korsomusik, zehn Minuten nach sechs Uhr gespielt würde.

Ich blätterte in dieser Zeitung wie in einer Schauerballade; neben dem toten Liebespaar tauchten die Drohbriefe auf, die vergifteten. Ich dachte an die quäkende Kinderoper, an Angela, die den Paolo, die Mißgeburt mit den drei Armen, liebte, an Erdbeben und gefärbte Rosen, an gefärbte Vögel und an die Götzenbilder dieses Landes; und es war mir, als wäre ich nicht in ein Land unter irdische Sonne, in ein Land aus Erde und Pflanzen gekommen, sondern in eine künstliche Schreckenskammer, geschmacklos von gemaltem Blut strotzend und grauenhaft aufgeputzt. Niemals hatte ich in wenigen Wochen in Europa einer solchen Reihe von abenteuerlichen Begebenheiten beigewohnt. Es schien mir zuletzt, es sei nichts mehr ernsthaft zu nehmen. Wie ein Hintertreppenroman schlimmster Sorte mußten sich die Ereignisse für einen stillen, stubenhockenden Europäer ausnehmen, beim New-Yorker Hochbahnbrand angefangen und bei den Raubmenschen fortgesetzt und noch gesteigert durch die Bekanntschaft mit der Mexikanerin auf einer nahe vor dem Explodieren stehenden Lokomotive und endlich fortgeführt bis heute, wo ich noch immer die rätselhaften Drohbriefe, die mir sehr ernst schienen, in meiner Brieftasche trug, vorsichtig eingehüllt in Pergamentpapier, um mich vor der Gifttinte zu schützen.

Neben mir raschelten die Zeitungen auf zehn anderen Stiefelwichserstühlen; zehn andere Herren, meist Geschäftsleute, lasen eifrig. Die armseligen Indianerburschen, die sich zum Stiefelputzen über die hingehaltenen Füße bückten, waren Abkömmlinge des untergegangenen großen, goldreichen Aztekenvolkes, vielleicht letzte Sprossen alter Adelsgeschlechter. Aus ihren zusammengenähten Lumpenhosen sahen nackte Teile ihrer braunen, geschmeidigen Glieder durch die Löcher. Ihre Väter mußten ehemals musizieren, komponieren, tanzen gelernt haben, um Bürger zu werden, und sie wischen heute den Eroberern, den Mördern ihrer Väter, den Europäern, den Staub von den Stiefeln, lachen dabei vergnügt und drehen sich, wenn sie mit dem Schuhputzen fertig sind, eine Zigarette.

In ganz Amerika gibt sich kein Diener zum Stiefelputzen her. In Nordamerika sind es die Nigger, die dies Geschäft besorgen, in Mexiko die indianischen Eingeborenen. Kein Weißer will der Schuhputzer des anderen Weißen sein. Furchtbar öde und niedrig gehässig fand ich es von meinen weißen Hautgenossen, daß sie sich im Erwerb von solchen Gradunterschieden leiten ließen. Es war, als trennten viele Atlante und nicht nur einer in diesen kleinlichen Anschauungen Amerika von Europa, da bei uns doch niemand in einer Arbeit eine Schande sieht und die Dienstboten das Stiefelputzen ebensogut besorgen wie das Kochen und Wachen und andere Arbeit. Nicht bloß äußerlichen abenteuerlichen Begebenheiten war ich hier stündlich und täglich ausgesetzt; auch vielen tiefgehenden, innerlichen fremdabenteuerlichen Anschauungen, die mich von Stunde zu Stunde nach Europa zurücktrieben, und die mich stolz machten, daß ich mich Europäer nennen konnte und nicht Amerikaner war. Die Haupterlebnisse aber, die mich endgültig nach Europa zurücktrieben, sollten jetzt erst einander folgen. Was ich bisher gesehen, war nur das Hors-d'œuvres der Höllenmahlzeit gewesen.

Ich habe hier noch nicht erwähnt, daß mich meine geschäftlichen Angelegenheiten, die Geographische Gesellschaft betreffend, des öfteren nach Chapultepec zum Präsidenten der Republik in Privataudienz geführt hatten, und daß mein Name gewöhnlich auf den Listen der Eingeladenen bei offiziellen Gardenparties und Empfängen im Schloß Chapultepec aufgezeichnet stand. Wenn auch der Präsident wußte, daß ich privat und zurückgezogen meinen Forschungen in der Hauptstadt und in Mexiko obliegen wollte, so verfehlte er doch nie, mir bei Staatsfestlichkeiten seine Einladung zugehen zu lassen.

Die Mexikanerin, die ebenfalls als eine entfernte Verwandte des Präsidenten in Chapultepec verkehrte, hatte dort meinen Namen auf der Einladungsliste zu den Stiergefechten gelesen. An den nächsten drei Sonntagen gab nämlich der Präsident zu Ehren der Unabhängigkeitsgedenktage Festlichkeiten, die teils aus Truppenrevuen, teils aus großen Empfängen im Schloß Chapultepec, teils aus Stiergefechten bestanden. Drei Sonntage lang feierte man das Nationalfest. Die ersten beiden Sonntage galten den Stiergefechten, der letzte und Haupttag der Truppenrevue sowie dem Empfang in Chapultepec und der Abend dem großen Feuerwerk und nächtlichen Volksfest auf dem Platz vor der Kathedrale.

»Wie ich neulich aus der Einladungsliste in Chapultepec las,« erzählte mir die Mexikanerin, als wir eine Stunde später zusammen den Paseo hinunterritten, »sind Sie nächsten Sonntag zu den Stiergefechten in die Präsidentenloge geladen. Werden Sie dort sein?«

Einen Augenblick stieg eine warme Blutwelle von meinem Herzen in meine Wangen. Das junge Mädchen hatte, als wir uns bei der Statue Heinrichs IV. am Paseo-Eingang wie zufällig trafen und ich mein Pferd an ihre Seite lenkte, nur mit der Reitpeitsche gegrüßt und war mir nach den ersten Begrüßungsfragen beinah lautlos in dem tiefstaubigen Reitweg an der Seite der Promenade immer um eine halbe Pferdelänge vorausgeritten. Wir hatten verabredet, nicht in der Stadt, sondern erst draußen auf der Ebene von den ernsten Briefen zu reden.

Nun wandte sie sich mit dieser Frage mitten auf dem schnurgeraden Paseo und im schweigenden Nebeneinandergaloppieren an mich. Ich hatte einen Augenblick Briefe, Abbé und Drohungen vergessen und glaubte, es erwache in ihr einiges Interesse für meine Person, und sie wünsche mich bald wiederzusehen. Wer wünscht, hofft nur zu gern, und wer Leidenschaften zu erleben wünscht, phantasiert zu gern und zu leicht.

»Ich habe eine Einladung wie gewöhnlich, aber ich weiß heute noch nicht, ob ich zu den Stiergefechten gehen werde«, sagte ich und beherrschte mich. »Ich habe noch kein Stiergefecht wieder gesehen, seit ich in Spanien war. Und als ich das letzte sah, verstand ich nichts davon, da ich nicht viel hinschaute«, fügte ich töricht hinzu. Denn man wird immer töricht, wenn man Hoffnungen verbergen will.

»Ah«, lachte die blasse Reiterin und zeigte ein wenig ihre glitzernden Zähne, als habe sie Lust, zu lachen und zu spotten. »Sind Sie auch einer jener europäischen Herren, die sagen, daß die Stiere Männer auf vier Beinen wären, und daß man sie deshalb nicht wie ein Vieh töten dürfe?«

Verblüffung über die Freiheit, die sich die Zunge des jungen Geschöpfes herausnahm gegen alles, was europäisch schien, machte mich still. Ich lächelte ein wenig, aber ich ließ sich nicht erraten, als sie sich vom Pferd nach mit umsah, ob ich zustimmte, oder ob ich sie verurteilte. Denn ich liebte ihre Keckheit und war zugleich verwundert über ihren gereizten Spott.

Wer spottet, macht sich nachhaltiger bemerkbar, als wer eintönig ernst redet, dachte ich bei mir und freute mich, daß wir auf diesem Ritt heute vielleicht unterhaltsamer würden als gestern abend in der Loge.

»Ich hatte damals eine Dame zu beobachten, die mir ausnehmend gefiel. Deshalb vergaß ich im Madrider Stiergefecht, auf den Stier zu achten«, gestand ich noch törichter.

»Aha!« lachte die vom Ritt nicht im geringsten sich verändernde blasse Südländerin, deren Hautfarbe trotz der dünnen Puderschicht noch gelber leuchtete als die gelben Maiskolben in den Feldern hinter den Straßenbäumen. »Aha, Sie haben die Kühe bewundert und die Stiere übersehen.« Diese Rede gefiel mir wieder gar nicht, und ich hätte gern von etwas anderem gesprochen, nur damit das junge Mädchen durch ihre etwas burschikose Redeweise nicht für mein Gefühl minderwertig werde. Wir ritten jetzt querfeldein, und es war nicht mehr möglich, an ein Gespräch zu denken.

»Haben Sie die Briefe?« hörte ich sie durch den Lärm der Pferdehufe mir zurufen. Ich zog die Briefe mit einer Hand aus der Brusttasche und wollte sie ihr geben.

Sie griff danach. Aber ihr Pferd stolperte im selben Augenblick, und sie ließ die Briefe los, um nicht über den Kopf des Pferdes zu stürzen, so daß die Papiere aus meiner Hand in das Feld flogen. Ich wollte mein Pferd anhalten, um die Briefe aufzulesen. Da fiel mir ein, daß es besser sei, sie flögen in alle Winde, als daß man das Giftpapier noch weiter mit sich trüge. Ich hielt dann die Mexikanerin davon ab, die Briefe zu verlangen, indem ich ihr erzählte, daß ich annähme, die Tinte der Briefe müsse vergiftet gewesen sein, da die Moskitos, die sich an den Buchstaben festgesogen hätten, wie vergiftet hängengeblieben und verendet wären.

Plötzlich wurde das junge Mädchen ohne jede Affektation gefühlvoll, sah mich groß und erschrocken an, ließ das Pferd ruhig gehen und hielt sich dicht an meiner Seite. Ich sah, daß aus ihren Augen Tränen rollten, die wie Silberfiligran über ihren Wangen glitzerten. Sie zog aus der kleinen Brusttasche ihres Reitkostüms ein kleines Taschentuch und weinte. Sie weinte, und ihre Tränen fielen aus dem kleinen zusammengepreßten Tuch, liefen an dem Lederhandschuh an ihrer Hand herab und fielen senkrecht in die Mähne ihres Goldfuchses.. Es war sonderbar anzusehen: eine weinende Reiterin! Ich wußte keine Situation, bei der mich das Weinen dieser mutigen Frau mehr hätte erschüttern können, als diese jetzt auf dem Pferd. Eine Frau so weinen zu sehen, war tief ergreifend. Sie weinte unaufhörlich, laut und lauter. Ich ritt im Schritt neben ihr, jeden Augenblick bereit, ihr Pferd, dessen Zügel sie losgelassen hatte, festzuhalten, wenn es scheuen sollte.

Wir sprachen nichts mehr. Wir ritten einige Minuten langsam im Schritt, als gingen unsere Pferde in einem Trauerzug hinter einem Leichenwagen her.

Ich fühlte, daß sie mir viel zu sagen gehabt hätte, wenn sie sich hätte Luft machen dürfen, aber sie ließ es bei diesen Tränen bewenden und sprach kein Wort. Ich konnte mit keinem Wort diese aufgeregten wilden Tränen beruhigen, das wußte ich, und ich ließ sie weinen. Ich schwieg, und es wunderte mich nur, welche Tränenmassen das Menschenauge aufspeichern kann. Wieviel salzige Bitterkeit, wieviel überquellende Trauer, wieviel unterdrücktes Schluchzen jedes Herz ansammelt, bis es, geladen wie eine Gewitterwolke, in Tropfen und Bächen aus der Höhe auf die Erde stürzt! Eben hatte sie noch so übermütig kaltblütig über »europäische Herren« gespottet, und nun war sie sich sicher nicht bewußt, ob ein Europäer oder ein Mexikaner an ihrer Seite ritte und ihr Pferd hielte und Zeuge ihres Zusammenbruches wäre, ihrer Tränen, die teils aus Bangigkeit für den alten Abbé, teils aus mir unergründlichen Geheimnissen heraus, die sie nicht erklären wollte, teils vielleicht auch aus Schrecken über Ahnungen entstanden, die sie wohl öfters in einsamen Stunden vom kommenden Unglück haben mußte.

Und wie ich so die Zügel ihres goldroten Fuchses führte und den glänzenden und sich rhythmisch wiegenden Hals des schönen edlen Tieres betrachten mußte, da erinnerte ich mich jenes Abends in Orizaba, wo ich einen Augenblick am Bahnhof hinter dem Abbé gestanden hatte, als dieses selbe schöne Tier den blanken Nacken aus dem Waggon streckte, und wo die Mexikanerin die Nüstern des Pferdes geklopft und gestreichelt hatte.

Ich erinnerte mich nicht mehr genau der Worte, die damals der Abbé zu ihr gesagt hatte, nur, daß die Worte die Meinung ausdrückten, als ob die junge Dame sich bei ihrer Rückkunft in der Hauptstadt von jemand, der ihr wahrscheinlich nahegestanden hatte, unbedingt trennen müsse. Ich hatte dann später auch in der Gesellschaft und von dem Reitlehrer gehört, daß sie mit dem Polizeipräsidenten verlobt wäre und ihre Verlobung lösen wollte. Aber warum hatte der Abbé damals in Orizaba zugefügt: »Fürchten Sie nichts!« – War es so gefährlich für sie, wenn sie die Verlobung löste? Oder meinte er, als er sagte: »Ich werde ihn besuchen und ihm Ihre Absicht mitteilen. Fürchten Sie nichts!«, es könnte für ihn selbst gefährlich werden, wenn er ihr beim Lösen der Verlobung behilflich wäre? Und fügte er deshalb hinzu: »Fürchten Sie nichts!«? –

»Fürchten Sie nichts!« begann ich jetzt, als das Mädchen ihr Taschentuch in die Brusttasche schob, und ich sagte das, als ob es mir der Abbé diktierte. »Fürchten Sie nichts!«

Ich meinte irgend etwas, aber ich weiß nicht, wie ich es in Worte fassen sollte; ich hätte gute und sichere Hilfe bringen können, hätte ich meinen Gefühlen Luft machen dürfen; hätte sie eine Liebeserklärung von mir angehört oder wenigstens anhören wollen, dann wäre ich befreit gewesen von dem Hochdruck meiner Empfindungen für dieses Weib an meiner Seite. Aber es war nicht möglich, denn in dieser Stimmung wäre mir eine Liebeserklärung wie ein räuberischer Überfall erschienen, als wäre ich ein Wegelagerer, als wollte ich die erstbeste Schwäche einer Frau für meine Zwecke ausnützen. Ich mochte hier nicht rauben, wo Unglück und Kampf zu bestehen waren. Zuerst mußten die Schrecknisse beseitigt sein. Dann könnte ich vielleicht Boden fassen und der Frau meinen Blutlauf, der auf ihr Herz zuströmte, zeigen.

»Fürchten Sie nichts!« wiederholte ich nur immer wieder und erschien mir dabei väterlich und würdevoll wie der alte Abbé. »Fürchten Sie nichts.«

Sie sah mich groß an. Sie fragte mich mit den Augen: Aber die Briefe waren doch vergiftet?

»Fürchten Sie nichts! Die Briefe stammen von einem ganz kindischen Menschen, der sicher nichts anderes will, als sich Ihnen auffällig machen. Vielleicht will er sich Ihnen nähern«, log ich, ganz entzückt von den großen schwärmerischen Augen, die mich ansahen. »Dem Abbé geschieht nichts. Sie werden Ihren Onkel noch lange bei sich behalten.«

»Er ist nicht mein Onkel«, flüsterte das Mädchen. Und plötzlich von einem jähen Entschluß gepackt, wendete sich ihr Körper energisch zu mir. Sie streckte mir ihre rechte Hand hin und sagte: »Ich muß es Ihnen sagen! Sie sind ein Europäer, Sie sind nur kurz hier, gehen wieder über den Atlant zurück und werden uns hier und alles bald wieder über Ihrer alten Heimat Europa vergessen haben. Der Abbé liebte meine Mutter, als sie jung waren, und ist mein Vater. Sie sind jetzt der einzige auf der Welt, der das außer uns drei Menschen in Mexiko weiß. Aber vergessen Sie es schnell wieder! Ich erzähle es Ihnen, damit Sie mir jetzt die volle Wahrheit sagen. Habe ich etwas für meinen Vater von diesen Drohbriefen zu fürchten? Sagen Sie offen: Wie finden Sie den Charakter des Briefschreibers; ist er ernst zu nehmen?«

Sie schaute mich mit weitgeöffneten Augen an. Dunkel wie ein offenes Grab neben einem anderen offenen Grab, so sahen die schlaflosen, geängstigten und von Angst ermüdeten Augen im Gesicht des blassen Mädchens aus.

Sollte ich in diese zwei dunkeln, graboffenen Augen noch den Ernst und die Sorge meiner Beobachtung hineinlegen? Sollte ich sagen, was ich wußte: daß der Mann, der die Briefe geschrieben, ein mit allen Verbrechen beladener Schuft wäre, der zu allem fähig sei? Konnte ich, durfte ich, weil ich einiges von den Charakteren der verschiedenen Schriftzeichen verstehe, es wagen, diesem jungen Mädchen neue schlaflose Nächte, sorgenvolle Stunden aufzuladen? Sollte ich sie wieder zum Weinen bringen, wenn ich meine ernsten Vermutungen ausspräche?

Ich konnte mich doch aber auch irren und die Ärmste noch schwerer quälen; vielleicht, daß gar keine Sorgen, keine Schrecknisse in den Drohbriefen waren! Vielleicht kamen diese Briefe von einem Witzbold, der sich wirklich auf tölpelhafte Art der jungen Dame nähern wollte, und der später, wenn der Scherz gelänge, uns alle, die wir ihn ernst nahmen, verlachen würde.

»Fürchten Sie nichts!« entfuhr es mir wieder. Im gleichen Augenblick stutzten wir beide. Unsere Pferde stellten die Ohren hoch. Wir waren, ohne darüber nachzudenken, wohin wir ritten, auf ein ganz unheimliches Terrain geraten. Wir hatten uns dem Seesumpf genähert, der draußen vor Mexiko in der Ebene wie eine bläulichgraue Bleimasse, von Staubufern flach umgeben, unter der Sonne liegt.

Graue Mückenschwärme überfielen unserer Pferde, und diese begannen erschrocken zu galoppieren; aber wir hatten die Richtung verloren. Wir wußten im ersten Erstaunen nicht, stürzten die Pferde mit uns in die Sümpfe oder von den Sümpfen fort. Denn kaum, daß die Hufe scharf in den krustigen, gedörrten Steinboden einschlugen, so barsten die getrockneten Schichten, die sich als graue dünne Erddecken über tiefen Hohlräumen an den Sumpfrändern des Sees meilenweit ausbreiteten. In diese geborstenen Erdkrusten und Erdhöhlen brachen unsere Pferde bis an den Bauch ein, und aus den Staubschichten, die von den Pferdehufen wie Rauch in die Luft gewirbelt wurden, stürzten Myriaden von Moskitos hervor, die ebenfalls wie graue fliegende Staubwolken die helle Luft über unseren Köpfen verdunkelten.

Ich wollte rufen, aber die Stechfliegen und der Staub füllten meinen Mund an, meine Augen und meine Nasenlöcher. In meine Ärmel, überallhin fühlte ich die grauenhaften Fliegenschwärme eindringen. Die Pferde bäumten sich, schnaubten und schlugen mit den Hinterfüßen in die Luft, sobald sie mit den Vorderhufen wieder festen Fuß gefaßt hatten. Ich lockerte die Zügel und überließ es dem Instinkt meines Pferdes, sich vor dem vollständigen Versinken aus dem Staubgrab des Sumpfes zu retten. Kein Baum, kein Strauch, kein Gras, nichts Wachsendes war auf den dürren, brechenden Erdkrusten, die wie die Schollen einer grauen Eisfläche in langen Rissen zerbarsten, einsanken und sich senkten und hoben, als wäre dieser Ritt eine Jagd über die Aschenkrusten des Höllenbodens selber. Die Wolken von Insekten fielen wie Myriaden von Qualen über Tiere und Menschen her, Staub und Insekten verfinsterten das Licht um mich, so daß ich nur mit geschlossenen Augen, die Stirn dicht auf die Mähne des Pferdes gepreßt, vorwärts kommen konnte, bedeckt von Staub, der aus der Luft auf mich herabfiel, als wollte er mich begraben, indessen die Moskitos uns das Fleisch von den Knochen bissen. Ich glaubte, unser Leben ginge zu allen Teufeln. Und ich trauerte bereits um die arme Mexikanerin, die so jung neben mir sterben und in einem ausgedörrten Sumpf begraben liegen sollte. Ich hörte und sah durch die Insektenschwärme und durch den Erdregen nichts mehr von ihr und ihrem Pferd – nur dumpfes Hufschlagen war irgendwo zu vernehmen.

Dann endlich fühlte ich, daß mein Pferd sich verzweifelt auf die Hinterfüße stellte; die Vorderhufe faßten eine Böschung, einen Eisenbahndamm, den Damm der Ingenieure, die hier mit der Austrocknung der gewaltigen Erdfläche begonnen hatten. In zwei Sätzen ist meine »Stella« oben auf der Böschung. Das Pferd prustet mit den Nüstern, haut um sich, und es wird hell um mich; die Moskitoschwärme verziehen sich zum Sumpfterrain zurück. Ich schaue auf und sehe auf dem Bahndamm wie einen fortstürzenden Punkt in weiter Ferne die Mexikanerin! Ihr Pferd scheint scheu geworden zu sein und mit ihr durchzugehen! Ich bin erleichtert, als ich sie hochaufgerichtet fortjagen sehe. Sie lebt wenigstens; und als die ausgezeichnete Reiterin, die sie war, würde sie auch keinen Schaden mehr nehmen, wenn auch das Pferd scheute. Ich jagte ihr zwar nach, aber ihr Pferd und die Staubwolke, die sie umgab, wurden immer kleiner, bis sie hinter ein paar Erdwellen verschwand.

Aber ich ließ nicht nach und jagte vom Bahndamm zu einer breiten Landstraße, die nur auf der einen Seite mit weidenartigen, knorrigen Bäumen besetzt war. Zu beiden Seiten der Straße lag braches Land flach wie eine Tafel. Hie und da schoß ich an ein paar einsamen, in graublaue Tücher eingehüllten, alten Indianerweibern vorbei oder an weiß gekleideten Männern, die alle barfuß und wie Katzen lautlos unter der Baumreihe hintereinander herliefen.

An einer Mauer, die zerfallen von einem alten Gehöft übriggeblieben war, standen ein paar Maultiere zusammengekoppelt, und unter den Bäuchen der Tiere hatte sich der indianische Maultiertreiber zum Schlafen auf die Erde gelegt; dort schlief er, beschattet von seinen Lasttieren, die geduldig den Mauerkalk anstarrten. Überall war Friedlichkeit, beschauliches Dasein. Überall, wo keine Europäer sichtbar sind, überall, wo die indianische Natur mit ihren indianischen Bewohnern allein gelassen ist, scheint der Friede uralter Naturgötter zu walten. Nur der Europäer wird in diesem Lande vom Haß der Erde verfolgt.

Ich hatte diesen Satz noch nicht ausgedacht, da überschlägt sich mein Pferd, und ich fliege wie ein Ball gegen einen Baumstamm. Ich und das Pferd sind für einen tausendstel Augenblick ein chaotisches Gemengsel. Die Hufe und die Steigbügel fliegen um meinen Kopf, und ich fürchte, daß das sich aufraffende Pferd mich erschlägt mit seinen um sich hauenden Füßen. Ich getraue mich nicht, meinen Körper zu rühren; mir ist, als müsse mein Rückgrat zerbrochen sein, mein Brustkasten zerquetscht, meine Hüften eingeknickt. Aber ich bin heil, als ich mich betaste, und das Pferd ist aufgestanden, tummelt sich langsam auf der Straße und kommt zu mir zurück. Meine Nase, meine Stirn, mein Kinn bluten, und meine Zunge habe ich zerbissen. Das Blut ärgert mich mehr, als daß es mich erschreckt. Ein Siegelring, ein altes Familienerbstück, ist mir beim Sturz vom Finger geglitten. Ich suche ihn eine Weile; ich wühle in welken Laubhaufen, die unter den Bäumen liegen, aber mein Ring findet sich nicht mehr.

Ich habe ihn unfreiwillig den Göttern des Landes geopfert, denke ich mir. Sie nehmen uns Europäern jetzt das Gold ab, das vielleicht einst im Mittelalter die Spanier von hier geraubt und in Europa zu Ringen verarbeitet haben. Vielleicht wollte das Gold wieder zu seiner Heimaterde in Mexiko zurück. Und als ich wieder mit etwas schmerzendem Brustkasten weiterritt, sagte ich mir: Oft ist der Wille eines leblosen Dinges stärker als ein Menschenwille, wenn es länger als der Mensch unter Menschen lebt. Mein Ringgold, wenn es aus Mexiko war, hat mich vielleicht mehr als mein eigener Wille nach Mexiko getrieben, und ich war nur wie der Maulesel, der Lastträger, der das Jahrhunderte alte Gold an seine Heimatstelle zurücktragen sollte. Vielleicht hat dieses Gold meines Ringes jahrhundertelang in Europa auf die Stunde der Rückkehr nach Mexiko gewartet. –

Nach Stunden komme ich zu den nach Pulque stinkenden Vorstadtgassen der Stadt Mexiko zurück. In einer Gasse hält mir ein indianischer Losverkäufer eine Reihe Lose unter die Augen. Ich greife vom Pferd herunter nach ein paar Losen, und am Nachmittag hatte ich ungefähr dieselbe Summe zurückgewonnen, die mein verlorener Siegelring wert war.

Glück im Spiel ist Unglück, dachte ich – Unglück für den, der sich verliebt glaubt. Ich hatte telephonisch in der Wohnung der Mexikanerin angefragt, ob die junge Dame gut heimgekommen sei. Sie sei schon nach Ameca-Meca auf ihre Hazienda zu ihrer Mutter abgereist, sagte mir der Portier des Hauses, und ich lag danach auf meinem Schaukelstuhl und pflegte meinen zerschlagenen Körper und meinen zerschlagenen Geist und genoß es, daß ich mich todunglücklich fühlte, denn ich war noch in dem jugendlichen Mannesalter, wo man Unglück und Glück gleich belebend empfindet und genießt. Ich war kaum dreißig Jahre alt.

Seltsam, daß sie verschwunden war, ohne ein Lebenszeichen für mich zurückzulassen. Ohne meine Anfragen nach ihrem Befinden zu beantworten, blieb dieses sonderbar eigenwillige Geschöpf verschollen, als wäre ich ihr fremd und unbekannt geworden, als wäre ich tot. Oder wünschte sie vielleicht, seit sie mir den Abbé als ihren Vater verraten hatte – wünschte sie vielleicht, daß ich für sie tot sein solle? Ein grauenhafter Argwohn stieg in mir auf.

Hatte sie vielleicht gar meinen Tod gewollt, als sie unseren Ritt in den mir unbekannten ausgetrockneten Sumpf hinlenkte? Hatte ihr Geständnis sie vielleicht gereut, und wollte sie, da ich der einzige war, der außer dem Abbé, außer der Mutter und außer dem jungen Mädchen um das Familiengeheimnis wußte, das ich in einem schwachen Augenblick von ihr erfahren hatte – wollte sie das Geheimnis mit mir in den Staubhöhlen des ausgetrockneten Sumpfes begraben?

In diesem Lande, in diesem Reich aller Ausgeburten einer höllischen Phantasie war es auch möglich, daß ein junges Mädchen Mordgedanken bekam. Oder war mein Gehirn durch die letzten Ereignisse und durch die aufregenden Geständnisse selbst schon so abenteuerlich und verwildert geworden, daß es Argwohngedanken schuf, die den Mißgeburten im mexikanischen Museum glichen?

Ich stellte mir nochmals das schmale, gelbe und etwas geistesabwesende Gesicht der Reiterin vor, damals, als sie aufhörte zu weinen und zu mir sagte: »Vergessen Sie, was ich Ihnen eben eingestanden habe!«

Wie schnell war sie dann von meiner Seite verschwunden gewesen, als wir in dem Sumpfboden auf die ausgedörrten Erdplatten, in die Staubhöhlen und in die Moskitoschwärme gerieten! Wie verschwand wie eine, die den Weg kannte. War es denn möglich, daß sie in einem Augenblick mir ergeben scheinen, im nächsten den Drachengedanken, mich umzubringen, haben konnte? –

Ich begann an der Sicherheit aller festen Begriffe irre zu werden. Der Erdboden, auf dem ich in der Stadt Mexiko ging, erschien mir unruhiger als der Atlant, auf dem ich hergekommen war. Es war immer ein unsichtbares Erdbeben hier in allen Dingen, in allen Gehirnen, in allen Tagen. Nichts vollzog sich nach geordneter Folge, wie es in Europa der Fall war. Immer zersprangen die Figuren des täglichen Daseins und wurden zu Grimassen ohne Ende.

Wer das nicht miterlebt hätte, der müßte glauben, wenn er davon hörte, ich hätte mir das Leben hier vielleicht doch geradliniger, feststehender und nüchterner einrichten können. Aber man soll bedenken, daß ich diesen Verhältnissen hier als ein Neuling, als Forscher und Beobachter und Mann der Wissenschaft gegenübertrat, zugleich als empfindender, liebessehnsüchtiger junger Mensch, der noch zu wenig Leben hinter sich hatte, um das Leben vollständig zu beherrschen und die Verhältnisse nach eigenem Willen umzugestalten. Ich war nachgiebig, mitfühlend und aufs Leben hinhorchend, ohne mich mit dreißig Jahren zu getrauen, die Wirklichkeit zu korrigieren, wie man es in späteren Jahren versucht. –

In den nächsten Tagen, da ich nichts mehr von der Mexikanerin gehört hatte, seit ich »Fürchten Sie nichts!« als letztes Wort vor dem Sumpf gesagt, wurde mir klar, daß sie sich nach dem Geständnis, daß der Abbé ihr Vater sei, vor mir schämte und sich deshalb zurückzog. Ich sah als einzige Gelegenheit, sie wiederzusehen, nur den nächsten Sonntag an, an dem sie zum Stiergefecht kommen würde. Vielleicht fände ich sie in der Präsidentenloge, und dann wollte ich nicht mehr abwarten, sondern mich ihr vor der ganzen Welt auffallend nähern. Ob sie ihre Verlobung gelöst hätte, konnte mir im Deutschen Klub, wo man die Mexikanerin wenig kannte, niemand sagen. Man sprach in diesen Tagen in der ganzen Hauptstadt nur vom festlichen Stiergefecht am nächsten Sonntag und erzählte sich erregt und lebhaft, daß zum erstenmal eine Frau als Toreador auftreten würde. Die Dame sei Mexikanerin und werde, da sie ihren Namen nicht nennen wolle, mit einer schwarzen Larve gegen den Stier kämpfen. Es sei zum erstenmal, daß eine Frau zum Stiergefecht zugelassen werde. Auf der Calle San Franzisko sah ich dann in dem großen Schaufenster eines Damenmodegeschäftes die Kostümröcke der Stierfechterin. Es war ein scharlachnes, mit faustdicken Goldborten besticktes Kostüm, das sich in nichts von einem männlichen Kostüm unterschied außer dem einen, daß die Taille des Beinkleides enger und die Hüften weiter und runder zugeschnitten waren. Ich ging täglich mehrmals durch die San-Franzisko-Straße, und dann sah ich mir immer das verheißungsvolle Kostüm an. Das Schaufenster war immer von dichten Menschengruppen umgeben, und ganz Mexiko sah mit höchster Spannung dem ersten Auftreten einer Frau in der Arena entgegen.

»Kommen Sie nicht am Sonntag in die Loge des Präsidenten zum Stierkampf?« hatte sie, die ich jetzt täglich auf dem Korso und auf allen Reitwegen suchte, zu mir damals gleich bei der Zusammenkunft am Paseo kurz nach der Begrüßung gesagt. Und nun sollte ich Sehnsucht nach ihr bekommen – so bildete ich mir einfältig ein –, deshalb zeigte sie sich nicht: damit ich am Sonntag zu ihr in die Präsidentenloge käme. Daß sie verlobt war und der Polizeipräsident neben ihr sitzen müßte, das fiel mir gar nicht ein. Ich sah mich schon in meinen Gedanken neben ihr, und ich atmete auch das Verbenenparfüm schon wieder ein.

Mochte sie mich haben ermorden wollen oder nicht – es war mir jetzt alles gleich, wenn nur endlich diese leeren Wartetage endeten, wenn ich die Mexikanerin nur endlich wieder lebendig und nicht immer als Phantasie anreden dürfte. Von der Stunde an, in der mir klar wurde, daß ich mich auf dem letzten Ritt Hals über Kopf und ernstlich in sie verliebt hatte, daß meine anfängliche Schwärmerei sich jetzt zu einer ernsten unternehmenden Leidenschaft ausgewachsen hatte – von dieser Stunde an erschien ich mir plötzlich alterslos geworden. Bald fühlte ich mich für Augenblicke vom Ernst der Sehnsucht weise, patriarchalisch, menschenliebend und göttlich mitleidig gegen alle menschlichen Schwächen gestimmt; dann wieder wurde ich kindisch, gereizt, launisch, unklug und tölpelhaft unsicher. Aus tiefem, weltfernem und bedächtigem Schweigen verfiel ich in unbedachtes Geschwätz, wurde von einer Lust, mich auszusprechen, beherrscht, die ich sonst an mir für unmännlich und lächerlich erklärt hätte. Aber nun schien mir von meinem Herzen und von meinem, dem Liebesziel zustrebenden Blut alles geheiligt zu sein. Geschwätz und Schweigen, Torheit und Seelenernst – alles schien mir gleichberechtigt seit der Stunde der Erkenntnis, die mir sagte, daß ich eine ernste Leidenschaft in mir trug.

Jetzt gleich sich für mein Gefühl alle Erdteile; was wußte ich noch davon, daß ich mich sonst in diesem fremden und unsicheren Land immer als kultivierter und überlegener Europäer empfunden hatte. Alle Erdteile hingen doch unter den Meeren als die gleiche Erde zusammen, so philosophierte ich jetzt; wie konnten dann Meere und Ozeane Menschenrassen trennen? Wir waren alle auf derselben Erde ein einziger Typus Mensch, alle hatten Blut, alle wollten, daß dieses Blut einem andern Blut zuströme, alle Menschen erlebten dasselbe, in Europa, in Afrika, in Asien, in Australien, in Amerika, alle, die sich Menschen nannten, wurden geboren, wollten lieben, mußten zeugen, gebären und sterben. Europa war jetzt überall und nirgends für mich. Es gab keine Erdteile mehr – es gab nur noch eine einzige Erde; seit ich, der Europäer, die Frau eines anderen Erdteiles gewinnen wollte, verflüchtigte meine Liebesglut selbst den Atlant. Und alle Ozeane waren mir nur Oberflächlichkeiten, sie, die den Europäer vorher für mich von der Fremde innerlich und äußerlich getrennt hatten. –

Ich wollte jetzt nicht mehr in dem spanischen Hotel wohnen bleiben. Ich suchte mir am elegantesten Platz der Hauptstadt, an der Glorieta di Colon, in einem der wenigen Häuser dort, die im Halbrund den Korsoplatz säumen, Wohnung in einer amerikanischen Pension.

Ich fand dort zwei sehr angenehme Zimmer: einen Salon im Erdgeschoß, dessen Glastür auf den Vorgarten sah, und ein Schlafzimmer im ersten Stock, dessen Balkonfenster ebenfalls den Vorgarten weg auf den Korsoplatz sah. Hier konnte ich jeden Abend von beiden Zimmern den Korso aus nächster Nähe schauen, die Musik in meinen Zimmern hören; und die Wagenreihen, die sich um das Kolumbusdenkmal in der Nähe des Musikkiosks aufstellten, konnte ich genau beobachten; und wenn ich die Mexikanerin nicht selbst jeden Tag am Wagen persönlich begrüßen durfte, so konnte ich wenigstens hinübergrüßen und sie sehen und, solange der Korso währte, der Ersehnten nahe sein. Ich dachte mir auch bereits heimliche Stunden aus; die Geliebte könnte ja leicht auf Augenblicke unten ihren Wagen verlassen, einen Augenblick durch den Vorgarten herein in meinen Salon treten, der nur zwei Stufen höher als der Vorgarten nach dem Korsoplatz hin lag; ich sah voraus, welche kostbaren Augenblicke dieser kleine Salon uns beiden bringen könnte. Ich ließ sogar schon ein Klavier hereinstellen, um Gelegenheit zu haben, ihr neue Kompositionen aus Europa vorzuspielen und von ihr mexikanische Lieder zu hören, denn sie hatte mir einmal gesagt, sie könne nur mexikanische Musik, Danzas und Nationallieder leiden und verstünde wenig von europäischer, sogenannter klassischer Musik. Vielleicht würde ich schon am Sonntag nach dem Stiergefecht eine Möglichkeit finden, sie vom Korso aus zu mir zu bitten, denn sie war umgänglich, wenn sie gut bei Laune war. So viel hatte ich gleich bei ihr bemerkt, daß sie sich, wie als Reiterin, so auch als Dame, leicht über Hindernisse hinwegsetzte, aus dem Gefühl heraus, ein modernes junges Mädchen zu sein.

Am Sonnabend nachmittag ging ich auf die Calle San Franzisko und holte aus einem Juwelierladen dort endlich den Opal ab, den ich in einen Ring hatte fassen lassen. Ich steckte den Ring an meine Hand und dachte: Nun will ich doch sehen, ob der Opal nicht einmal zur Abwechslung statt Tränen Glück bringt. Ich komme, während ich noch mit mir spreche, am Bureau einer mexikanischen Zeitung vorbei, und in der Vorhalle der Redaktion, wo hinter Glasscheiben die letzten Telegramme und Extrablätter angeklebt waren, sehe ich eine Menschenmenge Kopf an Kopf – viele Menschen, die ein Extrablatt lesen.

Ich lese, daß der Abbé * heute morgen an einer Straßenecke umgefallen und plötzlich gestorben wäre. Ehe der Krankenwagen ihn zum Krankenhaus gebracht hätte, sei er unterwegs verschieden. Er sei eben zum Frühstück beim Polizeipräsidenten gewesen, wo er noch bei guter Laune geplaudert hätte; und kaum habe er den Polizeipräsidenten verlassen, so sei er an der nächsten Straßenecke umgefallen und gestorben, wahrscheinlich am Herzschlag. Ich lese das Extrablatt drei-, vier-, fünf-, sechsmal. Ich konnte es fast auswendig, als ich von dem gedruckten Blatt wieder auf die Straße sah, und konnte es trotzdem nicht verstehen.

Der Abbé war eines natürlichen Todes gestorben und nicht ermordet worden. Er war einfach am Herzschlag gestorben. Und die Drohbriefe? Was hatten die dann mit seinem Tod zu tun? Wie war das eigentümlich! Die Drohbriefe künden ihm seine Ermordung an, und er stirbt von selbst, just als man ihm droht, ihn zu ermorden. Ist er aus Angst vor den Mördern oder aus Aufregung oder aus Zufall gestorben? Und meine Ersehnte, meine geliebte angebetete schöne Mexikanerin – sie wüßte es vielleicht noch gar nicht. Oder sie erführe es eben erst telegraphisch in Ameca-Meca. Sie käme natürlich nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters morgen nicht zum Stierkampf, und nicht abends zum Korso, und nicht in meinen Salon, und nicht an mein Klavier.

Ich ging zum Reitstall und ließ mir mein Pferd satteln und wollte ausreiten, um draußen auf den Feldern von Mexiko, auf dem fliegenden Pferd, meine Gedanken in aller Einsamkeit auf diesen jähen, unerwarteten Umschlag aller meiner Erwartungen mit Nüchternheit und Mut zu konzentrieren.

Aber ich kam mit »Stella« heute nicht weit; kaum zwei Straßen entfernt vom Stall, als ich eben in die Hauptstraße einreiten wollte, bemerkte ich, daß das Pferd große Unruhe zeigte. Ich dachte, das grelle Sonnenlicht blende das Pferd, das mehrere Tage im dämmerigen Stall zugebracht hatte, und blieb deshalb im Häuserschatten; eine Weile schien es auch, als beruhige sich »Stella«, dann aber mußte ich Lastwagen und Mauleseln ausweichen und auf die Sonnenseite der Straße lenken, und gleich wurde mein Pferd wieder unruhig. Es kaute an der Trense, als wolle es den Stahl im Maul zermalmen; kaum konnte ich die Zügel knapp genug halten: es hätte sich fortgestürzt, wenn ich nicht mit aller Kraft die Zügel kürzer gefaßt hätte; und endlich half auch kein Beruhigen mehr: ich wendete das Pferd, und es spitzte die Ohren, als ahne es Unglück von allen Seiten, und wollte zur Stadt zurück. In solchen Fällen, wenn einem das Leben ganz unverständlich wird, ist es besser, schweigend dem Schicksal zu gehorchen. Ich fühlte, ich sollte heute nicht ausreiten, und lenkte mein Pferd zum Stall zurück. Im Hof der Reitschule begegnete mir der junge Reitlehrer, als ich eben einritt, er sah das unruhige Pferd und untersuchte es sofort; da bemerkte er, daß die Ohren des Tieres voller Zecken saßen, die sich an dem Tier, das einige Tage im Stall stillgestanden, tief in die Ohrengänge festgesetzt hatten und ihm das Blut aussogen. Der Reitlehrer schimpfte auf den Indianer, der das Pferd unter seiner Pflege hatte, und der es so vernachlässigen konnte; mir selbst aber war für heute der Appetit zu einem Ausritt genommen.

Der Reitlehrer erklärte mir dann noch, daß die Zecken im Ohr des Pferdes lebendig würden, sobald das Tier in die Sonne käme, und daß deshalb das Pferd unruhig geworden sei, als ich in den Straßen auf der Sonnenseite ritt.

Ich stand da und hörte das Wort »Zecken« wie ein gutes deutsches Wort und sah dabei alte hölzerne Bauernscheunen, Heufuder und Erntezeit.

Wie weit bin ich doch fort von dem Heimatkontinent! dachte ich: sogar ein Wort, das ein häßliches Insekt bezeichnet, kann mir im Ohr wohltun.

