Albert Daiber
Vom Mars zur Erde
Albert Daiber

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Drittes Kapitel. Eine Sisyphusarbeit

Schon seit längerer Zeit weilte Fridolin Frommherz im vornehmen Heim Bentans, des würdigen Alten, dessen ganzes Wesen und Gebaren seinen Gast viel an Eran erinnerte, den er aber an Zahl der Jahre übertraf. Das Haus lag am lieblichen Ufer des tiefblauen Sees von Angola und gewährte von der Terrasse und den Fenstern der Vorderseite aus einen entzückenden Blick über die Wasserfläche hinweg nach den fernen, sanften Höhenzügen, die den See einschlossen.

Ein sorgfältig angelegter, tadellos unterhaltener Garten umgab das Haus von der Landseite. Alte, immergrüne, lorbeerartige Baumriesen wechselten gruppenweise ab mit den verschiedensten Arten hochstämmiger, prachtvoller Palmen. Dazwischen schoben sich Sträucher und Büsche, überladen mit farbenprächtigen, duftenden Blüten.

Die schönste Blume dieses paradiesischen Sitzes aber war Benta, Bentans holde Enkelin. Dies erkannte auch Frommherz an, der Benta oft mit einer jener Lichtelfen verglich, die nach der Sage seiner Heimat von menschlicher Gestalt, glänzend schön sind, Tanz und Musik lieben und dem Menschen gegenüber freundliche Gesinnungen hegen.

Und einen solchen Ort hatte man ihm, dem Erdensohne, als Arbeitsstätte zur Strafe angewiesen! Frommherz lachte laut auf bei diesem Gedanken. Eine herrlichere Belohnung für sein Zurückbleiben hätte ihm gar nicht gewährt werden können, wenn, ja wenn nur nicht das verwünschte Wörterbuch gewesen wäre.

Vom ersten Augenblicke an war Benta dem Gaste des Hauses freundlich entgegengetreten. Aber in dem Wesen und ganzen Benehmen der graziösen, jungen Marsitin lag so viel Würde und Erhabenheit, bei aller Bescheidenheit doch wieder so viel stolzes Selbstbewußtsein, daß Fridolin Frommherz zu einer Achtung gezwungen wurde, die mehr den Charakter der Ehrfurcht trug.

Oft an den wunderbar schönen Abenden, wenn Phobos und Deimos, die Monde des Mars, am Himmel ihre stillen, glänzenden Bahnen zogen, saß Frommherz nach getaner Arbeit auf der Terrasse des Hauses, der liebenswürdigen Einladung Bentans folgend. In herzlicher, freundschaftlicher Weise unterhielten sich dann jeweils die beiden Männer. Der alte Marsite mit seinem reichen, abgeklärten Wissen streute bei diesen Unterhaltungen dann oft goldene Körner der Weisheit aus, die bei Frommherz auf fruchtbaren Boden fielen und nach und nach seine bisherige, der Erweiterung noch sehr bedürftige Lebensauffassung umzuformen begannen.

Hin und wieder erschien an solchen Abenden auch Benta und beteiligte sich an den Gesprächen der Männer. Besonders lebhaft wurde die Unterhaltung, wenn Frommherz, durch allerlei Fragen veranlaßt, von der Erde im allgemeinen, von seiner engeren Heimat aber im besonderen ausführlicher erzählte, namentlich von dem Leben und Treiben ihrer kernigen Bewohner.

Die genußreichsten Abende aber waren für Frommherz die, an denen Benta stimmungsvolle Lieder in künstlerisch vollendetem Vortrage zur Harfe sang. Diese Augenblicke erschienen dem Erdensohne als der Inbegriff des wirklich göttlich Schönen. Sie ließen ihn seine langweilige Arbeit völlig vergessen und erweckten in ihm eine Summe wunderbar seliger Empfindungen, wie er sie bis dahin noch niemals gekannt hatte.

Aber wenn er dann nach einem solchen Abend voll märchenhafter Schönheit und reinster Glücksempfindung am nächsten Morgen wieder am Schreibtische seines hohen, luftigen Arbeitszimmers saß, um mit schweren Seufzern an der endlos scheinenden Lösung seiner Aufgabe weiter zu arbeiten, da verflog vor dem Realen, Nüchternen im Nu aller ideale Schwung der Gedanken, die Seligkeit jeglicher Empfindung.

