Max Dauthendey
Die acht Gesichter am Biwasee
Max Dauthendey

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Da kam das Mädchen aus dem Bootshaus und rief rasch zu den Musikantinnen auf das Dach hinauf:

»Spielt lauter! Bei allen Göttinnen bitte ich euch: spielt lauter!«

»Spielen die dort oben, oder spielen sie nicht?« fragte plötzlich Kiri.

»Zwei von ihnen spielten immer, Herr. Jetzt spielen aber alle sechs. Hörst du nicht, Geliebter? Höre doch! Komm in das Haus! Du hörst vor dem Ruderrauschen hier draußen nichts. Komm in das Haus!«

»Nein, ich höre nichts. Aber welches Lied spielen sie?«

»O Herr, sie spielen das Regenlied. Verzeiht! Sie spielen das Lied schon seit Wochen, um dich einzuschläfern, Herr. Ich habe gelogen, Herr.« Das Mädchen warf sich vor Kiri nieder. »O Geliebter, ich habe dich nicht von mir lassen wollen. Das ganze Land war voll Krieg. Die Samurais aus dem ganzen Land zogen in den Krieg. Seit Wochen tobt der Krieg. Als die Tempel den Krieg verkündeten, habe ich dein Schwert verstecken lassen und habe dich einschläfern lassen mit dem Regenlied und habe dich im Arm gehalten und habe dich in eine Sänfte bringen lassen. Und die Musikanten, die das Regenlied spielten, haben dich begleitet bis an den Biwasee, und ich habe ihnen befohlen, sich auf das Dach zu setzen, und zwei von ihnen mußten immer spielen, Tag und Nacht. Und ich habe dich nicht von meiner Seite lassen können Tag und Nacht, vor Furcht, daß dich der Krieg töte, wenn du an Land gingest, und vor Furcht, daß der Tod dann mein Geliebter würde.

Jetzt aber sehe ich, daß Friede am Land ist. Deshalb glänzt Karasaki festlich beleuchtet in der Nacht. Und ich bin froh, daß Friede wurde, denn dein Ohr wollte nicht mehr auf die Musik des Regenliedes hören, und ich fühlte seit Tagen, daß ich dich nicht mehr aufhalten könnte, wenn du die Musik nicht mehr hörtest und an den Regen nicht mehr glaubtest.

Sieh, Geliebter, jetzt kann ich dich nicht mehr verlieren. Jetzt können wir in unser Haus zurückkehren. Ich habe dein Leben gerettet. Denn die Toten können sich nicht küssen, nur die Lebenden. Was hast du, Geliebter? Blendet dich das Mondlicht? Oh, bei den Göttern, ich hatte doch kein Gift auf meinen Lippen, als ich dich küßte! Warum wirfst du dich auf deine Knie? Warum schüttelst du die Fäuste in die Luft? Warum wird dein Haar lebendig und sträubt sich wie bei einer Katze?

O Götter! Deine Augen quellen dir aus dem Kopf! Samurai, bist du vergiftet? Suchen deine Hände dein Schwert an den Hüften? Ich will dir's bringen. Verzeih, wenn ich dein Eigentum versteckte. Dein Schwert ist hier im Lackhaus, im Wandschrank.«

Während das junge Mädchen noch flehte, hatte sich der Mond bedeckt. Aber Kiris Gesicht leuchtete, als wäre es aus Phosphor. Seine Armmuskeln wölbten sich, seine Fäuste schlugen in die Luft, seine Brust keuchte: »Mein Schwert!«

Dann stürzte er an dem Mädchen vorüber in das Lackhaus und zerbrach die Wandschranktür, die sich nicht sofort öffnete. Aber kaum berührten seine Finger das Schwert, das dort in seidenem Futteral lag, da fiel der Mann weich wie Schaum zusammen und warf sich schluchzend und weinend auf die Diele und preßte sein Schwert an seine Brust, als wäre es seine wiedergefundene Geliebte.