Ich wunderte mich dann, daß der Reitlehrer gar nichts von dem plötzlichen Tod des Abbés sprach. Aber er konnte ja nicht wissen, daß der Abbé der Vater der mexikanischen Reiterin war, und er hatte sicher auch noch nichts von dem Extrablatt erfahren. Aber es wunderte mich doch, daß nicht jedermann vom Abbé und von der Mexikanerin redete; alle Dinge sind doch ein einziger Schöpfungsleib, dachte ich weiter, und alle sollten doch immer alles wissen, auch ohne Extrablätter. Wenn uns ein Mensch gegenübersteht, der eine wichtige schwere Nachricht bei sich trägt, die er uns mitteilen will, müßten wir ihm durch Gedankenübertragung die Nachricht wörtlich aus den Augen und aus der Stimmung lesen können; wenn die Menschen absichtsloser und unbewußter leben würden, könnten sie alle allwissend sein wie das All. So philosophierte ich vor mich hin. Und ich war, ohne es zu wissen, zu Fuß in der entgegengesetzten Richtung gegangen, und nicht nach meiner neuen Wohnung an der Glorieta, ich ging ganz in Gedanken nach dem alten spanischen Hotel, wo ich bisher gewohnt hatte. Erst unter dem Torbogen, als ich in den Hotelhof eintrat und immer noch keinen festen Gedanken über den Abbé, über die Drohbriefe und über das Mädchen, nach dem ich mich sehnte, fassen konnte – erst im Hotel auf der Treppe, als ich oben auf der Veranda wieder die Hotelbesitzerin mit ihrer Serviette auf dem Rücken und dem offenen frischgewaschenen Haar auf und ab gehen sah, da fiel mir ein, daß ich ja gar nicht mehr in diesem Hotel wohnte, und ich schämte mich eine Sekunde vor der Hotelfrau und vor meiner Zerstreutheit. Ich kehrte um und freute mich, daß mich die Stiefelwicherburschen unter dem Torweg grüßten, und daß es noch Menschen in der Stadt gab, die harmlos und ohne zu schaudern hier in den Tag hineinleben konnten. So hätte ich auch ewig sein mögen wie die Hotelfrau oben, die in der ewigen Pflege ihres Haares alle Lebenslust konzentrierte, und wie die kleinen Indianerburschen, die Stiefelwichserjungen, die jetzt, wo das morgendliche Hauptgeschäft vorbei war, neben ihren Stühlen auf der Erde kauerten und sich dünne Zigaretten drehten und sie rauchten oder an dem grünen Pflanzenstengel von einem Stück Zuckerrohr sogen, das sie sich für einen Pfennig bei der nächsten Fruchtverkäuferin erstanden hatten; sie alle lebten sorglos.

Ich bekam beim Anblick der grünen Zuckerrohrstengel eine Sehnsucht, mit meinen unfertigen Gedanken, mit dem Schrecken der Todesnachricht des Abbés und mit dem Bewußtsein, daß ich nun die Mexikanerin am Sonntag in der Präsidentenloge nicht sehen sollte, allein zu sein und mir alles zurecht zu legen – allein mit mir und grüner Landschaft. Sehnsuchtgedanken und Landschaft lieben einander, sagte ich zu mir.

Ich ging im Reitanzug, wie ich war, zur Trambahn, die eben an der nächsten Straßenecke hielt.

Ich hatte keine Ahnung, wohin diese Trambahn führe, und verlangte vom Schaffner ein Billett bis ans Ende der Fahrstrecke. Irgendwo draußen in einer Vorstadt von Mexiko würde die Bahn endigen, dachte ich mir.

»Nach Ixtapalapa?« fragte der Kondukteur. Ich nickte und dachte dabei: Meinetwegen darf mich der Wagen bis auf den Ixtaccihuatl und auf den Popocatepetl fahren – ich halte still; ich bin zu sehr zerschlagen von dem Leid, daß ich nun morgen zum Stiergefecht meine Mexikanerin nicht sehen darf.

Jetzt erst, wo ich still auf der Bank des europäischen Trambahnwagens saß, dem ein indianischer Trambahnwagen »nur für Eingeborene« angehängt war, konnte ich einigermaßen mein Leid übersehen.

Der Abbé, der rüstige, liebe alte Herr, war gestorben. Hingestürzt, tot, Herzschlag...! Wie einfach und unerhört unkompliziert war das Ende eines Lebens, während das Leben solch ein Wirrsal von Unkenntnis und solch eine Flucht vor der Unkenntnis sein konnte. Er hatte geliebt, eine Tochter gehabt, heimlich; und öffentlich durfte er nur der Berater, der Freund seines Kindes sein. Warum? – Weil die Menschen sich ausgedacht hatten, daß es für manche keine anderen Gefühle geben sollte als Seelsorgergefühle. Körpergefühle sollten ihnen fremd bleiben!

War diese Erfindung nicht auch eine Mißgeburt? Es gab auch unter den Gedanken lebende Mißgeburten, die man nicht ohne Schauder ansehen konnte, wenn man einfach und natürlich fühlte. War man aber ein Schwärmer, so schwärmte man eben auch für diese Mißgeburtgedanken, so wie der Indianer für die Mißgeburtenkörper im Nationalmuseum schwärmte und Hand in Hand mit seiner ganzen Familie hinkam und dort die vermeintlichen Lebenswunder anstaunte. So bestaunt das europäische Volk, ebenso wie die Indianer, sagte ich mir, seine hirngespinstigen und naturwidrigen Gedankenmißgeburten, indem es aufsieht zu denen, die sich dem Priestergesetz der Lieblosigkeit und der Entsagung unterwerfen können, anstatt Menschenfortpflanzer zu werden – einem unnatürlichen Gesetz, das sehr einer Mißgeburt gleicht.

Ein solcher Gedanke, der die Geschlechtsliebe ausschalten konnte, war viel ungeheuerlicher und grotesker als alle Kälber mit zwei Köpfen, als alle Paolos mit drei Armen.

Der Abbé mußte schlimm und ernstlich für diese Entsagung gelitten haben, die er sich auferlegt hatte. Sein Leben konnte niemals ganz reine Wahrheit gewesen sein – immer ein Zwitterdasein zwischen dem Wunsch, Vater zu sein, und der Unmöglichkeit öffentlich zu bekennen, es mußte diesen Mann stets aufregend und überreizend begleitet haben.

Spätere Jahrhunderte werden unsere Gehirnmißgeburten ebenso schaudernd betrachten, wie wir heute die Indianer verabscheuen, die Mißgeburten verehren.

Der Wagen fuhr um eine Straßenecke, an einem kleinen Platz vorbei, wo ein seltsam verkrüppelter und halbverkohlter Baumstrunk, der Stammrest einer uralten Weide, wurzelte. Rund um diesen Baumriesen war ein Eisengitter gezogen. Ich wußte nun, wo ich war: es war der Baum der »Noce triste«, der Trauernacht. Hier unter dem vor fünfhundert Jahren wahrscheinlich sehr stattlichen Baum hatte Cortez gesessen, als er am Abend nach dem Kampf gegen die Azteken fast sein ganzes Heer eingebüßt hatte und aus der Stadt flüchten mußte. Hier weinte er, der alle Schiffe in Vera Cruz hinter sich verbrannt hatte, ehe er zur Eroberung der Hauptstadt des Goldlandes auszog. Er, der große Europamüde, der nicht mehr umkehren wollte, der Kaiser des Goldes werden wollte, er, der Unersättliche, dem es nicht genug war, daß man ihm Gold in Form massiver Mühlräder zurollte, Klumpengold, das aussah, als wäre es der Sonnen- und Mondscheibe nachgeformt. Er saß hier, weinte in der Nacht Träne um Träne, biß seine Lippen zusammen und wollte nicht von der Stadt seiner Goldwünsche weichen. Mit dem letzten Rest seiner armen, müdegehetzten und doch gierigen Europäer warf er sich am nächsten Morgen noch einmal auf die Stadt und siegte, bezwang, unterjochte alles, folterte den Aztekenkönig, der eingestehen sollte, wo in dem Sumpf draußen in den Staubhöhlen und in dem Wasserpfuhl er die Goldberge versenkt hatte. –

Und heute noch fragte jeder Europäer seit der Noce triste, fragte immer noch ganz Europa durch die Jahrhunderte nach dem Golde der Azteken. Und mit Revolvern und Dolchen und in Lederkleidern liefern heute noch die Europäer hier durchs Land, die Goldsucher, die Edelsteinsucher, und wühlten mehr als alle Erdbeben das Land auf, und hatten mehr als alle Erdbeben die Indianer in Massen getötet.

Da draußen unter den weidenartigen Bäumen der Landstraße saßen jetzt an den Stationen indianische Weiber. Eine hatte drei Tomaten vor sich auf ein kleines Tuch gebreitet. Drei rote, wie brennende Kohlen leuchtende Tomaten auf einem einfachen, blauen, gedruckten Leinwandtuch. Daneben hockte eine andere Indianerdirne, die hatte je drei gelbe Mangofrüchte in drei Häuschen vor sich, als nur dreimal drei Stück, nur neun Mangofrüchte. Eine andere hatte eine einzige hellgelbe Melone vor sich liegen; eine vierte nur zwei kleine kurze Stummel von Zuckerrohr; eine fünfte klatschte einen einzigen flachen Maiskuchen zwischen den flachen Händen, den sie rasch auf einer heißen Steinplatte an einem winzigen Holzkohlenfeuer buk, das nur zwischen zwei Pflastersteinen glimmte und nicht mehr als eine Handvoll Glut war. Die Frau zeigte, während ihr Kuchen fertig buk und solange die Trambahn hielt, mit den Augen auf den Stein und lud zum Kaufen ein. Eine junge Dirne hatte eine weiße Rübe so geschält und gespalten, daß sie einer künstlichen Blume glich. Sie tauchte die Rübe in blaue Indigofarbe und bot die blau gefärbte Rübenblume den Trambahngästen als Kuriosität an. Aber keine von den Verkäuferinnen kam und reichte zudringlich ihre Waren; still saßen sie hinter ihren drei Tomaten, hinter ihrer einen Melone, hinter ihren neun Mangofrüchten, hinter ihrem kleinen Maiskuchen, hinter ihrer gefärbten Rübe – alle miteinander saßen lautlos da, das Schicksal abwartend, als wären ihre Früchte ihre Kinder, denen sie nicht mehr helfen könnten, wenn das Leben nicht mithülfe. Ruhig, friedlich, gedankenvoll saßen sie mit ernsten, schönen, einfachen Augen da, träumend und wunschlos und begierdelos wie Waldrehe, die sich niedergekauert haben und die Natur walten lassen.

Ohne wilde Geste, ohne Hastigkeit, ohne Zeitangst, keinen Zeitverlust fürchtend, keine Zukunft erzwingend, saßen diese Verkäuferinnen hier, leiser als dieser Erdboden, der alle Augenblicke unter Erdbeben grollte und donnerte.

Solch einen Frieden, wie ihn die letzten Abkömmlinge der Azteken ausstrahlten aus ihrer dunkelbraunen Haut, hatte ich bei den Südländern von Europa noch nie getroffen.

Wie wenig hat doch jede dieser Indianerfrauen zu verkaufen, kaum daß es der Mühe wert ist, kaum für zwei Cents, und da konnten sie stundenlang und den Tag lang an der Landstraße hocken, regungslos wie Sträucher, die festgewachsen sind. Sie ließen die Trambahnen klingeln, die Europäer jagen und hasten und zanken, sie saßen lautlos und lächelten kaum und rauchten eine selbstgedrehte Zigarette, hatten einen unscheinbaren blauen Rock und eine blaue oder weiße Hemdjacke an und ein schwarzes oder dunkelblaues Leinentuch als Schutz gegen die Tropensonne über den Kopf geschlagen und halb vors Gesicht gezogen wie einen Schleier. Niemand störte sie; blickte ein Europäer die Frauen an, so sahen sie nur auf ihre Ware, jede wie ein Tier, das hinter einem Käfiggitter liegt und sich anstarren läßt und sich nicht wehrt.

Wehrlos ließen sich die Indianer anstarren und behielten ihre eingewurzelte Ruhe und Friedlichkeit, ihren Ernst und ihre ahnungslose Lebensstille. Indianer, die Rudel von Truthühnern in die Stadt trieben, und Esel, mit Lederschläuchen bepackt, die das Pulquegetränk enthielten, und Esel mit Reisigholz, alle abgezehrt, mager, Menschen und Lasttiere gleich bescheiden, gleich arbeitsam, gleich geplagt und gleich zufrieden – eilten als huschende, lautlose Silhouetten auf der langen Landstraße unter den schattenlosen Weidenbäumen auf die Stadt zu. Leise, als wären sie unsichtbar, immer nur flüsternd, nur auf den Zehen huschend, lebten so die Massen der dreihunderttausend Indianer in der Hauptstadt Mexiko. Keine ihrer Hantierungen, keines ihrer Geschäfte, keiner ihrer Schritte – nichts machte Lärm. Sie lebten wie die Aschenfiguren eines längst zu Staub und Asche lautlos gewordenen Volksstammes; sie waren mitten unter den hunderttausend Europäern da und doch wieder nicht da, so wenig aus sich machend wie der Erdboden, der unbewußt lebt und träumt, ohne zu sagen: Seht, ich bin! Seht, wer ich bin!

Die Trambahn fuhr und fuhr, der Himmel war blau, die Straße trocken-weiß, die Felder voll Agavenstauden oder Graseinöden oder voll Maiskolben. Nirgends ein trauliches Kornfeld, nirgends eine südliche Palme auf diesem Hochplateau von Mexiko, das nur Ebene neben Ebene hinlegt und am Erdrand die Kraterberge wie Riesentöpfe aufgestellt zeigt. Endlich kam ich weit draußen, stundenweit von Mexiko, nach dem Indianerdorf Ixtapalapa, das am Fuße eines Hügels und umgeben von Hügelwellenland daliegt.

Ich sah wieder Gras und Gestrüpp, einige Häuser zwischen Gartenmauern, wahrscheinlich mexikanischer Sommerhäuser, und ewig graue, würfelförmige fensterlose Erdhütten der Indianer.

Ich ging an einer Wiese hinunter an einen Bach und wanderte drüben jenseits des Baches den Pfad hinauf zu einem Hügel, der von einer unheimlichen Ruhe umgeben war, als müsse droben hinter den Maisfeldern ein indianisches Heiligtum liegen.

Ich wanderte und stieg bergauf, ununterbrochen, und freute mich, als könnte ich hier von meinen traurigen Gedanken fortklettern.

Immer aber ist auch noch in der Nähe grüner Felder ein Geruch von Vulkanerde in ganz Mexiko. Es riecht nach verbranntem Leben; und wenn man großer Welttraurigkeit einen Geruch zusprechen könnte, so müßte sie so wie die Erde in Mexiko riechen, die jeden Wanderer dort mit trostlosem Brand- und unterirdischem welken Aschengeruch belastet. Ich ging unerquickt zwischen den grünen Hügelflächen bergan, belastet von Kummer, als schleppte ich eine Leiche auf dem Rücken durch die sanglose, todstille Landschaft, in der ich der einzige Spaziergänger war und der einzige Mensch überhaupt. Denn die paar europäischen Gartenhäuser vor Ixtapalapa lagen wie furchtsame Klosterbauten hinter himmelhohen Mauerflächen, und kaum die Dächer waren zu sehen, als ob sich auch das europäische Haus vor der indianischen Landschaft verberge.

Ich erkletterte den immer steileren Hügel am Rande eines breiten ausgedörrten Bachbettes, wo sich nichts regte als manchmal eine blitzschnelle graue Eidechse oder eine dürre Schlange, eine Natter oder Viper, die an den weißen sonnenerhitzten Kieselsteinen ihr kaltes Blut wärmte.

Oben am Gipfel lag wie ein Felswürfel ein von Gräsern und Dornen wildbewachsener alter indianischer Götzenschrein.

Ich hatte keine Ahnung, ob es ein guter oder ein böser Gott wäre, der dort hauste und mich erwartete. Ich sah nur durch dir offene Tür eine dunkle Höhle ohne Licht und ohne Schmuck. Der Tempel war längst von europäischen Gelehrten geplündert und der Gott daraus vertrieben, und seine Andächtigen waren jetzt, wie alle hier, Katholiken geworden, auf Staatsbefehl. In dem formlosen Steinwürfel wohnten vielleicht nachts Jaguare oder Schlangen, dachte ich mir.

Ich setzte mich auf ein paar Steine, die vom Gesims des Tempels gestürzt waren, und sah auf die unheimliche, ungeheure Kraterlandschaft, die sich von der Hügelhöhe nach Osten hin wie ein Urweltpanorama ausnahm. Höllenkessel bei Höllenkessel bauchte sich, gleich riesigen Näpfen, in den meilengroßen Tälern unten, die im Spätnachmittag jetzt indigoblau wie die Leinentücher von Indianerfrauen gefärbt waren. Wie riesenhafte dunkle Blutegelrüssel, so hoben sich die Kraterberge aus der Erdebene da drunten in dem unermeßlichen Tal. Jeder Kraterberg schien sich an dem Himmel festzusaugen, als wollte die Erde hier sich mästen, dem Himmelslicht und Himmelsfeuer die Kraft aussaugend. Als würde der Erdkörper hier nicht vom Erdfeuer wild und tobte, sondern vom Sonnenfeuer, das er in sich einsog, und das er wo der Sonne ins Gesicht spie, wenn er genug hatte.

Hier oben bei dem vergewaltigten Götzentempel, den die Europäer geschändet hatten, und der immer noch wie ein verstümmelter Altar in das Kratertal hinuntersah, in die Urwelt verhaltener Feuer und verhaltener Erdbeben, hier oben stand ich mit meiner Trauer, wie überboten vom Triumph urweltlicher Traurigkeiten, überboten von der Trauer eines gestürzten Tempels und seines trauernden Gottes, überboten von der Brandschwärze und der ungeheuern Kohlenlandschaft der lauernden Kraterwelt, die, wenn sie sich rührte, jedesmal Tod und Trauer in Feuer und Rauch und Verwüstung tödlich über die Erde, tödlich in die Atmosphäre und Tod über alle Elemente schickte. Nur das Feuer allein feierte hier mit dem Erdbeben zusammen seine Orgien. Das Feuer und die Erdbeben aber hatten die Götter dieses Landes und ihre Tempel nicht den Betern entfremdet – das hatte der Europäer allein getan. Er, der hier habgieriger und tyrannischer als alle Krater gehaust hatte.

Ich suchte in meinen Taschen nach meinem Notizbuch, und dabei fiel mir der Karbonbleistift in die Hände; ich zeichnete, um meine Gedanken von der Unruhe, die mir der Tod des Abbé einflößte, abzulenken, die Linien der Kraterwelt. Ich skizzierte die Umrisse der Kraterkette und der beiden gewaltigen Bergungeheuer, des Ixtaccihuatl und Popocatepetl. Eine lange Wolke legte sich wie eine Luftinsel von dem einen Bergscheitel zum andern und verband beide Bergkolosse wie eine breite massive Silberspange. Beide Berggottheiten von Mexiko blendeten mit breiten Gipfeln voll Schnee, und die Schneeprofile glänzten gegen den grünlichen Osthimmel wie weiße Marmorbrüche.

Ich zeichnete auch die im Talschatten gelegenen Kraterköpfe und fürchtete nichts und ahnte nicht, daß die Tropennacht mich plötzlich überfallen könnte.

Kaum aber schaute ich von der Zeichnung des dunkeln Tales auf und zu dem Popocatepetl und Ixtaccihuatl zurück, da erschrak ich fast. Die weiße Wolke hatte sich wie eine orangerote Lavaglutmasse entzündet, der Himmel war giftgrün geworden, wie eine Grünspankugel leuchtend, die Schlagschatten im Tal wurden indigoblau, und die Krater unten im Tal standen wie blau eingewickelte Zuckerhüte nebeneinander; die Landschaft hatte ein einziger Augenblick verhext. Auf Tausende von Meilen hin waren Farben, orangerot, giftgrün und indigoblau, aufgetaucht. Im Westen spielte die Sonne als ein dreifach farbiger Scheinwerfer und stieß an den Erdrand des schwarzen Hügelwellenlandes, dahinter sie unaufhaltsam hinabsank, so daß die Schatten wie schwarze Strahlen plötzlicher Nacht über mich und die Landschaft fuhren, als würde die Nacht ein zweiter Scheinwerfer, der schwarze Strahlen würfe neben der Sonne. Es bewegten sich um mich alle Hügel, Täler wurden zu finstern Ebenen; die nächste Nähe, selbst das Gras zu meinen Füßen, wurde fremdartig, wurde wie von Abgründen erfüllt; es wuchsen Moore von Finsternissen neben langen scharlachnen Lichtgassen auf der Erde, und die Indigobläue verwandelte sich in lila Nebel; die Krater verschwanden es war, als wandelten die Berge fort –, und eine eisige Kälte strahlte aus den Grasspitzen zu meinen Füßen auf. Alles ging so eilig, so sichtbar und greifbar vor sich, als wäre das Licht hier eine Pulvermasse, die abbrennte, rauchte, lebte und sich verzehrte, wie eine Materie, die überall hier verschiedenfarbig ausgeschüttet wäre und explosiv aufleuchtete und sich verkröche. Hypnotisiert von diesem hexenhaften Sonnenuntergang, der wie ein chemischer Prozeß sich vor meinen Sinnen zubereitete und zu Ende war, ehe ich wußte, daß es mit dem Nachtwerden Ernst war, saß ich still, unentschlossen, ob ich gehen oder bleiben sollte – es war, als müßte alles nochmals beginnen und das Scheinwerferspiel sich mechanisch wiederholen. Ich glaubte es selbst der untergegangenen Tropensonne nicht, daß sie fortbleiben wollte. Dieser Sonnenuntergang hatte sich so benommen, als hätte ich dem Beleuchtungsinspektor in einem Theater hinter den Kulissen zugesehen und befände mich dicht bei den Beleuchtungskörpern selbst, die draußen auf der Szene den Sonnenuntergang vor den Zuschauern arrangieren sollten.

Es war, als stünde jemand dicht hinter mir, der diese Skala von handgreiflichen Effekten in Szene gesetzt hätte.

Unwillkürlich wendete ich mich etwas scheu nach der Tempelhöhle um, deren offene schwarze Türwölbung mich ansah, als müsse ein Götze der Indianer, der Sonnenuntergangsgott, da hineingegangen sein, nachdem er gestikulierend hinter mir gezaubert hätte.

Die Nacht war mir jetzt hoch über den Kopf gewachsen. Ich sah kein Gras mehr zu meinen Füßen; der Himmel über mir war eine blaßgraue Milchglasplatte, und die Erde eine finstere Welt aus Kohlengestein und Kohlengestalten. Den Feldweg konnte ich nicht mehr entdecken. Ich horchte, ob ich keinen Hund bellen hörte, dessen Stimme mir sagen könnte, wo Ixtapalapa lag, und wohin ich absteigen mußte.

In der Kohlenfinsternis vor mir sah ich nur noch das helle ausgetrocknete Bachbett, das zwischen hohen finsteren Böschungen schnurgerade hinabschoß.

Nur dieser Weg allein war mir noch halbhell offen. Aber dieser Weg lag voll Schlangen, und in den Büschen, das wußte ich, hingen Schlangen, die sich jetzt zur Nacht herabließen und ihre geheimnisvollen Irrfahrten durchs Dunkel antraten.

Ich war auf dem Berg wie gefangen. Die Maiskolben der Felder waren so hoch um mich, daß ich nicht durchkommen konnte, und daß ich mich darinnen verlaufen und mich später in der Finsternis nie vor Sonnenaufgang herausgefunden hätte.

Bis jetzt hatte ich während des Zeichnens und während des ganzen Nachmittags nur immer darüber Leid getragen, daß ich morgen die schöne Mexikanerin nicht zum Sonntag beim Stiergefecht sehen würde, da sie wahrscheinlich bei der Leiche ihres Vaters wäre und mit keinem Gedanken an Festlichkeiten dächte. Und weder dort beim Stiergefecht, noch auf dem Korso, noch auf dem Reitweg, nirgends würde ich sie finden können, nirgends würde ich mich ihr nähern können. Ich durfte sie nicht einmal besuchen, ich durfte ihr nur eine Zeile des Beileids senden und mußte abwarten, ob sie sich nun nach der Beerdigung noch einmal meiner erinnern würde. Das war grausam. Ich hatte die Zähne aufeinandergebissen und haßte meine Übereilung, die sogar schon einen Salon, ein Klavier, einen eleganten Stelldicheinplatz bereit hatte, um die Liebesabenteuer der nächsten Wochen schmeichelnd zu empfangen.

Ich verachtete mich, daß ich nicht dürr, nüchtern, einfach und kaltblütig den Liebessinn ausschalten konnte, der mich schon so oft töricht verhöhnt und enttäuscht hatte, indem er mir Spuk vorspielte, so wie die mexikanische Sonne beim Untergang.

Hatte ich mich nicht beinah ebenso wie jetzt auch bei der Begegnung am Atlant von wahnwitzigen Liebesvorstellungen anfeuern und enttäuschen lassen müssen? Warum war ich hier in Mexiko nicht bei meinen wissenschaftlichen Arbeiten eingeschlossen am Schreibtisch geblieben und rannte statt dessen wie ein geprügelter Jagdhund hinaus auf die Felder? Hätte ich doch lieber eine stille Freundschaft zu der Astronomenfrau gepflegt, die ich ganz aus meinen Gefühlen ausgeschaltet hatte, nur um dem fremdländischen Mädchen, der Mexikanerin, keinen einzigen Gedanken schuldig zu bleiben.

Was sollte ich nun tun, wenn ich heim käme? Es war ganz unmöglich, so enttäuscht wie ich jetzt war, an die Arbeit oder an ernste Gespräche mit ernsten Männern zu denken – ich war zu zerstreut.

So stand ich und dachte und zögerte, weil es ja unmöglich schien, von diesem Hügel fortzukommen, wo ich, von finstern, hohen Maisfeldern abgesperrt, vor der Tiefe dastand und nur immer das weißlich aus der Dunkelheit schimmernde wasserleere Bachbett ansah, dessen gebleichte Kiesel wie Phosphor leuchteten.

Hier auf diesem Stein, auf dem ich eben gesessen, hatte ich um die Mexikanerin getrauert, und nun ich aufgestanden und noch keine zwei Schritte von dem Stein entfernt war, begann ich alle Lebensgefühle Torheit zu nennen. Ich verachtete meinen abenteuerlichen Sehnsuchtssinn. Ich wollte fort von allem, fort von meinem neuen Zimmer mit dem Klavier, fort von der Hauptstadt, fort von Mexiko, zurück über den Atlant, heim in die Grenzen der angeborenen Möglichkeiten, fort aus diesem Kontinent der stürmenden Überraschungen, fort aus dem Lande der gigantischen Unglücke und fort von den rächenden Götzenbildern eines durch Europäer ausgeraubten Landes.

Ich wollte fort – fort über Meilen und über den Atlant, und höhnisch sah mich das Dunkel wie eine schwarze Maske neuer Schreckensgötter an. Ich konnte ja jetzt nicht einen einzigen Schritt vorwärts tun – und wollte über den Atlant!

Bliebe ich bis zum Morgen hier oben, so könnten mich Schlangen und Raubtiere überfallen. Und ich dachte schaudernd an die vielen Leopardenfelle und an die Hyänenfelle und an die unzähligen Schlangenhäute in den Straßen von Mexiko, die da über den Türen jedes Drogenladens hängen – ein Beweis, daß Schlangen und Leoparden und Hyänen zahlreich wie Moskitos draußen in der mexikanischen Landschaft wimmeln.

Ich horchte auf, nichts rührte sich. Rüfe ich, so wüßte der Teufel, ob ich jemals gehört würde. Und keinem unten in Ixtapalapa würde es je einfallen, nachts, wo es überall so unsicher von Raubgesindel ist, meinetwegen die hohen Gartenmauern zu verlassen und auf den Berg zu steigen, auch wenn ich ein Feuer anzündete.

Ich sprang also entschlossen in das ausgetrocknete grauweiße Bachbett. Dornen schlugen um meine Knie, Steine rollten mit mir bergab, und es war mir, als müßte ich durch einen Ring von Dantes Fegefeuer wandeln; bei jedem Sprung zweifelte ich, ob ich nicht auf eine ausgestreckte Schlange träte, oder gar auf eine Schlangenbrut, die zusammengeknäuelt zwischen den Steinen liegen könnte. Ich hob die Füße so hoch wie ein scheues Pferd. Ich versuchte blitzschnell mit den Fußspitzen kaum den Steinboden zu berühren. Ich sprang wie eine Gemse, zuletzt hatte ich das Gefühl, wie es immer dunkler talabwärts in dem Flußbett wurde, ich könnte nicht anders als fliegend aus dieser Finsternis hinauskommen; ich sprach laut mit mir, um die Schlangen zu verscheuchen; ich sah meine Hände kaum noch vor dem Gesicht und fühlte nur an den Steinen unter mir, die rasselnd weiterrollten, daß ich noch in dem Flußbett bergab sprang, aber ich war so voll von eiskaltem Blut, so todesergeben, daß ich mir vorkam, als wäre ich mein eigener Schatten, der dem heißblütigen Körper luftig davongeflogen wäre. Ich glaubte, ich müßte graue Haare bekommen vor Entsetzen, als ich dicht an meiner Seite gegen den helleren Himmel mehrere armlange Schlangenkörper wie Peitschenschnüre aus den Büschen fliegen sah, an denen sie sich mit den Schwanzenden festhielten, und als ich ihr Zischen wie ein Pfeilschwirren in der Luft über meinem Kopfe hörte.

Ich war zuletzt nur noch ein Gedanke, ein elektrischer Funke ohne Körper, der da gefühllos durch die schlangenbelebten Büsche bergab hinunterflog. Und während ich bei jedem Sprung den Karbonstift in meiner Brusttasche festhielt, damit er mir nicht entfalle, betete ich: »Geliebter Karbonstift, rette mich vor den Schlangen! Geliebte Tote, die du mir den Stift schenktest, ich verspreche dir einen herrlichen Kranz auf dein Grab in Paris, wenn du mich lebend nach Europa zurückbringst.«

Fast kindisch geworden vor Schauder über das Pendeln und Zischen der langen Schlangengestalten auf den höchsten Astspitzen in manchem Busch, machte ich Gelübde, heiße Versprechungen wie ein Sterbender.

Nach einer halben Stunde, die für mich Jahre umfaßt hatte, kam ich endlich bei den Feldern von Ixtapalapa an und sah kaum noch die Umrisse von ein paar hohen Gartenmauern, die mit der Finsternis eine einzige schwarze Masse bildeten, und an denen ich, immer noch atemlos, endlich mit ruhigerem Schritt entlang gehen konnte. Als ich nach einer weiteren Viertelstunde um die Mauer bog, sah ich in der Ferne, wo ich das Wartehaus der Trambahn im freien Feld vermutete, ein Laternenlicht.

Nun ging ich langsam, allen europäischen Göttern für meine Errettung dankend, auf das einsame Licht zu, nicht wissend, ob noch ein Trambahnwagen aus Mexiko herauskommen würde, und ich und heute nacht die Stadt erreichen könnte.

Ich liebkoste das ferne Licht nicht bloß mit meinen Augen – alle meine Gedanken lobten das armselige kleine Laternenlicht, das da fern von allen Schlangen des Berges und des Bachbettes im freien Feld so göttlich friedlich leuchtete.

Die Wartehalle der Trambahn war zugleich eine offene Pulquebar, und als ich in den Lichtstrahl trat, der von der Petroleumhängelampe über dem langen Bartisch in die Nacht hinaus fiel, fühlte ich mich in der Menschennähe wie ein von einer Krankheit Aufgestandener. Ich war noch etwas schwach und leicht taumelig im Kopf von der nächtlichen Flucht und ging an den Bartisch, wo ich vom indianischen Barkeeper hörte, daß der letzte Trambahnwagen gleich ankommen und gleich wieder abfahren werde.

Ich kaufte mir mexikanischen Tabak und Reispapier und drehte mir eine Zigarette. Als ich dann aus dem Lichtschein der breiten Petroleumlampe wieder vor die Wartehalle hinaustrat und ein Streichholz anzündete, sah ich plötzlich am Boden rundum kauernde, schweigsame Scharen von Indianern. Männer und Frauen saßen in langen Reihen zu beiden Seiten des Lichtstreifens, der aus dem Wartehaus fiel, auf dem Erdboden.

Vorher, als ich, vom Licht geblendet, auf das Haus zuschritt, hatte ich zwar ein Murmeln gehört, aber nichts gesehen. Jetzt, wo ich das Licht im Rücken hatte, sah ich immer mehr kauernde Menschenfiguren, alte Männer, alte Weiber, junge Burschen, junge Dirnen. Sie wisperten kaum hörbar, und die Zikaden, die jetzt in der vollen Dunkelheit lärmten, waren lauter als das Geflüster der Indianer. Ich war verblüfft darüber, daß ich vorhin durch eine Menschenschar gegangen war, ohne einen Menschen zu sehen, und wunderte mich über die an der Erde kauernden Leute, die, wie ich annahm, mit der letzten Trambahn Angehörige aus der Stadt erwarteten. Da trat ein alter Indianer aus dem Schatten in den Lichtstreifen gerade vor mir, er nahm seinen Hut ab und küßte den Boden. Ein zweiter alter, grauer Mann tat neben ihm dasselbe. Ein altes Weib schob seinen Kopf in den Lichtschein, und ihre Gesichtsfalten grinsten abenteuerlich und wunderlich, ich wußte nicht, ob sie weinte – das Tränenwasser lief ihr aus den Triefaugen in alle Falten um die Augenwinkel.

Sie begann den Kopf zu wiegen und zu singen. Die alten Männer näselten denselben Sang. Die im Schatten lauernden Gestalten wendeten die Köpfe nicht um und begleiteten rhythmisch singend, monoton wie ein Gebetslied, die drei Alten.

Ich hörte eine Weile zu, verstand aber weder die Worte noch den Sinn. Ich fragte den indianischen Barkeeper, was die Leute mit dem Sang meinten.

»Kommen Sie nicht dort oben vom Berg herunter?« fragte mich der Mann leise und grinste geheimnisvoll. »Sie waren doch der Fremde, der heute nachmittag kurz vor Sonnenuntergang hier ankam?«

»Jawohl«, sagte ich, erstaunt darüber, daß man mich bemerkt und beobachtet hatte.

»Es ist nämlich ein dummer Volksglaube hier in Ixtapalapa, der sagt, daß bis heute noch nie ein Weißer abends im Dunkeln zu dem Tempel des alten Götzen dort oben hinauf- oder von ihm heruntergehen konnte. Und als Sie so spät zum Tempel hinaufgingen, kam hier ganz Ixtapalapa an der Pulquebar zusammen, die ganze indianische Bevölkerung aus allen den Hütten sitzt da draußen und erwartete, daß Sie bei Nacht nie mehr herunterkommen könnten. Erstens sind Raubtiere im alten Tempel, die des Nachts herauskommen und Nahrung suchen; zweitens ist der Weg dort hinauf voll Schlangen, die alle in dem alten Bachbett wohnen, und das Volk nennt den Gott dort oben den ›Menschenfressergott‹, weil auf dem Weg zu jenem Tempel kein Schutz vor Göttern ist. Die Indianer, die dort die Felder bestellen, gehen nie ohne Schlangenbeschwörer, ohne Feuer und ohne Waffen den Weg zur Tempelruine hinauf und gehen immer in großen Gesellschaften, wenn sie die Maisfelder dort bestellen. Denn viele haben schon dort oben beim Tempel ihr Leben verloren.«

»Warum hat mich denn niemand von den Indianern gewarnt, als ich hinaufstieg und man mich bemerkte«, fragte ich erstaunt.

»Weiße Herren darf man nicht warnen, die wissen immer alles besser als wir Eingeborenen«, sagte der Indianer lächelnd.

»Aber warum singen denn jetzt die Leute? Warum beten sie und warum sprechen sie nicht?« fragte ich weiter.

»Oh, das versteht kein Europäer, das versteht wieder nur ein Eingeborener«, sagte der indianische Barkeeper flüsternd. »Sie, mein Herr, sind nämlich jetzt, seit Sie die Nacht dort oben waren, ein heiliger Mann, weil Sie lebend ohne unsere Hilfe zurückkamen. Ein e alte Volkssage erzählt: wenn einstmals ein Weißer aus Europa zu uns kommt und bei Nacht vom Menschenfressertempel heil und gesund nach Ixtapalapa heruntersteigt, dann haben sich die alten und die neuen Götter miteinander versöhnt, und dann haben sich auch alle Völker der Welt bald für immer miteinander versöhnt und sind hinter allen Bergen ein einziges Volk geworden, das Frieden hält. Weil Sie jetzt heilig sind, darf Sie niemand von den Leuten ansprechen, aber ansingen dürfen alle Leute den ersten Weißen, mit dem der Menschenfressergott sich in Ixtapalapa versöhnt hat.«

Die Trambahn aus der Stadt kam in diesem Augenblick mit Geklingel und mit elektrisch beleuchteten Fenstern auf der Landstraße angerasselt. Ich konnte mich nicht gleich in die Würde meiner Heiligsprechung finden. Und fürchtend, die Trambahn könnte ohne mich gleich wieder umkehren und nach der Stadt zurückfahren, beeilte ich mich und ging rasch an den noch immer halblaut betenden und singenden Indianergreisen und Matronen vorüber, die alle zu beiden Seiten des Lichtstreifens knieten und mir diesen Lichtstreifen als hellen Weg bis zur Trambahn frei ließen.

Der Trambahnwagen kehrte auch gleich um, und als er sich in Bewegung setzte und ich auf der Plattform stand, dachte ich schon kaum mehr an meine Heiligsprechung und war froh, wieder dem europäischen, weißen Gesicht des Trambahnkutschers, der ein Spanier oder wenigstens von spanischer Abkunft war, gegenüberzustehen.

Da rief der Wagenführer dem Kondukteur zu, er könne nicht fahren, das Gleis liege voll von Indianern, die sich alle dem Wagen entgegenstellten.

Der Schaffner, der mir eben mein Billett gab, rief zurück, der Wagenführer solle mit seinem Revolver drohen, damit die Leute das Gleis frei gäben. »Gauner und Gesindel,« fügte der Schaffner hinzu, »mir haben sie neulich den Hut vom Kopf gestohlen. Es ist eine richtige Räubergegend hier. Sind Sie nicht der Herr, der mich heute nachmittag beim Aussteigen hier in Ixtapalapa fragte, ob es schöne Spaziergänge hier gäbe? Jawohl, Sie sind es; aber wie mich das wundert, daß Ihnen hier in der Nacht nichts passiert ist, wenn Sie bis jetzt, bis zur Abfahrt des letzten Wagens hier im Dunkel spazierengingen. Ich bin erstaunt, daß Sie nicht irgendwo im Feld ermordet und ausgeraubt liegen?« – Der Wagenführer feuerte in diesem Augenblick zwei Schüsse in die Nacht.

»Oh, er schießt nur in die Luft,« lachte der Schaffner, »um das Gesindel zu erschrecken, das nicht vom Gleis fort will. Übrigens, heute muß ein geheimer indianischer Götzentag sein, weil so viel Volk da herumsteht und nicht heimgeht; sie beten und singen sogar. Das habe ich noch nie erlebt. Sonst sind sie meistens vom Pulque berauscht und liegen betrunken umher.«

Man hörte jetzt aus allen Feldern ein Singen. Gruppen von Indianern, die sich hinter Bäume und in den Maisfeldern hinter den grünen Maispflanzen aufgestellt hatten, leuchteten in ihren hellen Leinwandhosen und Leinwandhemden weiß hervor, wenn die hellen Wagenfenster im Vorbeifahren ihren Schein in die hohen Felder und ihr Licht hinter die Chausseebäume warfen. Hohe spitze, weiße Strohhüte schauten aus den schwankenden Maisblättern, und der Gesang wurde in der Ferne immer lauter, je weiter sich der Wagen von Ixtapalapa entfernte. Man hörte, wie die Massen der Indianer, die allmählich zurückblieben, sich anstrengten, so laut als möglich zu singen, um von der Trambahn, die der Stadt schnurgerade zueilte, so lange als möglich noch gehört zu werden.

»Ich möchte wissen, welchen heimlichen Indianerheiligen die da heute nacht mir ihrem Gesang so laut verehren«, sagte kopfschüttelnd der Schaffner auf der Plattform neben mir und ahnte nicht, daß der Indianerheilige neben ihm stand.

»Ruhig, Gesindel!« schrie dann der Europäer nervös zum Wagen hinaus. Aber es war unnötig, daß er schrie, die Indianer hörten ihn längst nicht mehr; der Gesang kam ab und zu noch aus der Ferne, wenn der Wagen um eine Wegbiegung fuhr und der Nachtwind uns die Stimmen nachtrieb.

»So verrückt habe ich die Ixtapalaper noch nie gesehen«, rief jetzt auch der Führer dem Schaffner durch den leeren Wagen zu.

»Ich auch nicht,« meinte der Schaffner, »man könnte glauben, sie feiern ein indianisches Nationalfest.«

Ich lächelte und schwieg und vermied es, den beiden Trambahnangestellten von dem Heiligen zu erzählen, den der Menschenfressergott heute den Indianern wohlbehalten, trotz Schlagen und Raubtieren, hatte zukommen lassen.

In der Stadt dann, wo alle Läden erleuchtet waren und die Eingänge der Theater voller Equipagen standen und die Restaurants in der Nacht glänzten, mit elektrischen, beweglichen Reklameschriften und Scheinwerfern, und ich an den Menschenmengen vorbeiging und an das Dorf Ixtapalapa, an das Bachbett und an die Schlangen, an den Tempel, an das Kraterpanorama und an den behexten Sonnenuntergang, an die kleine Petroleumlampe in der Trambahnbar und an die geheimnisvoll im Dunkel hockenden Indianerleute zurückdachte, da glaubte ich, daß mein Hirn mir Spukgestalten vorgelogen hätte. Draußen vor der Stadt war ich ein Heiliger gewesen, und hier in der Stadt war ich ein einsamer, einzelner, verschwindender Mensch, der nicht einmal die Kraft hatte, die Frau, nach der er sich sehnte, zu erringen.

Ich stand einen Augenblick vor dem Schaufenster, wo die scharlach- und goldbestickten Toreadorkostümstücke ausgestellt waren, die morgen jene Frau, die niemand kannte, und von der ganz Mexiko sprach, beim Stierkampf tragen sollte.

Ich ging dann seufzend fort. Da bemerkte ich plötzlich, daß ich den Opalring, den ich heute mittag an meinen Finger gesteckt, nicht mehr trug, und ich fand, daß ich ihn ganz in Gedanken abgezogen und in die Westentasche gesteckt hatte. Ich hätte nun gern gewußt, ob ich den Ring vor oder nach der Besteigung auf den Berg von Ixtapalapa abgezogen hatte. Brachte der Ring Glück oder Unglück? Daß er Trauer gebracht hatte, wußte ich; denn kaum hatte ich ihn zum erstenmal am Finger gehabt, da las ich die Todesnachricht des Abbés vor dem Zeitungsbureau, auf derselben Straße, keine hundert Schritte von dem Juwelierladen entfernt.

Ich ließ den Ring in der Westentasche und zog ihn nicht mehr an, aus der abergläubischen Furcht heraus, die dieses geheimnisvolle Land mich lehrte. Dann ging ich nach Hause, um meinen Reitanzug abzulegen und das Abendessen in dem »Deutschen Klub« einzunehmen.