»Ja, ja, ein Wörterbuch zu schaffen, das hat mir gerade noch gefehlt,« brummte Frommherz eines Tages grimmig vor sich hin, als ein weiteres Jahr seit seinem Aufenthalte in Angola dahingeeilt war. »Es ist einfach, um aus der Haut zu fahren. Das ist keine Arbeit für einen Moralphilosophen. Diese Idee ist, um toll, verrückt zu werden. Hol der . . .« Doch Frommherz verschluckte das Weitere in edler Selbstbeherrschung und wandte sich seinen Manuskriptbogen und den Hunderten von losen Zetteln zu, die, in verschiedenen Stößen verteilt, alphabetisch geordnet vor ihm auf dem Tische lagen.

Heute packte ihn ob seiner Arbeit eine gelinde Verzweiflung. Bald da, bald dort griff er einen Zettel heraus, verarbeitete seinen Inhalt, strich das Geschriebene durch oder warf den unbrauchbar gewordenen mit einem Seufzer der Erleichterung in den umfangreichen Papierkorb zu seiner Seite. Ein Kästchen auf dem Schreibtische barg unbeschriebene Zettel, und jeden neuen, seine Gedankenreihe kreuzenden Einfall notierte Frommherz sorgfältig und fügte den Vermerk den vielen Hunderten von älteren Blättern bei.

Das war des Fridolin Frommherz täglich sich erneuernde Aufgabe. Fürwahr eine schwere Sache! Um die Wörterbucharbeiten seiner gelehrten Freunde an der Tübinger Universität hatte er sich früher niemals bekümmert. Hätte er einst eine Ahnung gehabt, daß ihm hier oben auf dem Mars eine ähnliche Arbeit zugemutet werden würde, dann hätte er sich sicherlich mit dem Studium seiner Muttersprache etwas eingehender befaßt. So aber, ohne jede tiefere Vorbereitung, ohne jedes Hilfsmittel ein deutsch-marsitisches Wörterbuch herzustellen, alles hierzu erst aus sich selbst heraus zu schaffen, diese schier endlose und heillos schwierige Arbeit begann ihm manchmal das sonst so paradiesisch schöne Dasein auf dem Mars zu versalzen. Und welch elenden Eindruck machte wiederum auf die Marsiten das schneckenartige Vorwärtsschreiten einer Arbeit, für die sie sich außerordentlich interessierten! Schon verschiedene Male hatte der Erdensohn über den Stand seiner Arbeit seinen Freunden in Angola Vorträge gehalten, die über die Unregelmäßigkeit der deutschen Sprache die Köpfe schüttelten. Sie schien den Marsiten noch in einem Entwicklungsstadium zu stecken, das die ihrige schon seit Tausenden von Jahren überwunden hatte.

Wie rasch und leicht hatten die sieben Schwaben die Sprache ihrer Freunde auf dem Mars in ihrer edlen Einfachheit erlernt! Nur einer unter ihnen, Herr Lämmerle, der Philologe, hatte etwas daran auszusetzen gefunden. Er hatte das Kraftvolle, das in der Unregelmäßigkeit der deutschen Konjugation und Deklination liegt, dem Ebenmäßigen, Abgeschliffenen, Weichen der Marssprache entgegengesetzt und den Preis der Schönheit seiner deutschen Muttersprache zuerkannt.

An dies alles erinnerte sich jetzt wieder Fridolin Frommherz. Er sprang vom Stuhle auf und maß erregt das Zimmer.

»Wäre ich nicht von der hohen Denkweise der Marsiten felsenfest überzeugt, wüßte ich nicht auf das bestimmteste, daß ihnen jegliche Quälerei fernliegt, ich müßte wahrlich annehmen, daß ihnen ein böser Geist diese Art meiner Beschäftigung angab,« rief er zornig. »Doch was nützt meine Aufregung? Nichts! Ja, wäre doch nur diese deutsche Muttersprache so glatt, so regelmäßig, so einfach nach wenigen Regeln zu konstruieren wie das wohllautende, vokalreiche Idiom der Marsiten! Um wie viel leichter wäre dann meine Arbeit!« Seufzend strich sich der Gelehrte mit der Linken über die Denkerstirn. Dann setzte er sich wieder an den Schreibtisch und schrieb emsig weiter. Da trat Eran in das Zimmer.