Eine Weile noch tobte sein Stöhnen, sein Schluchzen. Dann hob er sein tränenüberströmtes Gesicht, setzte sich mit gekreuzten Beinen ruhig auf den Boden, löste den Seidengürtel seines Obergewandes, zog das kurze Schwert aus der dicken, geschnitzten Elfenbeinscheide, strich mit der äußerst feinen Schneide des Schwertes über den Haarbüschel an seiner nackten Brust, schnitt ihn glatt ab und lächelte eine Sekunde zufrieden über die gute, treue Schärfe des Stahls. Dann sagte er ruhig, beherrscht zu dem Mädchen, mit einem Tonfall und einer Stimme, als wäre nichts geschehen:

»Mach dich bereit! Wir müssen jetzt sterben!«

Das Mädchen, das ihm in das Haus gefolgt war, kauerte neben ihm, willenlos und bleich wie eine hingewehte weiße Feder. Sie antwortete ihm nur mit dem einen Wort:

»Geliebter!«

Aber diese Antwort brachte wieder den alten Sturm in Kiri herauf. Alle Muskeln an seinem Leib zuckten, als würden sie von Zangen zerrissen. Darf je ein Samurai sein Schwert verlassen? Hatten nicht die Gongs der Tempel und selbst der große Kriegsgong, der tief in der Erde begraben ist, Kiri und sein Schwert vor Wochen gerufen? Die Erde hätte ihn mit ihrem Feuer verschlungen, wenn er nicht in den Krieg gegangen wäre; denn jeder Samurai ist der Sohn der Erde und der Sohn des Feuers. Beide Gewalten haben ihn geboren. Nur das Wasser hat nichts mit seiner Geburt zu schaffen. Dem Wasser ist er fremd, und es erkennt den Samurai nicht an, nicht den Krieger, denn das Wasser ist sanft und ausweichend. Und das Wasser ist der Tod des kriegerischen Feuers. Nur auf dem Wasser konnte ein japanischer Samurai einen Krieg versäumen. Nur eingelullt vom Regen und fern von allen Ufern konnten die Ohren eines Samurai den Kriegsgesang der japanischen Erde nicht mehr hören.

Aber hat ein Krieger einen Kampf ausweichend versäumt, so ist seine adelige Seele erniedrigt, seine Unsterblichkeit, die ihm als Held angeboren ist, wird ihm dann für immer genommen, und sein nächstes Leben ist das eines gemeinen Mannes aus dem Volke.

Doch das Schicksal gewährt dem Entehrten noch eine Gunst, wenn es der Zufall geben will und sein Mut, daß er im nächsten Leben als gemeiner Mann einen Heldentod stirbt – dann erlangt seine Seele wieder die alte Unsterblichkeit und den alten Adel seiner Vergangenheit zurück. Bis dahin aber muß er niedrig denken, niedrig handeln und ist nicht zu unterscheiden von den Niedersten des Volkes.

Kiri sprach: »Weib, deine Liebe zu mir wurde der Tod meines Adels und aller meiner vergangenen adligen Leben. Aber du hast aus Liebe gehandelt, und Liebe ist vor den Göttern unstrafbar. Darum hoffe ich, daß mich die Götter begünstigen und dich und mich im nächsten Leben aus der Erniedrigung wieder zum alten Adel erheben.

Ich hasse dich nicht. Ich muß dich lieben trotz des Todes, den du uns antust.

Ich will zwei Fragen an das Schicksal stellen, ehe wir beide sterben:

›Ihr Götter, könnt ihr durch einen Zufall drüben in Karasaki alle Lampen des Friedensfestes auslöschen, dann will ich euch glauben, daß ihr mir im nächsten Leben eine Gelegenheit gebt, durch Krieg ein Held zu werden. Obwohl ich heute noch nicht verstehen kann, wie ihr dazu helfen wollt, da ich als niedriger Mann wiedergeboren werde und dann nicht zum Kriegerstand gehöre und kein Schwert besitzen darf. Aber ihr Götter, euch ist nichts unmöglich. Gebt mir das Zeichen!‹«

Die rote Laterne draußen am Kiel hob und senkte sich jetzt auf den Strandwellen von Karasaki. Bei jeder Senkung tauchten die Lichterketten des festlichen Ufers wie feurige Girlanden über die rote Laterne des Kiels und senkten sich wieder und verschwanden hinter dem Bootsrand.