Niemals aber ist das Schicksal verwickelter, als wenn man glaubt, alles sei glatt abgewickelt und klargelegt. Der höchste Lebenskünstler, der über dem Menschen steht, ist das Leben selbst, das erfuhr ich jetzt wieder, wie so oft vorher im Dasein. Das Leben erfindet die unglaublichsten geschicktesten und unausdenkbarsten Situationen, und nur dadurch hat sich ein ewiges Neubeleben bilden können. Die logischsten Schlüsse, die scharfsinnigsten Voraussetzungen lassen das Schicksal gleichgültig, es folgert nicht und setzt nichts voraus, es zaubert fortwährend aus nichts alles und verzaubert wieder alles in nichts; es will nicht zweckdienlich und befriedigend, sondern erschütternd, aufrüttelnd und neubelebend sein, und dazu kann es keine Logik, keine Gedankengänge, sondern nur Wunder aus Glück und Unglück brauchen. Vom Leben haben die Jesuiten niemals den Satz gelernt: Der Zweck heiligt die Mittel. Das Leben ist noch viel gigantisch ungeheuerlicher in seinen Sätzen, es spricht jedem, der es am Leibe erlebt, und den es mit Gefühl und Bewunderung und Unermüdlichkeit erfüllt, es spricht zu ihm: »Die Zwecklosigkeit ist mein Zweck, und kein Mittel ist mir heilig!«

Das Leben tötet, reißt Lebende auseinander, raubt Eltern die Kinder, Kindern die Ernährer, vernichtet im Kriege und beim Erdbeben mit jedem Tag Tausende von Gefühlsbanden und fügt oft zusammen nach Laune und Lust, was ihm nicht einmal gut dünkt. Das Leben ist grenzenlos leichtsinnig. Nur der Lebende hat zu alle dem Leichtsinn kein Recht. Er muß gefühlsecht, logisch, scharfsinnig und fromm auf das Leben sehen, wenn ihn auch das Leben gefühlswidrig, unlogisch, leichtsinnig und unfromm behandelt. Das Ganze ist ein Versteckspiel des Lebens mit dem Lebenden; und dieses Spiel soll beiden eine Freude sein, wie jedes Spiel.

Man muß erst älter werden, bis man versteht, daß das Leben als Riese mit uns spielen will, wie die Katze mit der Maus, ehe sie sie frißt. Als ich jung und ein Kind war, fühlte ich das Leben schon spielend und anfeuernd; und dies Gefühl soll einem nie abhanden kommen. Sonst muß man lange warten, bis einem das Leben wieder als Gefühl angewöhnt wird, bis es ein Fest, ein Spiel, zwecklose Belebung sein will, die aber der Mitspielende, wie jedes Spiel, wie jedes Fest, ernst zu nehmen hat. »Denn Belebung will ich,« sagt das Leben, »belebendes Unglück, belebendes Glück – beide sind des Lebens Mittel, und das Ganze sei ein Wunderwerk –, keine Logik.« Und die Liebesleidenschaft, die tiefer als der Hunger greift, belebt mit Unglück und Glück den Lebenden am stärksten. Sie ist des Lebens höchstes Mittel zur Belebung. Wer dieses verkennt und den Magenhunger stärker fühlen kann als den Hunger seines Blutes, der ist noch nicht belebt genug und ist erst in den Vorhof zum Unheiligtum des Lebens eingetreten.

So sprachen meine mexikanischen Gedanken in den nächsten Tagen, welche diesem Abend folgten, diesen Abendstunden, in denen ich eine Glücksbelebung kosten sollte, die mir unvergeßlicher bleibt, als wenn man mich damals nicht nur in Ixtapalapa, sondern über ganz Mexiko hin heiliggesprochen hätte.

An dem Platz Glorieta di Colon angekommen, bemerkte ich, daß in dem Salon, den ich mir unten im Erdgeschoß gemietet hatte, Licht war. Ich wußte nicht, wer in meinem Zimmer am Abend etwas zu suchen hätte; es konnte nur Einbrecher sein, denn von allen meinen Bekannten hatte ich mit Absicht noch keinem meine neue Adresse angegeben, sondern ließ mir meine Briefe immer noch nach dem spanischen Hotel schicken.

Ich trat in den Vorgarten und ging auf den Zehen an den dunklen Parterrefenstern entlang, bis ich zu der hellen Glastür meines Zimmers kam. Die Tüllvorhänge waren zugezogen und ein weißes Rouleaux herabgelassen.

Ich horchte. Nichts rührte sich drinnen. Eben erst war ich den Schlangen von Ixtapalapa entkommen – sollte ich jetzt in Räuberhände fallen? Es ist wirklich ein grausam aufregendes Land, dieses Mexiko, dachte ich. Da hörte ich, wie der Schaukelstuhl sich drinnen rhythmisch bewegte. Also saß jemand auf dem Stuhle, wiegte sich und – erwartete mich. Sollte es die Mexikanerin sein? Sie allein hier, in meinem Zimmer – das war möglich und unmöglich. Heute, wo sie erst den Schreck des Todesfalles erlebt hatte, konnte ihr Herz sehr leicht zu mir wollen, sich auszusprechen. Ich war doch außer ihrer Mutter der einzige, der wußte, daß ihr Vater gestorben war, und nicht bloß ein befreundeter Abbé. Ich unter allen Freunden stand ihr jetzt durch dieses Geheimnis, das wir teilten, so nah wie kein Mann wieder auf der Erde. Denn ihr Bräutigam, der Polizeipräsident, wußte nicht, daß der Abbé ihr Vater war – das hatte sie mir damals bei dem Ritt eingestanden. – Jetzt steht jemand drinnen auf, Schritte gegen zum Klavier. Es ist der leichte Tritt eines jungen Weibes. Nun schlägt sie den Klavierdeckel auf. Wird sie spielen? Vielleicht, um die Leute um Hause zu täuschen, daß man ihr die allzu große Trauer nicht anmerkt.

Sie spielte mit einer Hand einen Straßensang! Ich erkenne das Ausruferlied einer Verkäuferin, die jeden Morgen und jeden Abend hier vor dem Vorgarten vorbeigeht und Süßigkeiten, Obst usw. verkauft.

Sie singt die Worte der Ausruferin, als übte sie den Ton ein. Was bedeutet das alles?

Ich stolpere und stoße mit der Stirn an das Glas der Tür. –

Ihr Schatten fällt jetzt auf den Türvorhang. Sie befestigt ihre Kämme im Haar, ich sehe es sehr deutlich am Schatten: sie ist es, sie ist ohne Hut, nur in der Spitzenmantille, in der sie abends zum Korso fährt.

Jener einsame Wagen, der da drüben eben langsam um das Denkmal des Christoph Kolumbus fährt und einmal schon die Runde gemacht hat, seit ich hier stehe, es ist ihr Wagen der auf sie wartet. Ich erkenne die Pferde, dieselben, die sie damals abholten, am ersten Tag, als wir von Orizaba ankamen und uns vor dem Bahnhof in Mexiko trennten.

Ich klopfe an die Glasscheibe meiner Tür, ohne mich länger zu besinnen.

Ihr Schatten drinnen tritt von der Tür zurück.

Der weiße Türvorhang hinter den Glasscheiben sieht mich jetzt leer an.

Ich rufe halblaut: »Ich bin es« – und erwarte, daß sie meine Stimme erkennt.

Da lischt das Licht aus.

Jetzt ist der Vorhang nur von der Straßenlaterne matt beschienen, und das Fensterkreuz der Türverglasung legt seinen Schatten auf den regungslosen Vorhang.

Das weiße Fenster sieht sehr geheimnisvoll auf mich nieder. – Ich sie fortgegangen? Holt sie oben aus der Pension ein Dienstmädchen? Dann hätte sie aber doch nicht das Licht auslöschen müssen. Ich verstehe nichts und weiß nicht, ob ich mich vielleicht doch in dem Frauenschatten getäuscht habe, ob es nicht doch ein Männerschatten war, ein Einbrecher! Ich suche den Wagen, der Wagen ist fort. Jetzt wird der Vorhang zur Seite geschoben. Ich sehe dabei nur zwei von der Straßenlaterne beleuchtete Finger. Ihre Fingerspitzen! Ich hätte die Finger, die damals die Ventile der Lokomotive so mutig ergriffen, und die nachher so aufgeregt im Wagen bei der Korsofahrt mit den Drohbriefen gespielt hatten, in der Nacht unter Millionen Fingern erkannt. Nicht an der Form, sondern nur an der Bewegung, wie sie zart und energisch zufassen konnten, wenn sie die Pferdezügel ordneten oder den Reitrock faßten.

Sie war es; ich sah ihr Gesicht halb beschattet; sie eilte sich, vorsichtig und behutsam die Glastür zu öffnen.

Dann gab sie mir die Hand. Ich sah sie selbst nur halb im Zimmerdunkel, von der Laterne der Straße ein wenig erhellt.

Ich küßte ihre Hand, die mir im Druck ihre zitternde Erregung mitteilte, ihre Trauer über den Tod des Vaters, ihren Schreck und die Unruhe dieses ganzen Tages, dessen Ernst ich jetzt erst richtig echt fühlte, als ich diese Hand küßte, die reden wollte, ehe der Mund reden durfte.

»Bitte, begleiten Sie mich zu meinem Wagen«, hörte ich dann die eilige Mädchenstimme halblaut sagen, als ob sie sich schäme, hier im Dunkeln zu sprechen – »Sie haben sicher schon aus den Zeitungen alles gehört. Ich mußte Sie heute noch sprechen. Ich habe die Lampe ausgelöscht, weil ich nicht wußte, ob nicht vielleicht einer Ihrer Freunde draußen an die Glastür klopfte, um Sie zu besuchen, weil er Licht sah. Dann erblickte ich Sie durch den Vorhang und bin froh, daß Sie da sind. Ich habe Ihnen zwei Botschaften durch eine Straßenverkäuferin gesendet, denn ich konnte von unseren Dienstboten niemanden schicken. Bitte, kommen Sie in meinen Wagen; da können wir ungestört sprechen.«

»Sagen Sie mir, bitte, nur das eine,« fragte ich rasch, ehe wir unter die Glastür traten, »ist Ihr Vater eines natürlichen Todes gestorben oder...?«

Man hat mir gesagt, er sei am Herzschlag gestorben; aber ich bin sicher, er ist keines natürlichen Todes gestorben. Er war heute ganz gesund. Er war zum Frühstück bei meinem früheren Bräutigam eingeladen. Sie wissen vielleicht nicht, daß ich vorgestern meine Verlobung mit dem Polizeipräsidenten gelöst habe; und mein Vater war in meinem Interesse noch einmal hingegangen und war dieser Einladung gefolgt, um eine eingehende Rücksprache mit dem Polizeipräsidenten zu nehmen. Denn neulich, als ich Ihnen sagte, nur Sie, meine Mutter und ich wüßten, daß der Abbé mein Vater ist, ahnte ich noch nicht, daß dies inzwischen auch der Polizeipräsident in Erfahrung gebracht hatte. Mein früherer Bräutigam, der Polizeipräsident, hatte während der Abwesenheit meines Vaters unter dem Vorwand, daß der Abbé Mitglied einer regierungs- und republikfeindlichen Gesellschaft sei, in meines Vaters Hause Haussuchung halten lassen und dabei Briefe an sich gebracht, die ihm das Verhältnis des Abbés zu meiner Mutter verrieten. Diese Haussuchung hat sich vorgestern abgespielt, und ich wußte nichts davon. Heute hatte nun mein Vater, der Abbé, von dem Polizeipräsidenten eine Einladung zum Frühstück erhalten, worin sich der schreckliche Mensch den Anschein gab, als wolle er sich wegen der Haussuchung entschuldigen; er schrieb gestern in der Einladung, das Ganze sei ein Irrtum seiner Beamten gewesen, die wegen einer Namensverwechslung beim Abbé Haussuchung gehalten hätten, wo sie gar nichts zu suchen gehabt hätten. Er entschuldigte sich vielmals und bat den Abbé heute zum Frühstück, um, wie er sagte, nochmals von mir und unserer Verlobung mit ihm, meinem Beichtvater und väterlichen Freund, zu verhandeln. Mein Vater wollte zuerst nichts von der Einladung wissen, aber meine Mutter bat ihn dringend, hinzugehen; sie hoffte, der Polizeipräsident würde ihm bei dem Besuch auch die kompromittierenden Briefe meiner Mutter aushändigen, die man bei meinem Vater beschlagnahmt hatte. Ich fürchte mich jetzt, ich fürchte stündlich für alle, die mit meinem Geheimnis bekannt sind – deshalb kam ich bei Nacht zu Ihnen. Ich fürchte jetzt meinen früheren Bräutigam wie den Teufel selbst. Ich fürchte, er könnte uns allen schaden wollen, weil er sich an mir wegen der gelösten Verlobung furchtbar rächen will. Er hat einmal in einem jähzornigen Augenblick bei einem Besuch in Ameca-Meca vor meiner Mutter laut geschworen, er würde uns alle und sich selbst ins Verderben bringen, wenn ich diese Verlobung mit ihm rückgängig machen sollte.«

»Und ich glaube, der Polizeipräsident hat sich bereits heute an Ihrem Vater gerächt«, sagte ich rasch und drängte das Mädchen in das Zimmer zurück, dessen Tür ich offen ließ, so daß der Laternenschein, der von der Straße her das Zimmer über die halbe Dielen hin mattgelb beleuchtete, nicht mehr auf uns fiel und wir im Schatten standen und von keinem Vorübergehenden gesehen werden konnte.

»Ich weiß nicht«, sagte die Mädchenstimme im Dunkeln. »Ich weiß nicht, ob er an meines Vaters Tode schuld sein kann.«

»Die Drohbriefe könnten nicht von ihm diktiert worden sein?«

»Nein, unmöglich, denn er erfuhr erst vorgestern, daß ich endgültig die Verlobung mit ihm aufhob. Und ich hielt damals schon zwei Tage die Drohbriefe in Händen. Diese Briefe sind von einem andern, mir wildfremden Menschen, der meinen Vater vielleicht haßte, aus einem mir unbekannten Grunde geschrieben worden.«

Wir schwiegen beide. Sie hatte sich in den Schaukelstuhl gesetzt, ich stand an der Tür und horchte auf den Platz hinaus, der menschenleer war; nur in der Ferne hörte ich einen Wagen auf dem Sand der Paseo-Promenade knirschen; wahrscheinlich war es der Wagen der Mexikanerin.

Die Zeit schien stillzustehen. Es wunderte mich, daß das Mädchen nicht schluchzte, nicht weinte, wie es andere Frauen getan hätten, wenn ihnen so viele Schrecken an einem Tage begegnet wären.

»Es ist besser, wir besprechen hier im Dunkeln, was zu tun ist; ich fürchte, im Wagen, der draußen fährt, könnten wir leichter von Spionen des Polizeipräsidenten beobachtet werden, leichter als hier«, sagte ich.

»Ich möchte wissen, ob mein Vater am Herzschlag gestorben ist, oder ob – ich möchte es nicht ausdenken –, ob der Polizeipräsident meinen Vater beim Frühstück hat vergiften lassen.« Und trocken und hart und ohne Tränen in der Stimme sprach das Dunkel, in dem das Mädchen saß, zu mir weiter: »Dann würde ich den Mörder meinem Vater nachschicken, damit er ihm drüben im Tod Abbitte tut.«

Der weiße Vorhang der aufgeschlagenen Glastür klatschte im Nachtwind an die Wand.

Ich mußte unwillkürlich erschrocken auf den gespenstigen weißen Vorhang starren, der so laut klatschte, als stünde dort in der Ecke des Mädchens Vater, der seinen Beifall kundgäbe.

Große langstielige Tuberosen, die draußen im Vorgarten in weißen Reihen am Straßengitter standen, dufteten so stark wie der Geruch von Totenkränzen – Totengeruch, der leidend und schmachtend und aufdringlich den Geruch des Lebens übertäuben wollte.

Ich beobachtete auch eine Weile Hunderte von Insekten um die Straßenlaterne draußen, die einen wahnwitzigen Tanz um das Laternenglas vollführten und aufgeregt und todeslüstern auf das Licht losfuhren und todeserschreckt zurückprallten und sich von neuem über das Licht warfen, schwindlig vor Lichtlust und Todeslust.

Von meinem Besuch sah ich nur die blitzenden Spitzen der Lackschuhe, die in die Helle der Diele reichten, während der Körper des Mädchens in dem schwarzen Seidenkleid und der schwarzen Spitzenmantille vollständig im finstern Zimmer verschwand.

Ich betrachtete die Lackschuhe, die auf den großen Agraffen ein feines bläuliches Glanzlicht zeigten. Und in den spiegelnden dunklen Agraffen sah ich vornübergebeugt einen blitzenden bläulichen Punkt, der immer heller wurde, als wenn die Fußspitze der jungen Dame mir näher käme, als ob sich von den Füßen, die da in mein dunkles Zimmer gekommen waren, eine bläuliche Helle gespenstig über das ganze Zimmer verbreitete.

Das Zimmer wurde helldämmerig, und die junge Frauengestalt erschien wie vom Licht der heller werdenden Wände getragen zu werden. Ihr Gesicht, ihre Hände tauchten bläulich aus der Dunkelheit, und sie war plötzlich aus dem Dunkel wie auferstanden und verklärt von den weißen Zimmerwänden beschienen. Ich sah in der feierlichen Helle die elegante, jugendliche Erscheinung näher als am Tag, intimer, mir zugehörig und nahe wie ein Gedankenbild, das man in der Nacht in Träumen erlebt, und das mit dem Träumenden eine Welt bildet, die intimer als die wache Welt des Tages ist.

Der Mond war draußen bei der Kolumbusstatue langsam über das Dach eines fernen Gartenhauses gestiegen, und der Mond malte mir jetzt das junge Geschöpf in mein Zimmer mit seinen behutsamen, einfachen bläulichen und graue Farben, die in atemlosen Augenblicken dem sehnsüchtigen Menschenauge oft mehr Zutraulichkeit geben können als die siebenfarbige Sonne.

Wie seltsam, daß sie nicht eine Träne weint, dacht ich wieder und bewunderte die blanken, großen, schwarzen Augen des Mädchens, die beinahe so hell wie die schwarzen Steinagraffen ihrer schmalen Lackschuhe in den Mond sahen. Für sie ist ihr Vater noch nicht tot; sie weiß es nur, kann es aber noch nicht erleben. Das »Empfinden des Todes« will wie jedes Empfinden seine Zeit haben; es ergießt sich langsam über den Trauernden. Wie alles Geschehen hat auch die Trauer ihr Wachstum, ihren Gipfel und ihr Absterben. Nichts ist da, alles kommt, ist und geht – diese Dreiheit ist der uralte, ewige Lebensgang in allem Empfinden. So sprach ich jetzt zwar nicht wörtlich mit mir, aber so sprach mein Herz im tiefsten Blut; und erst später, wenn ich über diese Minuten nachdachte, war mir bewußt, daß mein Herz damals so gedacht hatte, während mein Auge staunte, daß das Mädchenauge im Mondschein vor mir nicht weinen konnte.

»Ich werde so ruhig,« sagte sie langsam, »Ihr Nähe macht so ruhig; es ist, als strahlten Sie die Milde eines fernen, fremden Landes aus, die Milde des gesitteten Europas, das Sie auch hier in dem abenteuerlichen Mexiko noch immer umgibt.«

»Ich war heute gar nicht ruhig«, mußte ich eingestehen. »Heute mittag, als ich eben von einem Juwelier kam, wo ich mir einen Opal in einen Ring hatte fassen lassen, und als ich den Ring an den Finger gesteckt hatte, überfiel mich gleich die unruhige Trauernachricht, die ich aus der Zeitung im Schaufenster eines Zeitungsbureaus im Vorübergehen las, und ich eilte hinaus vor die Stadt, gepeitscht von Unruhe.«

»Opale bringen allen Europäern Tränen, aber nicht den Menschen, die hier geboren sind; denen tun die Opale nichts zuleide, so sagen die Indianer hier«, sagte die Mondbeschienene gedankenvoll.

»Dann werde ich meinen Opalring verschenken«, sagte ich lakonisch.

»Wenn der Ring Ihnen heute die Nachricht vom Tode meines armen Vaters brachte, dann – möchte ich gern, daß Sie den Ring mir geben; ich würde Ihnen gern einen andern Edelstein dafür zurückgeben. Der Opal, der heute gleich so bedeutungsvoll für Sie und mich wurde, soll mir eine Erinnerung sein, wenn Sie wieder in Europa sind. Und damit Sie Mexiko bald vergessen, möchte ich Ihnen einen Rubinring geben, der alles Unangenehme im Leben rasch für den vergessen macht, der im Sommer geboren ist. Sie erzählten mir auf der Herreise, daß Sie im Juli geboren sind; also bitte, nehmen Sie den Rubin, der der Stein des Julimonats ist; er hat meinem Vater gehört.«

Und das junge Mädchen nestelte, während sie das sagte, an ihrem Armband, daran sie verschiedene Schmuckgegenstände klingelnd trug, und reichte mir einen Ring, der auch noch im bläulichen Mondschein rötliches Feuer hatte. Ich danke ihr verblüfft.

Ich gab ihr darauf meinen Opalring, den sie an ihrem Armband befestigte, indessen ich den Rubinring, der mir gut paßte, an die Hand steckte, wobei ich immer noch schwieg und tief erstaunt war. Vor Staunen und Unklarheit über den plötzlichen Ringtausch hatte ich meine Sicherheit verloren.

Im fremden Lande steht man jeden Augenblick auf unsicherem Boden, der vom Gedröhn sich jählings folgender Überraschungen unter den Stiefelsohlen stetig zu zittern scheint, dachte ich für mich. War der Ringtausch eine Annäherung, oder sollte der Rubin mir helfen, sie, das junge Mädchen, so bald wie möglich zu vergessen und alles, was mit ihr zusammenhing, der Vergessenheit zu übergeben?

»Was werden Sie jetzt tun?« fragte ich sie, als sie vom Stuhl aufstand und ihren Mantillenschleier über ihre Haare in die Stirn zog. »Wie kann ich Ihnen behilflich sein, Klarheit zu bekommen, ob Sie sich in Ihrer Vermutung täuschen, daß Ihr Vater eines unnatürlichen Todes starb, oder ob Sie recht haben? Darf ich fragen, ob Sie des Arztes, der den Tod Ihres Vaters als durch einen Herzschlag eingetreten erklärte, ob Sie dieses Arztes sicher sind? Wissen Sie, daß er ein ehrlicher Mann ist und in keiner Beziehung zum Polizeipräsidenten steht?« – Ich wunderte mich, während ich sprach, über meine Sprache, die wie eine offizielle Zeitungssprache wurde.

»Ich kenne den Arzt gar nicht, man hat den Arzt erst auf der Polizei telephonisch herbeigerufen, als die Schutzleute meinen Vater auf die Wache brachten.«

»Wünschen Sie, daß ich morgen beim Stiergefecht in der Loge mit dem Präsidenten der Republik selbst spreche und ihn auf den Fall aufmerksam mache? Ich kann das leicht tun, und wie ich den Präsidenten kenne, ist er ein so warmherziger Mann, daß er sicher alles tun wird, um in Erfahrung zu bringen, ob der Tod des Abbés ein natürlicher war, sobald ich ihm nur andeute, daß im Publikum Zweifel auftauchen.«

»Oh, ich danke Ihnen – ich danke Ihnen – ach, ich fürchte so sehr, Sie öffentlich in diese Angelegenheit hineinzuziehen... Nein. – Ich wünschte –«, sie zögerte, weiterzusprechen.

»Sagen Sie nur, was Sie wünschen!« sagte ich eindringlich.

»Ich wünschte – für Sie –, daß Sie alles vergessen und abreisen möchten. – Verzeihen Sie mir – ich kann mich nicht mehr beherrschen –«

Sie sank in den Stuhl zurück. Sie hielt die Hände vor das Gesicht, und wie eine Sturmflut, die hinter der Starrheit der schwarzen gläsernen Augen seit Stunden sich angestaut hätte, so brach jetzt ein Schluchzen, ein Stöhnen, ein Wimmern, ein ruckweises lautes Weinen aus der Brust und aus der Seele des Mädchens hervor, und es war für mich unmöglich, in dem mondhellen Zimmer korrekt neben der Weinenden zu stehen und das Schluchzen bloß anzuhören; ich hätte mich tot wie eine fünfte Wand im Zimmer gefühlt, hätte ich nicht meinen Arm um die Weinende gelegt und ihr Haar gestreichelt, ihre Hände, ihre Wangen. Ich fühlte, wie sie, aufgelöst vom Schmerz, nach einem Ruhepunkt, nach einem Menschenherzen schluchzte: »Meine Mutter ist selbst ganz gebrochen von Trauer, bei ihr darf ich nicht weinen«, stotterte sie unter stoßweisem Schluchzen. »Ich muß endlich weinen, oh – mein armer Vater, oh – mein armer, armer Vater; o Gott, räche ihn, räche ihn, oh, ich will den ermorden, zehnfach ermorden den, der meinem armen Vater den Tod angetan hat. Oh, er ist nicht natürlich gestorben, er ist ermordet worden. Dieser Mensch, dieser furchtbare Feigling, den ich nie liebte, der mich nur aus Ehrgeiz heiraten wollte, um mit dem Präsidenten der Republik verwandt zu werden, der ist sicher sein Mörder gewesen. Aber ich töte ihn, ich werde morgen schon meinen Vater rächen. Morgen – ich weiß es, niemand anders als er wollte meinen Vater aus dem Wege schaffen, niemand anders, weil mein Vater mir als Beichtvater von der Verbindung mit jenem Menschen abgeraten hat. Er hat als Beichtvater von vielen Leuten viel Ungeheuerliches über den Polizeipräsidenten erfahren, er erkannte ihn, und weil der erkannte und durchschaute Mensch meinen Vater fürchten mußte, hat er meinen Vater vergiftet. Er hat ihm beim Frühstück Gift reichen lassen – es ist nicht anders möglich, ich weiß es. Plötzlich sehe ich alles klar. Jemand sagte es mir hier in Ihrem ruhigen Zimmer. In Ihrer ruhigen Nähe sehe ich das ganze Verbrechen klar vor mir, als ob es mir der Mond aufklärte, und die weißen Zimmerwände erzählen es, und die Ruhe und die Güte, mit der Sie mich behandeln – alles macht es mir klar: mein Vater ist ermordet, vergiftet – von dem Ungeheuer von Mann, der mich zwingen will, ihn zu heiraten, und der glaubt, ich würde mich von neuem wieder mit ihm verloben, da mein Vater tot ist und mich nicht mehr bereden und mich nicht über den Charakter des Mannes, den er durchschaute, aufklären kann –«

Sie lachte mitten unter den Tränen in gesteigertem Haß auf.

»Und dazu muß er mir meinen Vater ermorden – um seinen Wahn, seinen Trotz, seinen Hochmutsglauben zu befriedigen –, nie, niemals hätte ich wieder diesem Mann, dem ich nur auf Zureden meiner Mutter mein Jawort gegeben hatte, von neuem meine Hand gegeben – niemals –, auch wenn mir jeder das Beste von ihm erzählt hätte. Seit ihm im Zorn der Schwur entfahren ist, daß er uns alle verderben wollte, wenn ich von der Verlobung zurücktreten würde, seitdem bin ich überzeugt gewesen, daß er im Grunde einen niedrigen, streberischen, hartherzigen und selbstsüchtigen, verbrecherischen Charakter hat –«

Plötzlich schwieg sie mitten in der stürmischen Anklage – sie sah auf – es wurde totenstill – sie sah mich an – ich war neben dem Stuhl auf die Knie gesunken.

»Ich will Sie rächen an dem Kerl!« rief ich ehrlich ekstatisch und war zugleich erschrocken über die Figur, die ich machte: daß ich hier niederkniete wie in einem Schauspiel, wie in der Mondscheinszene eines Liebesdramas auf einer Provinzbühne. – Mein Verstand korrigierte mein unüberlegtes Gefühl. Ich richtete mich rasch auf und ging im Zimmer auf und ab, rasch auf und ab, und fühlte in dem Schweigen, daß mir die Augen des jungen Mädchens, das nicht mehr weinte, folgten; und es peinigte mich, daß ich lächerlich gewesen war, und ich wollte es wieder gutmachen und blieb im Schatten der Wand und nicht im Mondschein beim Klavier stehen und sagte:

»Es ist schwer, zu wissen, ob hier ein Mord vorliegt oder nicht, aber ich schwöre Ihnen: ich werde es auf irgendeine Weise erfahren, und sollte ich selbst dabei zugrunde gehen.«

Dieser letzte Satz war mir wieder etwas theatralisch entschlüpft, ich verstand mich gar nicht mehr; was hatte ich nur, daß mir alles einfache Sprechen abhanden gekommen war, daß ich immer in viel zuviel Überschwang verfiel, der mir gar nicht zukam, und den ich sonst an anderen haßte?

Da leuchtete im Dunkeln der rötliche Rubin an meiner Hand auf, die auf den Tasten des offenen Klaviers nervös und lautlos hinstrich. Machte dieser rote Edelstein so überschwenglich feurig, daß er mir Worte in den Mund legte, die mich zum Südländer machten und mir alle besonnene deutsche Art nahmen? Ich vergaß aber den Stein wieder, denn die junge Mexikanerin war nun aufgestanden. Ohne ein Wort zu sprechen, kam sie aus dem Mondschein in den Schatten zu mir an das Klavier; sie faßte nach meiner Hand und wollte sie küssen. Ich zog die Hand zurück und umschlang das junge, geschmeidige Geschöpf, das sich an mich schmiegte und sich küssen ließ, als ob es unter meinen Küssen und an meiner Brust nun wirklich Ruhe, tiefe, ernste Ruhe gefunden hätte.

»Rennewart«, sagte sie und küßte mich auf mein Schläfenhaar, während ihr Gesicht auf meiner Schulter lag.

»Orla«, sagte ich leise, und ich strich ihr über die Wangen und sah wieder den rosa Feuerschein des Rubinringes an meiner Hand, während ich ihre Wange und ihren Hals streichelte.

»Orla, kommst du mit mir nach Europa?«

Sie schüttelte leise den Kopf und weinte auf meiner Schulter und schwieg.

Nun wußte ich – und es rieselte mir ein kaltes Gefühl durchs Blut –, das Mädchen, das ich streichelte, liebte nicht mich, es liebte augenblicklich nur den Mann in mir, der seinen Vater rächen wollte.

»Orla, warum küßt du mich, wenn du mich nicht liebst?« fragte ich erschrocken und sanft. Orla weinte.

Plötzlich aber, als ob sie fürchtete, sie könnte mich zurückstoßen und vielleicht verlieren und mich unmutig und zur Rache unlustig machen, plötzlich umschlang sie mich, zog mich leidenschaftlich an sich; meine Hand, die ich fallen ließ, und mit der ich sie nicht mehr streicheln wollte, riß sie von den Tasten des Klaviers zurück, so daß es laut anschlug und einige Dissonanztöne die Mondstille des Zimmers schrill aufstörten.

Dieser Klang des banalen Klaviers machte uns wach. Wir ließen voneinander. Ich begleitete sie zur offenen Tür, wir blieben nicht im Mondschein stehen, das Mondlicht schien mir greller als die Sonne.

»Kommst du morgen wieder?« konnte ich nicht unterlassen zu fragen.

»Ich gehe nicht, ich gehe nicht, komm in meinen Wagen!« sagte sie leidenschaftlich und legte beide Arme auf meine Schultern und sah mich mit mondglitzernden Augen an, angstvoll, bittend und zwingend.

»Bedenke, daß wir noch nicht gesehen sein wollen, bis wir alles erfahren haben, was wir von deinem armen Vater wissen wollen.«

Ich war froh, daß ich mich so hart beherrschen, es so stolz verbergen konnte, wie sehr ich mich sehnte, mit ihr im Wagen, unter dem Mond, hinaus in die Nacht zu fahren.

»Oh, wie ruhig du plötzlich sein kannst!« klagte sie jetzt. »Komm mit mir, ich gehe weiter mit dir, weiter als nach Europa!« – Und sie lächelte. –

Ah – da durchfuhr mich ein Schmerz –, ich hatte sie für ganz jungfräulich unschuldig gehalten, und nun sprach sie so reif wie eine Wissende, die alle Geheimnisse der Liebe und Umarmung beherrschte. Ich schämte mich meiner Naivität, meines deutschen Glaubens an die Reinheit der Frauen; meine Seele war mir wie ein weggeworfenes Papier zerknittert, und ich verlor die Lust, das Mädchen zu küssen; sie kam mir wie auf der Gasse oder wie von Räubern geschändet vor.

»Wer war der Räuber, der dich früher einmal raubte?« fragte ich halb gutmütig lächelnd, um meine bittere Enttäuschung zu verbergen.

»Frage mich nicht – du machst, daß ich mich umbringen könnte, wenn ich unter deinen ruhigen Augen gestehen soll, daß er es war, der vielleicht der Mörder meines Vaters geworden ist.«

»Verflucht, unmöglich!« brach es vor Entsetzen und Staunen aus mir hervor. »Der Polizeipräsident? – Der?«

Sie riß meinen Kopf an ihre Lippen und sagte: »Sprich nicht von ihm. Du bist ein Heiliger gegen diesen Menschen.«

Dann lief sie fort. Ich ging hinter ihr her bis zur Straßenecke, sie winkte ihrem Wagen. Sie gab mir noch einmal unter den Augen des Kutschers fest die Hand, sie stand in der schwarzen Mantille, mit den Handschuhen in der Hand und mit den halbentblößten Armen, prachtvoll und reizvoll vor mir, so daß ich ihre Hand plötzlich wieder heftig drückte, ihren Arm streichelte und halb scherzend sagte: »Komm morgen abend wieder! Du bist so schön, daß alle Heiligen dir gut sein müssen.«

»Morgen?« fragte sie erschrocken und sah mich groß an.

Oh, ich hatte vor ihrer Schönheit im Mondschein sogar vergessen, daß sie zu Hause eine weinende Mutter hatte, daß sie der Leiche des Abbés zum Grabe folgen mußte, und dann erst wiederkommen konnte.

»Ich gehe mit meiner Mutter morgen zum Stiergefecht,« sagte sie plötzlich rasch, »dort darfst du mich anschauen, aber bringe mich nicht zum Weinen. Meine Mutter sagt, wir müßten hingehen und dürften bei den drei Nationalsonntagen nicht fehlen; es würde sonst auffallen, daß wir wegblieben, und man könnte böse Klatschereien machen. Ich finde zwar, meinen Vater, der als Abbé allgemein als unser Familienfreund bei uns bekannt war, könnten wir auch öffentlich betrauern und sollten nicht zum Fest kommen, aber meine Mutter ist wegen der Briefe, die seit der Haussuchung in den Händen der Polizei sind, so aufgeregt, daß sie zum Stierkampf gehen und versuchen will, den Polizeipräsidenten dort zu sprechen.«

Ich stand gedankenvoll da und konnte den Wagenschlag noch nicht zudrücken.

»Auf Wiedersehen morgen!« sagte ich endlich ruhig.

»Auf Wiedersehen – ich liebe dich! – dich ruhigen Europäer!« Sie wendete mir rasch die Lippen zum Kuß hin und drückten den Wagenschlag zu. Dann fuhr sie fort, und ich ging nicht von der Stelle und sah dem Wagen nach, der bald hell, bald dunkel durch die Mondscheinstreifen und durch die Baumschatten unter den gewaltigen Laubnetzen der gigantischen Alleebäume des Paseo fortjagte.

Langsam ging ich um den Halbkreis des Platzes der Glorieta di Colon auf dem Trottoir zu meiner Wohnung zurück.

Ich erstaunte über meinen winzigen Schatten: es mochte elf Uhr sein, und unter dem hohen Tropenmond, der senkrecht über mir stand, ging ich fast schattenlos hier auf dem schneehellen Asphalt des Trottoirs. Es war, als fehle mir etwas Altbekanntes. War ich wie Peter Schlemihl geworden, die alte Märchenfigur Chamissos, die ihren Schatten verloren hatte? Oh, ich hatte mehr verloren, viel mehr heute abend, ich hatte ein Ideal, eine Seele, eine Leidenschaft verloren.

Was geblieben war, das war nicht mehr Lust, sondern Lüsternheit, nicht mehr Inbrunst, sondern – Brunst des Körpers nach vagabundenhafter Frauenschönheit.

»Alter Idealist, alter Europäer! Altes deutsches Gemüt!« so spottete ich, während ich mich um mich drehte und verwundert meinen Schatten am Boden im Mondschein suchte und statt eines Schattens nur einen kreisrunden Fleck um meine Füße sah; wie ein rundes schwarzes Brett unter einer Spielzeugfigur aus einer Nürnberger Spielzeugschachtel – so klein zusammengeschrumpft war mein Schatten unterm senkrechten Tropenmond. »Welch ein Tag, welche ein Tag!« sagte ich halblaut vor mich hin und setzte mich in meinen Salon in den Schaukelstuhl und wollte überlegen, was mir heute alles gedroht hatte; denn das Geständnis, daß ich kein junges Mädchen, kein unerfahrenes Geschöpf, sondern eine reife, erfahrene junge Frau in der Mexikanerin liebte – das machte mir alles plötzlich unheimlich komisch. Deine Leidenschaft ist zu einer Mißgeburt ausgeartet, dachte ich. Statt daß ich Unerfahrenheit und erste Mädchenhingabe errungen hatte, bot sich mir reife Frauenliebe, geschultes, verständiges Liebesempfangen und bewußtes Liebesgenießen an.

Wie die Welt sich hier in Mexiko stündlich verwandeln kann: Ich war heute zum Heiligen in Ixtapalapa erklärt worden, und mir hatte sich eine Heilige in ein reales Menschenkind verwandelt. Ein Lebender war ein Toter geworden. Ein Polizeipräsident zum Verbrecher, ein Opalring war jetzt in einen Rubinring verwandelt worden und ein feuriger, ehrlicher Liebhaber in einen feurigen, ehrlichen Lüstling. Einem menschenfressenden Gott war ich entflohen, um der menschenfressenden Liebe in die Arme zu laufen.

Schlangen hatten mich heute verschont, und eine Frau hielt mich jetzt umstrickt und machte vielleicht morgen schon einen Mörder aus mir, der, ihren Vater zu rächen, sich nicht vor Menschenblut scheute und schonungsloser als die Schlangen wurde.

Herrgott, ja, ich war in einem Zauberland; vielleicht war morgen schon wieder alles nicht wahr, und vielleicht wurde es niemals übermorgen, und alles blieb bei heute, wenn jetzt zum Beispiel jemand draußen am Vorgarten vorbeiginge, seinen Revolver abfeuerte und mich erschösse, angestiftet vom Polizeipräsidenten, weil ich seine ehemalige Braut und Geliebte bei Nacht hier empfangen hatte.

Mit einigem Galgenhumor betrachtete ich den rötlichen Rubinring an meiner Hand, dann stand ich auf, schloß die Glastüren, zog die Vorhänge zu und versuchte, als ich das Klavier schließen wollte, die Töne des Liedes der Ausruferin zu finden, von der das Mädchen gesagt hatte, daß sie sie mit Botschaften zu mir geschickt hätte.

Ich klimperte noch eine Weile die drei, vier Ruftöne, dann schloß ich das Klavier und ging in mein Schlafzimmer hinauf und war vor dem Spiegel ganz erstaunt, als ich bemerkte, daß ich noch im Reitanzug und in Gamaschen dastand.

Ich war sogar zu übermüdet, um an Essen und Trinken denken zu können; ich legte mich unter das Moskitonetz und schlief trotz zahlloser singender Quälgeister zu Tode erschöpft für ein paar Stunden ein.

Gottlob, daß die Götter den Schlaf erfunden haben; ohne Hilfe des Schlafes käme man sonst in manchen erregten Zeiten keinen Augenblick zu sich selbst. Man müßte sonst immer das Leben der andern leben; nur der Schlaf garantiert einem, daß man, wenn auch nur für ein paar Stunden, sein unumschränkter Herr wird. Wenn ich mich gar zu lebhaft von der Welt in Mitleidenschaft gezogen fühle, dann erscheint mir manches Mal der Schlaf als der einzige Zufluchtsort, der zurück zur persönlichen Ehrlichkeit führt.

Aber hier in Mexiko, umgeben von Moskitos, war es schwer, sich selbst nachts im Schlaf zu sich zurückzufinden.

»Nächste Woche reise ich ab!« Das sagte ich mir laut vor, wobei ich mir schwor, wenn mich am Tag vor der Abreise die Reue wieder überfallen würde, nur an die Moskitos zu denken.

Europa, süß schlafendes, moskitofreies Europa, wie bist du so weit! Ahnte ich denn jemals, daß man nicht überall zu Hause sein kann, wo einen die Reiselust hinführt? – »Willst du mit mir nach Europa?«, so hatte ich vorhin das schöne Mädchen gefragt. Sie hatte den Kopf geschüttelt. Und doch wollte sie mit mir weiter als nach Europa reisen? Sie wollte mir alles, alles geben, sich selbst – wenn ich ihr bei ihrer Rache helfen würde.

Hatte sie mich wirklich lieb? Fürchtete sie sich vor dem gesitteten Europa, und schämte sie sich dort ihrer Abenteurernatur, weil sie nicht dorthin wollte? – Wer konnte das beantworten? Sicherlich wüßte sie selbst nicht zu antworten! Wenn sie nicht nach Europa wollte, so war das Gefühl bei Orla ähnlich dem Gefühl der Angela, die auch keine Wagenfahrt nach dem Wallfahrtsort machen wollte, sondern lieber ins Mißgeburtenmuseum zu ihrem Paolo fuhr. Vielleicht hatte auch Orla noch einen Paolo hier, irgendwo, von dem sie noch nicht gesprochen hatte.

Jetzt schien mir alles möglich.

»Ich muß sie doch fragen, ob sie mich neulich im Sumpf in den Staubhöhlen gern umbringen und mich untersinken sehen wollte.« Ich seufzte und schlief ein.

Am nächsten Nachmittag blieb ich in der Arena in der Loge des Präsidenten der Republik nur solange, als es die offizielle Höflichkeit erforderte. Nachdem ich die mir bekannten mexikanischen Würdenträger begrüßt und mit dem Präsidenten den üblichen Händedruck ausgetauscht hatte, zog ich über meinen Frack den hellen Regengummimantel, den man hier nachmittags »vor dem Regen« immer bei sich haben mußte, und schloß mich einigen Bekannten an, um hinunter zu den Ställen zu gehen und die Stieropfer, die dieser Sonntag fordern sollte, zu besichtigen.

Man hatte mir erzählt, es seien für die drei Nationaltage fünfzehn Stiere aus Spanien importiert worden; da sich nicht alle mexikanischen Stiere zum Kampfe eignen und die Spanier besondere Kampfrassen züchten, ließ man das Material zu den Nationalfestsonntagen direkt aus Spanien kommen.

Aber die Stiere interessierten mich nicht. Ich hatte einen Bekannten gefragt, ob er mir den Polizeipräsidenten zeigen konnte; und da er ihn nicht fand, fragte ich den wachthabenden Adjutanten des Präsidenten, der mir versicherte, der Polizeipräsident habe eine leichte Erkältung und käme heute nicht zu den Festlichkeiten; er sei bereits durch einen Diener abgemeldet worden.