»Welch große Überraschung und Freude, dich endlich wieder einmal in Angola zu sehen!« rief der Schwabe, als er den Eintretenden erkannt hatte.

»Nun, Freund Fridolin, wie geht es dir? Wie weit ist das große Werk gediehen?« fragte Eran, dem Erdensohne herzlich die Hand zum Gruße schüttelnd.

»Wie soll es mir gehen, würdiger Eran? Einerseits gut, anderseits schlecht!«

»Ich verstehe dich nicht!« gestand Eran.

»Nun, ich fühle mich gesund, aber die Arbeit liegt mir sehr auf dem Magen.«

»So, so!« lächelte Eran.

»Ja, dem Himmel sei es geklagt. Die Sache wird schwieriger, je weiter ich vorwärtsschreite. Aber ich schulde dir noch die Antwort auf deine zweite Frage. Ich arbeite am G meines Werkes.«

»Wie? Erst am siebenten Buchstaben von den fünfundzwanzig des Erdenalphabetes? Kaum möglich!«

»Und doch ist es leider so, wie ich dir sage,« antwortete Frommherz betreten.

»Merkwürdig!« erwiderte Eran, den Kopf schüttelnd. »Du bist doch schon seit zwei Jahren deiner Zeitrechnung ununterbrochen an der Arbeit. Wann willst du sie denn beenden?«

»Das weiß ich selbst nicht,« murmelte der Gelehrte, »es wird je länger, je schlimmer. Da sieh her!« Mit diesen Worten zog er eine große Schublade seines Schreibtisches auf. Sie war bis oben mit eng beschriebenen Bogen von stattlicher Größe gefüllt.

»Fast tausend Manuskriptseiten und noch nicht einmal ein Drittel des Werkes vollendet! Nein, ehrwürdiger Eran, ein so umfangreiches Buch hat Fridolin Frommherz auf Erden niemals geschrieben! Und da, sieh alle die Zettel und mühsam gesammelten Notizen – ihr habt mir wahrlich Schweres aufgebürdet und laßt mich die Daseinsfreuden auf dem Lichtentsprossenen sauer genug verdienen.«

Ein Lächeln huschte über Erans milde Züge. »So möchtest du wohl lieber wieder zur Erde und dein Wörterbuch unvollendet uns zurücklassen?«

»Nein, nein, das doch nicht,« erwiderte Frommherz hastig, und eine Blutwelle stieg ihm ins Gesicht, als er bei diesen Worten unwillkürlich an Benta dachte.

»Warum aber klagst du dann? Eine Arbeit, deren Erfüllung keine Unmöglichkeit, sondern nur eine einfache Frage der Zeit ist, berechtigt nach meiner Auffassung zu keiner Klage. Und du, mein Freund, hast ja Zeit in Hülle und Fülle. Niemand drängt dich.«

»Aber dein Erstaunen, deine Äußerungen von vorhin über den langsamen Gang . . .«

»Galten nicht dir, Fridolin, sondern lediglich deiner komplizierten Muttersprache,« unterbrach Eran den Erdensohn. »Beruhige dich also, mein Freund! Gerade das Bewußtsein, uns ein dauerndes Monumentalwerk durch deine geistige Tätigkeit zu schaffen, sollte dich alle Schwierigkeiten, die dir dabei entgegentreten, und deren Bedeutung ich gewiß nicht unterschätzen will, nur um so kraftvoller überwinden lassen.«

»Du sprichst die richtigen Worte zu richtiger Zeit aus, edler Eran! Ich gestehe dir, daß ich gerade heute meines Werkes wegen recht entmutigt war. Nun kommst du wie gerufen und belebst mir die gesunkene Hoffnung in wunderbarer Weise von neuem wieder. Dafür nimm meinen besten Dank!«

»Es bedarf dessen nicht, Freund Fridolin. Im Gegenteil! Ich bin beglückt, daß du dich wieder selbst gefunden hast, und daß dadurch das frühere, so feste Vertrauen in dein Können wieder bei dir eingezogen ist.«

Eran erhob sich. »Ich werde jetzt öfter als bisher von Lumata nach Angola kommen. Wir haben eine Reihe wichtiger Beratungen vor uns. So werde ich dich in Zukunft in kürzeren Zwischenräumen wiedersehen als in der letzten Zeit.« Damit verabschiedete sich Eran in liebenswürdiger Weise.