Nach einer Welle tauchten die Lichter von Karasaki plötzlich nicht mehr auf.

Kiri wartete und wartete und sagte mit gedämpfter und bewundernder Stimme zu dem Mädchen:

»Geh und frage die Bootsleute, warum sie die Richtung geändert haben und nicht mehr auf Karasaki zufahren, wie ich befohlen habe. Denn du siehst: Die hellen Ufer sind verschwunden, und der Kiel fährt in die Dunkelheit.«

Das Mädchen wollte gehorchen und zu den Bootsleuten gehen und fragen. Aber sie blieb unter der Tür stehen und sagte:

»Herr, ich sehe: es regnet. Der Regen hat die Festlichter von Karasaki ausgelöscht.«

Da fragte Kiri lachend:

»Ist es ein lauter Regen?«

Das Mädchen beteuerte:

»O Samurai, es regnet wirklich dieses Mal. Es regnet laut.«

»Das ist der Regen der Götter. Aber ich höre ihn nicht«, sagte Kiri feierlich und hielt den Atem an.

Das Mädchen setzte sich wieder zu Kiri, und beide lauschten. Von Zeit zu Zeit fragte der Mann das Mädchen:

»Wird der Regen lauter? Ich höre ihn nicht.«

Dann hüllte das Weib sein Gesicht in die seidenen Ärmel und schluchzte.

Kiri fragte:

»Fürchtest du dich vor dem Tod?«

»O Herr, mit dir zu sterben ist kein Tod. Aber ich fürchte mich vor der Ungewißheit, ob die Götter mich im nächsten Leben mit dir leben lassen. Wenn du wenigstens den Nachtregen über Karasaki wieder hören würdest, dann würde ich das als Zeichen nehmen, daß die Götter mir verzeihen und mich im nächsten Leben wieder mit dir leben lassen.«

Und das Mädchen legte seine Wange an Kiris Wange. Da war es dem Samurai, als ob ihm die Ohren auftauten, und er sagte:

»Ich höre den Nachtregen über Karasaki. Und ich höre, daß wir uns wieder sehen und wieder lieben werden.«

»Oh, Dank allen Göttern, und Dank auch dir, daß du mir verziehen hast, Samurai. Oh, könnte ich dir im nächsten Leben den Weg zum Krieg zeigen und dir dein Schwert wieder schenken.«

»Auch dieses werden die Götter erfüllen«, antwortete Kiri, »denn wenn sie zwei Lebenden zwei Wünsche erfüllt haben, so legen sie die Erfüllung des dritten Wunsches als Göttergabe dazu.«

Die beiden umarmten sich nicht mehr. Und der Samurai nahm sein Schwert, stellte es senkrecht gegen seinen eigenen Leib, drückte es an seine Eingeweide und zog den Harakirischnitt waagerecht durch seine Gedärme...

Das Mädchen war leise aufgestanden und hatte sich hinter den Mann gestellt; als er umsank, fiel sein Kopf an ihre Knie und glitt sanft auf den Boden. Sie nahm das vom Blut verdunkelte Schwert dem Toten aus der Hand, stemmte es an ihr Herz und stürzte sich in die Schwertspitze.

Draußen tönte der Nachtregen auf das Dach des Bootsgemaches, und der Kahn fuhr schurrend auf den Kiesstrand von Karasaki. Und die rote Kiellaterne stand still, wie angemauert, im Regen.

 

Dieses alles erlebte Kiri, der junge Fischer, jetzt, als er das Mädchen, das ihn auf dem See anredete, gefragt hatte: »Wer bist du?«

»Kennst du mich nun?« fragte die Stimme wieder aus dem Dunkel.