Unten bei den Ställen der Stiere ließ ich meine Freunde vorausgehen. Ich selbst betrat einen der Entreekorridore, deren vier wie Schachte von vier Seiten in den Zirkus der Arena einmünden.

Hier stellte ich mich neben dem Musikkorps auf, das da auf einer Tribüne spielte, und von hier konnte ich gut die Loge des Präsidenten der Republik und rechts und links von dieser die Logen der Damen der mexikanischen Aristokratie beobachten, ohne im Gedränge selbst beachtet zu werden. Denn die Arena ist in zwei Halbkreise geteilt. Die eine Hälfte des Zirkus, die Schattenseite, ist für die weiße Rasse, spanische Mexikaner, Amerikaner und Europäer, die andere Hälfte, die Sonnenseite, ist für die farbige Bevölkerung bestimmt, für Indianer und Neger. Ich hatte den Diener meines Wagens gerufen, ihm meinen Zylinder gegeben und mir meinen weißen Panamastrohhut aus dem Wagen bringen lassen. Ich knöpfte jetzt den Gummimantel zu, und niemand konnte nun drüben aus den Logen in mir einen der offiziell Eingeladenen vermuten. Ich stand mit meinem Opernglase neben einigen weißen Clerks, welche die billigen Plätze auf der Sonnenseite der Indianer den teureren Plätzen auf der Schattenseite vorgezogen hatten. Unter meinem tief in die Stirn gezogenen Panamahut, hinter meinem Opernglas, konnte ich nun gut alle Gesichter der geladenen Gesellschaft beobachten. Ich suchte und suchte alle Damenreihen ab, alle weiß gekleideten und mit weißen Spitzenschleiern frisierten Mexikanerinnen, die große rote Rosen-, Nelken- und gelbe Tigerlilienbukette vor sich auf den Brüstungen der Logen liegen hatten. Die weißen Spitzen und Schleier gaben allen Damen, auch den ältesten, das Aussehen von Bräuten, und die Reihen der Blumenbukette vor ihnen waren wie bunte Reihen langer Blumenbeete, dahinter die tief dekolletierten bleichen Brüsten und die gepuderten bleichen Gesichter mit den großen sichelförmigen schwarzen Augenbrauen und mit den üppigen rot gefärbten Lippen wie Reihen von Wachsfigurenköpfen in Friseurschaufenstern auf die Arena hinabsahen. Die Frisuren, die Armgelenke, die Ohren und die Hälse der Damen glitzerten von Goldgehängen und von Diamantenkrusten, alle Fächer wippten, die farbigen Tücher der Fahnen über den Logen hingen regungslos über den Köpfen der geputzten Gesellschaft; denn ein brennend blauer Himmel stand träge und einfarbig über der Arena. Kein Windhauch rührte die Fahnentücher, nur die Damenfächer und die Damenköpfe und die Brillanten bewegten sich ruckweise und geschäftig. Die Musik spielte eine Opernouvertüre. Die Sonnenseite der Arena, auf der ich stand, war so heiß, daß es mir schien, als drücke sich die Sonne wie flüssiges Siegellack durch meinen Panamahut, und als könne der Strohhut jeden Augenblick Feuer fangen.

Ich suchte die jungen Augen, die gestern abend bei mir in den Mond gestarrt hatten, die geweint hatten, die Zuflucht bei mir gesucht hatten, die ich geküßt und wieder geküßt hatte, und von denen ich dann abgeglitten war, während sie sich offenbarten und ihr Leben bloßlegten und aus Göttinnenaugen zu Menschenaugen wurden. Ich begriff nicht, daß ich gestern so töricht empfindsam hatte sein können; wie konnte ich Reinheit von einer Frau fordern, die mir keine versprochen hatte, die mir sofort in dem ersten Augenblick eingestand, was sie mir zu geben hatte und was nicht.

Waren das nicht alte, veraltete Europarudimente in mir, die von der Frau Keuschheit verlangten, wenn man selbst als Mann keine Keuschheit mehr zu bieten hatte? –

Ich fand die junge Mexikanerin nicht, in keiner Loge, so sehr ich auch mit dem Opernglas alle Damengesichter prüfte. Sie war unsichtbar. Sie war nicht gekommen, wenn sie es auch versprochen hatte.

Die alte Sehnsucht nach Leidenschaft stieg in mir auf. Ich verwünschte meine anerzogenen europäischen eingebildeten und tyrannischen Idealansichten. Ich hatte sicher gestern beim Abschied das leidenschaftliche Mädchen verletzt, weil ich nicht mit ihm in den Wagen gestiegen war, wie es wünschte, und vielleicht schämte es sich heute, daß ich meinem Staunen so brutal im Augenblick der Enttäuschung Luft gemacht und gerufen hatte: »Verflucht! War es der Polizeipräsident, der dich verführte?«

Sie mußte gemerkt haben, daß ich mich enttäuscht fühlte, weil sie nicht mehr unberührt war, und es machte sie vielleicht bitter, dies mitten in dem Trauerschmerz um ihren Vater sich und mir eingestanden zu haben.

Ich empfand die Musik so laut; die Blechinstrumente dröhnten, als ob die tropische bombastische Sonne den einen Halbkreis der Arena wie ein glühendes Geschütz mit glühenden Kartätschen beschösse. Die Musik donnerte, die Hitze donnerte, und von tausend Füßen und Spazierstöcken donnerten und dröhnten nun die Sitzreihen der trampelnden, beifallswütenden Menschenreihen, die jetzt den runden Kessel des runden Amphitheaters bis zum Rand Kopf an Kopf erfüllten, und die Beifall stampften, wahrscheinlich, weil jetzt der Stier oder die unbekannte Stierkämpferin das Theater betreten hatte.

Ich spürte gar keine Lust, das Schauspiel mit einem einzigen Blick zu verfolgen; ich war froh, daß mir die weißen hohen Strohhüte von weiß gekleideten Indianerinnen, die vor mir standen, die Aussicht auf die Arena verstellten.

Ich behielt meinen Feldstecher vor den Augen, stand wie in einem Versteck und suchte immer wieder die weißen Reihen der Damen ab. Ich bemerkte auch, daß noch nicht alle Plätze besetzt waren, und rechts von der Loge des Präsidenten der Republik sah ich noch einige freie Stühle.

Jetzt kommt ein Diener in jene Loge und legt vor einen der freien Stühle ein großes weißes Rosenbukett auf die Logenbrüstung. Er tritt hinter den Stuhl, eine Dame nimmt darauf Platz.

Sie ist es.

Nun nickt sie zu der Präsidentenloge zurück, von wo alle Herren und der Präsident selbst ihren Eintritt bemerkt haben und grüßend nach ihr sehen. Sie grüßt etwas lebhaft und erregt zu den Herren der Loge zurück, nimmt ihre Lorgnette und mustert die Arena.

Sie ist es nicht. Aber es ist ihre Mutter. Das von der Spitzenmantille eingerahmte Gesicht ist sehr geschminkt und restauriert, so daß man die Dame beim ersten Blick für ein junges Mädchen halten konnte. Jetzt aber, wo sie die Spitzenmantille von doch er Brust und vom Hals zurückschlägt, sieht man die Figur, den Hals und die Büste einer Frau, die schon ältlich ist, und die, sehr weise, ihr Haar weiß gepudert hat, um den Silberton des Altwerdens reizvoll interessant zu machen und durch das absichtliche weiße Haar jung zu erscheinen. Daß es die Mutter der Mexikanerin ist, sagt mir die auffallende Ähnlichkeit; sie sieht der Tochter zum Verwechseln ähnlich.

Aber wo ist sie, die Tochter? Warum ist sie nicht mitgekommen? Ist sie krank? Hat sich etwas ereignet? – Ein neues Erlebnis. Auch der Polizeipräsident ist nicht erschienen. Hat das Ausbleiben der beiden einen Zusammenhang?

Ich quäle mich mit Fragen und Sorgen. Darüber habe ich das Entree der Stierfechterin verübergehen lassen. Ich bemerke jetzt erst an der Stille im Zuschauerraum, daß sich ein spannender Augenblick im Stierkampf vorbereitet.

Mein Opernglas schaut auf den Sandboden hinunter. In dem Rund meines kleinen Glases sehe ich winzig klein, zwischen den Rändern von zwei Indianerstrohhüten unten vor mir, die rot kostümierte Stierkämpferin im Männeranzug; sie springt zwischen den zwei Strohhüten hin und her, die vor mir die weitere Aussicht auf die Arena verbauen. Jetzt wendet sie sich um. Eine schwarze Seidenmaske bedeckt Stirn und Nase, um die Frau unkenntlich zu machen.

Ich muß an all die Gespräche im Deutschen Klub denken, wo man seit Wochen von der Dame erzählte, die den ersten Stierkampf wagen wollte, und die niemand kannte, und die sich nicht einmal dem Präsidenten zu erkennen geben wollte.

Ihr Mund ist sehr energisch, ihr Kinn sehr vornehm und ihr Hals wundervoll in der Linie; die ganze Person hebt sich in dem enganliegenden roten Männerkostüm wie ein maskierter Page vom grauen Sand ab, als wäre sie eine der vornehmsten jungen aristokratischen Damen und direkt von den Logen oben in die Arena gesprungen.

Ich habe mir eine derbe, muskulöse, untersetzte Frauensperson vorgestellt und bewundere nun dieses gewandte Geschöpf, das wie ein Jüngling, wie ein Page von edelstem Blut da unten bei den Banderilleros und den Reitern vor dem schwarzen Stier tanzt, der bereits von Blut trieft, und dem der bläuliche Blutglanz vom Rücken durch das pechschwarze Fell naß herabrieselt.

Kurze Dolche, an deren Griffen lange blaßblaue und blaßrosa und gelbe seidene Bandstreifen flattern, stecken dem Stier, von den Banderilleros hineingestoßen, hinter den Ohren im Nacken. Und der buntgescheckte Strauß von Dolchen schwankt auf dem gedrungenen Stierhals wie ein lustiger Festkranz und nicht wie eine eiserne Dolchkrause.

Zwei Pferde, deren Reiter eben abgesprungen sind, und die vor dem zur Raserei angestachelten Stier über die Barrieren in den Zuschauerraum flüchteten, liegen am Boden hingestreckt; dem einen Pferde liegen die Gedärme als ein dicker roter Gekrösehaufen unter dem Sattel im Sand, dem andern hat der Stier den Hals aufgeschlitzt, und das Blut aus Maul und Nüstern wächst auf dem Sand zu einer großen schwarzen Pfütze, darinnen sich die Tropensonne spiegelt, weiß wie eine Quecksilberkugel.

Nun erscheint die Stierkämpferin wieder klein zwischen den beiden Strohtürmen der Hüte vor mir. Sie schwingt den roten Mantel, um den Stier auf sich aufmerksam zu machen und an sich zu locken.

Die Musik spielt sentimental »La Paloma«, und ich hebe mein Glas dichter vor die Augen, um den mantelschwingenden weiblichen Toreador besser sehen zu können.

Da ist es, als durchzuckte mich der Degen, den sie in der Hand hochschwingt.

Ich bin der festen Überzeugung, die Dame, dieser kämpfende Page da unten in der Arena, sei meine Mexikanerin.

Ich kann mir nicht klarmachen, woran ich sie erkenne, aber ich erkenne sie plötzlich Zug um Zug, an Haltung, Gang, Armbewegung. Würde sie zu Pferd sein, so wäre ich überzeugt, daß es nur sie und sonst niemand sein könne.

Ich habe aber keine Zeit, sie zu beobachten, sie ist wieder hinter den Hüten verschwunden. Nun verwünsche ich meinen Platz. Ich werde unruhig. Ich bedenke nicht mehr, daß ich einen Frack und eine weiße Weste unter dem Mantel anhabe, ich knöpfe meinen Mantel auf, der mir zu heiß wird. Ich dränge vor, die Indianer sehen sich zögernd um. Als sei einen Herrn in europäischer Gesellschaftstracht zwischen sich sehen, machen sie mir alle Platz, als ob ich der Präsident der Republik in eigenster Person wäre.

Aber da ich zögere, vorzutreten, blicken sie sich untereinander verwundert an. Ich sehe eben, wie sich der Stier unten dicht vor der Frau aufstellt, daß er den Kopf bis auf den Sand senkt und von unten einen Hieb mit seinen Hörnern macht, der den Mädchenfingern aber nur den roten Mantel entreißt. Der Stier schleudert den roten Fetzen von sich und sinkt plötzlich, vom Blutverlust zitternd und geschwächt, in die Knie.

Der Degen des weiblichen Toreadors fährt ihm wie eine lange Nadel, sicher geführt und hart gestoßen, durch den Hals in die Brust hinunter, so daß wahrscheinlich dem Stier das Herz getroffen ist.

Mächtig dröhnender Beifall tobt rings um das Rund des Theaters; tausend Arme, tausend Hüte fliegen in die Luft, tausend Hände klatschen wie ein knatterndes Gewehrfeuer; tausend Füße stampfen unaufhörlich, endlos, und tausend Bravorufe schallen. Fächer, Hüte, Geldtaschen, Blumenbukette, Handschuhe, goldene Uhren, Taschentücher, ein Regen von klirrenden, flatternden, glitzernden Dingen wirbelt aus allen Logen durch die Luft, von allen Plätzen, von allen Reihen, und das Winken der Frauen und das Händeklatschen und Füßestampfen nimmt kein Ende.

Mitten in dem Hagel der tausend Gegenstände steht die Stierfechterin bei dem zusammengestürzten schwarzen toten Stier, der da wie eine schlafende Katze, die Schnauze nach dem Schwanz gedreht und harmlos aussehend, am Boden kauert.

Eben kommen sechs lichte Schimmel, auf den Köpfen rote Straußenfedern, zwei und zwei hintereinander vor einen eisernen Rechen gespannt, in die Arena. Und es sieht so aus, und es klingelt von Schellen am Geschirr der stampfenden Pferde, daß man glaubt, nun beginne eine Zirkusnummer.

Meine Lippen flüstern: »Orla! Orla! Orla!« Als könnte ich durch die schwarze Maske der Stierfechterin sehen, so deutlich erblicke ich Orlas Gesicht dahinter. Eine gewaltige Aufregung macht mich mitten im Sonnenschein kalt und heiß, als ob ich in kalten und eisigen Luftströmungen auf einem freien Berge stünde und ins Tal hinunterschaute, wo Blut, Kampf, Tod und Triumph herrschen – und Liebessehnsucht.

Man hat den Stier auf den eisernen Rechen gelegt, und die Stierfechterin soll den Triumphrundgang vor den sechs weißen Schimmeln antreten, die den getöteten Stier auf dem Rechen hinter sich her schleifen. Man hat die zwei blutigen toten Gäule aus der Arena geschleift und den Sand zum Triumphzug rasch gereinigt und geglättet. Die schellenklingenden Schimmel und die Musik begleiten das Mädchen mit Triumphgetöse, und der Beifall vor dem sich verneigenden Mädchen ist endlos.

Es ist, als sei der Himmel mit Donner und Kaskaden von rauschenden Wolkenbrüchen in die Arena gestürzt, so elementar braust der Beifall, so elementar macht sich hier das Empfinden der Tausende von Zuschauern Luft, deren Blutdurst angestachelt, bis zum Fieber angestachelt wurde.

Es ist, als ob das ganze Theater auf allen Reihen bis hoch hinauf ein zuckender Leib geworden sei, der wie ein bewegter Ring aus Armen, Gesichtern und Händen, wie eine dicke lebende Schlange rund um die Arena kriecht, darinnen jetzt die fast schwache zarte Mädchengestalt in roten Kniehosen und weißen Strümpfen und schlanker Taille nochmals erscheint. Nachdem die Schimmel den Stier fortgeschleift haben, steht sie als Siegerin unscheinbar wie eine Marionette dort unten allein im Sand und bewegt sich grüßend nach allen Seiten und vor allem nach den Logen des Präsidenten und der Aristokratie – aber sie ist dabei immer noch schwarz maskiert. Wieder wirbelt ein noch reicherer Regen von Gegenständen, Blumen, Orangen, Operngläsern, Taschenuhren durch die Luft. – Plötzlich zuckt das sich lächelnd verbeugende Geschöpf zusammen, als habe sie ein Gegenstand an den Kopf getroffen – man sieht eine kleine Rauchwolke zu ihren Füßen, und mit einem leichten Aufschrei stürzt sie mit dem immer noch maskierten Gesicht vornüber in den Sand, streckt die Arme weit von sich, greift mit den weißen Händen durch den Sand, als ob sie schwimmen wollte, schlägt um sich, als ob sie etwas abwehrte, und bleibt regungslos liegen, die Knie an die Brust heraufgezogen. Totenstille, die Musik bricht jäh ab, und einige Leute eilen von allen Seiten zu der Hingestürzten, tief gebückt, als ob sie auf Händen und Füßen zu ihr liefen.

Ich stoße die Indianer auf die Seite, ich fühle unter meinen Händen die muskulösen Körper von ein paar Dutzend umgestoßenen Indianern, die ich zurückdrängen mußte, um zur Barriere hinunter zu kommen. Ich rede laut mit mir:

»Orla – ist gestorben. Es muß einer eine Pistole vor ihre Füße geworfen haben, und diese ist losgegangen.« So sprach ich, während ich mich durchdränge, hinunter in die Arena, als ob nur ich allein der Gestürzten helfen könnte.

Ich sehe durch die letzten Menschenreihen, die ich noch zu durchdringen habe, daß die Arena von Menschenmassen gestürmt wird, meistens von Herren, Europäern und Amerikanern, die das Mädchen aufheben. Man hat ihr die Maske abgenommen, aber ich kann nur die schwarze Larve in der Hand eines Herrn sehen, das Gesicht der Stierfechterin ist verdeckt durch die Rücken der Herren.

Jetzt komme ich an die Barriere, klettere hinüber, schiebe die erstaunten Herren beiseite – da sehe ich die großen grauen Augen einer mageren Frau, die mich mit geröteten Augäpfeln entsetzt anstarrt; Blut quillt ihr in dünnen Streifen aus dem einen Mundwinkel, man hat ihr einen Herrenpaletot um den Leib gewickelt und Herrenpaletots als Kopfkissen unter ihren Kopf gelegt. Zwei, drei Herren, Ärzte, knien bei ihr und nesteln ihr Hemd am Halse auf.

»Einen Schuß in den Unterleib oder in die Lunge«, sagt ein Herr mit einer roten Riesennelke im Knopfloch seines Frackes halblaut neben mir.

»Muß sie sterben?« fragt ein anderer.

»Sie sah hübscher aus mit Maske. Sie hat ein häßliches Gesicht«, sagte ein Offizier neben mir, und er kaut an einer kalten Zigarette, aus der er vergeblich Rauch in die Luft blasen will.

Ich wußte nicht, warum ich da stand.

Es war eine fremde Frau, die von einer ihr unsinnigerweise im Übereifer zugeworfenen Pistole, die sich entladen hatte, zu Tode verwundet worden war.

Ich stehe noch und denke darüber nach, wie so gar nicht ähnlich doch diese Frau in der Nähe der schönen Mexikanerin ist, sie ist viel magerer. Sie ist nicht so graziös. Sie geht mich gar nichts an. Sie rührt nur mein Mitleid, nicht aber meine Leidenschaft. Ich war ein Narr, daß ich eben während einer Viertelstunde ihr alle Aufmerksamkeit gewidmet habe, ohne mich nach der Loge, wo Orlas Mutter sitzt, umzusehen.

Ich schaue hinauf.

Da oben steht aufrecht die junge Mexikanerin neben ihrer Mutter. Aber an ihrer Seite sehe ich einen vollbärtigen, hohen, schwarzen Herrn, nicht mehr sehr jung, der hat den Arm unter Orlas Arm geschoben und hält das Mädchen, vor allen Damen, die sich tumultuarisch neben ihm unterhalten und mit Operngläsern gestikulieren und auf die verwundete Stierkämpferin starren, alle aufgerichtet, als ob die Leute in allen Logen auf mich heruntersähen, weil ich so erstaunt hinaufstarre.

»Sagen Sie, bitte, ist das nicht dort in der rechten Loge, rechts von der Loge der Republik – der einzelne Herr in Galauniform, unter all den Damen, ist das nicht –« Ich mußte schlucken.

»Der Polizeipräsident, meinen Sie?« sagte höflich der Offizier mit der kalten Zigarette. »Jawohl, und die Dame, deren Arm er hält, ist seine Braut. Ein stolzer Herr, ein schönes Brautpaar. Man sagt, es sei augenblicklich das schönste Brautpaar in der ganzen Hauptstadt.«

»Jawohl,« sagte ich, »ich kenne kein schöneres!«

Dann, als mich der Offizier um Feuer bat, wurden wir durch Menschen getrennt, die sich zwischen uns schoben, und ich verlor ihn gern aus dem Gesicht, weil mir übel und krank und so trocken im Halse wurde, daß ich fühlte, ich hätte kein lautes Wort mehr sprechen können.

»Welch ein Unfug, Pistolen in die Arena herunterzuwerfen; so was kann doch auch nur in Mexiko passieren. Und dort oben steht der Polizeipräsident in eigenster Person und tut, als ob die Sache hier unten unter seiner Würde sei. Er denkt nur ans Vergnügen, der hohe Herr, und an sein reiche Braut.« Ein norddeutscher Herr sagte das im Vorübergehen zum deutschen Konsul, der mit ihm ging.

Ich ging langsam aus der Arena und vermied es, zu den Logen hinaufzusehen. Aber ich sah noch, wie eben der Präsident mit seinem Stab die Treppen herabstieg, neben ihm jetzt der Polizeipräsident, und wie alle in die Arena eilten, wo immer noch die Ärzte um die Verwundete beschäftigt waren.

Das Theaterpublikum war ein Getümmel von Aufgeregten geworden, man drängte, man stieß sich, man sprach leise, und man schrie sich an. Manche Damen eilten zu ihren Wagen, andere weiten in den Logen. Ich sah die Mexikanerin und ihre Mutter nicht mehr, und als ich zur Ausgangstür hinaustrat, wo die Fahnen in Massen vom Himmel niederwallten, die grünen Girlanden schon welk hingen und die Autos und Wagen lärmend vorfuhren, da sah ich eben Orla zu ihrer Mutter in den Wagen steigen. Sie zog die Spitzenmantille dicht vor das Gesicht. Sie konnte mich aber nicht gesehen haben. Sie schien sich vor der Menschenmenge zu schämen. Während ihre Mutter vergnügt lachend den Fächer bewegte und die einzige Dame war, die der Unglücksfall der Stierfechterin nicht erschüttert hatte, saß die Tochter regungslos im Wagen.

Der Portier klatschte in die Hände und schrie durch die hohlen Hände laut meinen Namen aus, damit mein Kutscher vorfahre.

Da wandte sich Orla im fortfahrenden Wagen um, aber mein Kutscher schob sich mit den Pferden zwischen sie und mich, ich konnte keinen Blick von ihr auffangen.

Ich stieg in meinen Wagen und ließ das Wagendach schließen, da eben die ersten Tropfen des Nachmittagregens fielen.

Dann lehnte ich mich drinnen in die Kissen zurück und hielt mein Taschentuch vor das Gesicht, als der Wagen fortfuhr. Jeder, der von draußen hereinsah, muß wohl geglaubt haben, daß ich über die verwundete Stierfechterin weinte.

Aber ich weinte nicht. Ich sah immer noch im Geist die Loge, den Arm des Polizeipräsidenten Orlas Arm halten, sah immer dieses Bild. Ich preßte nur mein Tuch an meine Schläfen. Es war, als hätte ich eine Kugel im Kopf und hätte Wundfieber, so heftig preßte sich mein Blut in die Stirn und war um mich wie ein dumpfes Donnern. Schreck, Leid, Bestürzung, Ungewißheit wirbelten in mir durcheinander. Denn Herzbeben ist gründlicher als Erdbeben. Ich sah Hoffnungen einstürzen, hörte Gelächter, ohne daß jemand lachte, hörte Wutgeheul, ohne daß sich meine Lippen öffneten. Das Herz ist ein lebendes Wesen für sich in uns Lebenden. Selten, daß es seine Stimme gebraucht, so selten wie das stille Wild im Walde, das nur aufschreit, wenn es angeschossen ist, das dann klagt und brüllt und eine Stimme bekommt, die es vorher selbst noch nie gehört hat. Und staunend, erschrocken und mit Genugtuung hörte ich aus meinem Fleisch mein Herz schreien, und ich lauschte ihm unter Schmerzen und voll Ehrfurcht.

Der Tropenregen stürzte jetzt draußen nieder, wie Wasserwände stand er um den Wagen; an der nächsten Straßenecke stauten sich Wagen und Automobile, und mein Wagen geriet im Gedränge dicht neben einen anderen, darin die Mexikanerin mit ihrer Mutter saß.

Der Regen aber war dicht und beschlug die Fenster grau, so daß ich die Damen wie in tiefer Wasserflut sah, wie Spiegelungen farblos, wie ein mattes Bild auf behauchten Metallscheiben – ich sah beide drüben hinter den großen grauen Scheiben ihres Wagens, trotzdem sie ganz nah waren, nur noch wie ferne Erscheinungen. Das Mädchen saß und schrieb mit einem Federhalter in ein kleines Notizbuch. Ihre Mutter saß neben ihr und versuchte mit dem Taschentuch die Fensterscheibe hellzureiben, was ihr nicht gelang, da der Flutregen die Scheiben von außen trüb bespülte. Die Mutter schien über die Tochter jetzt geärgert zu sein. Diese saß und schrieb und starrte dazwischen der nutzlosen Hantierung der Mutter zu, welche hartnäckig ein Stückchen Scheibe klarreiben wollte. Die beiden Damen schauten von mir fort, und ich hätte ich gern durch irgendein lautes Zeichen bemerkbar gemacht, aber der Regen vollführte einen solchen zischenden Lärm wie das Sturzwasser an einem Mühlenrad.

Da saßen wir beiden Menschen fast nebeneinander und durften uns nicht einmal die Hände reichen. Ich sah auf das fließende Wasser, das jetzt fast bis an die Achsen der Räder reichte und über einen Meter hoch wie eine Hochwasserflut durch die Straßen raste.

Die Trambahnen standen still. Es war irgendeine Störung eingetreten, und zehn Wagen hintereinander sperrten den Verkehr; wir konnten die Straße nicht kreuzen.

Sollte uns das Leben auch so voneinander fortspülen, sie und mich, wie jetzt hier der Tropenregen vorbeischoß? In einer Stunde würde dieser Regen wieder vergessen sein, wie ein Nachmittagsereignis vergessen, und niemand kümmerte sich mehr darum, daß man ihn erlebt hatte.

Ist so auch unsere Leidenschaft?

Ich betrachtete Orla. Sie nagte an dem kleinen goldenen Füllfederhalter, mit dem sie geschrieben hatte. Sie sah aus wie eine Meduse. Ihr Haar war geringelt wie Schlangen, und es sah aus, als jage eine Flut von Luftwellen und Gedankenwellen durch seine Locken, die sich natürlich bauschten, als ob das junge Mädchen immer auf dem Rücken eines Pferdes säße, und als ob sich davon das Haar, aus Gewohnheit am stürmischen Reiten, aufbäumte und wellig türmte. Auch wenn sie nicht mehr ritt, behielt das Haar diese kühne, energische Lockenlinie, die immer von Mut und Wagnis sprach.

»Sie hat Milliardärinnenaugen«, hatte damals der Reitlehrer zu mir gesagt, als wir zum ersten Male von ihr sprachen. »Sie hat Augen blank wie blaue Bankscheine«, fügte er hinzu.

Er hatte recht: sie hatte die Augen des eisernen Reichtums, Augen, die locken und fernhalten zu gleicher Zeit die Last wie die Lust, die der unermeßliche Reichtum mit sich bringt.

Ich hatte gar nicht weiter über ihr Vermögen nachgedacht. Ich erinnerte mich jetzt, daß neulich ein Bekannter im Deutschen Klub erzählt hatte, der Vater ihrer Mutter hätte Kohlenminen in Nordamerika besessen und eine ganze Stadt sein eigen genannt, die auf dem Grund und Boden seiner Bergwerke in dreißig Jahren zu einer Industriestadt erwachsen wäre. Er hätte sich später nach Mexiko zurückgezogen. Seine Tochter, die Mutter Orlas, galt als eine der reichsten Frauen und als eine der leichtlebigsten in der Republik Mexiko.

Ihre einzige treue Liebe, von der aber niemand wußte, war der Abbé gewesen. Von ihren andern Liebhabern allen wußte man, nur in ihrer Beziehung zum Abbé hatte sie es verstanden, als unantastbar vor der Welt zu erscheinen; und – gerade er war der Vater ihrer einzigen Tochter.

Ihr hatte sie die Augen ihres Reichtums und ihres Mutes zum Leben mitgegeben – diese seltenen, unerschrockenen Mädchenaugen, die, oft abwesend wie künstliche Glasaugen, unbeweglich starren konnten, Augen, die zwischen den Lidern wie die Zähne zwischen den Lippen unbeweglich stillstehen konnten.

Ich hatte Muße, sie zu betrachten, und Zeit, abzuwarten, ob sie mich nicht fühlen würde.

Sie schrieb jetzt wieder in das winzige Buch auf ihrem Schoß.

Nun wendet sie den Kopf nach der Scheibe, durch die ich sie betrachte, und – sieht mir in die Augen. Sie sieht mich. Sie sieht mich lange an, als ob ich nicht ich wäre.

Sie denkt hinter ihren unbeweglichen Augen ein paar großzügige Gedanken – das fühle ich.

Ich hatte eben überlegt, wie es wäre, wenn ich meinen Wagen trotz dem Regen verlassen und mich einem von den Indianern anvertrauen würde, die die Leute durch die Flut von den Haustüren zu den Trambahnen trugen, und mich an einem Restaurant absetzen ließe.

Aber Orlas Augen sitzen jetzt fest an mir wie gestern ihre Hände, als sie meinen Kopf nahm, ihn zu sich bog und sagte: »Ich will dir weiter als bis nach Europa folgen.«

Orla steht jetzt auf und nähert sich der Scheibe ihres Wagens, um sie herunterzulassen und zu mir zu sprechen. Ich rühre mich nicht. Ich bin noch betroffen, ich sehe unter ihrem Arm, der jetzt das Fenster herabläßt, im Geist noch die Hand ihres Bräutigams, mit dem sie vor nicht mehr als fünf Minuten oben in der Loge der Arena stand.

»Was will sie von dir, wenn sie eben noch den andern am Arme gehalten hat!« fährt mich mein Herz trotzig und beleidigt an.

Eben setzen sich alle Trambahnwagen in Bewegung. Und auch der Kutscher von Orlas Wagen und meiner rufen die Pferde an – die Wagen bewegen sich langsam.

Orla läßt drüben den Vorhang an der Glasscheibe ihres Wagens herunter und sagt mir zugleich stumm mit einer energischen Handbewegung, daß ich dasselbe mit dem Vorhang in meinem Wagen tun soll.

Ich greife mechanisch nach dem silbergrauen Rollvorhang, ziehe ihn herab und denke, es werde irgendein Sinn bei diesem Augenbefehl sein; es war mir, als würde der Vorhang alles erklären können wenn er zugezogen wäre.

Ich höre Orla draußen mit lauter Stimme ihren Kutscher anrufen. Ich öffne schnell den Wagenschlag. Es ist mir, als sähe ich durch den geschlossenen Vorhang, daß sie mich sprechen will. Sie steigt in demselben Augenblick von einem Trittbrett zum andern und zu mir in den Wagen. Ich halte sie fest, da mein Wagen schon fährt, und helfe ihr und fasse sie unter den Arm, sie springt in den Wagen, aber sie verfängt sich mit den Fußspitzen in ihre Kleiderfalten. Ich ziehe sie mit aller Kraft herein. Dabei kracht ihr Seidenmieder in allen Nähten, und der Ärmel zerreißt an der Achselnaht – die dünne, blanke Seide schlitzt wie weißes Papier bis in den Rücken ihrer Taille auf.

Sie lacht. Ich lache und schließe rasch die Tür; Orla hält sich an meinen Füßen fest, greift an ihre Frisur und lacht unbändig. Durch den Sturz und den Sprung sind auch die Haarnadeln herausgefallen, der Spitzenschleier hat sich gelöst und hängt um ihre Hüften. Die nackte rosiggelbe Schulter sieht wie das Blütenblatt einer großen Teerose aus dem Seidenschlitz, ihre Haarringel fallen im sich schüttelnden Wagen lose um ihre Ohren, über die Wangen. Aber es ist alles so unerwartet verrückt, konfus und doch so bitter ernst, daß Orlas Lachen plötzlich in Weinen umschlägt. Sie sitzt im Wagen auf dem Teppich des Fußbodens und weint, weint, mit der Stirn an mein Knie gelehnt, weint unaufhaltsam, so wie sie gestern abend weinte.

Da ist sie plötzlich wieder ganz im Innersten meines Herzens zu Hause. Von dem Tumult, in dem ich mich noch eben befand, ist jedes Echo verschollen. Mein Herz, das angeklagt hatte, hat jetzt nicht einmal Zeit zu entschuldigen, nicht einmal Zeit zu verzeihen; es weiß nur noch von Zärtlichkeit, es ist voll von Zufriedenheit, da es das Mädchen mit Händen und Lippen fühlen darf. Ich küsse Orla ins Haar, auf den Nacken, auf die nackte Schulter, die sich aus der zerschlitzten Seide heraus an mich schmiegt. Ich biege ihren Kopf zurück, küsse ihren Mund, ihre Augen, ihr Kinn und lasse mein Herz für jeden Schrei, den es vorher geschrien, jetzt Küsse finden – Küsse ohne Atem und ohne Besinnen.

Sie läßt sich küssen, küßt mich leidenschaftlich wieder und weint dabei leidenschaftlich. Ihre Tränen hängen an meinen Wangen, ich schmecke sie auf meinen Lippen.

Ich frage sie nicht: »Warum weinst du?«

Ich weiß, daß sie sich auf den Wunsch ihrer Mutter wieder verlobt hat. Wahrscheinlich damit dieser Polizeimensch die Briefe von dem Abbé wieder herausgibt. Aber muß sich die Mutter denn schämen, einzugestehen, daß der Abbé Orlas Vater ist – jetzt, wo er tot ist?

Alles das haben mir ihre Küsse und ihre Tränen, ohne ein Wort der Aussprache, mitgeteilt, und meine Küsse und meine Augen haben Orla gefragt, ohne daß unsere Lippen sprachen.

Es gibt eine Allwissenheit unter den Liebenden, die ist immer in dem stärksten Liebesaugenblick da; jedes Herz weiß von dem Herzen, das es liebt, hellhörend plötzlich alles. Denn wie es hellsichtige Augenblicke gibt, so gibt es auch ein Hellhören.

Niemand spricht, niemand fragt, und doch tauschen zwei Wesen Gedanken in langen Sätzen aus; sie haben nicht gesprochen und doch gehört.

Orla brachte auch jetzt noch keine Entschuldigung vor.

Aber ein neuer Tränenguß, eine neue Umarmung sagte mir: »Verzeih! Ich mußte dies für die Mutter tun, verzeih mir für heute. Morgen ist vielleicht alles anders. Verzeih mir bis morgen. Glaube mir, ich weiß, daß es nicht so bleibt, wie es heute auf Wunsch der Mutter aussieht. Du weißt es sicher auch. Vergib mir, bis ich wiederkomme.« Dann drückt sie mir das kleine Elfenbeinnotizbuch in die Hand. Ich verstand, daß sie darin an mich geschrieben hatte.

Der Wagen hielt.

Sie sah mich an und breitete rasch ihre große weiße Mantille aus; diese bedeckte ihren Kopf, hing wie ein Schleier über ihr, sie wickelte ihre Figur, ihr Gesicht in den großen Spitzenschal, darinnen sie ganz verschwand – ich fand nur noch ihre Hand zum Kuß, und ich küßte rasch jeden Finger, ich küßte ihre Hand und lehnte sie an meine Wange –, aber an dem einen Finger sah ich einen Opalring, der wie das Auge eines Blinden, wie ein kleiner, weißer, leerer Augapfel leuchtete.

Sie stand jetzt halb aufrecht im Wagen, und ich saß.

Sie hielt sich, als der Wagen hielt, noch einen Augenblick an meinem Haar fest. Sie fuhr mir mit der Hand über die Wangen und die Schulter, als wenn sie mich nie loslassen wollte, dann stand der Wagen still. Unkenntlich vermummt stieg sie aus, als ein Diener von draußen öffnete. Es war der Portier. Sie hatte zwischen den Tränen geflüstert: »Ich sagte vorhin zu meiner Mutter: ich steige einen Augenblick in den Wagen einer Freundin. Und ehe meine Mutter antworten konnte, war ich ausgestiegen und in deinem Wagen verschwunden...«

Hatte sie das gesagt, oder hatte ich auch das hellgehört? Ich konnte es nicht mehr bestimmen.

Ich fuhr nach der Glorieta in meine Wohnung.

Ich las das Notizbuch unterwegs noch nicht.

Ich wollte noch nicht Buchstaben und Worte in die Küsse und Tränen mischen, die mich wie eine Welt umgaben, welche aus dem Himmel auf die Erde in diesen Wagen gefallen und wieder von der Erde verschwunden war, als der Wagen wieder an Orlas Haus gehalten hatte.

Ich hätte am liebsten diesen Wagen heute gar nicht mehr verlassen. Diese hellen Kissen, die geschlossenen grauseidenen Vorhänge, die voll von der Nähe eines geliebten Weibes waren – sie sahen aus, als hätten sie jetzt für immer ihren Zweck erfüllt und könnten jetzt nie mehr ganz leer stehen –, so reich, üppig und erinnerungsschwer sah mich das Wageninnere an, daß ich es nur ungern mit meiner leeren Wohnung vertauschte. In Orlas Notizbuch las ich zu Hause dasselbe, was wir uns schon schweigend unter Küssen gesagt hatten. Aber das kleine Buch hatte ich jetzt lieber als den Rubinring, den ich gestern mit ihr getauscht hatte. Über dem kleinen Buch hatte ich sie, Wagen neben Wagen, belauscht, hatte gesehen, wie sie aussah, wenn sie an mich dachte und an mich schrieb. Und dieses Gesicht, das sonst ein Geliebter selten von der Geliebten zu sehen bekommt, war mir wertvoller als die Erinnerung an den Mondscheinabend in meinem Zimmer, wertvoller als die Erinnerung an den ersten Kuß. –

Ich las in dem Notizbuch, daß ich noch acht Tage, bis zum Schluß des Nationalfestes, Geduld haben müßte. Früher könne sie nicht wieder zu mir kommen. Nach dem Nationaltag hoffe sie, daß sie eine Lösung finden würde. Vorläufig müsse sie noch den Schmerz über den Verlust ihres Vaters mit der Mutter teilen und der Mutter zu Wunsch und Willen sein. Nach den offiziellen Festlichkeiten (von denen sich ihre Mutter des Geredes wegen nicht zurückhalten wolle) hoffe sie eine endgültige Lösung ihrer Verlobung zu erzwingen.

Acht Tage – wie acht Lebensalter, so unendlich schien mir diese Spanne Wartezeit. Jetzt, wo ich ihre Küsse noch auf den Lippen fühlte, sollte ich acht Tage von der Erinnerung an diese Küsse leben.

Ich mußte jemanden sprechen, ich wollte nicht acht Tage in den Straßen von Mexiko wie ein der Fährte nachwitternder Jagdhund durch alle Straßen gehen und bei jedem Wagen, der um die Straßenecke führe, hoffen, ich würde Orla sehen, und fürchten, ich würde sie mit dem Polizeipräsidenten sehen müssen.

Als der Regen nachließ, war, wie immer in dieser Zauberwelt der Tropen, sofort wieder der ewig grünlich-blaue Welthimmel da, der hier, in der heißen Zone und bei der hohen Plateaulage der Stadt Mexiko, ein eisiges Grün in seiner Bläue ausstrahlt wie ein Gemisch von zwei bengalischen Feuern. Geisterhaft klar und nicht so gesättigt einfach blau wie in der heißen Zone der Küste von Vera Cruz sieht der Himmel auf die hochgelegene Hauptstadt.

Das Sturzwasser des Tropenregens, das vorher, über die Achsen der Wagenräder und fast bis an die Plattformen der Trambahnen reichend, sündflutartig durch die Straßen schoß, ist eine Stunde später verschwunden; niemand spricht mehr von diesem Wassersturz aus tiefschleppenden Wolken, man ist sofort wieder in die Gewohnheit des klaren Himmels eingelebt, und auch der Abendkorso nimmt seinen gewöhnlichen heftigen Verlauf wie eine zweite Sturmflut von Pferden, Wagen mit dekolletierten Frauen und vornehmen Reitern, die den Paseo überschwemmen, ein blitzendes Gewoge aus Leidenschaft, Rassigkeit und Gefallsucht. Die wilde Wagenfahrt begann, die nach dem Regen plötzlich vor Sonnenuntergang in den Straßen einsetzt und auf dem Paseo unter den regenblinkenden Laubgewölben der Alleebäume dahinrast und mit schwindelnder Schnelle die Abendluft durcheilt. Die Stämme der Tamariskenbäume der Promenade sind vom Regen feucht und rot gefärbt; wie ungeheure Fackeln stehen die Riesenbäume auf eine Meile hinunter bis zum Schloß von Chapultepec und lassen den Zug der Wagen allabendlich an sich vorbeistürmen und bleiben mit ihrem roten Holz wie die rothäutigen Indianerhäuptlinge gelassen; unerschütterlich in ihrer Ruhe erwarten sie, umgeben von der Unruhe der vorbeistürmenden Menschen- und Pferdeketten, die Nacht, würdevoll und festgewurzelt im uralten Heimatboden.

Die europäische Abenteurerwelt, die da den Korso, die Abendglocken, die öffentliche Jagd nach Ehre, Leidenschaft und Geld mit nach Mexiko verpflanzt hat, bleibt den Bäumen so fremd wie den Indianern, die diese Stadt neben den Europäern bewohnen.

Sie mischen sich kaum unter die Massen der um Sonnenuntergang aus der Stadt stürmenden Wagenreihen. Höchstens, daß einmal eine Indianerfamilie in breiter Reihe daherwandert und alle, Vater, Mutter, Verwandte und Kinder, sich in einer Reihe sanft an den Händen halten, als wären die grauen Eltern und die verheirateten Familienmitglieder alle zusammen Kinder, wenn sie feiern und Beschaulichkeit genießen. Und das Wort »lustwandeln« paßt so vorzüglich auf die sich immer an den Händen führenden rothäutigen Leute, wenn sie spazierengehen lautlos wie Wolken, ohne Zwang und ohne Frechheit, neben den eingebildeten, den erzwungen höflichen und frech lüsternen Reihen der Europäer, denen sie vorsichtig ausweichen, aber mit einer Vorsicht ohne Demut.

Ich saß in meinem Zimmer auf dem Schaukelstuhl und hatte nach meinen Erlebnissen, nach dem Stierkampf und nach dem Liebesgenuß im Wagen, keine Lust, mich unter die Korsoleute zu mischen.