Der Erdensohn vermochte aber nach dem Weggange des ehrwürdigen Alten nicht gleich wieder seine Arbeit aufzunehmen. Gedanken aller Art bewegten ihn. Der Appell Erans an sein Ehrgefühl hatte in ihm merkwürdige Gefühle geweckt. Wie klein kam er sich diesem Marsiten gegenüber vor! Ja, Eran hatte recht: Man kann, was man wirklich ernstlich will. Und sollte er umsonst, ohne nennenswerte Gegenleistung nur die Annehmlichkeiten des Lebens unter diesen ausgezeichneten Menschen hier oben genießen dürfen? Gerade deshalb waren ja die andern vom Mars wieder fortgezogen, weil sie der Gastfreundschaft der Söhne des Mars keine ebenbürtige, wirklich nutzbringende Leistung entgegenzusetzen hatten. Nein, er mußte und wollte eine Tat vollbringen, die einigermaßen wenigstens einen Gegenwert bot für das, was er von den Marsiten empfing. Die Art der Arbeit, nicht diese selbst, die er bisher als eine Last empfunden, sie erschien ihm jetzt als ein glückliches Mittel zur Abtragung seiner Dankesschuld. Jetzt erst kam ihm auch mit einem Male die segensreiche Bedeutung seiner Aufgabe zu vollstem Bewußtsein. Das war keine Sühne, um die es sich hier handelte, nein, das war der Weg zur zielbewußten Umformung seines eigenen, bisher so schwankenden Ichs, das ausdauerndem und ernstem Streben wenig geneigt war.

Mit wie großem Mißmute war er heute morgen an sein Werk gegangen! Er schämte sich in diesem Augenblicke ordentlich deswegen. Nun war eine Arbeitsfreude, eine Emsigkeit in ihm lebendig geworden, die, endlich zu vollster Stärke erweckt, nie mehr einschlafen oder versiegen würde, das fühlte er. Und mit lautem Danke an den Zauberer Eran, der das Wunder fertig gebracht hatte, nahm Frommherz seine Arbeit wieder auf. Die gehobene Stimmung, in der sich Bentans Gast befand, fiel dem Alten auf, als er am Abend des wichtigen Tages mit Fridolin Frommherz zu Tische saß.

»Hat dir Eran heute so freundliche Nachrichten gebracht, daß du entgegen deiner bisherigen Art so fröhlich deine Arbeit beendet hast?« forschte Bentan.

»Das nicht,« entgegnete der Schwabe heiter, »aber er hat mir gewisse Worte gesagt, die mich gewaltig bewegten und mir ein anderes Urteil über meine Beschäftigung schufen, als ich es bis jetzt gehabt hatte. Und das macht mich frei und fröhlich zugleich.«

»Ja, ein gutes Wort im rechten Augenblicke hat oftmals schon große, unerwartete Wirkung geübt,« bemerkte Bentan. »Es freut mich daher auch besonders, dies aus deinem Munde hören zu dürfen.«

»Eran sagte mir auch, daß er künftighin öfter nach Angola kommen würde, um an wichtigen Beratungen teilzunehmen.«

»Es laufen sehr ungünstige Berichte aus unsern polaren Regionen ein. Sie bilden den Gegenstand unserer Besprechungen,« erwiderte Bentan.

»Worin bestehen diese Berichte?«

»Das kann ich dir mit wenigen Worten nicht sagen. Es handelt sich um die Wasserfrage auf unserm Lichtentsprossenen. Im übrigen müssen wir auch noch die weiteren Forschungsresultate der zu erneuter Prüfung abgesandten wissenschaftlichen Expeditionen aus dem Stamme der Ernsten abwarten. Sorge dich einstweilen nicht unnötig, lieber Fridolin,« fuhr der Greis fort, als er bemerkte, daß seine Mitteilungen den Freund zu erschrecken schienen. »Du wirst von mir, wenn wirklich eine Zeit der Not für uns bevorstehen sollte, im rechten Augenblicke benachrichtigt werden.«

Aber Frommherz' gute Stimmung hatte doch einen leichten Stoß durch Bentans Bemerkung erhalten. Dem scharfen Auge des Alten war dies nicht entgangen.