»Ich kenne dich wieder. Aber zeige dich nicht. Gib mir mein Schwert! Gib mir den Krieg! Ich bin ein armer Fischer jetzt.«

»Wirf dein Netz aus!« sagte des Mädchens Stimme.

»Es sind keine Fische heute nacht im See, und ich will nicht länger ein Fischer sein, seit ich weiß, daß ich einst ein Samurai war.«

»Wirf dein Netz aus!« sagte die Stimme wieder.

»Ich kann im Dunkeln nichts sehen«, sagte der junge Fischer, »und ich habe keinen Feuerstein da, meine Fackel anzuzünden. Wie soll ich im Dunkeln wissen, wohin ich mein Netz werfe!«

»Wirf dein Netz aus und vertraue mir!« sagte noch einmal die Stimme.

Unwillig griff der junge Bursche nach dem Netz. Aber er warf es nicht mit gewohntem Griff über den Bootsrand, sondern er schleuderte es in die Luft und sagte zu dem Netz:

»Geh zu den Göttern! Ich will kein Fischer mehr sein, seit ich weiß, daß ich ein Samurai war.«

Plötzlich begannen alle Netzmaschen wie ein Sternschnuppenfall in der Luft zu leuchten. Das fortgeschleuderte Netz wurde zu vielen elektrischen Blitzen und fiel wie ein blaues Maschengewebe aus elektrischem Feuer in den See.

»Gut, du bist ein gutes Netz und hast gehorcht«, sagte Kiri stolz in die Luft. »Du hast Feuer gefangen, so wie ich Feuer gefangen habe, seit ich weiß, wer ich bin.«

»Greife ins Wasser und ziehe dein Netz wieder über den Bootsrand! Dann will ich dir zeigen, was deine Arbeit sein wird, Samurai.«

Kiri griff aufs Geratewohl ins Wasser und zog einen blauglühenden Strick aus der Tiefe. Aber er fühlte, daß er keine Kraft besaß, den Strick nur um das kleinste höher zu ziehen. Es war, als lägen steinerne Berge in seinem Netz: der Strick rückte nicht von der Stelle.

»Deine Kraft wird über dich kommen zu deiner Stunde«, sagte das Mädchen.

Aber Kiri war unwillig und schüttelte den Strick, verzweifelt über seine Ohnmacht.

»Binde den Strick am Bug des Schiffes fest und nimm deine Ruder und rudere!« befahl ihm die Stimme, und der junge Fischer tat so.

Und wie er ruderte, schien es ihm, als würde der See in der Tiefe hell.

»Sieh dich jetzt um, über deine Schulter in dein Netz; und alles, was darin ist, wird deine Samuraiarbeit sein.«

Kiri sah hinter sich den ganzen weiten See von den Maschen eines riesigen feurigen Netzes leuchten. Drinnen in dem Netz lagen die zerstückelten Leichen von abendländischen Offizieren, Arme, Beine, Köpfe, Kanonenrohre, Bajonette; blutig, zerschossen, zerfetzt und zertrümmert. Es war, als schleife das feurige Netz den ganzen See wie ein zuckendes Schlachtfeld hinter sich her.

Es schauderte Kiri. Entsetzt ließ er die Ruder ins Wasser fallen. Das niedrige Gemüt des Fischersohnes überwältigte ihn. Er griff nach einem Fischbottich, der auf dem Grunde des Bootes stand, und stülpte ihn über seinen Kopf, um nichts mehr zu sehen. Er klapperte mit den Zähnen, daß der Bottich dröhnte, und getraute sich mit seinem Kopf nicht mehr aus seinem Versteck heraus. Er wollte nichts mehr sehen, nichts mehr hören, bis ein paar Fäuste von außen an den Bottich trommelten und ihn die Stimme seines Vaters anrief:

»Kiri, bei allen Göttern, was treibst du, Junge? Wo hast du dein Netz gelassen? Wo sind deine Ruder?«


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