Ich ließ mir Wasser und Zitrone zu einer Limonade bringen, vergaß aber, die Zitrone ins Wasser zu pressen, bemerkte es jedoch nicht eher, als bis ich mein Glas ausgetrunken hatte – da erst sah ich die unberührte Zitrone auf dem Teller.

So abwesend kann Liebe machen, dachte ich, sie suggeriert die Zitronen ins Wasser, du schmeckst Dinge, die du gar nicht berührst, die Vorstellungsgabe wird durch die Liebe bis ins Wunderbare gesteigert, du wirst von ihr nicht bloß allwissend, sondern auch allkörperlich gemacht. Geschmack, Gehör, Gesicht werden in eine vierte Dimension versetzt, in die Dimension einer Sinnenwelt, die sich aus Nichts eine Wirklichkeit schafft und die Wirklichkeit ins Nichts auflösen kann. Ich hatte vorher im Wagen Worte gehört, die die geliebten Lippen nicht sprachen, und die nicht an meine Ohren dringen konnten, und die mir doch als Sätze ins Bewußtsein traten. Ich schmeckte jetzt den Saft der Zitrone, trotzdem das Wasser destilliert war und keine Zitrone und keinen Zucker enthielt – ich schuf mir aus Nichts eine Sinnenwelt. Und vorhin, als wir uns im Wagen hinter den geschlossenen Vorhängen geküßt und der Regen uns wie Himmelsweben umgeben hatte, wußten wir nichts mehr von der Wirklichkeit, und jeder Kuß entrückte uns fort von der Welt, hinaus in den Weltraum, ins Nichts.

Liebe erleben, heißt alles erleben – Endlichkeit und Unendlichkeit in einer Sekunde, in einem Kuß verkörpert und in einer Umarmung.

»Mehr als Liebe gibt es nicht!« Diese Worte eines drastischen Buches, das ich früher einmal in Europa gelesen hatte, mußte ich mir jetzt immer wiederholen, und dabei begriff ich nicht, warum ich diese Worte nicht schon damals so gut gefunden hätte wie heute. Ich hatte aber jetzt mit der Liebe auch das Verständnis für Tiefe und Geist erhalten und fühle mich seit dem Augenblick, da ich Orla geküßt, auch allen Dichtern der Welt verwandter. Trotzdem ich nie Verse machen konnte und nie welche gemacht habe, überfiel mich jetzt die Sehnsucht, in Versen zu sprechen, die Worte tanzen und anschwellen zu lassen, weil genießende Liebe das Blut musikalisch, rhythmisch macht und Körper und Geist zu einer Harmonie verbindet, als tauchten Körper und Geist zusammen im Takt der Weltallharmonie unter. Denn die Welt ist kein Chaos – sie ist Musik, Gedicht, plastisches und farbiges Kunstwerk. Dieses offenbart sich aber außer den Künstlern, die die Erkenntnis des Weltgenusses und des Kunstgenusses mit in die Wiege bekommen haben, den gewöhnlichen Sterblichen im Liebesgenuß, wo sie sich für Augenblicke gleich den höchsten Künstlern erhoben fühlen und dann für Sekunden das Weltall unbewußt als harmonisches Kunstwerk empfinden, auch wenn sie vorher Grübler, Zweifler und weltmüde Leute waren – der Augenblick der Liebesseligkeit macht alle Menschen gleich. Kein Kaiser fühlt in der Liebe dann mehr als der Bettler, kein Knecht weniger als der Herr, kein Bauer weniger als der Gebildete. Ein verstandloses Verstehen dringt in solchen Sekunden mit blitzartiger Helle in alle Poren, in alle Blutkörperchen ein, und der Körper flammt mit dem geliebten Körper in einer einzigen zündenden Weltallseligkeit zusammen und verbindet sich mit der Weltallharmonie. Häßlichste Häßlichkeit wird in den Liebessekunden verklärt, nicht für den Zuschauer natürlich, sondern nur für die beiden, die sich umarmt halten und ihre Herzwärme austauschen und vermischen; selbst aus dem Vagabunden wird dann ein göttlicher Schöpfer.

Dieses Mysterium der Liebe profanierend zu bezweifeln, ist jedem erlaubt, der es noch nicht an sich erlebt hat – schändlich ist nur der Mensch, der Liebe erlebte, ohne sie zu heiligen; er ist ein Lügner und Verleumder seines eigenen Herzens, das besser reden könnte, wenn es eine Stimme hätte, als der Mund eines solchen Unwissenden und Unverständigen redet. Denn das Herz eines jeden Menschen ist gut und göttlich enthusiastisch geboren und verändert sich nie. Nur die Lippen schwätzen, das Herz aber schwätzt nicht – es kann nur jauchzen vor Lust oder aufschreien vor Leid. Darum: wer sein Herz jauchzen hörte, währen doch er die Liebste küßte und umarmte, und will das Jauchzen nachher nicht zur Sprache der Lippen werden lassen, der lügt mit denselben Lippen, mit denen er vorher küßte, und lügt sich in Liebesleere hinein. Wer aber seinem jauchzenden Herzen auch die Sprache der Lippen leiht, der steigert seine Liebesfülle und bleibt seinem Herzen treu und singt mit der Weltalliebe im Takt.

Ein Glas Wasser hatte mir diese Gedanken eingegeben, und die Liebe hatte das Wasser in meinem Munde zu Wein verwandelt. Süß berauscht hörte ich mein Herz weise reden wie einen Propheten, der das ganze Weltall durchschaute, mit den Augen liebender Leidenschaft das Weltsystem erkannte und begeistert zum Redner wurde, trunken von der Weltweisheit der Liebe, die weiser macht als alle Wissenschaft und wahrer ist als alle Wissenschaft, da sie sich in Körper und Blut eines jeden verliebten Menschen neu beweist und beweisen läßt und nicht nur ein Gespinst der Gedanken bleibt.

Die Sonne war untergegangen, und die beiden letzten Wagen des Korsos kehrten langsam im Schritt draußen auf dem Paseo, von dem ich schräg über den Glorietaplatz ein Stück sehen konnte, zur Stadt zurück.

Der Sand unter den Rädern sprach mit und knirschte; mancher Stein sprühte knatternde Funken unter einem Hufeisen, das ihn traf – die Steine sprechen mit Feuerzungen, und der tote Sand redet eifrig.

Alle Dinge sind Wesen wie der Mensch, alle ein Stück Liebesleben im Liebeslied des Weltalls.

So sprach ich feierlich und wünschte mir: »Wenn doch jetzt Orla wieder zur Tür hereinkäme wie vorhin in den Wagen – jetzt gleich vom Vorgarten draußen in das Zimmer!«

Ich sah die Blumen an, die gestern im Mondschein wie Eisblumen geleuchtet hatten. Es waren blaßblauen Windenblüten am Vorgartengitter, die hatte ich im Dunkeln für Tuberosen gehalten und hatte sogar den Tuberosengeruch dabei empfunden. Die Windenblüten hatten sich bei Orlas traurigen Worten und bei ihren Tränen über den Tod ihres Vaters vor meinen Augen im Mondschein in Form, Farbe und Geruch in Tuberosen verwandelt – in die Rosen der mexikanischen Kirchhofkränze.

Ich begriff, daß die Liebe mit mir machen konnte, was sie wollte. War sie gut, so wurde ich davon gut; war sie gemein, so wurde ich gemein. Der Mensch ist ein Instrument, auf dem die Liebe ihre Töne dichtet. Der eine wird Prophet, der andere Mörder und Verbrecher aus Liebe. Die Liebe war, wie dieses Land Mexiko, reich an Mißgeburten, an Höllen und an klarblauen Himmeln und an staubigen, ausgetrockneten Sumpfhöhlen.

Die Luft draußen war nun grau von der Fülle des grauen Abends. Noch war keine Laterne angezündet, und mein Zimmer war wie untergegangen in der dunkeln Fülle meiner Liebesgefühle.

Ich sah nur noch das helle Viereck der langen offenen Tür, die den Abendhimmel und die weißlich werdenden Tüten der Riesenwinden am Vorgartengitter umrahmten.

Draußen wollte jetzt kein Wagen mehr, es war die Stille vor dem Erscheinen des ersten Sternes.

Ich erinnerte mich plötzlich: ich hatte einmal in Europa, in irgendeiner fränkischen Stadt, am Abend, zu der Zeit, da der Venusstern eben zwischen hohen Hausgiebeln wie eine weiße Knospe aus Diamanten am Himmel stand und glitzerte, einen spielenden Knaben beobachtet – der sprang plötzlich mitten in die Straße und rief wie ein kleiner Schauspieler seine Spielkameraden an und deutete mit schöner Geste hinauf nach dem einzigen Stern zwischen den Hausgiebeln und rief diesen Satz, als wäre es der Anfang eines Gedichtes: »Das ist der erste aller Sterne der Welt!« Und der Knabe sprang weiter und wußte im nächsten Augenblick nicht mehr, daß aus ihm zukünftige Begeisterung und Anbetung der Venus gesprochen hatte. Daran dachte ich eben jetzt, und dann hörte ich aus dem Zwielicht die Stimme einer Verkäuferin, einer Indianerin singen:

» Tomales caliente, con carne, con dulce – eheeeee! Kleine Pastetchen mit Fleisch und Süßem, ehee...«

Das war Orla! So hatte sie gestern gesungen, so hatte sie mir am Klavier die Takte dieses Ausrufes der Pastetenverkäuferin vorgespielt.

» Tomales caliente, con carne – con dulce – ehee.«

Ich stand auf und trat in die Tür des Salons und sah hinter dem Gartengitter eine kleine alte Indianerfrau, die trug einen Holzteller auf dem Kopf, darauf Fleischpastetchen und Kuchen lagen.

Nun blieb sie stehen.

Ich stieg die zwei Stufen hinunter und tat einen Schritt in den Garten.

Da flog ein kleiner Brief über das Gitter, fiel an den Windenblüten herunter und blieb auf den Grasspitzen des Rasens liegen.

Ich warf eine Münze über das Gitter. Die Indianerin fing die Münze geschickt mit dem Pastetenbrett auf. Sie nickte und bekreuzigte sich, und ihre Augen blickten groß und froh unter dem Teller, den sie dann wieder auf dem Kopf trug. Sie lachte nicht mit dem Mund – nur mit den hellen Augäpfeln.

Dann ging sie weiter und sang.

Ich hörte ihr zu.

» Tomales caliente – con carne – con dulce... ehee.«

Ich hörte ihr noch lange zu, ohne mich von der Stelle zu rühren, ohne den Brief aus dem Grase aufzuheben.

»Ehee – –«

Dann, als es still blieb, bückte ich mich, pflückte eine Windenblüte und ließ dabei den Brief in meiner Hand verschwinden.

Mit brennenden Wangen, als ob ich mich über ein Feuer gebeugt hätte, richtete ich mich wieder auf und sah auf den Kolumbusplatz hinaus, wo über dem Kopf der finstern Statue der Venusstern aufleuchtete. Im glasgrünen Abendhimmel war er wie ein kleiner Spiegel der dunkelheimlichen Liebesgöttin, der auf die abendstille Straße und auf den kleinen Vorgarten und auf einen törichten Verliebten herabblitzte.

»Der erste aller Sterne der Welt!«

Kleiner Knabe, der du das so klug gerufen hast, möge dich die Venus drüben in Europa dafür bis an dein Lebensende segnen!

Ich fühlte den kühlen Brief, der sich in meiner Hand wärmte, und drückte ihn leidenschaftlich, als wäre er die Hand der Venus.

Dann ging ich in mein Zimmer und saß dann am Klavier bei einer Kerze und las:

 

»Rennewart, ich bitte Dich nicht, mich zu lieben; denn das vermögen keine Bitten. Ich will Dir nur sagen, was ich mir heute nacht immer wiederholte: Ich will Dir nach Europa folgen. Ich will sein, wo Du bist, ich folge Dir über alle Meere der Welt.

Verachte mich nicht, Geliebter, verachte mich nicht; ich bitte Dich jetzt: nimm mich fort von hier. Sobald ich meinen Vater hier begraben habe, reisen wir.

Morgen gehe ich mit meiner Mutter nach Tlalpam, wohin die Leiche des Abbés gebracht wurde, wo das Grab seiner Eltern ist. Tlalpam ist die alte Krönungsstadt der früheren Aztekenkönige, und dort muß ich einen Teil meiner Lebenskrone begraben: meinen armen, armen Vater.

Ich bitte Dich, denke jetzt nicht weiter daran, irgendwelche Schritte zu tun, um zu erfahren, ob mein Vater eines natürlichen oder eines unnatürlichen Todes gestorben ist.

Ich habe eine Ahnung, daß sich das alles in nächster Zeit von selbst verraten wird. Verschiedene Anzeichen und ein Brief, den ich heute von einer unbekannten Person erhielt, sprechen dafür.

Aber rühre keine Hand, gehe auch nicht zum Präsidenten der Republik, wie Du vorhattest. Und dann möchte ich Dich auch warnen: komme nächsten Sonntag bei der großen Truppenrevue nicht auf die Tribüne des Präsidenten der Republik. Man spricht allgemein davon, daß von einigen Unzufriedenen ein Staatsstreich vorbereitet werde. Aber niemand weiß etwas Sicheres. Auch der Brief, den ich erhielt, spricht von einem Attentat auf den Präsidenten der Republik, das für den Unabhängigkeitstag, den nächsten Sonntag, geplant sei.

Bis Sonntag hoff ich, die Briefe von meinem früheren Bräutigam (die Briefe meiner Mutter an meinen Vater) zurückzuerzwingen. Sei nicht unruhig! Er darf mich, seit ich Dich heute im Wagen küßte, nicht mehr berühren, und ich weiche ihm bis Sonntag aus; bis zu dem Tag, wo ich die Briefe von ihm zurückempfangen habe, müssen wir uns noch gedulden. Dann kann ich meine Mutter ruhig verlassen und folge Dir nach Europa, das dann meine Heimat und unser Grab werden soll. Nie mehr will ich in dieses Land der Schrecken zurückkehren.

Oh, ich höre heute nur Musik in meinen Ohren. Die Welt kann mir nichts Böses mehr antun. Die Welt ist Liebe, Liebe, Liebe. Du, mein Geliebter!

Übermorgen, wenn ich von Tlalpam zurückkomme, schreibe ich Dir wieder und sende Dir Nachricht durch die singende indianische Straßenverkäuferin. Und gib ihr dann auch eine Zeile für mich mit. Hast Du heute auch ein Klingen in Deinen Ohren, als ob die ganze Welt eine einzige Liebeshymne sänge? So glücklich singt und jubelt jeder meiner Schritte heute.

Warum darf ich Dir nicht Tag und Nacht schreiben, solange ich Dich nicht sehen und nicht umarmen kann?...

Seit Jahren bin ich daran gewöhnt worden, meine Gefühle zu verstecken; von dem Tag an, wo ich erfuhr, daß mein Vater lebte, daß er Abbé war und mir vor der Öffentlichkeit nicht Vater, sondern nur Freund sein durfte – seitdem ist aus meinem Herzen ein sich windendes Wesen geworden, gleich einer Flamme, die man ausblasen will, und die sich flach an die Erde duckt und dann wieder aufschnellt und sich wehrt und in die Luft jagt ohne Ruhe.

Du hast aus Eurem großen harmonischen Europa eine Ruhe mitgebracht, die mich anzieht, die mich sicher und vernünftig macht.

Ich gehe mit Dir, wenn Du mich noch mitnehmen willst, und Europa soll meine Heimat werden, wie es Deine Heimat ist.

Rennewart, vergiß nicht die Minuten heute im Wagen, vergiß sie nicht, bis ich wieder bei Dir bin.

Orla

 

»Die Stimme lacht, die Stimme weint, die dieses spricht und singt mit meiner Stimme, die hier gesungen hat von Liebe und Liebesweisheit, bis es Abend wurde.«

So sprach ich feierlich laut zu mir und saß am Klavier bei der Kerze, und ich las den Brief drei, vier Stunden lang, bis die Kerze abbrannte und ich mir erst bewußt wurde, daß Zeit, wirkliche Zeit vergangen war. Ich hatte in diesem Brief außer aller Zeit gelebt und wunderte mich jetzt, daß es möglich war, daß Liebe auch die Zeit zeitlos machen konnte. Wunder an Wunder reihte die Liebe in den Stunden, seit ich Orla liebte und von ihr geliebt wurde. –

Ich ahnte nicht, daß auch der Schrecken, ehe er einsetzt, einige harmonische Pausen, einige lebensruhige und festliche Takte voraussendet – gleich der Stille vor dem Erdbeben, in der nur die Tiere, die an der Erde leben, den Schauder des Unheimlichen fühlen und wie Schatten an den Menschenwohnungen vorbeiflüchten.

Und war so zufrieden mit der ganzen Welt. Seit ein paar Stunden schien mir die ganze Erde an irgendeinem Ziel angekommen zu sein. Daß nun aber der Zusammenbruch meines kurzen Glücks schon im Gange war – das konnte ich nicht wittern; ich wußte noch nichts von der Grausamkeit, von den Drachen des Schicksals, die rasselnd aus blauem Himmel über die Menschen niederfahren und sich an der Zerstörung und an der gigantischen Wollust des Todes mästen. –

In dieser Nacht unter dem Moskitonetz entbehrte ich zum erstenmal nicht des Schlafes. Ich wehrte sanft den hungrigen Moskitos und sang mit ihrem Singen; und selbst das Summen der blutsaugerischen Insekten schien mir Harmonie geworden; ich fühlte ihre Stiche nicht, meine Haut schwoll nur wenig an, wenn mich eines der Tiere stach, ich ließ ihnen beinah willig mein Blut und sah zu, wenn sich ein solches bissiges Teufelchen mit seinen schwingenden Flügeln auf meine Hand setzte und den spitzen Rüssel saugend in eine Pore meiner Haut stach. Ich war schmerzlos, von irdischen Schmerzen wie befreit durch die Seligkeit der Liebesfülle, die mir seit den Minuten mit Orla im Wagen nicht mehr auslöschte, und ich erschien mir unendlich erfüllt von ihr.

Ich hatte, als ich den Moskitos bis zum Morgen wachend zuhörte, sogar den Gedanken, ob das feine Singen der Tiere nicht auch eine Hymne an das wollüstige Leben wäre?

Liebe macht töricht und weise.

Am nächsten Morgen hatte ich noch den Moskitogesang im Ohr, der manchmal wie das rhythmische Lied der Indianerfrau, der Briefbotin, klang: Tomales caliente – con carne, con dulce – ehee –

Und ich dachte: Wie mag wohl die Apollohymne sein, die man kürzlich ausgegraben hat, und die die Astronomenfrau, die Messingblonde, so gern hier in Mexiko auf ihrer Violine spielen wollte, während ihr Mann bei seinen Instrumenten auf der Sternwarte wäre.

Wo mochten die beiden Eingewanderten sein?

»Vorläufig reisen wir nicht weiter und bleiben in San Juan«, hatten sie mir in ihrem Briefe damals gesagt. In San Juan waren die Pyramiden der alten Azteken. Die Sonnenpyramide und die Mondpyramide und der Totenpfad zwischen einer Allee von kleinen Priesterpyramiden waren dort. In den ersten Tagen nach meiner Ankunft in der Hauptstadt hatte ich gleich einen Ausflug dorthin gemacht. Ob wohl jetzt die Astronomenfrau abends bei Mondschein auf dem Totenpfade zwischen den Pyramiden wanderte, fragte ich mich, und ob sie dort die Violine spielte vor den Gräbern der Priester, vor den Pyramiden und vor dem aufgehenden Mond, der zur Vollmondzeit wie ein großer Heiligenschein über der Spitze der Mondpyramide emporwuchs? Ob sie sich jetzt die Apollohymne eingeübt hätte? Oder waren sie und ihr Mann längst wieder zurückgekehrt?

Ich sehnte mich jetzt so sehr nach einer Violine und nach dem Genuß der Apollohymne, daß ich beschloß, für einen Tag nach San Juan hinauszufahren und mich nach dem jungen Ehepaar zu erkundigen. Und auf der Sonnenpyramide um Mittag, wenn der Himmel silbergrau vor Hitze war, dann sollte mir die Violine der messingblonden Frau die Apollohymne vorspielen. –

Die Bahnfahrt nach San Juan währte nur kurze Stunden. Ich ging dann zu Fuß unter dem endlos blauen Morgenhimmel über die scherbenübersäten Erdflächen. Milliarden Scherbenstückchen glitzern hier am Boden, wo vor Scherben kaum ein Grashalm wächst. Reste von Mauern, kaum einen Fuß hoch, zeigten noch rote Wandbemalungen in den Gemächern. Es sind Scherben und Mauervierecke von riesigen, vom Erdboden verschwundenen Aztekenstädten. Stundenlang ging ich an den trübseligen grauen Tonscherben und den blitzenden glasierten Splittern von alten zerbrochenen Krügen vorbei, die, wenn man sie aufhob und näher betrachtete, noch die Spuren primitiver Linienbemalung zeigten.

Ich wurde auf den Meilen bei Meilen, die voll von Scherbensplittern an den flachen Erdflächen vorüberzogen, etwas müde und traurig, und es war mir, als begleiteten mich einsamen Europäer wieder alle Geister der gemordeten Indianervölker, alle Geister ihrer ermordeten Könige, ihrer Krieger, ihrer Frauen und ihrer Kinder.

Hie und da wirbelten über den Scherbenfeldern Windböen auf, die graue Staubspiralen über die Felder drehten, und die in der unendlichen, blauen, sanglosen Stille wie lebende Wesen drohend aufgerichtet durch die sonnige Öde jagten.

»Es ist nur Wind und Staub,« sagte ich zu mir, »mach' nicht mehr daraus, dann ist es auch nicht mehr.«

Aber böse Ahnungen in mir redeten: Die Staubsäulen sind wie der Nebel, den ein fernes Unglück aufwirbelt; als ob wieder einer der alten Rachegedanken der untergegangenen Indianerkönige über den Scherben dieser verschollenen Stadt kreist; die Rache des beleidigten Volksgeistes hängt sich hier auf Schritt und Tritt an dich. Wie der Staub dieser staubigsten Hochebene der Welt, so bleibt immer wieder neues aufwirbelndes Unheil an dem Europäer hier haften.

Ich hätte diesen Ausflug nicht machen sollen, ich hätte in der Stadt bleiben sollen. Warum mußte ich Lust nach der Apollohymne bekommen und warum mir die europäische Götterhymne hierher an die Stelle der indianischen Götterpyramiden wünschen? Es ist nicht gut, die Götter zweier Kontinente gottlos zu vermengen, als ob alte Anschauungen kein Leben mehr hätten. Götter sind nie tot, und auch die alten Götter der Heiden kann man heute noch beleidigen. Sie sind Ideen, die ihr Selbstbewußtsein, ihren Stolz, ihre Ehre, ihren Respekt besitzen, auch wenn sie der Vergangenheit angehören.

Solch furchtsame Betrachtungen flößten mir die zahllosen tausendjährigen Scherbenfelder zu meinen Füßen ein, die aussahen, als hätte alle Städte der Welt ihre irdenen Kochtöpfe hier zerschlagen und meilenweit verstreut.

Dann überschritt ich die Brücke eines unsichtbaren Flusses. Die Flüsse eilen in diesem Lande, tief in die Erde eingegraben, wie in langen dunkeln Korridoren in Erdspalten dahin, und auf der Ebene siehst du keinen Fluß, bis du auf dem Brückenweg über dem Erdspalt stehst und haustief unter dir in der hohlen finstern Erde die Wasser rauschen hörst und dir die Kühle von unten entgegenströmt wie Kellerluft. Ich saß einen Augenblick in der menschenleeren Landschaft, sah auf die baumlosen Scherbenflächen und hörte den Donner des unterirdischen Flusses unter der Brücke. Bei diesem Fluß fühlte ich mich wohler, es war, als verjage die Wasserkühle die Brandatmosphäre der Luft über den Scherbenfeldern. Die Erde hatte vorher nach altem Brand und Verwüstung gerochen. Aber das eilende Wasser wußte nicht mehr, daß hier einst Städte verbrannt und zerstampft worden waren. die platte Erde grübelte heute noch mit dem Staub über einstige Unglücksstunden nach, nur das schnelle Wasser unter der Brücke hatte alles vergessen und sprach von Leben und Lebenseile.

Ich sah auf der Brücke nur eine goldene strähnige Flutspiegelung von dem dunkeln Fluß unten, die mich an die messingfarbenen Haarwellen der Frau des Astronomen erinnerte. Der Fluß dort unter der Erde rauschte wie das Echo in einer ungeheuren Muschel, und ich mußte bei dem dunkeln, schwarzen, unterirdischen Strom an den Hades der Griechen denken, an den Strom der Vergessenheit, an den Nachen des Charon, an die Seelen der Toten. Ich verlor, wie ich die Sonne da unten in nachtkalter Tiefe kaum heller als das blonde Haar einer Frau sah, allen Glauben an Lebensfülle. Ich verlor alle Sicherheit der Wirklichkeit im Angesicht der ungeheuren Scherbenfelder vor mir. Und bei der Betrachtung des schwarzen unterirdischen Stromes, der nie an das Tageslicht kam, wurde mir das Weiterleben erfüllt von einer unermeßlichen Finsternis, von einer ungeheuren, endlosen Nichtigkeit. Ich versuchte vergeblich, die Küsse Orlas in meine Erinnerung zurückzurufen – es war, als sei ich von den Meilen der toten Scherbenfelder, die einst glückliche indianische Hauptstädte gewesen, und die wertloser Schutt geworden waren, als sei ich von der Trauer aller Endlichkeit plötzlich niedergeworfen; und mein Leben und alle Leben der Welt erschienen mir nicht mehr wert als eine einzige kleine Scherbe, nicht mehr als der Schall eines unterirdischen dunkeln Stromes. Ich fühlte mich vom Tode dieser Landschaft angefaßt und wollte auf alle Zukunftsfreuden verzichten und sehnte mich, hinzufallen und Schutt, Staub, Scherben zu werden, um in der Ohnmacht des Daseins die wirkliche Ohnmacht des Nichtseins in mir verkörpert zu fühlen.

Ein Indianer in grauweißem Hemd und grauweißer Leinenhose und mit dunkelm Gesicht unter dem weißen Strohhut lief jetzt auf der fernen Feldstraße herbei. Die Indianer, wenn sie allein sind, gehen nie langsam; sie haben immer den trottenden Laufschritt eines flüchtigen Wildes. Da sie barfuß gehen, tauchen sie plötzlich lautlos in der Landschaft auf, als wären sie aus einer Ackerfurcht aufgestanden. Sie eilen, einen Gruß murmelnd, vorbei und sind unhörbar gleich wieder verschwunden – es ist, als hielte ihr eiliger Gang mit ihren eiligen Herzschlägen Schritt. Während der Gang des Europäers mehr mit den Gedanken des Gehirnes Taktschritt hält und bald langsamer, bald schneller ist, geht der Indianer immer gleichmäßig eilig wie der Sekundenzeiger einer Uhr.

Als der Indianer auf die Brücke kam, fragte ich ihn auf spanisch, ob ein weißer Herr und eine gelbhaarige Frau im Dorf wohnte.

Er sah mich an, schüttelte den Kopf und lief weiter. Drüben verschwand er hinter den hohen, dichten, blaugrauen Stauden der Pfeilerkakteen, die wie ein Waldgehege den Weg drüben säumten und wie aus der Erde gewachsene Prügelstangen aussahen. Ich ging weiter; die Kakteen vereinigten sich jetzt an beiden Seiten des Weges zu hohen graugrünen Mauern. Undurchdringliche Stachelmauern, Pfeiler an Pfeiler, wuchsen die haushohen Kakteen senkrecht in die Luft und sahen manchmal wie stachelige Knochen aus oder wie großlappige Ohren von Elefanten. Hie und da leuchtete eine große scharlachrote Blüte an der Warzenreihe eines Kakteenpfeilers. Der Weg schien wie verhext und ausgestorben; nur die Furchen der staubigen und erdfarbenen Landstraße zeigten, daß hier Menschen und Lastkarren gegangen waren. Zwischen den regungslosen Kakteen, die nicht rauschten und sich fleischig wie aufgerichtete steife Schlangen den Weg entlang drängten konnte ich nicht hindurchsehen, und ich wußte nicht, ob Menschenwohnungen dahinter lagen, ob ich von dort beobachtet wurde oder nicht. Denn als ich zum erstenmal hier war, war ich nicht durch das Dorf, sondern einen andern Weg zu den Pyramiden gewandert und war in Gesellschaft der Herren der deutschen Gesandtschaft gewesen und hatte geplaudert und nicht auf den Weg geachtet.

Heute aber nach allen Erlebnissen der letzten Tage war ich eindrucksfähiger als jemals. Und seit ich das Scherbenfeld und den unterirdischen unheimlichen Fluß überschritten hatte, schien es mir, als schleifte ich eine Kette von Unglücksahnungen und Todesgedanken nach; ich war nicht mehr allein, ich war von tausend Gedankengeistern umgeben und von einer Unruhe, die ähnlich der Unruhe war, die mich jedesmal überfiel, wenn ich die unheimlichen Götzenbilder der Indianer im Museum der Hauptstadt betrachtet hatte. Wie ein Fluch, wie ein Bannstrahl ging es von den grotesken Formen der versteinerten Zuckungen jener mißgestalteten Schreckensfiguren aus, als ob jeder Blick auf diese entthronten Götter, denen wir Europäer die Andächtigen getötet und an deren Stelle wir unsern Gott hier eingeführt hatten, uns Europäer und uns Eindringlinge hier in diesem geplünderten Lande verfluchte und uns Leiden und Unglück und Folter und den Tod wünschte.

Hinter den langen lebenden Zäunen der stacheligen Kakteen entdeckte ich jetzt hie und da ein Indianergesicht. Eine Frau, ein paar Kinder, ein paar Dirnen sahen mich durch eine Lücke im Pflanzenzaun an; wie gelbe Masken, aus Lehm geformt und mit künstlichen, weißen, glänzenden Porzellanaugen – so standen die gelbroten Menschengesichter regungslos zwischen den blaugrünen Kakteenpfeilern, als ob sie dort aufgehängt wären.

Ich lachte und grüßte – sie lachten nicht und grüßten nicht zurück.

Ich sah hinter den Spalten der Kakteenzäune freien, festgestampften Boden, darauf manche graue Erdhütte stand, deren Dach mit kurzem Gras bewachsen war. Im Hof trieben sich ein Hahn oder Truthühner oder ein Hund umher, oder es stand da ein Maultier, an einem Pfosten angebunden.

Mehr als das wenige, was man durch die Kakteenzäune erschaute, war vom Dorf nicht zu sehen. Und da keine Leute erschienen und die Straße zwischen den grauen Pflanzenmauern wie ausgestorben lag, so ging ich nicht länger in der Hauptstraße weiter, sondern suchte mir einen engen Seitenweg, wo ich wieder auf ein neues Scherbenfeld kam, und wo der spitze Steinhügel der Sonnenpyramide wieder ein großes deutsches Hünengrab aufragte.

Die Sonnenpyramide ist nicht sehenswerter als irgendein Grashügel, sie ist mit unzähligen kleinen gelben Sonnenblumen besät und wirkt eigentlich nicht anders als ein hoher Rasenhaufen. Von hier aber führt ein breiter Weg durch eine Allee aus Resten von kleinen Pyramiden, die in gleichmäßigen Abständen den Weg zur Mondpyramide säumen. Diese Pyramide liegt am Ende der Allee wie ein Giebel und ist gut erhalten und in ihrem Steinaufbau gut erkenntlich. Die kleinen Pyramiden am Wege seien Priestergräber, sagt man, und es ist noch die Spur roter Malerei an den Stufen und auch innen in dem höhlenartigen Raum.

Ich stand einsam zwischen den Steinhügeln und sah auf die Mondpyramide und wünschte mir – keine Liebe mehr – sondern ein Grab.

Ich lachte mich wegen dieses sentimentalen Gedankens aus, aber ich war so von der Luft des Totenreiches hier zwischen Scherbenfeldern, Grabpyramiden und Stille umgeben, daß mir immer wieder die Sehnsucht nach dem Tode näher lag als die Sehnsucht nach dem Weiterleben.

»Ich will nicht zurückkehren«, sagte ich mir. »Orla hat schon einem andern Manne gehört. Sie kann mir nie mehr ganz gehören, sie wird immer vergleichen, oder ich werde Vergleiche in ihren Augen suchen. Das Leben ist kein Zeitvertreib, das Leben ist ein Todeskampf. Ein stündliches Kämpfen gegen den Tod.

Ich will verschollen hier draußen in San Juan wohnen. Will nie mehr irgendeinem Menschen ein Wort von mir sagen. Will die Jahre bis zu meinem Tode zwischen diesen lautlosen Scherbenfeldern verbringen. Oh, wie wohltuend ist die Totenstille dieser ausgestorbenen Felder, auf denen einst die Bewohner von Riesenstädten wimmelten, liebten, feilschten, töteten und starben und nichts als Scherben übrigließen.

Grauenhaft undankbar ist dieser tägliche Kampf um das Nichts!

Wir erreichen alle dasselbe: den Tod, das Nichts. Warum kämpfen wir, wenn nicht mehr als das Nichtsein zu erringen ist und nur Scherbenfelder und zerfallene Gräberpyramiden von dem Leben der größten Geister ganzer Völker übrigbleiben? Wo sind die Helden, die Könige, die Wissenden, die Reichen und die Armen dieser verschwundenen Städte hingekommen?

Eine Staubspirale dreht sich unterm blauen Himmel über den Scherben einer Riesenstadt, das ist alles: Staub, Scherben, Totenstille. Das ist der Sinn alles Vergänglichen, daß es den Tod als Bleibendes erringt!«

Ich wendete mich wieder den grauen Kakteenpflanzungen zu und ging durch die abenteuerlich geformten Reihen der unbeweglich lebenden Pflanzenungeheur, die mit ihren roten Apfelfrüchten und mit den feisten, fleischigen Blätterkeulen, die zweimal größer als ein Mensch waren, in die Luft ragten und den engen Weg säumten.

Mir war, als seien da in der Erde Geheimnisse begraben, die in Gestalt regungsloser fetter Pflanzenungeheuer aus dieser Stauberde aufschössen und nur zu dem sprächen, der dem Lande angeboren war wie sie.

Durch einen Kakteenzaun drängte sich jetzt ein Indianerjunge und schleppte einen Steinklumpen, den er mitten auf dem Weg vor mir aufpflanzte. Der Stein zeigte die gedrungene Gestalt eines kauernden Aztekengötzen, der mich anglotzte, als wolle er mir Eingang und Ausgang dieses Dorfes versperren.

Der Knabe wollte mir das fußhohe Götzenbild verkaufen.

Ich dankte ihm – ich wollte keine Götter aus diesem Lande besitzen und auch keine nach Europa schleppen. Und ich ging und sah mich, solange ich in dem Dorf blieb, von dem keuchenden Knaben verfolgt, der mir überallhin den steinernen Götzen nachschleppte und schnaufend hinter mir durch den Sand humpelte und mir, wenn ich mich umsah, den Gott vor die Füße stellte und ihn mir wie einen Sklaven zum Kauf anbot.

Bei dem einzigen Spanier, der hier im Orte Kaufmann ohne Kaufladen war und auch hinter einem Kakteenstachelzaun in einem Steinhause lebte, sprach ich dann vor und fragte nach dem europäischen Ehepaar.

Aber er wußte nichts. Er hatte vor Wochen einmal einen Herrn und eine Dame durch die Straße gehen sehen, aber sie wären nicht dageblieben.

Ich hätte mir denken sollen, sagte ich zu mir, daß die junge Frau keinen Augenblick in dieser Todeslandschaft bleiben wollte. Wie hatte ich nur glauben können, die beiden hier zu finden? Sie waren sicher vor dieser Öde gleich wieder umgekehrt.

Ich lachte und empfand nun einen doppelten Anreiz, hier zu bleiben, wo niemand bleiben wollte.

Ich fragte den spanischen Kaufmann, ob er ein Zimmer zu vermieten hätte. Nein, sagte er, ein Zimmer hätte er nicht, aber wenn ich in der Kapelle wohnen wollte, würde er mir ein Bett hineinstellen lassen.

Er zeigte mir dann im Haus zu ebener Erde einen mit roten Steinen gepflasterten Raum, der ganz kalt war, und in dem sich nur an der Hinterwand ein einfacher Holztisch fand, wie man ihn überall in Restaurants hat; dieser Tisch war mit einem weißen Tuch bedeckt und stellte einen Altar dar. Darauf stand die bunte Statue einer Mutter Gottes mit dem Christuskind auf dem Arm. Von der Decke des Raumes hing eine rot verglaste Öllampe, das »ewige Licht«, das die Kapelle vervollständigte.

Hier sollte ich wohnen. Bei der Madonna und dem ewigen Licht, und bei dem weiß gedeckten Altartisch schlafen und träumen.

Ich glaubte erst, der spanische Kaufmann wolle mit mir scherzen. Dann aber sah ich, daß ihm sein Anerbieten vollständig Ernst war. Und ich sagte, ich würde es mir überlegen.

Aber ich blieb nicht. Nachdem ich ein Glas von dem milchigen Agavensaft des Pulque getrunken hatte, der wie mit Most gemischte Buttermilch säuerlich, schleimig und alkoholisch gärend schmeckt, verabschiedete ich mich und ging durch die Kakteenzäune und über die Scherbenfelder wieder zur Bahnstation. Statt der Apollohymne hatte dieser Ausflug meinem Herzen eine Totenhymne aufgespielt, und ich erwartete niedergeschlagen den Abendzug von Mexiko.

Erst im Zug, wo viele Europäer saßen, erinnerte ich mich wieder an Orla und fühlte mich wie von einem Alpdruck befreit. Ja, sobald sie ihren Vater begraben und ihrer Mutter die Briefe zurückverschafft hätte, müßten wir beide zusammen nach Europa reisen, sagte ich mir.

Dieses Zauberland Mexiko war für einen Europäer auf die Dauer zu nervenerschütternd. Und ich wollte nicht länger bleiben, ich hatte hier genug errungen; da ich mir eine schöne Frau aus diesem Lande nach Europa brachte, konnte ich dann froh sein, mit heilen Gliedern aus diesem Götzen- und Kraterreich entkommen zu sein.

Aber umsonst war diese Vorahnung von Tod auf dem Scherbenfelde und auf dem Totenpfad zwischen den Pyramiden von San Juan nicht gewesen. Das Unglück, das mich ereilen sollte, hatte schon seine Schatten in meine Tage geworfen, und darum hatte mein Herz, das ahnungsvoller und wissender als der Verstand ist, an diesem Tag in San Juan auf das zukünftige Leben verzichten wollen und hatte sich unbewußt zu der Totenruhe der Scherbenfelder hingezogen gefühlt; das grauenhafte Unglück, das mich nun Schlag auf Schlag zu verfolgen begann, hörte nicht eher auf, als bis ich die Küste von Europa wieder betrat, und sogar dorthin noch verfolgte mich, wie eine letzte Welle des Schreckens, ein letzter Schlag. –

Die Woche bis zum Unabhängigkeitstag verging noch lautlos. Ich erhielt abends durch die indianische Straßenverkäuferin öfters ein Billett von Orla, die nur grüßte und sich sonst in ein Schweigen hüllte, das mir natürlich schien, da sie wahrscheinlich täglich neue Spuren des Verbrechens sammelte, das an ihrem Vater begangen worden war.

Orla weilte mit ihrer Mutter noch in Tlalpam, wo die beiden Damen täglich den Totenmessen beiwohnten, die für den Abbé gelesen wurden. Sie bat mich, nicht nach Tlalpam zu kommen, da der Ort nur aus einigen Häusern um einen Marktplatz bestünde und man sich in dem kleinen Flecken nicht treffen konnte, ohne daß es sofort den Leuten aufgefallen und weitererzählt worden wäre.

Ohne jedes Vorzeichen seiner außergewöhnlichen Bedeutung brach der Sonntag des Nationalfestes an.

Auf der Alameda, dem schönsten parkartig bepflanzten Platz von Mexiko, waren die Tribünen für die Zuschauer der Truppenrevue errichtet. Die Straßenzüge von Mexiko wimmelten von Fahnen, die Tribüne des Präsidenten war ein weißes Zelt, mit Fahnenfächern besteckt, und einige Stufen führten von der Straße auf das Podium, wo das Zelt leuchtete.

Nie zuvor hatte ich so viele Leute hier auf der Straße gesehen – meistens Fußgänger; denn die Hauptstraße Calle San Franzisko, die zur Alameda führte, war während der Truppenrevue für Wagen und Trambahnen abgesperrt, und nur Fußgänger wogten dort Kopf an Kopf.

Von allen Balkonen hingen Teppiche, ebenso von den Fenstern der spanischen Paläste, die, meistens im alten Jesuitenstil gebaut, mit geschweiften Mauern, mit Vasen und Girlanden und Ornamenten aus Stein, mit rosa Farbenanstrich prunken und prahlen.

Die Luft hing so voll von der bunten Fahnenleinwand, die von den Dächern bis auf die Trottoire herabreichte, daß man in den Straßen nicht weit sehen konnte; und als die Wagen der Auffahrt und das Militär und die Musikbanden und die langen Reihen der Offiziere zu Pferd in der Calle San Franzisko heranrückten, sah man nur immer stückweise zwischen zwei Fahnenlaken ein Stückchen vom Aufmarsch des Militärs, von der Anfahrt der Generale und Minister.

Ich hatte mir ein Fenster gegenüber der Tribüne vorausbestellt, aber als ich in das Haus eintreten wollte, war dieses wie alle Häuser der Tribüne von Polizisten bewacht, und es war verboten, heraus- oder hineinzugehen. Ich zeigte zwar meine Karte, aber der Offizier sagte: »Sie werden da oben doch nichts sehen, da heute keine Fenster geöffnet werden dürfen. Das hat seine Gründe. Es sind zu viele Drohbriefe in letzter Zeit verbreitet worden. Man fürchtet ein Attentat auf den Präsidenten der Republik.«

Inzwischen marschierte bereits ein Haufe Militär mit Musik an der Tribüne auf, ich hörte die Kommandorufe und wußte, daß gerade jetzt der Präsident bei der Tribüne vorfuhr; denn wie ich noch mit der Polizei an der Haustür wegen des Fensters verhandelte, das ich gemietet hatte, sagte es schon einer zum andern: »Der Präsident kommt!«

Dann entstand ein wogendes Gedränge, der Polizeioffizier und ich wurden von einer Menschenmauer an die Haustür gepreßt, es war unmöglich, etwas zu sehen. Ich hörte nur die Worte: »Was ist passiert?« – »Niemand weiß es.« – »Es ist ein Unglück passiert.« – »Dem Präsidenten der Republik ist ein Unglück passiert.« – »Jemand hat sich auf den Präsidenten gestürzt.« – »Seht doch, seht, sie arretieren einen Menschen dort an der Tribünentreppe«, schrie ein Junge, der an einer Laterne hochkletterte. »Er wollte eine Bombe werfen«, rief ein anderer. »Nein, es war nur ein Pflasterstein, den er warf«, schrie ein dritter von einer Mauer herunter. »Ein General hat den Stein mit dem Arm aufgehalten«, erklärte einer aus einem Fenster über mir. »Der Präsident besteigt die Tribüne.« Alles brüllte jetzt um mich her begeisterte Hochrufe für den Präsidenten, den man vorher todstumm empfangen hatte.