»Benta, mein Kind, komm mit hinaus auf die Terrasse und bringe deine Harfe mit!« bat der Greis seine Enkelin. »Freund Fridolin bedarf der Erheiterung.«

»Gesang und Harfenspiel, diese Art der Erheiterung lasse ich mir immer gefallen,« warf Frommherz muntern Tones ein, und der Abend schloß voll Harmonie und freudiger Glücksempfindung.

In arbeitsfrohem Leben verstrichen die folgenden Monate. Sie förderten das Vorwärtsschreiten des Werkes. Frommherz fühlte sich hoch befriedigt, als er sah, wie seine Aufgabe in dem Maße leichter für ihn wurde, als er sie energischer anpackte. Die heitere Zufriedenheit, die den Gelehrten beherrschte, vermochten auch die Mitteilungen Bentans nicht wesentlich zu erschüttern, die der Greis hin und wieder über die Verhandlungen des Stammes der Weisen machte. Sie behandelten die auffallende Erscheinung des Rückganges des Eises an beiden Polen des Mars, eine Erscheinung, die, wie Bentan lächelnd meinte, in grober Weise gegen alle Tatsachen des bisherigen Abkühlungsprozesses des Lichtentsprossenen verstoße.

»Ich habe mich schon oft verwundert gefragt,« warf Fridolin Frommherz ein, »warum ihr hier oben auf dem Lichtentsprossenen weniger Polareis habt als wir auf der Erde. Da ihr um so viel weiter von der Sonne entfernt seid, müßte doch eigentlich eure arktische Zone viel weiter reichen.«

»Erklärt sich das nicht ganz einfach,« erwiderte der Greis, »durch unsere geringere Wassermenge, unsere trockenere Atmosphäre, unsern doppelt so langen Sommer? Wir haben viel weniger Regen, viel geringeren Schneefall als ihr da unten auf der Erde. Wir werden uns trotz alledem nicht mehr verjüngen. Die beiden Großmächte beim Bau unseres Lichtentsprossenen, die Kieselsäure und die Kohlensäure, liegen in ewigem Kampfe miteinander unter wechselnden Siegen und Niederlagen.«

»Also genau so wie auch auf unserm Planeten,« warf Frommherz ein.

»Ja, wenn es einst der Kohlensäure gelingt, über die Kieselsäure vollständig zu triumphieren,« fuhr Bentan fort, »so hat die Stunde geschlagen, in der bei uns alles organische Leben erlöschen muß. Dann zieht der kalte, starre Tod ein wie auf unsern Monden. Jede Woge, die an die Felsen brandet, jede Welle, die über das Kieselgestein des Flußbettes eilt, jeder Regentropfen, der zu Boden fällt – sie alle stehen mit der Kohlensäure in innigstem, ewigem Bunde, langsam, aber sicher zersetzen sie auch das härteste Kieselgestein. Die Kohlensäure verbindet sich mit den basischen Bestandteilen, und die verdrängte Kieselsäure lagert sich mit dem Rest von Basen am Grunde der Gewässer. So sind einst jene mächtigen Ton- und Sandsteinlager entstanden, deren Bildungsvorgänge wir heute noch im Kleinen verfolgen können. Und die Kohlensäure fällt, an Kalk oder Magnesia gebunden, gleichfalls zu Boden. Die mächtigen Kreidelager der Kalksteinformationen, die große Teile der Rinde unseres Lichtentsprossenen ausmachen, bestehen zur Hälfte ihres Gewichtes aus Kohlensäure, die aus der Atmosphäre stammt und dem Kreislaufe des Lebens entzogen wurde. Im Innern dieses Weltkörpers, dort in der Tiefe, ist das Gebiet der Kieselsäure, dort ist sie die stärkere Säure, dort verdrängt sie die Kohlensäure aus ihren Verbindungen. Diese auf der Flucht begriffene Kohlensäure kannst du an unsern Mofetten, an vielerlei Spalten und Rissen des Lichtentsprossenen beobachten, aus denen Kohlensäure ausströmt. Und da Mars langsam erkaltet und seine Rinde sich verdickt, so muß diejenige Kraft, die der Kieselsäure die Oberhand im Kampfe verschafft, die Eigenwärme des Lichtentsprossenen, fortwährend abnehmen. Damit ist der endliche Sieg der Kohlensäure nur eine Frage der Zeit.« Bentan schwieg.