»Man bringt den Kerl schon in einen Wagen, der den Stein geworfen hat. Ein ganz harmloser Mensch«, lachte der Polizeioffizier, der schon wieder zurückkam und sich orientiert hatte, daß nichts Schlimmes passiert war. »Der Polizeipräsident in eigener Person hat den Kerl aus den Händen des Generals, der sich zwischen den Attentäter und den Präsidenten der Republik geworfen hatte, in Empfang genommen und mit Schutzleuten in einen Wagen befördert.«

»Der Präsident ist unverletzt. Es ist nichts passiert«, rief der Polizeioffizier und beruhigte die Menge.

Also war doch etwas passiert, und Orlas Warnung war nicht ohne Grund gewesen, dachte ich. Die Revue nahm ihren Anfang, und die Truppen marschierten an dem Zelt vorbei, wo der Präsident schmunzelnd und unverwundet zwischen den Ministern stand und die Truppenführer grüßte.

Dann später, als der Präsident der Republik zum Stadthaus gegenüber der Kathedrale fuhr, wo er den Lunch einnehmen sollte, hallten die Straßen von Vivatrufen; auf allen Balkonen winkten die Taschentücher der Damen, und ein Blumenregen überschüttete den Präsidentenwagen. Die ganze Hauptstadt schien wie nach einem Alpdruck aufzuatmen. Als kehre der Präsident mit den Truppen unverwundet aus einer Schlacht zurück, so eifrig begrüßten die Vivatrufe und Blumen aus allen Fenstern und Balkonen der Calle San Francisco den Mann, der einem Attentat entgangen war.

Niemand ahnte, daß für die ganze Stadt ein viel tragischeres Schauspiel, als es dies Attentat gewesen war, jetzt erst beginnen sollte.

Der Nachmittag verlief noch still. Man ruhte vom Vormittag aus, und einer beglückwünschte den andern, daß das Fest nicht durch einen Mord befleckt worden war. Ich hatte im Deutschen Klub gegessen und schlenderte nach Hause und dachte mich durch ein wenig Nachmittagruhe von den schlaflosen Moskitonächten zu erholen. Ich sah mich schon im Geist im Schaukelstuhl liegen und rauchen, sehnsüchtig auf den Ruf der Verkäuferin wartend: Tomales caliente, con carne, con dulce, eheee!

Ich sehnte mich nach dem letzten Brief von Orla; denn morgen würde sie ja selbst kommen.

In solchen Gedanken kam ich bei der Glorieta an, wo mir ein Haufe Militär und ein Trupp Polizei auffiel, die da herumstanden.

Ich bemerke plötzlich von weitem, daß die Tür zu meinem Salon offen ist, und daß Militär auf den Stufen im Vorgarten postiert ist und es drinnen im Zimmer von Polizisten wimmelt.

Dieses sehe ich von der anderen Seite des Platzes, wo ich mich unter die Zuschauer gemischt habe.

»Was geht dort vor?« frage ich ganz harmlos einen Trupp Soldaten, die, von Spaziergängern umgeben, Gewehr bei Fuß stehen oder sich auf den Trottoirrand gesetzt haben, weil die Sachen ihnen scheinbar zu lange dauert.

»Dort wohnt ein Kerl, der mit dem Attentäter gemeinsame Sache gemacht hat, ein Europäer; bei ihm ist Haussuchung.«

Bei mir war Haussuchung. Ich zündete mir ruhig eine Zigarre an und gedachte meiner Unantastbarkeit als Fremder und Untertan des Deutschen Reiches! Ich ging dann zum Kaffeehaus an der Ecke, wo ich sofort an die deutsche Gesandtschaft telephonierte. Der Gesandte, der mich gut kannte, war, wie ich wußte, zum offiziellen Lunch im Stadthaus eingeladen, aber ein Sekretär der Gesandtschaft gab mir sofort den Bescheid, daß ein großer Irrtum vorliegen müsse, daß man keinesfalls bei mir Haussuchung halten dürfe. – Ich hätte keine kompromittierenden Staatspapiere in meiner Wohnung, sagte ich zu dem Sekretär, es wäre mir aber auch nicht angenehm, wenn der Polizeipräsident nach meiner Privatkorrespondenz fahnden ließe, so wie er es neulich bei einem Abbé getan hätte, der dann gestorben wäre, »an den Folgen der Haussuchung«, wie man jetzt in der ganzen Stadt spottet.

Ich solle ruhig im Kaffeehaus bleiben, man würde mir sogleich zu Hilfe kommen, beeilte sich der Sekretär mir liebenswürdig zu raten. Der deutsche Gesandte, der eben mit dem Präsidenten der Republik an der Tafel säße, würde beim Präsidenten der Republik in dieser Sache selbst vorstellig werden. »Warten Sie bitte im Café, bis ich Ihnen alles telephonieren kann, was geschehen wird.«

Ich bestellte mir Kaffee und rauchte und versank hinter einer Zeitung und mußte lächeln; die Briefe Orlas hatte ich alle in meiner Tasche; wenn der Polizeipräsident die bei mir suchen lassen wollte – die konnte er nicht finden. Meine wissenschaftlichen Korrespondenzen wichtiger Natur hatte ich bei dem Sekretär, mit dem ich bekannt war, im eisernen Tresor der Gesandtschaft deponiert. Höchstens ein paar Briefe aus Europa, den Brief der Engländerin, der mir den Selbstmord der Österreicherin aus Pouldu anzeigte, und ein paar Ansichtspostkarten konnten die Herren von der Polizei in meinem Schreibtisch aufstöbern – das war alles.

Um mich einer Leibesvisitation zu entziehen und die Briefe Orlas zu behalten, war es schon klüger, ich wartete hier, bis Hilfe aus meiner Gesandtschaft käme. In demselben Augenblick eilte ein Indianerjunge mit Extrablättern draußen am Café vorbei und schrie herein:

»Die neuesten Enthüllungen, die der Attentäter nach seiner Gefangennahme gemacht hat! Die sensationelle Verhaftung einer jungen Dame aus der Aristokratie!«

Ich lachte und dachte: Sind jetzt die Mexikanerinnen auch Nihilistinnen und Anarchistinnen geworden?

Aber ich hatte keine Lust, die prahlerisch angepriesenen Extrablätter zu lesen, und rauchte und trank meinen Kaffee und war erstaunt, daß ich nicht in meinem Schaukelstuhl saß, sondern im Café, wo ich sonst nie zu treffen war.

Nicht lange, so fuhr ein Automobil vor, und der Gesandtschaftsattaché v. H., mit dem ich gut befreundet war, winkte mir. Ich beeile mich und sehe aus der Gesichtsausdruck des Attachés, daß irgend etwas Unangenehmes im Anzug ist.

Dann saß ich im Auto. Wir fuhren die Allee nach dem Schloß Chapultepec hinunter, und ich erfuhr, daß der Gesandtschaft von seiten des Polizeipräsidenten mitgeteilt worden sei, ich stünde in Beziehungen zu der aristokratischen Anarchistin, die heute im Zusammenhang mit dem Attentat verhaftet worden sei.

Ich lachte den Attaché gutmütig aus und sagte: »Ich kenne nur eine einzige junge Dame hier in Mexiko, und die ist die Braut des Polizeipräsidenten selbst und keine Anarchistin.«

»Die ist es«, nickte der Attaché ernst. »Sie wissen noch nicht, daß der Polizeipräsident dem Präsidenten der Republik heute den uneigennützigsten Dienst geleistet hat, der jemals in Mexiko einem Präsidenten erwiesen wurde, indem er, als der Attentäter den Namen seiner Braut als Mitwisserin des Attentates nannte, diese junge Dame sofort in Tlalpam verhaften und nach Mexiko überführen ließ, wo sie heute noch als Gefangene im Stadthause eintreffen soll.«

Ich wußte nicht mehr, ob der Attaché irr redete oder die Wahrheit sprach! Orla sollte Mitwisserin des Attentates sein, sollte in ein Komplott gegen das Leben des Präsidenten der Republik verwickelt sein?

»Wo fahren Sie mit mir hin?« fragte ich den Attaché, der den Wagen auf Umwegen zur Stadt zurückfahren ließ.

»Zur Gesandtschaft, wo Sie sich einstweilen aufhalten müssen, bis die Haussuchung bei Ihnen beendet ist und wir den Polizeipräsidenten von Ihrer Unschuld und der Harmlosigkeit Ihrer Beziehungen zu der aristokratischen Anarchistin überzeugt haben. Was ist doch hier alles möglich in diesem Lande aller Möglichkeiten!« seufzte der Attaché. »Wir in Europa sind wahre Wickelkinder an Unschuld gegen diese Verbrecherwelt, die einen hier in dem Lande der Goldsucht umgibt.«

Ich war verstummt.

Daß ich kein Anarchist war und auch keinen anarchistischen Tendenzen huldigte, wußte man ganz genau auf meiner Gesandtschaft, wo man meine Gesinnung so gut kannte wie die Grenzen des Deutschen Reiches. Der Attaché fragte auch nicht weiter indiskret, wie ich zu der verhafteten Dame stünde; das erschien ihm belanglos, da das meine Privatangelegenheit war.

Orla war von ihrem Bräutigam verhaftet worden!

»Können Sie mir, bitte, sagen, was Sie von dem Tode des Abbés halten, der neulich starb?« fragte ich Herrn von H.

»Sein Tod ist mir ein Rätsel. Ein Arzt behauptet, er sei an einer Vergiftung gestorben; das war der Arzt, der auf der Straße hinzueilte, als der Abbé umfiel. Aber das war doch ganz unmöglich, da der Abbé eben vom Lunch beim Polizeipräsidenten kam. Der Gerichtsarzt, der die Leiche untersuchte, behauptete, es liege nur ein einfacher Herzschlag vor. Und das ist natürlich maßgebend.«

»Natürlich«, nickte ich.

Der Attaché lächelte geheimnisvoll. Dann sagte er mir ins Ohr:

»Nichts ist in diesem Lande so unnatürlich wie das Sterben. Keiner weiß, was er heute zu essen bekommt, wenn er eingeladen wird. Vielleicht eine Dosis: ›Tod, eile dich‹!«

»Was ist das: ›Tod, eile dich‹?« fragte ich naiv.

Der Attaché schwieg und lachte wieder. Dann erreichten wir das Hoftor der Gesandtschaft, das Automobil fuhr in den Hof, und hier auf deutschem Boden war ich vor allen Leibesvisitationen sicher. Ich fühlte mit der Hand nach meiner Brusttasche, wo Orlas Briefe steckten, und mußte lachen über die Komödie des Polizeipräsidenten, der seine eigene Braut arretieren ließ, wahrscheinlich, weil sie ihn nicht mehr sehen wollte. Ich war ganz sicher, daß Orla nichts passieren würde. Morgen würde ganz Mexiko über den Streich des eifersüchtigen Polizeipräsidenten lachen, und Orla würde schon heute abend wieder nach kurzem Verhör freigelassen werden.

Er wird sie doch nicht über Nacht am Ende im Stadthaus bei sich behalten wollen, dieser Polizeiwüstling! – Ich erschrak bei dem Gedanken an die rohen Macht, die gewalttätigen Charakteren zur Verfügung steht, wenn sie an die Spitze einer Behörde gesetzt sind und ihre Macht in roher Weise mißbrauchen wollen. Meine Zähne knirschten mir vor Wut im Munde, wenn ich bedachte, daß der Polizeipräsident, der hier so willkürlich wie nirgends Haussuchungen unternehmen ließ, vielleicht auch Orla nur unter dem falschen Vorwand des Verdachtes anarchistischer Anschläge zu sich ins Stadthaus hatte bringen lassen, um sie dort nochmals zu überreden, ihn zu heiraten. Denn er mußte heute den Brief von ihr erhalten haben, worin sie ihm endgültig die Verlobung absagte. Vielleicht hatte seine Wut und seine Ohnmacht den Mann zum Äußersten getrieben.

Auf den Treppen des Gesandtschaftsgebäudes standen die Diener zu meinem Empfang aufgereiht, denn es sollte nicht den Eindruck machen, als ob ich hier als Gefangener und Flüchtling einzöge, sondern als Besuch des Gesandten, Graf v. L., er, der eben erst vom Lunch im Stadthause zurückgekommen sein mußte, kam mir in eigener Person, noch in großer Gala, wie er eben heimgekehrt war, auf der Treppe durch die oberste Glastür entgegen. Seine Orden klingelten, als er mir beide Hände entgegenstreckte.

»Mein Lieber, seien Sie unbesorgt! Nun kann Ihnen nichts Schlimmes mehr passieren, und wenn alle Polizeipräsidenten aller Staaten von Amerika hinter Ihnen her wären – das Deutsche Reich und der deutsche Kaiser machen sich immer ein Vergnügen und eine Ehre daraus, Ihnen dies Haus anzubieten.«

Das war nun äußerst zuvorkommend von dem guten Grafen L., aber ich konnte ihn vor Aufregung kaum begrüßen und fragte atemlos, ob er wisse, was für eine Bewandtnis es mit der Verhaftung einer aristokratischen Mexikanerin habe?

»Ich verstehe nichts von alledem«, sagte Graf L. und geleitete mich durch die Säle der Gesandtschaft zu seinem Privatsalon. »Die Gesandtschaft steht Ihnen natürlich zur Verfügung; tun Sie, als ob es Ihre Villa in Europa wäre. Rauchen Sie in Ruhe eine Zigarre mit mir, wenn Sie Lust haben, und lassen Sie uns beraten. Zuerst gestatten Sie, daß ich das offizielle Habit mit dem Hausrock vertausche.«

Der Gesandte ließ mich einige Minuten mit meiner angezündeten Zigarre allein in dem breiten Lederklubsessel aus Elefantenhaut; und ich hatte Muße, mich etwas zu sammeln. In Dickhäuter muß man hier in Mexiko sein, dachte ich und fuhr über das Elefantenleder, Mexiko verlangt Dickhäuter und keine nervösen Europäer.

Dann kam der Graf zurück und schritt leicht auf den Zehenspitzen über den Parkettboden des Salons und sprach halblaut, als wolle er nicht von den Dienern gehört sein: »Wissen Sie, daß man in Ihrem Zimmer auf der Glorieta eine Dame gefunden hat, die arretiert worden ist? Mein Diener, der mir das eben mitteilte, behauptet, daß die Leute meinen, es sei die Mexikanerin, die man in Ameca-Meca nicht vorfand, und die man dann bei Ihnen suchte.«

Ich war rasch aufgestanden.

»Setzten Sie sich!« so beschwichtigte mich der Gesandte. »Es ist da jetzt nichts mehr zu machen. Die Dame ist ins Stadthaus gebracht worden. Man wird sie übrigens, wenn sie unschuldig ist, natürlich gleich wieder in Freiheit setzen.«

Ich bestürmte nun den Grafen, seine ganze Macht aufzubieten, um mich zu Orla zu bringen und Orla die Freiheit wiedergeben zu lassen. »Die Dame ist meine Braut, sie ist natürlich nicht mehr Mexikanerin, sie ist dadurch bald Angehörige der deutschen Nation geworden; lassen Sie doch nichts unversucht, damit man mir meine Braut zurückgibt.«

Der Gesandte war sehr überrascht über meine Verlobung und sagte, ich solle mir keine Sorge über das Schicksal meiner Braut machen. Sie würde in einer Stunde wieder freigelassen, sie sei ja unschuldig am Attentat auf den Präsidenten der Republik, und der Polizeipräsident habe sie nur vor dem Publikum schützen wollen. Denn der Attentäter habe sie als Mitwisserin genannt, und wenn das sich herumspräche, dann könne das Volk, das den Präsidenten sehr liebte, den Einfall bekommen, die junge Mexikanerin zu beschimpfen. Und da heute große Volksbelustigungen seien und viel Pulque getrunken würde, sei es immer besser, daß Orla sich auf dem Stadthaus aufhalte, als daß ihr vielleicht, wenn sie im Wagen über die Straße führe, von einem betrunkenen Volkshaufen Beschimpfungen angetan würden. Der Attentäter, den der Polizeipräsident kurz verhört habe, berufe sich übrigens auf die Mexikanerin: diese könne beweisen, daß er Enthüllungen machen werde, die ernstester Natur wären. Wenn man ihn nicht freilasse, dann würde er vor dem Richter Dinge enthüllen, die eine hochstehende Persönlichkeit als Mörder entlarven würden. Der Mann werde natürlich jetzt erst recht nicht freigelassen, da man jetzt die Enthüllungen fast mehr fürchte, als vorher das Attentat auf den Präsidenten der Republik. Vorläufig, da der Attentäter sich auf die junge Dame beriefe, und da beim ersten Verhör einige Reporter von Zeitungen zugegen gewesen wären, die der aufgeregten Neugier der Stadt Rechnung zu tragen hätten und es mitteilen müßten, daß eine junge Dame mit im Spiele sei – vorläufig bliebe dem Polizeipräsident keine andere Wahl, als die junge Dame im Stadthaus festzuhalten, damit die erregten Volksmassen sich nicht wegen des beabsichtigten Attentates vorschnell an ihr rächten.

»Warten Sie jetzt alles Weitere ruhig auf der Gesandtschaft ab«, meinte der Gesandte. »Sie sind hier so sicher wie Ihre Braut es auf dem Stadthause ist. Denn niemand kann Ihnen hier und ihr dort etwas anhaben. Ihre Wohnung an der Glorita, wo man die Dame fand, ist jetzt von tausend Menschen belagert – Neugierigen aus der ganzen Stadt, die den Festnachmittag damit verbringen, das vermeintliche Attentäternest zu beschauen, und die sich in immer größere Aufregung hineinreden. Sie könnten nicht nach Hause. Ihr Salon und Ihr Zimmer sind versiegelt, es stehen Wachen davor; das wurde angeordnet, damit man Ihnen Ihre Sachen nicht demoliere oder stehle.«

Mir schwindelte. Ich war in ein immer enger werdendes Netz von Ungeheuerlichkeiten verwickelt und hatte nicht einen Faden zu der ganzen Verwirrung in der Hand.

Ich wiederholte nur stereotyp die Frage:

»Glauben Sie, Graf, daß der Abbé eines natürlichen Todes gestorben ist?«

Der Gesandte zuckte die Schultern, als wolle er dasselbe sagen, was der Sekretär und der Attaché mir schon vor angedeutet hatten, daß es ein Mittel gäbe, das man in Mexiko »Tod, eile dich!« nenne.

»Der Abbé soll übrigens wieder ausgegraben und nochmals seziert werden; man traut dem Wissen des Gerichtsarztes nicht ganz, denn der andere Arzt, der damals auf der Straße vor dem Gerichtsarzt zuerst gerufen wurde, hat sich heute nochmals gemeldet und behauptet in allen Zeitungen, der Abbé sei einfach vergiftet worden. Beweise hat man noch keine.«

Mir gruselte vor diesem Rattenkönig von monströsen Geheimnissen: – geheimnisvolle Drohbriefe, Vergiftung, Attentat, Haussuchungen und Verhaftungen – wo war der Schlüssel zu diesem Schreckensknäuel, der sich immer mehr verwickelte.

Gleich mexikanischen Mißgeburten sah mich diese Verwirrung mit vielen verrenkten Armen und vielen Menschen- und Tierköpfen an. Menschen, die zu Bestien und Ungeheuern verunstaltet waren – Ebenbilder ihrer ungestalten dämonischen Götzenbilder.

Ich mußte an den Jungen in San Juan denken, der mir im Staub nachgekeucht war und mir das gedrungene, aus Stein gehauene Götzenbild nachgetragen und es vor mir aufgepflanzt hatte, wenn ich mich umsah; wohin ich mich jetzt wendete, saß so ein verrenktes Götzenungeheuer auf meinen Wegen hier in Mexiko. Es war nicht mehr das Leben unter der Sonne, es war, als lebe die Welt hier ewig in der Geisterstunde der Mitternacht. Wie die Kraterlandschaft bei Ixtapalapa ein Herd voll Höllentöpfen zu sein schien, so war ganz Mexiko heute eine Hölle für mich. Der Menschenfressergott, der in Ixtapalapa hauste, schickte mir jetzt noch seine Schlangen täglich bis in die Hauptstadt nach und wollte mich vernichten; denn ich wußte es ja nur zu gut, daß ich nicht ein Heiliger war, wie es die naiven Indianerleute damals in der Nacht verkündet hatten.

Orla schien mich also entweder besucht zu haben, um vor der Rache des Polizeipräsidenten zu flüchten, vielleicht auch, um die zurückerhaltenen Briefe ihrer Mutter bei mir zu verwahren, oder sie hatte mich überhaupt nur besuchen wollen, und sie konnte nicht ahnen, daß man sie bei mir verhaften würde. Der Polizeipräsident hatte also überall seine Spione gehabt und wußte von unseren Zusammenkünften. Natürlich mußte er das wissen, denn man hatte uns ja ganz öffentlich zusammen auf dem Paseo reiten sehen. Oder hatte uns die Logenschließerin im Theater an einen seiner Spione verraten? Oder hatte Orlas Kutscher, der sie an jenem einen Abend zu mir fuhr, geplaudert? Es war ja leicht, zu entdecken, für wen sich Orla interessierte, da sie neulich nach dem Stiergefecht mitten im Regen ihren Wagen mit meinem vertauscht hatte und dann aus meinem Wagen ausgestiegen war. Das waren alles Unüberlegtheiten, die nur Verliebten passieren können, und es wäre lächerlich gewesen, wenn ein Polizeipräsident von Mexiko, der sich nicht entloben will, nicht in Erfahrung bringen könnte, mit wem sich seine Braut verloben möchte.

Ich brauchte mich ja nicht gerade um Orla zu ängstigen, aber es war doch sehr aufregend, zu wissen, daß der Polizeipräsident Oral für ein paar Stunden in seiner Macht hatte, und daß bei seiner streberischen, ehrgeizigen und gewalttätigen Natur das junge Mädchen sehr unbehagliche Stunden vor sich haben könnte.

Oh, wenn man sich auf der Erde nur mehr ängstigen würde, als man es tut – man würde vielleicht manches Unglück abwenden durch eifrigere Angst und eifrigere Aufgeregtheit. Statt sich stoischer Beruhigung, lähmender Beherrschung und diplomatisch kühler Überlegung zu befleißigen, sollte man sich wie die Tiere von den Angstzuständen fortreißen und aufwühlen lassen und heftiger empfinden und sich heftiger sorgen!

Diese Selbstvorwürfe, daß ich mich nicht genügend meiner Angst um Orla hingegeben hätte, mußte ich mir leider später, nach Hereinbruch einer nie wieder gutzumachenden Katastrophe, wiederholen. Ich hätte mich an diesem Nachmittag nicht von der Ruhe und Würde des Gesandten und des Gesandtschaftshauses betäuben lassen dürfen. Ich hätte eher verwildert und unwürdig mich von der Angst verzerren und mitreißen lassen sollen; ich hätte mich nicht als ein Schützling des Deutschen Reiches in dem kaiserlichen Haus besänftigen lassen sollen.

Als ich erfahren hatte, daß Orla bei mir gewesen und bei mir verhaftet worden war – wahrscheinlich gerade in dem Augenblick, als ich ahnungslos die Soldaten vor meinem Haus um Auskunft fragte und dann ins Café ging, um zur Gesandtschaft zu telephonieren, da hätte ich mich nicht zur Gesandtschaft bringen lassen dürfen. Ich hätte in eigener Person zum Präsidenten der Republik, der mir freundlich gesinnt war, eilen und auf der Freilassung meiner Braut bestehen müssen.

Was hatte mich nur abgehalten, dieses zu tun? – Unzählige unglückselige Zufälle. Erstens, daß es Festtag war und der Präsident heute feiern und nicht in der Feier gestört sein wollte. Zweitens, daß man den Präsidenten der Republik nicht mehr an das peinliche Attentat erinnern sollte, das einen Mißton in den Vormittag des Festes gebracht hatte, und das man ihm nun am Nachmittag nicht mit Nachdruck von neuem nahebringen sollte. Endlich hatte doch Orla eigentlich nichts zu fürchten; ich glaubte, wie der deutsche Gesandte, sie sicher von sicheren Leuten umgeben und im Stadthaus so gut aufgehoben, wie ich es in der Gesandtschaft war. Bis sie dann in der Nacht die Stadt verlassen könnte – bis dahin glaubte ich sie von Menschen und Schutzwachen umgeben.

Denn konnte ich vorausahnen, was nie zuvor die Erde hervorgebracht hatte? Könnten wir uns einen Krater voll Feuer in der Erde oder einen Ozean aus Salzwasser denken, wenn wir noch nie einen Krater, Feuer und Ozean gesehen hätten?

Konnte ich vorausahnen, daß der Polizeipräsident eine der Menschenbestien war, von denen, seit die Erde besteht, kaum zwei Exemplare gelebt haben?

Der Gesandte und der Attaché gaben sich alle Mühe, mir zu erklären, daß jeder Schritt von meiner Seite nur störend und aufreizend auf den Polizeipräsidenten wirken könne; da ja gar nichts gegen die junge Mexikanerin vorläge, könnte sie nicht länger als bis zum Abend im Stadthause festgehalten werden. So ließ ich mich schließlich überzeugen, daß ich mich ruhig verhalten müsse. Ich sollte alles seinen ruhigen Gang gehen lassen und die Dinge lachend und von der heiteren Seite nahmen, da der Polizeipräsident sich bis morgen durch diese Gefangennahme seiner ehemaligen Braut lächerlich genug gemacht haben würde, so daß ich dann ruhig zusehen könnte, denn ich würde morgen alle Lacher der Hauptstadt auf meiner Seite haben. Der Polizeipräsident dränge sich bei jeder Gelegenheit als ein Ordensjäger und als gewaltiger Streber vor, der sich immer bemerkbar machen wolle, auch wenn dieses Aufsehen mit unrechten Mitteln erreicht werde; deshalb werde schon morgen alle Welt den Mann verlachen, der seine frühere Braut nicht geschont hätte, um nur in der Gunst der Regierung zu steigen.

»Aber vielleicht ist jener Attentäter, jener Absender der Drohbriefe, die die Dame in den letzten Tagen erhielt – vielleicht ist er ein Schuft und hat die Dame nur genannt, da man Briefe von ihm bei ihr gefunden hat, und will sich mit ihr wichtig machen und tun, als ob er Enthüllungen von Geheimnissen zu machen hätte, die er wahrscheinlich gar nicht besitzt. Oder ist er vielleicht der gedungene Mörder des Abbés? Denn ein Mensch, der sagte, er habe den Tod des Abbés in den Händen, er könne den Mord begehen und den Mord für Geld verhindern, schrieb in den Tagen vor dem Tode des Abbés viele Briefe an die junge Dame und an den Abbé.

Es sind so viele mystische Möglichkeiten vorhanden, daß ich nicht ruhig hier sitzen kann, ich muß auf das Stadthaus und bitte Sie, Graf L., verschaffen Sie mir durch den Präsidenten der Republik die Erlaubnis, einen Augenblick mit der jungen Mexikanerin zu sprechen.«

Der Graf lächelte und beruhigte mich mit seinem fortwährenden Gleichmut und seinem Lächeln.

Er ließ mir einen Lemon-Squash nach dem andern durch die Diener bringen, und als dieser Zitronensaft, in dem ich übrigens Dosen von Brom zur Beruhigung meiner Nerven herausschmeckte, gewirkt hatte und ich mich dünnblütig und sanftmütig geworden fühlte, beeilte er sich, mir eine Partie Schach vorzuschlagen. Und da er wußte, daß ich ein leidenschaftlicher Schachspieler bin, unterhielt er mich in Gemeinschaft mit dem Attaché bis zum Einbruch der Dunkelheit bei diesem Spiel, das mich diesen Nachmittag mit seinem Lärm, seinen Schrecknissen und Überraschungen ein wenig vergessen ließ.

Ehe es dunkel wurde, kam der Sekretär herein und teilte uns dreien, die wir noch teils spielend, teils zusehend beim Schachbrett saßen, mit, er habe die Nachricht erhalten, daß die Mexikanerin von ihrer Mutter am Stadthause abgeholt worden sei, und daß sich das Volk allgemein über das Attentat beruhigt habe. Die beiden Damen seien nach Ameca-Meca zurückgekehrt. Die Glorieta di Colon sei jetzt auch von Menschen frei. Der Polizeipräsident habe die Siegel an meinen Türen fortnehmen und die Wachen abziehen lassen, da alles in schönster Ruhe und Ordnung zu verlaufen scheine.

»Sie werden aber in dieser Nacht doch noch in der Gesandtschaft Wohnung nehmen müssen. Ich hafte dem deutschen Kaiser und Deutschland mit meiner Person für Ihr Wohlergehen«, sagte der Gesandte rasch zu mir. »Wollen Sie einem meiner Diener Auftrag geben, daß er Ihnen Ihre Toilettensachen für die Nacht holt, denn ich kann es nicht verantworten, daß Sie gleich wieder in Ihre Wohnung zurückkehren; wenigstens in dieser Nacht bleiben Sie, bitte, noch unser Gast auf der Botschaft. Man weiß nicht, ob Ihnen nicht jemand etwas Übles antun könnte. Sie sind der Rivale des Polizeipräsidenten, müssen Sie bedenken; das dürfen Sie nicht aus dem Auge verlieren und müssen bis zu Ihrer Abreise noch sehr auf der Hut sein.«

Ich dachte wieder an das gräßliche mexikanische Wort »Tod, eile dich!«, das hier wie ein verkappter Meuchelmörder hinter schwarzer Larve täglich umging. Niemand war sicher vor dem »Tod, eile dich«.

Ich stimmte dem Gesandten zu und atmete auf bei dem Gedanken, daß Orla nun wieder bei ihrer Mutter in Ameca-Meca war und ich morgen Nachricht von ihr haben würde.

In meiner Wohnung ließ ich durch einen Gesandtschaftsdiener sagen, daß ich auf der deutschen Gesandtschaft sei, und daß man mir Briefe dorthin senden solle. Dann richtete ich mich in zwei mir zugewiesenen Zimmern für die Nacht ein.

Der Gesandte und der Attaché, die am Abend bei dem offiziellen Diner im Schloß Chapultepec nicht fehlen durften, mußten mich um sechs Uhr, gleich nach Sonnenuntergang, allein lassen, und ich versprach ihnen, die Gesandtschaft heute nicht zu verlassen und mich mit Lesen und Rauchen zu unterhalten.

Ich nahm dann das Abendessen allein ein; dann setzte ich mich ans Klavier und spielte im Gesellschaftssalon aus einigen Notenheften, die ich da fand. Umgeben von den lebensgroßen Porträts der deutschen Kaiserfamilie, Bismarcks und Moltkes, die rings von den Wänden sahen, und beim Glanze der elektrischen Kronleuchter fühlte ich mich für eine Weile ganz in Europa zu Hause; es war mir, als läge Mexiko weit irgendwo im Westen hinter dem gelben Sonnenuntergang. Da sah ich es im Geist wie ein Plateau aus Goldplatten liegen, so wie ich es mir als Knabe immer vorgestellt hatte, wen man mir von den goldenen Aztekenkönigen und von Cortez und seinen Abenteuern erzählt hatte. Da hatte damals für mich dieses golddurchglänzte Land im Westen wie eine Bank aus gelben Sonnenuntergangswolken gelegen und abends die Fenster der fränkischen Stadt Würzburg beleuchtet, in der ich geboren war.

Alle dunkeln Stadtfenster am Main spiegelten dann das ferne Goldreich wider, und ich sehnte mich viele Abende, nachdem ich die Abenteuer des Spaniers Cortez gelesen hatte, nach dem Lande der goldenen Götzen, nach dem Lande, das ich mir mit Goldplatten gepflastert dachte.

Ich spielte jetzt Schubertsche Lieder und spielte eine Beethoven-Sonate und spielte noch einige wenige Takte von Grieg. Dann dachte ich an die Indianerin und spielte die singenden Takte des Ausrufes: Tomales caliente, con dulce, con carne, ehee.

Und während ich den Tönen zuhörte, stieg mir plötzlich eine unsagbare Trauer ins Herz; ich fühlte mich tief beklommen; ich wußte nicht: war es die Stille des Gesandtschaftshauses, war es die Sehnsucht nach Orla – ich fühlte mein Herz zusammengeschnürt, es war, als sei jemand hinter mich getreten, als faßten mich von rückwärts zwei feste Hände um den Hals und wollten mich erwürgen. Ich fühlte Angstschweiß auf meiner Stirn, ich stand vom Klavier auf, klingelte dem Diener und bat um ein Glas Eiswasser.

»Der Herr sehen so blaß aus; soll ich vielleicht den Gesandtschaftsarzt rufen?« fragte der Diener.

Ich dankte. Und er ging lautlos. Ich war froh, daß der Diener rheinischen Dialekt gesprochen hatte; in diesem Augenblick klang das, als spräche eine der Heimaterdeschollen zu mir, und die Angst ließ nach; ich konnte aber das Eiswasser nicht austrinken.

Ich sah auf die Kaminuhr: es war elf Uhr. Es würde doch Orla nichts zugestoßen sein in Ameca-Meca? Ich lächelte über meine Angst, als ob ich der deutsche Gesandte wäre, der als echter Deutscher keine Angst zeigte und sich keine Angst eingestand.

Ich betrachtete der Reihe nach den deutschen Kaiser, die Kaiserin, den Kronprinzen, die Kronprinzessin, Bismarck und Moltke und ging vor den Wänden auf und ab und ließ die Augen der Großen des Deutschen Reiches aus ihrem Rahmen heraus ermutigend auf mein geängstigtes Herz schauen.

Ich war einer so angstbeklommenen Stimmung verfallen, daß die Zigarre, die ich mir anzündete, nicht brennen wollte. Ich verfiel in Gedanken und ging auf und ab und freute mich immer, wenn ich die Kaiserin und die Kronprinzessin betrachtete. Es war mir, als wäre durch die Nähe der hohen Frauen der Schrecken, die Angst gebannt, die sich zu allen Fenstern, aus allen Wänden wie ein fremder Metallgeruch hereinschlich. Immer, wenn ich die Gesichter der Damen ansah, beruhigte mich das mehr als der Anblick der starken mutigen Männergestalten.

Wenn Frauen mit dem Leben fertig werden können, ohne zu zittern, ohne Angst, ohne zu klagen, dann mußt du es auch können. Ich ging auf und ab und sprach eifrig auf mich ein und nickte dabei der Kaiserin und der Kronprinzessin zu, als hätte ich eben die Damen gesprochen, und nickte zu den Bemerkungen, die sich über mich an den Wänden da oben zu machen schienen.

»Es ist etwas passiert«, sagte plötzlich mein Herz feierlich. »Entweder ist ein Erdbeben im Anzug, und ich spüre es wie die Tiere voraus, oder es ist irgendwo in Europa ein mir nahestehender Mensch gestorben, und in der Einsamkeit kommt die Kunde in mein Herz, und das weint bereits über den fernen Trauerfall, während der Verstand ein schwerfälliger Bauer ist und erst trauert, wenn er morgen oder in vierzehn Tagen die Nachricht durch die Post erfährt.«

Ich nahm mein Notizbuch und schrieb: »Elf Uhr, 17. Sept. abends Angstgefühl, ähnlich einer großen Trauer.«

Dieses schrieb ich klar und deutlich in den Kalender meines Tagebuches ein.

Nun war mir etwas freier, seit ich mit Bleistift und Papier meine Angst sozusagen statistisch festgehalten hatte.

Ich hörte am offenen Fenster über die Bäume des Gesandtschaftsparkes hinweg die Musik von der Alameda und die von der Plaza, und die beiden Melodien vermischten sich nicht in der Luft unter den Nachtsternen – sie standen wie ein Hexenlärm bald über der fernen Alameda, bald über der Plaza.

Diese zwei sich gleichsam in den Lüften streifenden Musikbanden kämpften je nach den Luftströmungen um die Oberhand, und es war bald wie das Gekläff einer Meute von hundert Blechinstrumenten, bald das Miauen von hundert Geigen und Flöten. Es war, als vervielfältigte sich die Musik unter den Sternen, als gäbe jeder Stern sein Echo dazu, so daß der Himmel in dieser Nacht voll von Musikinstrumenten zu hängen schien.

Bei diesem Lärm konnte ich nicht schlafen gehen; ich hielt es für klüger, einen Spaziergang nach der Alameda oder nach der Plaza zu machen. Der Gesandtschaftssaal mit den großen offiziellen Figuren war mir jetzt lästig.

Ich sehnte mich nach dem Mondlicht in meinem Salon an der Glorieta, wo ich im Schaukelstuhl Orla zum erstenmal bei mir gesehen hatte, und ich sehnte mich nach dem mystischen Straßengesang der Indianerin, der nicht wie das Ausrufen von Kuchen klang, sondern wie eine gesungene rhythmische Beschwörungsformel.

Ja, ich wollte mich unter die Indianer auf der Plaza mischen, den Liedern zuhören und den Volksbelustigungen zusehen.

Ich hörte das Knattern von Raketen in der Ferne; das Feuerwerk, das die Stadt dem Volk zur Verschönerung des Nationalfestes darbot, war mitten im Abbrennen begriffen. –

Ein paar Minuten später stand ich am Ausgang der Calle San Francisco, die auf die Plaza mündet.

Der große Platz war eine zischende taghelle Feuerwelt geworden. An Hunderten von hohen Masten brannten die lichterhohen Garben von kunstvollen Feuerwerkskörpern. Zwölf Masten trugen an ihren Spitzen, knallend und paffend und gewaltig fauchend, die zwölf Bilder des Tierkreises. An anderen Masten flammten die Wappen aller mexikanischen Provinzen. An andern feuerfarbige Papageien aus Glühbirnen, Adler, Leoparden, Drachen, Dämonenmasken und künstliche Blumensträuße; viele Lichtfiguren waren aus grünen, gelben, roten, blauen Glühbirnen gebildet, andere Masten stellten flammenwehende Palmen dar und glühende Sonnenkugeln, umgeben von allen Planeten und von Kometen.

Diese helle Welt bewegte sich, flimmerte, flammte, zuckte, explodierte, warf Feuerdämpfe in die Nacht und kreiselte um die Spitzen der hohen Masten.

Darunter, Gesicht bei Gesicht, drängten sich Tausende von weiß gekleideten Indianern, die alle zur Höhe sahen; und ihre Augen spiegelten das Feuerspiel, ebenso alle gläsernen Fensterreihen der Häuser rings um die Plaza, die aussahen, als wären es Tausende von Ofenluken, die offen stünden und ihre Glut in langen Reihen zeigten.

Unter dem Feuerlärm spielte die Musik und begleitete mit rasselnden Becken und Pauken den Wirbeltanz der künstlichen Feuerspiele rund um die Bäume des Platzes.

Die Kathedrale lag wie in die Luft entrückt, von Feuerschnörkeln umgeben, als wäre sie heute noch der Tempel der aztekischen Göttergrimassen.

Als sei die Hölle auf die Erde heraufgestiegen, so verwirrend wirkten die lodernden, prasselnden Feuerwerkskörper, die sich fortwährend in ihren Gestalten verwandelten. Es war, als mündeten alle Krater von Mexiko in dieser Nacht hier auf diesem Platz mit feuerspeienden Mäulern und ließen Funken regnen und rote Lavaströme anschwellen; denn die Nachtwolken am Himmel flossen gleich roten Lavamassen über die Türme der Kathedrale in die Ferne.

Bis Mitternacht dauerte dieser Hexentanz der Feuergarben, der Raketen und der Musik. Dann, als die Masten dunkel standen, die Bäume wieder Bäume geworden waren und keine Haufen von roten Kupferstücken mehr waren und alle Häuser und die Kathedrale bei den Straßenlaternen wieder nüchtern nebeneinander standen, da begann erst für die indianische Bevölkerung das eigentlich Nachtfest. Hunderte von roten Häufchen glühender Holzkohlen glimmten zwischen den Indianergruppen, auf den kleinen Rasenvierecken, zwischen den Wegen und Blumenbeeten des gartenartig bepflanzten Platzes. Auf den Rändern der Springbrunnenbassins aufgereiht, saßen Indianer, andere im Gras, andere unter den Bäumen, andere an dem Rand der Trottoire. Sie saßen still mit glutbeschienenen Gesichtern, einer schürte die Glut, einer röstete Bananen, einer schenkte Pulque aus Krügen ein, einer oder mehrere zupften Mandolinen, und viele im Kreis sangen summend, melodisch dumpf, als sängen sie keine Sprache, als sängen sie wortlose Erinnerungen, die sie je nach dem Gefühl nur in einem oder zwei Lauten der gezupften Mandoline zusangen. Sie wiegten die Köpfe, und unter dem Schal der Mütter schliefen die Kinder wie in einem winzigen Zelt, sie waren gleichsam unter den Beschwörungen der uralten einfachen Lieder eingeschlafen und waren vielleicht die einzigen hier am Platze, die im Traum, während die Alten Lieder sangen, auch die alten Zeiten sahen, ohne zu wissen, daß es alte und neue Zeiten gab.

Ich betrachtete den alles umarmenden Nachthimmel, dessen Sterne in den Parkbäumen saßen wie die Augen von Millionen Indianern, die da oben über dem Platze herab zu ihren Enkeln und Urenkeln schauten und den gesummten leisen Liedern und den glucksenden Saiten der sanften Mandolinen zuhörten, welche sanft klangen wie unterdrückte Seufzer ohnmächtiger tyrannisierter Menschen. Als das Höllenfeuerwerk vorhin über den Bäumen in die Nacht prasselte, da war's gewesen, als machten die Nachtgeister sich Luft und tanzten entfesselt, und aller Augen auf der Plaza sahen hinauf in die tanzende Feuerwelt, als seien die indianischen Gottheiten mit Schlangen und Blitzen wiedergekehrt. Nun war es dunkel, der Götterspuk war verflogen, die Luft roch noch nach Pulver und Salpeter und Schwefel und war doppelt dunkel. Und nun weilten aller Augen wieder hier auf dem Platz am Boden, und nur die Sterne sahen von weitem wie der Rest eines Feuerwerkes aus, das sich in der Nacht verflüchtigt hatte. Die Indianer saßen wieder, von ihren alten Göttern verlassen, auf dem Rasen, melancholisch, zusammengekauert, in Gruppen, aus denen man keinen Laut, kein Gelächter hörte; nur wenn man näher kam, sah man, wie einige die Köpfe wiegten und zu der dünnen Mandoline murmelnde Laute sangen – Laute, die keine Worte waren, Laute wie Blätterrascheln oder wie das kochende Geräusch eines summenden Kessels über dem glühenden Holzkohlenhäufchen.

Die meisten der hier kauernden Gruppen waren Indianer, die von den Feldern, aus ihren Erdhütten und Erddörfern, aus Maisfeldern und Agavenpflanzungen draußen vor der Stadt Mexiko hereingewandert waren – die Gärtnerfamilien aus Santa Anita, der schwimmenden Gemüsegartenstadt draußen. Santa Anita ist ein Erdstrich, durchzogen von Kanälen, die zwischen den Gärten an Stelle von Wegen laufen, und wo eine Welt von Kähnen täglich verkehrt. Von dort kamen diese friedlichen Gruppen, die sogar jetzt zur Nachtzeit hier auf dem Stadtplatz blieben und erst im anbrechenden Morgen heimkehren wollten. Sie sahen alle so unscheinbar dunkel aus in ihren weißen Hosen und Hemden, als wären sie Gruppen aus grauer Erde, aus Gartenerde, und könnten zerfallen, wenn man sie anstieße. Nichts an ihnen leistete Widerstand, ihre Haltung war weder selbstbewußt noch bewußt, sie lebten wie Pflanzen und Tiere und Wolken ohne Bewußtsein von sich selbst, bang vor dem Chaos, das sich Welt nannte, bang vor den Herren des Landes, die sich immer noch als Europäer fühlten, wenn sich auch die hellfarbigen spanischen Abkömmlinge Mexikaner nannten. Die Indianer widersprachen ihnen nicht, aber es lag eine Zugehörigkeit zur mexikanischen Muttererde im Schweigen der roten Rosse, mehr als in allem dem lauten Selbstbewußtsein, mit dem die herrischen, von Europa abstammenden Mexikaner auftraten.

Ich fühlte mich auf dem Stadtplatz, den nur niedere Anpflanzungen und wenig hohe Bäume schmückten, wie in einem tiefen indianischen Urwald; als ich langsam von Kohlenfeuer zu Feuer ging, da hatte ich, von den Mandolinen und den Singlauten umgeben, das Bewußtsein verloren, daß ich mich mitten in einer Großstadt befand.

Es war gegen ein Uhr nachts, als ich, von der Urwaldstimmung langsam Abschied nehmend, durch die leeren Straßen zur deutschen Gesandtschaft zurückging. Hinter mir auf dem Stadtplatz war das Gewimmel der Menschen noch groß und hatte mich alles Unangenehme und alle Sorge dieses Tages vergessen lassen. In den stillen Straßen, wo an den Straßenecken mexikanische Polizisten postiert waren, jeder mit einem Totschläger in der Hand und neben sich auf dem Pflaster eine Blendlaterne, da kam wieder das Europaselbstbewußtsein in meine Urwaldstimmung, und ich dachte an Orla, an die Gefahr der Verhaftung heute nachmittag, an die Haussuchung, an das Attentat.

Plötzlich hörte ich von einer Straße, die ich eben verlassen hatte, den Signalpfiff eines Polizisten. Jeder Schutzmann in der Hauptstadt Mexiko hat eine Pfeife, und alle Viertelstunde beginnt das Signalpfeifen von einer Straßenecke zur andern und setzt sich durch die ganze Stadt fort und dauert endlos in der Nachtstille, als ob große wilde Vögel einander zupfiffen und antworteten ohne Ende.

Dieses Pfeifen störte mich zuerst gar nicht. Ich hatte es jede Nacht gehört, solange ich in Mexiko war. Aber das hatte ich nie gesehen, daß die Polizisten dabei ihre Posten an den Straßenecken verließen und durch die Straßen rannten. Ich sah jetzt von allen Ecken plötzlich Polizisten herbeieilen, als wäre da eine Jagd nach Räubern. Sie rannten alle nach einer und derselben Richtung. Ich war aber schon von so viel Aufregung heute müde gemacht worden, daß es mir ganz gleichgültig war, wohin die Polizisten eilten, und ich empfand auch gar keine Neugier, zu wissen, was sich da wieder Unvorhergesehenes ereignet hätte. Ich ging ruhig meines Weges weiter, passierte den Wachtposten der Gesandtschaft, und als der Portier mir das Tor öffnete, hatte ich längst die Signalpfiffe, die sich noch immer vereinzelt von Straße zu Straße wiederholten, und die Polizisten vergessen.

Ein Diener begleitete mich auf mein Zimmer; er sagte mir, daß der Graf L. auch erst vor einer Stunde heimgekehrt sei und nach mir gefragt habe. Als der Diener mich in meine erleuchteten Zimmer geführt und mir mit seinem rheinländischen Dialekt gute Nacht gewünscht hatte und ich allein war und Orlas Briefe aus meinem Rock nahm und auf den Nachttisch neben meinem Bett legte, wurde mir wieder weh zumute, fast ebenso weh, wie es mir vorher im großen Saal um elf Uhr gewesen war, wo ich Klavier gespielt hatte. Jetzt war es mir wieder, als stünde jemand hinter mir und erwürge mich von rückwärts, und mein Kehlkopf wurde mir wieder so eng und trocken, daß ich glaubte, ich müsse den Hals voll Rauch oder Staub haben.

Gepeinigt und erschöpft, legte ich mich halb ausgekleidet auf mein Bett. Neben mir über dem Nachttisch war ein Haustelephon angebracht. Jetzt starrte dieses Telephon an, als könnte ich jeden Augenblick von dort eine Aufklärung erhalten, warum mir so bedrückt und tief traurig der Atem stocke; und mir war, als müsse ich in dieser Nacht noch von allem Abschied nehmen.

Plötzlich klingelte das Telephon wirklich.

Ich glaubte erst, ich hätte auf einen Knopf gedrückt, und hielt das Klingeln für einen Spuk und erschrak und war zugleich wie erlöst, weil sich nun jemand um mich zu kümmern schien.

Graf L. fragte aus seinem Zimmer, ob ich schon zu Hause sei.

Ich antwortete ihm sofort, ich wäre kurz vorher gekommen.

»Das freut mich, daß Sie da sind. Ich hatte mir schon Angst gemacht, es könnte Ihnen etwas zugestoßen sein.«

Ich lachte in das Telephon und dankte ihm für seine Fürsorge und meinte: »Auf der Plaza bei den Indianern war es nicht unsicherer als hier auf der Gesandtschaft.«

»Nun, das freut mich!« sagte der Graf und wünschte mir eine gute Nacht.

Ich war dann etwas beruhigter, da ich doch wenigstens eine Menschenstimme gehört hatte. Ich entdeckten nun auch auf meinem Tisch beim Sofa eine Schale voll Früchten und eine Karaffe voll Wein, die man mir für die Nacht hereingestellt hatte, und ich bewunderte die Aufmerksamkeit des Gesandtschaftspersonals.

Die Früchte löschten ein wenig meinen Durst. Ein paar Glas Wein gaben mir die Phantasie, daß ich soeben aus sehr fröhlicher Gesellschaft heimgekehrt wäre. Ich bemerkte, daß sehr schöne Bilder von Rennpferden an den Wänden hingen. Ich nahm mir vor, morgen meine »Stella« satteln zu lassen und auszureiten, vielleicht träfe ich auf dem Paseo Orla zu Pferd. Ich sah uns schon im Geist wieder über die Hochebene, durch die abgeernteten Maisfelder reiten, immer weiter, immer weiter, bis der Staub der Höhlen in den ausgetrockneten Sümpfen uns umschlang und Orla unsichtbar wurde und ich vergebens kämpfte, aus dem Staub, aus dem Grau der Erdwolken an den blauen Himmel zu kommen. Ich erstickte im Staube und trauerte, daß Orla mit mir ersticken mußte, und daß ich nun nie mehr Europa wiedersehen würde. »Nie mehr wirst du Europa sehen!« Dieses wiederholte ich mir, während ich im Traum am Staub zu sterben meinte.

Ich erwachte erschöpft.

Das elektrische Licht brannte noch, und draußen war es heller Tag.

Ich hatte das Gefühl, daß das Erwachen und das Nichtgestorbensein nicht einmal sehr angenehm wäre. Ich hatte so lange im Staub mit dem Ersticken gekämpft, daß mir der Schweiß auf der Stirn stand, als hätte ich mit einem Mörder gerungen.

Warum warst du denn traurig darüber, daß du Europa nicht wiedersehen solltest? Warum fragtest du im Traum nicht danach, ob du Orla wiedersehen würdest?

Ich setzte mich auf und horchte. Mir war, als ob heute nacht sehr viel Leben im Gesandtschaftspalais gewesen sei; ich hatte im Hof Leute kommen und gehen hören und wußte es im Schlaf genau, daß sehr viel um mich vorging, aber ich wollte im Traum nicht vom Pferde steigen. Denn Orla ritt mir immer voraus, und ich wollte sie einholen.

Das Telephon klingelte wieder.

Der Sekretär war am Telephon und bat, daß ich mich schnell ankleiden möchte, der Graf L. möchte mich dringend sprechen, noch bevor er ausritt.

Ich fragte, ob irgendwo in der Stadt ein Unglück passiert sei. Aber das Telephon versagte. Ich hörte niemand mehr und eilte, mich schnell abzuduschen und mich schleunigst anzukleiden.

Meine Finger waren aber fast zu schwach von dem schweren Erstickungstraum; ich brauchte mehr Zeit als jemals mußte dem Diener klingeln, damit er mir die Stiefel anziehe. Ich war schwindelig, als ob ich auf dem Verdeck eines Schiffes wandelte; so schaukelte der Zimmerboden vor meinen Augen. Ich trank ein Glas Eiswasser, tat ein paar kräftige Atemzüge am offenen Fenster und eilte dann, mich zusammenraffend, den Korridor entlang nach dem Privatsalon des Gesandten, wohin mich sein Kammerdiener führte.

Das weitere der Reihenfolge nach zu erzählen, ist mir heute noch ganz unmöglich.

Ich sehe nur immer den graublauen Ledersessel aus Elefantenhaut, in dem ich saß. Ich war vorher nie in meinem Leben ohnmächtig gewesen. Aber ich sehe mich plötzlich umgeben von Ärzten, Dienern und dem Gesandten, ich sehe die weißen, blendenden Tücher von Kompressen und sehe deutlich einen Eimer voll mit mattweißem Eis; ich fühlte aber kein Eis, alles war Feuer, überall war das große Feuerwerk, das jetzt nicht über der Plaza, sondern an der Zimmerdecke senkrecht über mir abgebrannt wurde.

Ich dachte nur: Aber warum denn Feuerwerk am hellen Tage? Machen Sie doch die Fensterladen zu, die Leute werden glauben, die Gesandtschaft brennt. Das Eis wäre wahrscheinlich da, um die von der Decke herabfallenden Funken aufzufangen, damit keine Brandflecken auf dem Parkettboden entstünden, dachte ich. Es war aber doch seltsam, daß alle Feuerkörper in den einen einzigen Eimer fielen.

Und noch seltsamer war dies: je länger ich das Eis ansah, desto feuriger wurde auch da Eis. Es verwandelte sich im Eimer in Kohlenglut.

Der Arzt, der Diener, der Graf L. und der Sekretär, alle waren so dunkel im Gesicht. Alle waren Indianer. Es war nirgends mehr ein heller Europäer im Zimmer zu sehen; ah – das Feuerwerk hatte alle Europäer vernichtet. Ganz Mexiko war ein einziges Feuerwerk geworden und brannte vor meinen Augen prasselnd ab. Auch die Indianer verbrannten, das Feuer fiel jetzt von der Decke auf meinen ganzen Leib; ich erschien mir hell, als strahle ich Feuer aus meinen Gliedern. Ich brannte und verbrannte und wurde zu Feuer. Und nie mehr sollte ich Europa sehen! Nie mehr sollte ich Europa sehen! dachte ich immer.

Ich begann zu schluchzen. Ich weinte mitten im Feuer. Ich löschte mit meinen Tränen das Feuer. Es verkroch sich. Es wurde müde und schwach. Und immer, wenn es wieder aufflackern und nach mir greifen wollte, dann stieg mir ein Schluchzen, eine Sehnsucht nach der Heimat, eine Sehnsucht nach Europa aus meinem Innern. Und mit dem Ruf: »Ich will jetzt zurück, ich will nach Europa, ich will fort, ich bin ein Europäer, ich bin ein Bürger von Europa, und dieses mexikanische Feuerwerk darf mich nicht ersticken«, mit diesem Ruf löschte ich die Flammen. Sie wurden zu tausend Feueradern, dann zu tausend Funken, dann wurde es Tag. Es dämmerte sacht und wurde hell. Alles wurde wieder ruhig, irdisch, und das Ungeheuerliche hatte wich irgendwohin verkrochen.

Vielleicht sitzt das Ungeheuerliche hinter den Bildern der Rennpferde an den Wänden, dachte ich und fragte den Diener und den Arzt.

Sie nahmen die Bilder von den Wänden, und man trug die Rennpferde aus dem Zimmer.

Ich sah, daß ich im Schlafzimmer neben dem Telephon lag.

Vielleicht sitzt das Ungeheuerliche im Telephon, reflektierte ich und fürchtete mich vor dem kleinen lackierten Kasten, der bei Tag und bei Nacht klingeln und reden konnte.

Man schraubte den Kasten ab. Ich sah Hände, die das taten. Ich sah den Schraubenzieher, der die Schrauben drehte. Das Stahl des Schraubenziehers konnte auch ein Messer sein... »Neunzehn Messer!« rief ich laut. Der Arzt gab mir zu trinken. Ich sah dann nichts mehr und wollte einschlafen. »Das Morphium hat gleich gewirkt«, hörte ich den Diener mit dem rheinischen Dialekt sagen...

Jemand rief: »Tod, eile dich!«

Diesen Ruf hörte ich öfters von den Wänden hallen. Dann erschien gewöhnlich kurz darauf das Gesicht einer Krankenschwester, die mir zu trinken gab. Viele Krankenschwestern wechselten ab, und allmählich hörte ich den Ruf »Tod, eile dich!« nur noch aus weiter Ferne, als würde das über den Dächern der nächsten Straßen gerufen.

Eines Tage dachte ich: »Ich muß aber schon sehr lange krank sein, wenn ich so viele verschiedene Krankenschwestern gesehen habe.«

»Wie lange bin ich schon krank?« fragte ich die Schwester, die mir mit einem Palmfächer die Fliegen vom Gesicht jagte.

»Beinah sechs Wochen«, sagte sie und lächelte. »Aber nun sind Sie bald so gesund, daß Sie auf das Land und dann nach Europa zurückreisen dürfen, hat der Arzt heute gesagt.«

»Wie heißt das Spital, in dem ich krank liege?« fragte ich. –

»Sie sind in keinem Spital, Sie sind immer noch in der deutschen Gesandtschaft. Man wollte Sie in kein Spital bringen. Man durfte es auch nicht. Sehen Sie, hier auf dem Nachttisch liegen lauter Telegramme an Sie aus Europa. Der deutsche Kaiser und der Kronprinz haben bereits mehrfach nach Ihrem Befinden fragen lassen. Der Gesandte hatte dringende Anweisung erhalten, daß Sie in der deutschen Gesandtschaft gepflegt werden müßten, bis Sie zur Abreise kräftig genug wären.« Die Krankenschwester lächelte geheimnisvoll und sagte: »Man fürchtete vielleicht, daß Sie in Ihren Fiebergesprächen Staatsgeheimnisse ausplaudern könnten!«

»Wer hat denn in all den Tagen immer ›Tod, eile dich!‹ gerufen?«

»Oh, das waren Sie selbst, aber jetzt sind Sie seit drei Tagen ganz gesund, und Sie sollen sich auch nicht mehr an den Ruf erinnern. Sie dürfen jetzt auch nicht mehr sprechen, schlafen Sie sich gesund; Schlaf ist immer die beste Medizin, sagten alle Ärzte, die hier an Ihrem Bett waren.«

Und die Krankenschwester legte den Fächer fort und gab mir wieder zu trinken. Danach schlief ich wieder fest ein. –

Die Geschehnisse, die mich auf das Krankenbett geworfen und mir eine Gehirnentzündung gebracht hatten, waren, nüchtern erzählt, diese:

Als ich an jenem Morgen nach dem Nationalfest in das Zimmer des Gesandten trat, ging dieser in seinem Schreibzimmer vor einem Herrn auf und ab. Jener Herr wurde mir als der Gesandtschaftsarzt Medizinalrat Dr. Sch. vorgestellt. Der Gesandte Graf L. fragte mich – und sah mich dabei ernst und bleich an, so daß ich glaubte, er habe den Arzt seiner selbst wegen konsultiert –, ob ich mich stark genug fühlte, um eine sehr ernste Nachricht mit Ruhe und Kraft aufzunehmen.

Ich setzte mich in den Elefantenledersessel und sagte, während es mir kalt über den Rücken lief, scherzend: »In diesem Sessel fühle ich mich als Dickhäuter. Ich werde alles aushalten. Bitte, sprechen Sie rasch! Welches neue Ereignis verfolgt mich?«

Der Gesandte ergriff eine Zeitung; es war das Morgenblatt der Stadt Mexiko. Er sagte: »Seien Sie ein Mann, und lesen Sie ruhig diese Zeitungsnotiz.«

Sie lautete:

»17. Sept. 189..   Lynchjustiz.

Die Bevölkerung von Mexiko sammelte sich heute nacht vor dem Stadthause um ein Uhr an, und einige hundert Personen der niederen Stände stürmten den Hof, drangen in das Stadthaus ein und fanden den Weg zu den Haftzimmern; ehe die Polizei sie hindern konnte, begann die aufgeregte Menschenmenge die Türen einzuschlagen. Nachher fand man den Attentäter, der bei der Truppenrevue gestern einen Attentatsversuch auf den Präsidenten machte, von neunzehn Messern durchbohrt. Und Fräulein Orla von ***, von der man am Nachmittag bereits glaubte, daß sie in Freiheit gesetzt worden sei, wurde in ihrem Haftzimmer erwürgt aufgefunden.

Die Personen, die durch diese Lynchjustiz wahrscheinlich dem Präsidenten der Republik, welcher noch nie ein Todesurteil unterschrieben hat, einen Dienst erweisen wollten, hätten dieses Mal nicht so vorschnell ihre Ergebenheit für den Präsidenten der Republik bekunden sollen, denn es ist leicht möglich, daß sie im Übereifer einen Unschuldigen und eine Unschuldige ermordet haben.

Ob diese Personen damit dem Präsidenten der Republik einen wirklichen Ergebenheitsdienst geleistet haben, muß die genauere Untersuchung der Ereignisse dieser Nacht erste ergeben.

Vorläufig ist festgestellt, daß unter den Hunderten von Menschen, die in das Stadthaus stürmten, neunzehn Männer bemerkt wurden, die, mit schwarzen Masken vor den Gesichtern und in schwarze Mäntel gewickelt, den Weg zu den Korridoren und zu den Haftzimmern so genau wußten, als wären sie im Stadthause aufs beste bekannt.

Auffallend ist, daß diese neunzehn verkappten Gestalten später nicht mehr in der Menschenmenge bemerkt wurden. Man nimmt an, daß sie einen nur den Vertrauten des Stadthauses bekannten Ausweg durch ein Rückgebäude nahmen und so unbemerkt fliehen konnten.«

Der Polizeibericht meldete:

»Neunzehn dem Präsidenten aufs Leben und Tod innigst ergebene Männer scheint der schändliche Attentatsversuch auf den Präsidenten der Republik heute derart mit Abscheu erfüllt zu haben, daß sie unter sich beschlossen hatten, der amtlichen Justiz zuvorzukommen und dem Attentäter und seiner Mitwisserin im Namen des Volkes den Tod zu geben.

Als die neunzehn maskierten Männer um ein Uhr nachts in das Stadthaus drangen, traten sie zuerst bei dem Polizeipräsidenten ein, der noch spät in der Nacht an seinem Schreibtisch wichtige Arbeiten zu erledigen hatte, und von ihm verlangten sie die Auslieferung des Attentäters, der gestern dem Präsidenten der Republik nach dem Leben gestrebt hatte. Der Polizeipräsident weigerte sich, den neunzehn Abgesandten der Lynchjustiz die Gefangenen vorzuführen. Aber die Volksrächer ließen sich nicht abweisen und stürmten nach den beiden Haftzimmern, wo sie die beiden Gefangenen fanden, und wo sie sofort Lynchjustiz übten.

Der Attentäter wurde von neunzehn Messerstichen getötet, Fräulein *** fand man erwürgt.

Gestern nachmittag war noch die Mutter der jungen Dame zu dem Polizeipräsidenten in das Stadthaus gefahren und hatte die Freilassung der jungen Dame verlangt. Diese sollte auch ihrer Mutter nach Ameca-Meca folgen, weigerte sich aber und sagte: da man sie verhaftet habe, wolle sie auch in Untersuchungshaft bleiben; sie verlange vor Gericht gestellt zu werden, um ihre völlige Unschuld in der Attentatsangelegenheit zu beweisen.

Auf ihren eigenen Wunsch wurde die junge Dame deshalb in Haft behalten, und ihre Mutter kehrte allein nach ihrer Hazienda in Ameca-Meca zurück.

Jedermann weiß, daß auch unser ausgezeichneter Polizeipräsident eine dem Präsidenten der Republik huldigende heroische Tat beging, als er sofort Gerechtigkeit walten ließ und, ohne Rücksicht darauf, daß Fräulein Orla von *** die Braut des Polizeipräsidenten selbst ist, diese junge, angesehene, bekannte Dame so gut wie jeden anderen Angeklagten verhaftete und keinen Unterschied in der Person walten ließ. Damit hat unser Herr plötzlich wieder einmal seine regierungstüchtige Gesinnung von Grund aus gezeigt, und der Polizeipräsident der Republik wird ihm dafür zu danken wissen.

Die traurigen Umstände, die den gewaltsamen Tod der jungen Dame und des Attentäters veranlaßten, bedürfen keiner weiteren Aufklärung. Durch diesen Akt der Lynchjustiz zeigte sich wieder einmal die große Beliebtheit, deren der Präsident unserer Republik sich in allen Schichten der Bevölkerung erfreut. Das Volk bewies dies schon dadurch, daß es gleich nach dem Attentat in Scharen herbeieilte. Nur wenige Stunden dauerte es, da hatte das Volk auch sein Urteil gefällt und seinem Präsidenten Genugtuung verschafft, indem es neunzehn beherzte Männer auswählte denen es die Rache im Namen des Volkes übertrug. Da das Volk selbst gehandelt hat, wird es, um neue Unruhen zu vermeiden, der Regierung sowohl als allen Bürgern lieb sein, wenn man die Verfolgung der neunzehn Auserwählten der Nation nicht zu streng handhabt. Die Nation selbst hat hier gerichtet, dadurch ist der Präsident der Republik vielleicht enthoben worden, sein erstes Todesurteil zu unterschreiben. Denn jedermann in Mexiko weiß, daß unser geliebter Präsident noch nie ein Todesurteil unterschrieben hat. Die Nation hat gerichtet, heilig sei der Wille der Nation!«

Dieses waren der unklare Polizeibericht und die ungenügenden Zeitungsnotizen, die am Morgen des 18. September in der Hauptstadt bekannt wurden, und die natürlich ungeheures Aufsehen erregten.

Und las damals nur den Satz, daß Orla erwürgt worden sei.

Hier nahm mir der Gesandte das Blatt sanft aus der Hand; ich bat, er möge weiterlesen.

Ich hörte in dem Sessel mit geschlossenen Augen dem ganzen Zeitungsbericht zu.

Ich hörte auch noch, wie aus weiter Ferne, eine kurze Debatte zwischen dem Arzt und dem Gesandten. Dann begann sich zu der Trockenheit meines Halses ein Brand und Blutandrang in meinem Gehirn einzustellen. Mein Gehirn schien zu explodieren.

Die darauffolgenden Krankheitseindrücke habe ich bereits beschrieben, so wie ich mich ihrer noch erinnern kann. –

Die Zeitungen hatten während meiner Krankheit vollauf zu tun; denn täglich verdrängten neue Sensationsnachrichten die alten, und binnen einigen Tagen sah sich die ganze Stadt Mexiko in einen Trubel von Verwicklungen verstrickt, die atemloser und die Gehirne erhitzender nicht von der zügellosesten Phantasie ausgedacht werden können.

Am gleichen Nachmittag schon wunderten sich einige Zeitungen, wie es hätte möglich sein können, daß Volksverschwörer bis in das Innere des Stadthauses gedrungen wären. Man fragte sich, wie man das zulassen konnte, da die Polizisten doch auf dem Wachtzimmer in genügender Anzahl versammelt gewesen sein müßten und den Meuchelmördern sofort den Weg verstellen und verhindern konnten, daß neunzehn Mann nachts bis in das Amtszimmer des Präsidenten vordrangen.

Der Polizeibericht strotzte auch von viel zuviel Selbstlob der Polizei und des Polizeimeisters.

Es war ganz unmöglich, zu denken, daß der Polizeipräsident seine Braut nicht hätte retten können, da er doch ihr zu Hilfe zu eilen vermochte.

Auch wunderten sich andere Zeitungen, daß der Polizeipräsident seine Braut nicht gezwungen hatte, mit ihrer Mutter nach Ameca-Meca heimzukehren. Es lag gar kein Grund vor, dem Starrsinn einer gekränkten unschuldigen Dame nachzugeben und sie in Haft zu lassen, um sie erst am nächsten Tage zu verhören.

Dem antworteten noch am gleichen Abend in den Abendzeitungen die neuen Polizeiberichte: »Der Polizeipräsident stürzte, als er sah, daß die Gefahr des Lynchens nicht mehr von den Gefangenen abzuwenden war, mit zwei geladenen Revolvern auf den Balkon seines Zimmers; dieser Balkon führte auf die Plaza, wo nachts um ein Uhr eine unruhige Menschenmenge wogte. Der Polizeipräsident feuerte die beiden Pistolen in die Luft ab und machte dadurch die untenstehenden Menschen aufmerksam, daß ihm und dem Stadthaus Gefahr drohe.

Wohl an die dreihundert Personen drängten darauf in den Hof des Stadthauses. Man weiß nicht, ob sie mit den neunzehn Abgesandten gemeinsame Sache machen wollten. Als der Polizeipräsident die Mörder nicht mehr zurückhalten konnte und sie bei den Gefangenen wußte, befahl er, daß man die großen Tore des Hofes zum Stadthause schließen sollte, um so den Verschwörern und ihren Mithelfern den Rückweg abzuschneiden. Der Polizeipräsident setzte sich, als er die Schüsse zum Zeichen, daß er Hilfe benötigte, vom Balkon abfeuerte, selbst der Gefahr aus, von den neunzehn Verschwörern ermordet zu werden. Zum Glück waren diese aber nur von dem Willen beherrscht, ihrer Opfer habhaft zu werden, und ließen den Polizeipräsidenten auf dem Balkon die Pistolen abfeuern, ohne ihn weiter zu behelligen. Immerhin ist vor allem der heroische Mut des Polizeipräsidenten zu bewundern, der seine Gefangenen mit eigener Lebensgefahr verteidigte.«

So schloß der Polizeibericht in den Abendzeitungen. Alle diese Berichte erfuhr ich damals nicht mehr, und erst nach vollständiger Genesung las ich die Zeitungsausschnitte, die mich mit den aufregenden Berichten jener Tage der Unklarheit und der Widersprüche bekannt machten.

Schon der zweite Tag brachte dann eine seltsame Notiz der Morgenzeitung: »Es hat sich ein Messerschmied gemeldet. Er behauptet, daß am Unabhängigkeitstag, nachmittags um drei Uhr, ein auffallender Mann, in dem er den Polizeipräsidenten zu erkennen glaubte, neunzehn Messer bei ihm eingekauft habe. Da der Laden des Festtages wegen geschlossen war, bediente er den Käufer im halbdunkeln Laden. Der Messerschmied kann darum nicht genau bestimmen, wie der Mann aussah, den er vor sich hatte. Aber der Verkauf von neunzehn Messern am Feiertag war ihm sehr auffallend gewesen. Auf der Polizei hat man dem Messerschmied keinen Glauben schenken wollen und ihm auch die Erlaubnis verweigert, die Messer zu besichtigen, mit denen der Lynchmord begangen wurde.«

Noch den ganzen Tag kreuzten sich die Ausreden der Polizeiberichte mit den Gegenzweifeln in den Zeitungen. Man konnte aber an jenem zweiten Tage nach dem Doppelmord noch nicht annehmen, daß über Nacht plötzlich das ganze Mordgewebe klargelegt würde.

Die Zeitungen alle waren sich am zweiten Tag darin einig, daß die Mörder keine Volksabgesandten gewesen seien. Ebenso habe nachts um ein Uhr keine Unruhe im Volk bestanden. Alle Leute, die noch zu dieser Stunde auf der Plaza waren, behaupteten, es hätten da nur friedliche Indianergruppen um kleine Holzkohlenfeuer gesessen, und die hätten keinen Sinn fürs Lynchen gehabt. Es wären nur noch harmlose Landleute und Gärtner aus Santa Anita auf der Plaza gewesen. Die europäische Bevölkerung hätte meistens schon geschlafen.

Unter den dreihundert Menschen, welche man im Hof des Stadthauses fand, war auch nicht ein einziger, der eine Ahnung hatte, daß man im Stadthaus zwei Lynchmorde beging. Alle dreihundert waren erst herbeigeeilt, als der Polizeipräsident die Schüsse vom Balkon abfeuerte. Es war nur menschliche Neugier gewesen und kein einiger Volkswille oder Rachegedanke oder gar »der heilige Wille der Nation«, der diese dreihundert Neugierigen von ihren Mandolinen fort nach dem Stadthause getrieben hatte.

Der Vorgang blieb am Dienstag abend noch ein Rätsel.

Die neunzehn schwarz maskierten Männer, die niemand kannte, die von keinem Volkswillen gewählt waren, die aber trotzdem Verschwörer sein mußten, begannen die ganze Hauptstadt mehr zu entsetzen, als der schwache Attentatsversuch am Präsidenten der Republik es getan hatte. Niemand fühlte sich jetzt mehr sicher; wenn der Polizeipräsident, umgeben von der ganzen Polizei, nachts im Stadthause nicht mehr sicher vor neunzehn maskierten Meuchelmördern war – wer sollte sich dann noch in der Hauptstadt sicher fühlen?

Die Zeitungen fingen an zu höhnen. Andere sagten laut, die Mörder müßten vom Präsidenten der Republik selbst abgeschickt gewesen sein, damit dieser kein Todesurteil zu fällen brauche.

Aber auch diese Behauptung war unhaltbar, denn der Attentatsversuch am Nationaltag hätte gar keine Erschießung des Attentäters zur Folge haben müssen, da der Präsident nicht einmal verwundet worden war und es nicht einmal erwiesen war, ob der Attentäter überhaupt den Präsidenten der Republik hatte töten wollen. Viele behaupteten jetzt, jener habe nur einen Stein aufgehoben und getan, als wolle er werfen; er habe nur die Aufmerksamkeit des Präsidenten auf sich ziehen wollen. Er habe gar nicht ausgesehen, als sei es ihm unlieb gewesen, daß man ihn verhaftete. »Heute verhaftet mich die Polizei, morgen lasse ich einen Polizeipräsidenten verhaften!« hatte er gerufen.

Der Gefangene behauptete ebenso wie Fräulein Orla von ***, daß er am nächsten Tag, wenn er verhört würde, großartige Enthüllungen machen werde.

Und dieser Mann, der bei der Gefangennahme vor allen Leuten bei der Truppenrevue ausrief, er werde morgen den Polizeipräsidenten verhaften lassen, dieser selbe Mann wurde nachts, ebenso wie die Braut des Polizeipräsidenten, sozusagen unter den Augen der Polizei ermordet. Das schien auffallend und gab zu denken. Erstaunlich war, daß nicht am gleichen Nachmittag nach Einlieferung der beiden Verhafteten ein Vorverhör im Stadthause, wie sonst üblich, stattgefunden hatte.

Der Polizeibericht redete sich aber darauf hinaus, man habe die Attentäter, welche sich durch die Verhaftung in überreiztem Zustande befunden hätten, sich erst noch ausruhen lassen wollen, damit sie nicht in der Überreiztheit unwahre Aussagen machten. Auch hätte man die Beamten des hohen Nationaltages wegen nicht gerne bemühen wollen und habe deshalb das Verhör auf den nächsten Tag verschoben.

Am Mittwoch aber erschien die Aufklärung in der größten Morgenzeitung mit der sensationellen Überschrift: »Neunzehn Polizisten, vom Polizeipräsidenten verleitet, sind die Schuldigen des Doppelmordes im Stadthause, begangen an zwei wehrlosen Verhafteten.«

»Das Geständnis eines des Polizisten, der sich, von Gewissensbissen getrieben, heute morgen auf unserer Redaktion einfand und uns den Sachverhalt erklärte, folgt hier:

Am Nachmittag des Nationalfesttages, nachdem der Mann, der einen Attentatsversuch auf den Präsidenten der Republik begangen haben sollte, im Stadthause eingeliefert war, ließ mich der Polizeipräsident zu sich rufen und fragte mich, ob ich dem Präsidenten der Republik einen großen Dienst erweisen und mir dadurch eine Auszeichnung verdienen wollte. Dann sollte ich mich in die Zimmer der beiden Verhafteten begeben und diese mit zwei Pistolen, die mir der Polizeipräsident einhändigen wollte, erschießen. Der Präsident der Republik würde mir dafür immer dankbar sein, denn dann wäre er nicht genötigt, zwei Todesurteile zu unterzeichnen.

Man müsse aber den Mord so arrangieren, daß ich unentdeckt bliebe und man sagen könne, ein Fanatiker aus dem Volk sei in die Haftzimmer eingedrungen und habe die Verhafteten erschossen. Nach dieser Tat könne ich für immer der Gunst des Polizeipräsidenten versichert sein. Er würde mich reichlich belohnen und mich auch schnell im Amte befördern.

Ich zeigte keine Bedenken, da ich mich keines Mordes dadurch schuldig zu machen glaubte, wenn ich Verhaftete erschoß, die doch zum Tode verurteilt würden. Der Polizeipräsident überlegte aber nochmals das Ganze und sagte mir: damit ich sicher ginge, sollte ich achtzehn meiner Kameraden auswählen. Man müsse das Ganze dann so ausführen, als sei eine Volksmenge in das Stadthaus eingedrungen und habe die Verhafteten gelyncht. ›Neunzehn Mann wären leicht zu finden‹, sagte ich dem Polizeipräsidenten. ›Ich finde hundert, wenn Sie wollen, die dem Präsidenten der Republik diesen Dienst leisten möchten.‹

›Es ist eine Ehrentat, die Ihr an Schandtätern verrichtet‹, hat dann der Polizeichef zu mir gesagt.

Ich kaufte am Nachmittag die neunzehn Messer ein. Wir neunzehn Polizisten, ich und die achtzehn Kameraden, die ich ausgewählt hatte, und die sofort begeistert dem Präsidenten der Republik und dem der Polizei gehorchen wollten, beeilten uns; wir maskierten uns, und abends um elf Uhr drangen wir in die Zelle des Verhafteten. Dieser wehrte sich nicht. wir warfen ihn auf den Rücken und stießen nacheinander die neunzehn Messer in seinen Körper und ließen die Messer in seinem Leichnam stecken.

Den Mord an der verhafteten jungen Dame aber haben wir nicht begangen; der Polizeipräsident hat sie mit eigener Hand erwürgt.

Da alles scheinbar im Auftrag des Präsidenten der Republik und unter den Augen des Polizeipräsidenten geschah, waren wir guter Dinge.

Nachts um ein Uhr aber waren wir ohne Masken; als der Präsident die Signalschüsse vom Balkon des Stadthauses auf die Plaza abfeuerte, trieben wir das harmlose Volk, das unter den Bäumen friedlich lagerte, zu Haufen in das offene Tor des Stadthauses, indem wir die Kunde verbreiteten, es wäre ein Attentat auf den Polizeipräsidenten begangen worden. Die ahnungslosen Neugierigen drängten gar nicht sehr zum Stadthaus hin, wir mußten sie immer wieder anfeuern und überreden; bis ungefähr ein paar hundert friedlicher Menschen scheu in den Stadthaushof eingedrungen waren, bedurfte es vieler Überredungskunst. Dann schlossen wir die Tore hinter den Leuten. Allen Eingeschlossenen wurden ihre Namen und Adressen abgefragt. Einige wenige wurden zum Schein verhaftet, die anderen ließen wir wieder laufen. Dabei verbreiteten wir eifrig die Kunde von den neunzehn schwarz maskierten Männern, welche die zwei Verhafteten gelyncht hätten.

Aber wir fanden wenig Glauben; die sanften Indianer lächelten nur und gingen zurück auf die Plaza zu ihren Feuern und Mandolinen.

Wir neunzehn lebten nach dem Mord in einer Selbstberauschung, immer von dem Glauben getragen, daß wir nur einem im Namen des Präsidenten der Republik zum Tode verurteilten den Tod gegeben hatten, den der Verhaftete doch früher oder später durch öffentliches Erschießen gefunden hätte.

Erst in diesen drei Tagen sahen wir allmählich ein, daß wir Mörder und keine Richter gewesen waren. Seit wir wissen, daß der Präsident der Republik diesen Akt der willkürlichen Hinrichtung der Gefangenen nicht befohlen hat und nicht gutheißen will, und seit man uns in allen Zeitungen mit dem Wort Meuchelmörder bezeichnet – seitdem sehe ich immer das arme Opfer vor mir, den Mann, der sich widerstandslos niederwerfen ließ und keine Ahnung hatte, daß er ermordet werden sollte. Erst als jeder von uns sein Messer unter dem Mantel vorzog, schrie er auf und rief: ›Oh, ich weiß es, der Mörder des Abbés hat euch gedungen, aber ich schwöre: ich bin unschuldig. Er hat mich überredet, ihm Gift zu verschaffen, um ein Pferd zu vergiften, aber als er das Gift hatte, verlangte er, daß ich mich bei dem Abbé als Diener einschleichen und ihm das Gift beibringen sollte. Ich habe den Abbé nicht vergiftet – ich bin unschuldig! Ich schwöre es, daß ihr einen Unschuldigen umbringt!‹

›Du bist schuldig!‹ riefen wir neunzehn theatralisch, so wie der Präsident, unser Chef, es uns gesagt hatte, und dann erstachen wir den Wehrlosen trotz seiner Bitten und ließen die neunzehn Messer in seinem Leib stecken.

Ich bereue jetzt meine Tat bitter. Ich kann nicht mehr schlafen, ich kann nicht mehr ruhig essen und trinken, überall sehe ich den Ermordeten, und immer höre ich seine Worte: ›Der Mörder des Abbés hat euch gedungen!‹

Deshalb, um Ruhe zu finden, kam ich auf die Redaktion, um alles zu gestehen, und um mir durch mein Geständnis mein Gewissen zu erleichtern.«

Diese einfachen Worte eines Polizisten, der aber seine Kameraden nicht nennen wollte, veranlaßte alle die anderen achtzehn, daß sie noch am Nachmittag auf dieselbe Zeitungsredaktion gingen und ihr Geständnis in gleicher Weise wie der erste ablegten.

Am nächsten Vormittag wurde die Gefangennahme des Polizeipräsidenten bekannt, am Nachmittag die der neunzehn Polizisten. Der Polizeipräsident wiederholte, als er von dem Geständnis der neunzehn gehört hatte, er habe dem Präsidenten der Republik einen großen Dienst leisten wollen. Dann aber meldete sich der Kammerdiener des Polizeipräsidenten, welcher plötzlich aussagte, er habe dem Abbé, dem Beichtvater der Braut des Präsidenten, beim Frühstück eine Tasse Tee servieren müssen; der Polizeipräsident hatte ihn beauftragt, vorher ein Pulver, das er vom Polizeipräsidenten erhalten habe, in den Tee zu tun; angeblich sei das ein Magenpulver gewesen, das der Abbé gewohnt gewesen wäre, jeden Morgen beim Frühstück einzunehmen. Kurz danach habe sich der Abbé während des Frühstücks plötzlich erhoben und gesagt, er habe zu Hause seinen Schreibtisch nicht abgeschlossen, er wolle rasch in eigener Person nach Hause gehen und seine Papiere verschließen. Dabei sei der Abbé schon blaß gewesen, und er sei auch nicht weit gekommen, sondern schon an der nächsten Straßenecke tot zusammengestürzt. Wahrscheinlich habe er das Gift im Tee herausgeschmeckt und habe nur zu einer Apotheke eilen wollen, um ein Gegengift einzunehmen. Aber der Tod ereilte ihn vorher. Auf seiner einen Manschette fand man die Worte gekritzelt: »Ich bin vergiftet worden, es war Gift in einer Tasse Tee...« Mehr sagt die gekritzelte Schrift nicht, wahrscheinlich hatte der Abbé das unterwegs geschrieben, als er zur Apotheke eilte.

Nach der Aussage des Kammerdieners des Polizeipräsidenten war kein Zweifel mehr, daß in dem Polizeichef ein vielfacher Mörder verhaftet worden war.

Der Polizeipräsident hatte sich von einem Individuum Gift verschafft und dieses Individuum aufgefordert, daß es den Beichtvater seiner Braut umbringen solle. Als sich der andere weigerte, beging er die Tat selbst, um den Abbé los zu sein, der seine Braut von der Verlobung abbringen wollte, und der als Beichtvater zuviel von der Welt wußte, die den Polizeipräsidenten kompromittieren konnte. Kaum war dieser Mord geschehen, so sah er ein, daß er nichts erreicht hatte; er mußte von seiner Braut hören, daß sie einen andern Mann, einen Europäer, gewählt habe, mit dem sie zusammen Mexiko verlassen wollte. Er wußte,. daß sich seine Braut mit dem Mann, der ihm das Gift verschafft, ins Einvernehmen gesetzt hatte, und daß dieser bei der Truppenrevue dem Präsidenten der Republik in Gegenwart aller Leute eine Anklage überreichen sollte, die den Polizeipräsidenten als den Giftmörder des Abbés erklärte. Ihm, dem Manne, der das Gift zur Vergiftung eines Pferdes geliefert hatte, konnte dabei nichts geschehen, aber der Polizeipräsident konnte von der Tribüne weg arretiert werden und keine Zeit zur Flucht gewinnen. So hatte der Giftverkäufer kalkuliert. Und Orla hatte ihm brieflich versichert: wenn er den Mörder ihres Vaters dem Präsidenten der Republik anzeigen würde, sollte er die Hälfte ihres ungeheuren Vermögens erhalten. Denn der Mann hatte nach dem Todes des Abbés wieder an Orla geschrieben und versichert, er hätte, als er das Gift beschafft und dann gehört hatte, daß es der Polizeipräsident zur Vergiftung des Abbés benützen wolle, den gemeinen Gedanken gehabt, aus diesem Wissen Nutzen zu ziehen; er hätte die Drohbriefe an sie und den Abbé geschrieben, um dadurch Geldsummen zu erpressen. Wenn sie ihm Geld geschickt hätte, würde er sie vor dem Gift des Polizeipräsidenten gewarnt haben. Er selbst war ein heruntergekommenes Subjekt, einst ein Schulkamerad des Polizeipräsidenten; und da er ein studierter Chemiker war, wurde er von diesem immer zu Rate gezogen, wenn er irgendein Geheimmittel brauchte.

Am Ende der Schreckenswoche, die dem Nationalfest mit täglichen Verbrecherenthüllungen gefolgt war, las man in allen Zeitungen, Freunde des Polizeipräsidenten hätten diesem in einem ausgehöhlten Brotlaib eine geladene Pistole ins Gefängnis geschickt. Und der so viel besprochene vielfache Mörder wurde sein eigener Mörder. Es war vielleicht die einzige heldenhafte Tat, die er in seinem Leben begangen hat, daß er den Mut fand, sich selbst aus dem Leben zu schaffen.