»Diesem gewaltigen, unsere Existenz einst vernichtenden Kampfe, stehen wir wissend, aber machtlos gegenüber,« begann Bentan wieder nach langer Pause. »Anders aber verhält es sich mit dem Mangel an richtigen Wintern, den wir seit Jahren schon feststellen können, ferner mit der Abnahme der Niederschläge aus der Atmosphäre. Diese Erscheinungen stellen uns vor Aufgaben, die gelöst werden müssen, soll die Gesamtheit nicht schwer darunter leiden.«

»Kann sich dies aber nicht rasch, vielleicht schon von heute auf morgen wieder ändern?« fragte der Erdensohn. »Auf unserm Planeten haben wir auch öfters Perioden übermäßiger Trockenheit, denen dann wieder solche der Nässe folgen.«

»Eure Erde besitzt eine andere, dichtere Atmosphäre und größere Wassermengen in Form gewaltiger Ozeane als unser Lichtentsprossener. Andere Gesetze beherrschen somit dort die atmosphärischen Niederschläge als hier. Klagen oder jammern werden wir unserer ungünstigen Lage wegen nicht. Wir ziehen aus den Erfahrungen früherer Zeiten den Schluß, daß nach einer gewissen Periode des Mangels an dem lebenspendenden Naß wieder ein Abschnitt des Ausgleiches eintritt, allerdings mit der Neigung zu immer kürzerer Dauer.«

»Und macht euch diese Aussicht keine schweren Sorgen?«

»Nein! Ganz abgesehen davon, daß sie unnütz wären, so wissen wir auch alle, daß für unsern Lichtentsprossenen einst die Stunde seines Unterganges schlagen wird und muß. Licht und Wärme, die uns das ewige Licht, die Sonne, spendet, nehmen ebenfalls einmal ihr Ende. Nichts währt dauernd, und was uns ewig, unvergänglich scheint, was wir damit bezeichnen, umfaßt für unser Begriffsvermögen allerdings kaum vorstellbare, ungeheure Zeitmaße, die aber an der Weltuhr nur Sekunden, höchstens Minuten anzeigen. Unerbittlich und unaufhaltsam rollt das Rad der Zeit. Die rasche Vergänglichkeit alles Irdischen mahnt uns eindringlich, unser Leben würdig aufzufassen, inhaltsreich zu gestalten und es nicht mit zweckloser Furcht vor dem Unbekannten, Unerforschbaren auszufüllen oder gar zu verbittern.«

»Das sind tiefe Gedanken, die du da äußerst,« warf der Gelehrte voll Achtung ein, als Bentan einen Augenblick schwieg. »Wohl denen, die ihnen nachleben!«

»Alles ist dem Wechsel unterworfen. Welten und Völker verschwinden, andere tauchen dafür wieder auf,« fuhr der Greis fort, ohne seines Gastes Bemerkung weiter zu beachten. »Im ewigen Kreislaufe bewegt sich die Materie, das allein Unsterbliche der gesamten Körperwelt. Und wenn einst unser Lichtentsprossener nicht mehr sein wird, so ist im Buche der Ewigkeit und der Unendlichkeit nur ein einziges Blatt gewendet worden. Die ewige Harmonie und Schönheit des Weltalls hat dadurch nicht gelitten, daß wir verschwanden. Ein anderer Stern, eine andere Himmelsleuchte ist dann an unsere Stelle getreten.«

»Eine solche Anschauung, wie du sie mir soeben geoffenbart hast, edler Bentan, fürchtet auch den Tod nicht,« bemerkte Frommherz, als der Greis geendet hatte.