Diese Zeitungsnachrichten und ausführlichen Berichte über die Morde am Unabhängigkeitsfest wurden mir vom deutschen Gesandten, dem Grafen L., langsam und schonend in der Zeit meiner Genesung beigebracht. Ich war durch meine Krankheit so weit von allen Ereignissen fortgerückt worden, daß ich mich manchmal nur schwer auf Orlas Gesicht besinnen konnte; es war von den Fiebererscheinungen, von den Bildern, die ich in der Krankheitszeit fortwährend vor meinem Gehirn vorbeirasen sah, verjagt worden. Ich dachte viel über Orla nach und sagte mir zuletzt: das Schicksal hat unsere Vereinigung nicht gewollt. Sie hätte sich wahrscheinlich in Europa niemals heimisch gefühlt, sie, die waghalsige Tochter eines Abenteurerlandes, die großzügige mutige und eifrige Pferdeliebhaberin – sie hätte Europa zu eng, zu alt empfunden, so wie mir meine kleine Nichte in Philadelphia, die Einladung Europa zu besuchen, mit den Worten ausgeschlagen hatte: »Was soll ich dort in dem alten Europa?! Bleib du lieber bei uns!« – Mexiko, das mir in Orla verkörpert entgegengetreten war, schien mich jetzt längst verlassen zu haben. Seit Orla tot war, schien ich nicht mehr in Mexiko zu sein. Nur meine Koffer standen noch hier – meine Seele war längst wieder nach Europa zurückgekehrt. Und mit den anderen Koffern würde mir auch der Koffer meiner Seele, mein Leib, bald nachgeschickt werden.

Wenn ich an die Stunden dachte, wo ich damals in dem Salon des Gesandten morgens, im Elefantenledersessel sitzend, die Zeitung zugereicht erhielt, wo kurz erwähnt stand, daß Orla von *** im Haftlokal erwürgt aufgefunden worden war –da sehe ich nur noch, ehe das Riesenfeuerwerk meiner Gehirnexaltation begann, den Ledersessel, der mir schien, als wäre er die Kinnlade des Menschenfressergottes von Ixtapalapa; der Sessel sah aus, als bewege er sich und könne mich wie ein offenes Maul zerkauen. Es war mir, als säße ich zwischen den Kinnladen des Menschenfressergottes. Dieser hatte Orla bereits verschluckt und begann nun auch mich mit seinen Kiefern zu bearbeiten. Ich sah dann das Feuer von der Decke regnen, als wäre es der Atem des Menschenfressergottes, der rote Funkenmeere durch die Luft streute, wie das Feuerwerk des Nationalfestes nachts auf der Plaza, wo ich zwischen Indianern, Mandolinen und Feuerbecken gewandert war, ohne zu ahnen, daß sie, nach der ich mich stündlich sehnte, vielleicht vom Sternenhimmel auf mich herabsehen konnte, so wie die Ahnen der Indianervölker, deren Augen ich zwischen den Bäumen als Sterne zu sehen glaubte. Sie lag als Leichnam in jener Nacht mir ganz nah, hinter den Bäumen, in dem langen einstöckigen Stadthaus, dessen Balkone noch mit den Fahnenbündeln geschmückt waren, und auf dessen langem, flachem Dach die Reihen der Fahnenstangen aufgerichtet standen und ihre Leinwand regungslos hängen ließen; die Mitternachtluft war friedlich und atemlos wie die Tote gewesen, die dort oben im Stadthaus unter dem fahnengeschmückten Dach ohne Atem lag, und die zwischen den Mandolinen bei den Indianern unter den besternten Parkbäumen mich aufgesucht hatte, die neben mir ging, ohne sich bemerkbar machen zu können, die des Nachts neben mir war, als ich den Telephonkasten an meinem Bett anstarrte und nicht schlafen konnte vor ratloser Unruhe.

Alles dieses durchdachte ich in der Zeit meiner Genesung, und oft, wenn das Kleid der Krankenwärterin hinter mir rauschte und ich die Schwester im Zimmer leise hantieren hörte, mußte ich mich rasch umsehen, ob nicht doch vielleicht Orla wiedergekommen war. Hier in dem Lande der plötzlichen Schrecknisse wäre vielleicht auch das Wunder der plötzlichen Wiederkehr einer Toten mir gar nicht so wunderbar erschienen. – Ich hatte bis jetzt noch keine Träne vergießen können. Es war, als wäre mein Herz zugemauert. Meine Augen lebten getrennt von meinem Herzen. Sie sahen scheinbar alles; aber sie waren argwöhnisch und kalt geworden. Sie waren wie Fernrohre, die alles sehen und nichts behalten. Sie sahen zurück in die letzten Wochen und stellten sich auf die Gegenwart ein und starrten geradeaus in die Zukunft, aber sie sagten nicht: »Oh, wie traurig, oh, wie weh«, oder: »Oh, wie einsam«, und nicht: »Oh, wie wir leiden«. Meine Augen hatten die Sprache verloren. Es war mir gleichgültig, ob ich in den Himmel sah, der jetzt nachmittags nicht mehr regnete, der jetzt immer blaue, klare Ewigkeit war; die Augen sagten auch nichts, wenn sie Menschen sahen: wenn der Gesandte an meinem Krankenstuhl mit mir plauderte, wenn die Krankenschwester mir meine Briefe aus Europa vorlas, wenn es Abend wurde, oder wenn der Gesandtschaftsattaché drüben im Gesellschaftssaal Beethoven, Brahms und Wagner spielte. Meine Augen sahen die Welt an, als liege sie hinter der Glasscheibe eines Schaufensters und sei nur ein Schaugericht und kein persönlicher Besitz mehr. Das Leben ging nur mit dem Zeiger der Uhr im Kreise an zwölf Stunden täglich vorüber, und meine Augen sahen wie die Räder des Uhrwerks nichts von dem Leben, dem die Stunden dienten. Ich fragte den Arzt eines Tages, wie das mit mir werden solle, wenn ich gar keinen Wert des Lebens mehr begreifen lernen würde. Es war mir ganz gleichgültig, ob ich aß, ob ich trank, ob ich mich wohl oder unwohl fühlte; gab man mir nichts zu essen und zu trinken, so vergaß ich, es zu verlangen, da ich nach den ausgestandenen Schrecknissen kein Empfinden mehr für irgendeine Lebensregung spürte.

Der Arzt fragte, ob ich ein Lied oder eine Musik kenne, die mich früher besonders erschüttert habe. Musik heile die Apathie am besten und würde vielleicht die Trauer auslösen, die Tränen, die ich nicht weinen konnte. Ich bat, man möge die Indianerin rufen, die abends immer an der Glorieta Pasteten verkaufte; sie solle unter meinem Fenster im Hof ihren Sang singen.

Sofort erfüllte man mir den Wunsch.

Mein Krankenstuhl wurde ans Fenster gerollt.

Gegen Abend, als die Krankenschwester eben fortgegangen war, denn ich brauchte sie nur noch am Tage, da kam der Arzt zu mir und plauderte wie jeden Abend ein Stündchen.

»Erschrecken Sie nicht,« sagte er, »die Indianerin tritt eben in den Hof, ich sehe sie bei den Kallablumen des Parkteiches vorbeikommen. Sie wird jetzt unter dem Fenster singen.«

Die Indianerin sang:

» Tomales caliente, con carne, con dulce – ehee...«

Ich hörte es und hörte es doch nicht.

Sie sang drei-, viermal und entfernte sich singend.

Ich erhob mich nur unwillkürlich im Krankenstuhl und stand zum erstenmal auf und ging ans Fenster. Ich sah das Pastetenbrett über einem Lorbeerbusch wandeln. Die Indianerin sah ich nicht mehr, sie ging, vom grünen Lorbeer versteckt, nach dem Parkausgang. Ich hörte das Parktor knirschen, dann fiel das eiserne Gitter ins Schloß.

»Soll sie zurückkommen und nochmals singen?« fragte der Arzt.

Ich schüttelte den Kopf. Ich verstand nicht, warum ich das hatte höre wollen. Hier in der Gesandtschaft, hier in den Mauern, die für mich Europa repräsentierten, verstand ich nichts mehr von der Wollust dieses einfachen, naturlautartigen Rufes, der mir früher so sehr zu Herzen gegangen war.

»Aber Sie können wieder auf Ihren Füßen stehen und zittern nicht – das wenigstens hat der Sang der Indianerin erreicht«, so tröstete der Arzt mich und sich. Und dann bot er mir seinen Arm und führte mich langsam auf die Dachterrasse der Gesandtschaft.

Über die Welt von Dächern fort konnte ich hier oben noch den letzten Rest des Sonnenuntergangs sehen.

Am östlichen Horizont lagen der Ixtaccihuatl und der Popocatepetl, beide vereist, schimmernd wie irisfarbene große Brocken von Opalsteinen. Weiß, gespensterhaft lag das Profil des Ixtaccihuatl, dessen Name »weiße Frau« bedeutet – weiß wie das Profil einer Toten, die da am Erdrand aufgebahrt lag, und der das gelbe Sonnenlicht wie gelbes Haar niederfloß.

»Kannten Sie nicht ein junges Astronomenehepaar?« fragte mich in diesem Augenblick der Medizinalrat. Ich sah, daß ihn das Profil des Ixtaccihuatl, der weißen Frau, die dort mit weißer Stirn und gelbem Goldschein ausgestreckt lag, an die Frau des jungen Astronomen erinnerte; und ich war gar nicht überrascht, denn ich selbst hatte bei dem abendgelben Berg sofort an die messingblonde Frau gedacht. Der Medizinalrat erzählte mir, er habe gehört, der junge Astronom habe sich eine Sternwarte in einem der Gärten von Cuautla, einem kleinen Flecken in den Halbtropen, bauen wollen, und er und seine Frau lebten schon länger dort in einem Garten. Ob ich nicht Lust hätte, noch einmal Cuautla und meine Bekannten dort vor meiner Abreise zu besuchen.

O ja, ich hatte plötzlich beim Einatmen der kühlen Eisgeruchluft, die im Abend da von den beeisten mächtigen Kratern kam, große Lust zu einem Besuch bei alten Bekannten. Ich sehnte mich, Menschen zu sprechen, die mit mir von Europa gekommen waren. Ich wollte einmal die Apollohymne hören und wollte diesen Menschen, denen es geglückt war, hier in dem Lande des Menschenfressergottes sich ihr Glück zu gründen, Lebewohl sagen. Um nicht ganz zerstört aus diesem Lande zu gehen, wünschte ich mir, doch wenigstens hier noch einmal ein glückliches Menschenpaar gesehen zu haben.

Acht Tage später war ich auf dem Wege nach Cuautla. Der Medizinalrat hatte mich begleiten wollen, ich aber lehnte es ab. Ich war jetzt ganz gestärkt, ich wünschte ein wenig mit mir allein zu reisen.

In Cuautla, das eine halbe Tagereise von der Hauptstadt Mexiko liegt, mietete ich mir beim Gasthofbesitzer ein Pferd und einen Führer. Der Weg ging durch ein trockenes Bachbett, durch Zuckerrohr und Maisfelder und Agavenpflanzungen. Man hatte mir gesagt, daß die Gärten, von denen der Astronom einen gemietet hatte, zu einer Hazienda gehörten; und wenn ich auf dieser, die einige Stunden von Cuautla lag, fragen würde, dann könnte ich erfahren, wo die neue Sternwarte stände.

Gegen Mittag erreichte ich die hohen Mauern der Hazienda. Die Gebäude waren früher ein spanisches Kloster gewesen und standen groß und mächtig auf einer Anhöhe. Gackernde Hühner, Schweineherden und Maulesel trieben sich am Weg herum; auch hörte ich das Summen von Maschinen. Die Zuckerrohrernte war in vollem Gange, und überall am Wege, wo mir Leute begegneten, nutschte jeder: Kind, Mann und Frau, an kurzen Stengeln Zuckerrohr. Göttliches Land, dem die Süßigkeit vom Feld in den Mund wächst, wollte ich sagen – da kam mir aus dem Tor einer der Aufseher entgegen. Hinter ihm im weiten Hof standen die Wagen mit geschnittenem Zuckerrohr belastet; in der ehemaligen Klosterkirche war das Dach von Schornsteinen durchbrochen, und darunter in dem Kirchenschiff sausten die Transmissionsriemen, Kessel bei Kessel war aufgestellt, darin der Zuckersaft gesotten, gereinigt, gepreßt und gekühlt wurde. Ich war vom Pferde gestiegen, und ehe ich noch sprechen konnte, blieb ich schweigend vor dem tobenden Maschinengetöse stehen, das aus den Pforten der Barockkirche dröhnte, als wäre die Hölle in den Himmel eingezogen. Die Mauern und der Erdboden zitterten unter dem Eisensummen und unter dem Schwirren der Eisenräder und der sausenden Transmissionsriemen.

»Können Sie mir sagen, so die neue Sternwarte ist? Sie soll in einem der Gärten der Hazienda liegen.«

»Oh–oh–oh«, machte der Aufseher und fragte: »Sind Sie vielleicht ein Verwandter des verstorbenen jungen Astronomen?«

Ich glaubte, ich hätte in dem Lärm, der aus der Kirche kam, nicht richtig gehört. Und ich wiederholte die Frage nach der Sternwarte.

»Der ist tot, junger Mann. Die Frau hat ihn vor acht Tagen in der Hauptstadt Mexiko begraben, schrieb sie hierher. Die Sternwarte ist noch gar nicht gebaut. Der junge Deutsche bekam jeden Abend Fieber. Und als das junge Ehepaar den Garten bezog, da dauerte es nicht lange – keine vier Wochen waren sie hier –, dann mußte die Frau ihren Mann nach der Stadt Mexiko in ein Spital überführen. Dort ist er vor ein paar Tagen gestorben. Auch die junge Frau sieht nicht aus, als ob sie den Mann lang überleben würde: sie ist von allen Schrecken und Sorgen, die sie mit ihrem Mann hatte, sehr mitgenommen; und der Arzt hatte beiden geraten, schleunigst nach Europa zurückzukehren. Sie hatten auch schon ihre Schiffsplätze bestellt und wollten reisen, da wurde der Mann ganz plötzlich so sehr vom Fieber gepackt, daß man ihn nur noch nach der Stadt bringen konnte. Aber an eine Abreise übers Meer war nicht mehr zu denken. Wer weiß, vielleicht kommt auch die junge Frau nicht mehr nach Europa zurück; sie sieht nicht aus, als ob sie ihren toten Mann noch lange überlebt.«

Ich nickte, als ob ich derselben Meinung wäre, und mußte an das rotweiße Profil des Ixtaccihuatl denken, der im gelben Abendlicht einer toten Frau mit blonden Haaren glich. Und ich wunderte mich auf einmal, daß ich beim Anblick des weißen Frauenprofiles nicht an Orla, sondern an die blonde Astronomin gedacht hatte. Vielleicht war ihr Mann gerade zu jener Abendstunde in Mexiko gestorben, als ich auf dem Dach des Gesandtschaftshauses stand. Vielleicht ist auch sie selbst schon tot. Ich nickte und bot dem Aufseher eine Zigarre an. Und ich ließ mich dann von ihm durch das Schiff der Kirche führen, wo an Stelle der Beichtstühle, der Chorbänke und des Altars die Zuckerpressen und die Kessel und Zuckermühlen standen, wo statt der Stille und der Gebete die Wucht der Arbeit, die Tatkraft und der Gegenwartswille einsetzten, energisch, unerschütterlich, deutlich und fruchtlos. Die Mönche und der Geist der freiwilligen Entsagung waren verdrängt vom Arbeiter und vom Geist der Lebensbehauptung.

Hier war das neue Europa. Hier der Lärm unserer Tage. Hier fühlte ich mich kräftig werden, ich bekam Arbeitslust, und mein Blut geriet mit den Rädern der Maschinen in frische Schwungkraft und frischen Kreislauf.

Der Anblick des gepflegten Stahls der Kessel, der Zahnräder, der Anblick der Arbeiter in ihrer sachlichen, schlichten blauen Leinentracht, der eiserne Eifer mitten in der satten Tropenlandschaft machte mich frei von aller Schwäche. Ich konnte nicht einmal den Tod des jungen Astronomen so sehr betrauern. Ich überdachte nur, daß ich nun mit dem nächsten Schiff zurück in die nüchterne Maschinenzone, die sich Europa nennt, sehnlichst heimzukehren wünschte. Ich fühlte nichts als dringliche Sehnsucht nach einfachen deutschen Waldbäumen, Sehnsucht nach rußigen Städten, wo die Schornsteine der Fabriken starrten und Menschen in Selbstzucht, ohne Götzen, ohne überreizte Abenteuerlust, ohne Krater, ohne Pistolen in den Gürteln, einfach, streng und arbeitstüchtig Bürger von Europa waren. Ich dankte den Maschinen und ihrem kräftigenden Lärm in der hohen Kirche und schüttelte dem Aufseher die vom Maschinenöl und vom Ruß gutmütig und ehrlich verarbeitete Hand.

Dann stieg ich auf mein Pferd und ritt, vom indianischen Führer begleitet, nach Cuautla zurück.

Beim Herritt hatte ich die Gegend nur flüchtig beachtet, ich hatte immer über die Spitzen der zartgefiederten Blätter der Zuckerrohrstauden hinweg den Himmelsrand nach der Hazienda und nach der Sternwarte abgesucht. Nun erst beim Heimweg, als es dunkel wurde und die Erde den Abend grau wie einen Dunst ausatmete, sah ich von der Mähne meines kleinen mexikanischen Pferdchens auf. Der Weg war überwölbt von hohen Königinnenpalmen. Die weißen Schäfte dieser Palmen standen wie Marmorsäulen am schmalen Weg. Dichtes Unterholz voll wilder Zitronenbüsche, voll grüner Zitronen füllte die Räume zwischen den Palmen. Der Aufseher vorhin in der Hazienda hatte mich einen Augenblick aus der Kirche fort in den einen der Fruchtgärten geführt, den der gestorbene Astronom gemietet hatte, und wo die Sternwarte hatte errichtet werden sollen. Solch ein Garten war eigentlich ein Fruchtwald. Die Stauden und Bäume standen so dicht, daß die Bündel brauner, roter und gelber Bananenfrüchte von den korallenroten Beeren der graziösen Kaffeebäume gestreift wurden; darunter quollen aus der Erde die stacheligen Ananasfrüchte inmitten von blaugrünen steifen Lederblättern; zitronengrüne und hellgelbe Orangen, bernsteingelbe Mangofrüchte und die langen schönen Schoten der Brotfrüchte drückten sich durcheinander. Der Indianergärtner dieser Fruchtpflanzungen hatte nichts zu tun, als nur die handbreiten Bewässerungsfurchen, die den Garten wie ein rieselndes Wassernetz durchzogen, in der Erde mit einem Stückchen Holz zu regulieren. Geerntet wurde hier das ganze Jahr hindurch, alle Fruchtbäume trugen Früchte und Blüten, frische grüne Blätter und welkes Laub zu gleicher Zeit.

Der Sommer, der Herbst und der Frühling hingen an allen Zweigen dieser Bäume um mich. In diesem Garten war keine Blume – nur Früchte und Fruchtblüten strotzten über mir, unter mir und um mich her. Man hatte von keinem Weg eine Aussicht, man sah immer nur wieder in Dickichte von Fruchtbäumen, die so eng wuchsen wie manche Nadelholzpflanzungen in deutschen Wäldern, darinnen sich die Bäume so stark beschatten, daß sie einander ersticken.

Dieses bedachte ich jetzt nochmals und erkannte, daß die Welt in Mexiko doch auch reicht und üppig sein konnte; wunderbar fleischig hatte mich der Fruchtgarten angesehen, und niemand hätte geglaubt, daß er durch seine feuchte Treibhauswärme und durch seine gärenden Fruchtsäuren dem letzten Besitzer, dem jungen Astronomen, den Fiebertod gegeben hatte, weil auch die fruchtgütigste Erde hier dem Europäer das Heimatrecht verweigert.

Es wurde nicht Nacht. Der Schein des aufgehenden Mondes stand hinter den Sträußen der Palmen, und immer, wenn ich unter einer Palme hinritt, war die Luft darunter warm wie in einem Haus, außerhalb des Bereiches der Palmenkrone aber war die Luft abendkühl. Der Zitronenduft löste sich zudringlicher von den Büschen des Unterholzes. Bald ritt ich durch buschigen Zitronenwald, der grau im Mondschein wie ein Nebel neben mir lag, und atmete so reichen Duft ein, daß mir schwindelig wurde. Der Zitronenduft und der Duft von Orangenblüten erinnerte mich an den Geruch eines Hochzeitskranzes und Hochzeitsstraußes. Wo war die Braut, der dieser Kranz und dieser Strauß gehörten? Das weiße Gesicht des Mondes stieg aus dem Unterholz. Der Mond machte meine kaum genesenen Nerven noch schwindeliger als der Orangenblütenduft. Ich sah die weißen Stämme der Königinnenpalmen wie silberne Leuchter zu beiden Seiten des Weges stehen. Der Weg war weich von tiefem grauen Staub, und die Pferde schritten lautlos wie auf Watte über die Erde, nur die Metallteile des Pferdegeschirres klingelten. Es war wie ein Geisterritt durch Orangenblüten, durch warme Palmen, durch kühles Licht, über dumpfen Staub. Aus den Palmen stiegen große grünliche Glühkäfer, gingen wie die Flammen von Kerzen über das Unterholz, kamen vereinzelt über den Weg; ein Licht blieb mir vor dem Gesicht stehen, ich sah es als grünlich klaren Körper wie ein fliegendes Auge, das aus einem Schädel fortgeflogen wäre und phosphorn, ohne Herz und ohne Hirn, seinen Weg über die Orangenbüsche suchte.

»Tote gehen um!« dachte ich einen Augenblick, und ich wunderte mich, daß ich nichts fühlte, immer noch nichts fühlte, wenn ich die Worte Tod und Tote aussprach. Mein Herz war noch nicht bei mir. Der Schreck hatte es ins tiefste Versteck hinter meine Rippen verscheucht.

Seit der Ermordung Orlas hatte ich kein Herz mehr. Meine Augen gingen immer noch allein ohne Herz wie die Glühwürmer durch die Nacht, die aussahen wie Augen, wie Augen ohne Menschen.

Wenn du erst auf dem Meere bist und jeder Tag dich wieder näher nach Europa zurückbringt, dann kehrt auch dein Herz wieder! – Ich könnte vielleicht mit der armen trauernden blonden Frau reisen, dachte ich jetzt. Wenn sie noch lebte, und wenn sie noch nicht abgereist wäre, wollte ich mit ihr reisen.

Ich ritt Galopp, schlug das Pferd mit der Reitpeitsche und trieb es an, als ob ich dadurch früher aufs Meer kommen könnte.

Der Geruch gebrannten Kaffees drang aus ein paar Hütten am Weg. Einige indianische Herdentreiber waren mit Lassos in den Händen vorher an mir vorbeigejagt und kehrten jetzt hinter mir zurück und trieben einen Stier, den sie aus einer Herde herausgefangen hatten, vor mir her und verschwanden mit ihm hinter Zaunhecken im Mondschein.

Plötzlich mußte ich meine Hände vor mein Gesicht halten. Ich fühlte: die Tränen stürzen aus meinen Augen. Die flüchtige dunkle Silhouette des Stieres und die Lassoreiter hatten mich an das Stiergefecht, an Orla in der Loge neben ihrem Mörder, in die Heimfahrt im Wagen, an die Küsse erinnert, die wir da küßten! Mit einem Ruck war mein Herz in meinen Körper, in mein Blut, in meine Augen, in die Luft um mich, in die Bäume, in die Mondlandschaft gedrungen, heller als das hellste Licht, heißer als mein Blut selbst und weiter und unendlicher sich aus mir loslösend als die Nacht, als der Orangenduft. Nur ein Wirklichkeitsschatten der Erinnerung an die echtesten Minuten hier in diesem Land, an die wenigen hitzigen Küsse und Umarmungen, war mit dem Schatten des vorbeijagenden Stieres auf mein Herz gefallen, und das Herz hatte sein Versteck verlassen, hatte sich verlangend in das offene Weltall gestürzt, sehnsüchtig Liebe von mir fordernd, Hilfe für seine Sehnsucht, und hatte sich wieder preisgegeben dem Durst, dem Verlangen, dem Fordern und dem Trieb zum Leben.

Ich weinte und weinte Tränen der Erlösung, der Sehnsucht, der Trauer, des Vermissens, lebende, rollende, eifrige Tränen, die an meinen Wangen herunter in die Mähne des Pferdes fielen. Ich weinte, über den Hals des Pferdes gebeugt, und fühlte klar mitten im Weinen: nun war ich einsam wie nie, nun war ich wieder ein Liebesuchender, ein Reiter in der Nacht, ohne Herzensziel! – Und ich weinte mich, je länger ich den Tränen ihren Willen gab, desto fester wieder ins Leben zurück. Meine Augen wuchsen wieder mit meinem Herzen zusammen. Und als ich in Cuautla vom Pferde stieg, vor den mondweißen Mauern des Gasthauses, da fühlte ich mich irdischer als am Morgen. Ich wußte nun wieder, was ich verlernt hatte im Schreck und in der Krankheit: daß das Leben Verlust und Gewinn, Blüte, Frucht und welke Blätter hatte, und daß es nicht nur ein Phantom und eine Fiebererscheinung war...

Dies Leben kam wieder gesund zu mir, seit ich den Schmerz um Orla endlich in raschen heftigen Tränen ausbrechen fühlte. Diese Tränen gaben mich wieder dem Empfinden zurück. Denn wo man Schmerz fühlt, ist man auch fähig, Freude zu fühlen, nur die Gleichgültigkeit ist wie ein luftleerer Raum, darinnen der Mensch aufhört zu atmen, und aufhört, daseinsberechtigt zu sein. –

Am nächsten Tag, als ich wieder in der Hauptstadt Mexiko war, teilte ich dem deutschen Gesandten meine Absicht mit, sofort nach Europa zu reisen. Graf L. war erfreut, mich so erfrischt aus Cuautla zurückkommen zu sehen, und auch der Medizinalrat hatte nichts gegen die plötzliche Abreise. Da die Stadt immer noch unter der Aufregung der Gerichtsverhandlung der neunzehn Polizisten stand und alle Tagesblätter die Verhandlungen täglich wiedergaben und alle Welt nur davon sprach, daß der Präsident der Republik nun neunzehn Todesurteile unterschreiben würde, fanden die Herren der Gesandtschaft sowohl als ich selbst, daß eine schleunige Abreise mir gesundheitlich nur von Vorteil sein könnte.

Ich fand aber noch einen Brief von Orlas Mutter vor, die mich bat, nach Tlalpam zu kommen: sie hätte eine große Sehnsucht, mit mir von Orla zu sprechen. Der Brief war aber schon sehr alt und hatte von meiner alten Wohnung an der Glorieta den Weg durchs Polizeibureau genommen und war nun nach vier Wochen erst der deutschen Gesandtschaft übergeben worden. Trotzdem machte ich mich auf den Weg nach Tlalpam. Aber im Augenblick, als der Zug dort in die Bahnhofshalle einfuhr, sagte eine Stimme in mir, daß ich niemand finden würde. Ich ging deshalb gar nicht erst aus dem Bahnhof; der Ort ist sehr klein, und Orlas Mutter war hier durch die letzten Ereignisse jedermann bekannt. Ich fragte den Beamten am Billettschalter: und der konnte mir auch sofort Auskunft geben und sagte mir, daß die Dame, die ich suchte, sich zur Winterkur nach Florida begeben hätte. Bei dem Worte Winterkur fiel mir ein, daß morgen der erste November, der Totentag, war, und daß man hier in dem immergrünen Lande Mexiko nichts von Winter wußte.

Orlas Mutter hatte also die ganze Tragik der Ereignisse und Todesfälle in ihrer Familie schnell überwunden und schnell mit sich abgemacht und war bereits weit fort über den Golf von Mexiko gereist. Ich bedauerte, daß ich nicht erst telegraphisch bei ihr angefragt hatte, und ärgerte mich, daß ich da am Bahnhof von Tlalpam stand. Ich betrachtete plötzlich die Bahnhofshalle genauer, die wie ein langer, weißer, gewölbter, hoher Saal war. Nun sah ich erst, daß ich mich auch hier wieder in der alten Barockkirche eines früheren Jesuitenklosters befand. Der Zug hielt mitten im Kirchenschiff. Die Lokomotive stand wie ein eisernes dampfendes Götzenbild vor den drei Stufen des Hauptaltars. Der Altar war verschwunden, an seiner Stelle stand eine Weichenwärterzelle, eine armselige Holzhütte, aus der ein magere Mann trat und mit einer Signalfahne winkte, damit der Zug rückwärts fahre und auf das Nebengleis rangiere. Die hohen schmalen Kirchenfenster, die wunderbaren Stukkaturschnörkel an der Decke umgaben ein riesiges Gipsdreieck, in welches das Auge Gottes gemalt war. Das Auge Gottes sah auf den Schienenweg und auf die Personenwagen erster Klasse, aus denen die Europäer gestiegen waren, es sah auch auf die zweite Klasse, aus der die Indianer gestiegen waren. Das Auge Gottes sah auf die Weichenwärterhütte, auf den Billettschalter und auf mich. Der Billettschalter war in die Sakristei eingebaut, und statt eines Priesters sah der Beamte mit der Uniformmütze aus dem Guckfenster. Nichts Unheiliges aber war an Stelle des Heiligen getreten – das heilige Leben mit seinem tiefen Lebensernst, der Alltag, den die Arbeit heiligt, der Lebenstrieb gingen fröhlicher jetzt hier um, fröhlicher als ehemals die dumpfe Hingabe an heiliges Nichtstun. Die mit Eisenwagen und ernsten Tagesarbeiten angefüllte hohe Halle sah herrlich tätig aus; die Schönheit der Arbeitsfreiheit, der Drang nach Bewegungsfreiheit, die emsige Hingabe an weises Ausnützen der Sekunden und Minuten ging als der Geiste eines neuen europäischen Gottes von der großen Lokomotive aus, die eben langsam und majestätisch ihre Kolben rührte, ihre wuchtigen Räder wie bezähmt drehte und den Dampf aus dem Schlund des Schornsteins kurzgedrungen und wuchtig ausstieß.

Ich mußte an Orla denken, wie sie im Bahnhof von Orizaba auf die Plattform der Lokomotive gesprungen war, und wie gut sie die Ventile und die Regulierung der Maschine gekannt hatte.

Ich schneuzte mich heftig, um meine Tränen zu verbergen, die mir in die Augen traten. Ein Bahnbeamter trat an mich heran und sagte mir, ich könne, wenn ich zurück nach der Hauptstadt Mexiko wollte, gleich wieder in den Zug steigen.

Noch einmal überblickte ich die Halle und bemerkte das Symbol des Heiligen Geistes, eine weiße Taube, die an der Decke über dem Auge Gottes als Relief in Gips gearbeitet war. Die Taube schwebte mit ausgebreiteten Flügeln da oben, und kein Fortschritt hatte durch die Arbeit das Symbol des Geistes und des Friedens verscheucht. Der echte heilige Geist lebte nur im Lebenstrieb, in der Arbeit und in der Liebe. So sprach ich zu mir und fand es seltsam, daß dieses Land mir schon drei Kirchen gezeigt hatte, die der Zeitgeist sich erobert hatte. Die erst Kirche war eine Reitbahn geworden, die zweite in Cuautla eine Zuckerfabrik, und die dritte in Tlalpam ein Bahnhof. Und es gab noch viele andere Kirchen hier im Lande, die der Lebensdrang sich erobert hatte. Der Zeitgeist drängt die Andacht aus der Kirche, aus den Mauern wieder in die Natur zurück. Vor der Natur, vor der Arbeit und vor einem liebenden Menschenherzen halten wir heute unsere tiefsten Andachten. Die Dreieinigkeit des neuen Lebens, das von Europa aus über alle fünf Weltteile strahlt, ist beschlossen in den dreieinigen hohen Geistern, dem Geist der Natur, dem Geist der Arbeit und dem Geist der Liebe vom Mann zum Weibe und zu allen Menschen. Im Geist der Natur ist die Liebe zu allen Lebewesen, zu den Pflanzen, Tieren und Dingen enthalten. Im Geist der Arbeit ist alle Liebe zum Lebenstrieb, der den Menschen zum nützlichen Glied der Menschheit und der Natur macht. Im Geist der Liebe vom Mann zum Weibe liegt der Grundkeim zur Liebe überhaupt, zur Eltern- und Kindesliebe, zur Liebe des Nächsten und zur Liebe zur Arbeit und zur Natur. Um den Geist der Liebe vom Mann zum Weibe kreist das ganze Weltall; diese Liebe gebiert alle Liebe und alle Kraft.

So philosophierte ich noch mit mir, während der Zug mich wieder nach Mexiko zurücktrug. Auf der Gesandtschaft teilte man mir mit, daß bereits übermorgen ein Dampfschiff von Vera Cruz abgehen würde. Es sei aber fraglich, ob der Dampfer gut sei: er wäre ganz neu und hätte eben erst seine erste Fahrt von Dublin über den Ozean gemacht. Es sei ein kleines Schiff. Wenn ich aber noch warten wollte, dann würde bald ein größeres Schiff gehen.

Nein, ich wollte nicht mehr warten.

Niemand, nur eine Dame mit ihrem Manne fahre auf dem Schiff mit, sagte man mir noch, da sonst kein Passagier sich auf den kleinen neuen Dampfer wage, der eigentlich erst seine Probefahrt gemacht habe.

»Ist es keine einzelne Dame, die mitfährt?« fragte ich und dachte an die Frau des gestorbenen Astronomen.

»Nein, eine Dame und ein Herr, ein Ehepaar«, sagten die Leute des Schiffsbureaus. Dann konnte es die Dame, die ich meinte, nicht sein; trotzdem sagte ich zu, aus Gesundheitsrücksichten wollte und konnte ich nicht jetzt erst die Astronomenfrau aufsuchen. Ich war immer noch im Genesungszustande, wo ich der armen, trostlosen jungen Frau keine guten Worte und keine Anteilnahme geben konnte, denn es wäre ihr nicht damit gedient gewesen, weil ich auch von ihr Mitgefühl für meinen Verlust hätte beanspruchen müssen. Ich hätte ihr außerdem alles erzählen und auseinandersetzen müssen, denn sie hatte ja keine Ahnung, daß ich die junge Mexikanerin wiedergesehen und geliebt habe, und daß ich Orla jetzt stündlich vermißte und betrauerte und noch so elend und apathisch war, daß mir keine Gesellschaft wohltat. Nur die stille Trauer und das Alleinreisen könnten mich kräftigen, sagte ich zu mir. Es wurde nun entschieden, daß ich übermorgen abreisen würde.

Am nächsten Morgen hatte ich noch einige Einkäufe auf der Plaza zu machen.

Es war der erste November, der Tag, wo alle Indianer nach den Kirchhöfen eilen, die weit vor Mexiko liegen, um auf den Gräbern ihrer toten Verwandten zu essen, zu trinken und zu plaudern. Auch dem Toten stellt man ein wenig Speise hin und plaudert mit ihm, als ob er noch lebe.

Ich hatte dem Medizinalrat versprechen müssen, nicht auf den Friedhof zu gehen, und hatte nur einen Diener mit einem großen Strauß Tuberosen und Veilchen an das Grab Orlas gesendet. Unter allen den Neugierigen, die nach den Gräbern drängten, wäre es mir auch unmöglich gewesen, mit Orla an ihrem Grabe allein zu sein; ich gab den Gedanken auf, den Friedhof zu besuchen.

Auf der Calle San Franzisko, die ich seit dem Abend des Nationaltages nicht mehr zu Fuß betreten, sondern nur im Wagen durchfahren hatte, als ich nach Cuautla und Tlalpam gereist war, erstaunten mich die Menschenmassen vor verschiedenen Schaufenstern.

Ich sah zwischen den Köpfen der Leute durch und sah lange Reihen von Ansichtspostkarten, auf denen die Köpfe der neunzehn verurteilten verbrecherischen Polizisten photographiert waren. Über diese neunzehn Köpfe war am ersten November das Todesurteil gesprochen worden. Es sollte am Tag der Toten eine Genugtuung und Sühne bedeuten, daß man der aufgeregten Nation das Todesurteil als Beruhigung mitteilte. Neunzehn junge kräftige Männer hatte ein einziger unüberlegter streberischer Augenblick auf das Schafott gebracht. Neunzehn Köpfe sollten von den Schultern dieser neunzehn Männer fallen. Der Hauptmörder aber war den neunzehn bereits in den Tod vorausgegangen: der Polizeipräsident. Und ich mußte an Orlas Mutter denken, die mir im Brief mitgeteilt hatte, daß sie es gewesen sei, die dem Polizeipräsidenten die Pistole in einem ausgehöhlten Brot ins Gefängnis geschickt habe.

Seltsame Mutter, die dem Mörder vom Schafott half, die es nicht erwarten konnte, bis er verschwand, und die dann eiligst zur Kur nach Florida gereist war!

Die Tragik wirkte hier in Mexiko auf diese Frau so wenig tragisch wie das Erdbeben, an das sich alle Bewohner von Jugend an gewöhnt hatten. Gewohnt, immer Pistolen und Messer in den Taschen der Männer auf allen Straßen offen herumtragen zu sehen, waren selbst die Frauen hier aufs Unglück vorbereitet, wie ein Reisender auf dem Meer beim Anblick des tobenden Wassers auf den Schiffbruch vorbereitet ist. Nur mir armen europastillen Mann, mir waren Erdbeben und Gürtel voller Pistolen und Dolche in den Cafés, auf der Trambahn und auf den Trottoiren der Straßen so ungewohnt wie das Morddrama hier, das im ganzen dreiundzwanzig Menschenleben gekostet hatte, ein Drama, das Mexiko nicht länger als nötig interessierte, und von dem schwache Kunden in die europäischen Zeitungen gelangt sind. Als ich später wieder in Europa war, wußten dort die wenigsten von den Aufregungen des mexikanischen Unabhängigkeitstages. Wenn ich nicht die Zeitungen mitgebracht hätte, würde man es kaum geglaubt haben, da man mit Absicht wenig darüber telegraphiert hatte, um die mexikanischen Zustände nicht bloßzustellen. Wenn hie und da in Mexiko eine Stadt im Erdbeben verschwand, hörte man kaum das Echo davon aus kurzen Telegrammen in Europa, und hier waren ja nicht Tausende im Erdbeben begraben, sondern nur dreiundzwanzig Menschen getötet worden. Damit entschuldigte man sich, wenn man möglichst wenig Kunde von dem neunzehnfachen Todesurteil nach Europa dringen ließ.

Ich dachte noch eben über das Totenfest nach, das der Menschenfressergott von Ixtapalapa, dessen Kiefer bis in die Stadt Mexiko reichten, an dem Tage abhielte, wo die neunzehn Köpfe unter der Guillotine fallen würden; und mit diesen Gedanken kam ich auch die Plaza.

Der weite Platz vor der Kathedrale wimmelte unter allen Bäumen von Verkaufsbuden, die aus ein paar Pfählen, bedeckt mit weißer oder grauer Segelleinwand, wie bei einem Jahrmarkt in Massen aufgebaut waren.

Zuerst sah ich nur Reihen von Totenkränzen und Blumenkreuzen, dann aber war mir, als sei der Platz ein ausgegrabener Miniaturfriedhof geworden. Da waren Zuckerbuden und Spielzeugbuden in langen, endlosen Reihen, und auf den Verkaufstischen lagen hochaufgeschichtet lebensgroße Totenköpfe aus Marzipan mit vergoldeten Goldschaumaugen und mit goldenen Zähnen. Da waren ganze Skelette und gekreuzte Knochen, aus Zucker angefertigt. Da waren Scharen von Hampelmännern aus bemaltem Karton, die den Tod darstellten; wenn man an einer Schnur zog, so tanzten die Knochenbeine des Todes, und die Arme hielten und spielten eine Violine. Da waren ganze Leichenzüge aus schwarz gekleideten Puppen zum Spielen für die Kinder und kleine Trambahnwagen aus Schokolade mit einem Schokoladensarg. Es wurden auch lange Reihen von kleinen Grabsteinen aus Schokolade verkauft, mit künstlichen Blumen verziert und mit goldenen Inschriften. Winzige Skelette aus weißem Zucker saßen auf den Gräbern.

Die Buden hingen voll von diesen Schokoladenfiguren des Todes, lagen voll von Bergen von Totenköpfen aus Marzipan, voll von verzuckerten Gräbern, welche die Erwachsenen den Kindern zum Naschen kauften, ohne daß sich diese hier weniger unterhielten als beim Einkauf von Zucker- und Schokoladeneiern auf europäischen Ostermärkten.

Mit dem unbestimmten Gefühl: soll ich hier mitlachen, mitkaufen, mitspielen oder entsetzt umkehren, betrat ich die langen Reihen der Marktbuden, wo die Spielzeuge und die Süßigkeiten, die den Tod, Gräber und Grabsteine darstellten, nicht endeten.

Allmählich erschien mir der Markt nicht mehr wie das offene Maul eines Menschenfressergottes, der einen ganzen oder mehrere Friedhöfe zwischen seinen Kinnbacken zerkaut; allmählich gewöhnte ich mich an das Spiel mit dem Tod, als ich die Finger der kleinen Kinder begierig nach den Marzipantotenköpfen greifen sah, und als einige europäische Kinder an ein paar Totenbeinen aus Zucker nutschten und andere bereits den Mund schwarz gemalt hatten vom Kauen an kleinen Schokoladengrabdenkmälern, und als ich sah, wie die freundlichen, sanften Indianer feierlich und lautlos mit stillen Gesten und fröhlich glänzenden Augen ihre Totenwaren auf den Tischen anboten – da wendete ich dem Markt nicht den Rücken: ich ging lange sinnend auf und ab und sagte zu mir: »Tod, wo bleibt dein Stachel!«

Das ganze Weltall ist ein Lebensspiel. Geburt, Liebe, Tod sind die großen Spielfestzeiten bei allen Wesen. Und nun verstand ich auch die Mutter Orlas, die dem Tod nicht mehr Raum in ihrem Leben gab als die Kinder hier. Sie war schon wieder nach Florida zur Kur gereist, denn auch das Leben wollte sein Recht haben – das große Leben, das den Tod als ein Spielzeug ansieht, wie die Liebe, die Geburt und das ganze Weltall – als ein Götterspielzeug als Zucker, Schokolade und Marzipan.

Ich ging nach Hause und fuhr, vom deutschen Gesandten und dem Medizinalrat begleitet, zur Bahn.

Daß die Herzen symbolische Spielzeuge sein können, ebensogut wie die Badepuppen kleiner Mädchen, das hatte ich schon ich Europa gewußt, daß aber auch der Tod ein Kinderspielzeug werden kann, das hatten mich erst die Indianer in der Hauptstadt Mexiko gelehrt. Von dieser letzten Überraschung gleichsam mit nachdenklichem Reiseproviant versorgt, verließ ich die Hauptstadt Mexiko für immer und reiste nach Vera Cruz, im mit einem Schiff auf den Atlant und endlich wieder zur Mutter Europa zu kommen.


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