»Gewiß nicht, mein lieber Freund Fridolin. Die Grundempfindung unseres Daseins ist nicht die Angst, sondern die Freude an allen Wundern der Schöpfung, und diese Freude läßt uns alle in unserm Organismus vorhandenen Kräfte zweckmäßig ausnützen. Sie erlaubt uns dadurch das große Leben der Gesamtheit voll und ganz mitzuleben. Sie ist es ferner, die uns zu der klaren Erkenntnis führt, daß der Tod das natürliche Produkt des Lebens ist, daß dessen Endlichkeit keine Verzweiflung, sondern nur Versöhnung bedeutet. Unser Einzelleben ist nur eine unwichtige Episode im allein wichtigen Gesamtleben, von dem wir selbst nur ein kleinster Bruchteil sind. Das Bewußtsein, unsern Platz in der Natur nach bestem Wissen und Können ausgefüllt zu haben, schafft das Gefühl der Ruhe und eine gewisse Heiterkeit der Stimmung, mit der wir unser eigenes kleines Lebensbuch abschließen. Unsere Nachkommen treten dann an unsere Stelle. Sie allein sind es, die uns die Fortdauer unseres individuellen Daseins zeigen.«

»Welch herrliche Worte hast du da gesprochen!« rief der Erdensohn in aufrichtiger Bewunderung. »Wie ganz anders ist noch in den breitesten Schichten der sogenannten Kulturvölker unseres Planeten die Auffassung von Leben und Tod gegenüber euern Anschauungen! Angst und Furcht sind es, die bei der Mehrzahl der Erdenkinder keine wahre, echte Lebensfreude aufkommen lassen.«

»Weil ihr euch eben leider noch nicht durchgerungen habt zur vollen, wahren Nächstenliebe. Diese allein ist die klare Quelle, aus der jener echte Frohmut sprudelt, der dem Leben den hellen, warmen Sonnenschein verleiht und dem Tode jeglichen Schrecken raubt.«

Welche Fülle von Weisheit strömte nicht von Bentan aus! Und so war es mehr oder weniger mit jedem andern Marsiten aus dem Stamme der Weisen, mit dem der Schwabe in nähere Berührung trat. Wahrlich, dieser Stamm verdiente seinen stolzen Namen; er machte ihm alle Ehre ohne die kleinste Phrase und Anmaßung, lediglich durch die edle Gesinnung und hohe Bildung seiner Vertreter. Hatte den schwäbischen Gelehrten einst das von aller materiellen Sorge scheinbar freie, ideal schöne Dasein zum Bleiben auf dem Mars veranlaßt, so pries er jetzt, mehr und mehr zur Selbsterkenntnis gelangt, das Glück eines Verkehrs mit den Besten des Volkes in Angola. Dieser Umgang war für ihn eine mächtige Förderung in sittlicher wie geistiger Richtung. Nun fing er auch an, vieles zu verstehen und zu begreifen, was sein unvergeßlicher Freund Stiller öfters vorgetragen hatte, wenn er mit ihm zusammen an schönen Sommerabenden den Neckar entlang bei Tübingen spazieren gegangen war. Wie manchmal hatte er da heftig dem Freunde widersprochen, war dessen Anschauungen auf das schroffste gegenübergetreten, ohne für seine kecken Behauptungen und Entgegnungen auch nur entfernt eine befriedigende Beweisführung antreten zu können. Wie schnell fertig war er damals im Aburteilen über Dinge gewesen, die er nur höchst oberflächlich kannte!

»Sie werden später vielleicht noch einmal anders denken, wenn Sie erst das Entwicklungsideal der Menschheit durch die reine, durchsichtige Atmosphäre der naturwissenschaftlichen Weltanschauung zu betrachten vermögen,« hatte ihm Herr Stiller einmal nach einer heißen Auseinandersetzung geantwortet. Damals hatte er seines Freundes Behauptung lediglich als Ausdruck der Hoffart aufgefaßt, heute aber, nach Jahren, fand er, daß Hoffart, Anmaßung und Selbstüberschätzung nur auf seiner Seite, nicht aber auf der des treuen, hochgebildeten Freundes gewesen waren.

Wie oft mußte er gerade bei seinen Unterhaltungen mit den Weisen an den fernen Stiller denken, diesen vortrefflichen Menschen und Mann der Wissenschaft! Und mit solchen Gedanken begann wieder eine leise Sehnsucht nach ihm und den andern Gefährten auf der Marsreise, nach der alten, lieben Heimat sein Herz zu bewegen. Aber sah er dann die holde Benta, hörte er deren herrlichen Gesang, lauschte er den wundervollen Akkorden, die ihre zarten Finger der Harfe zu entlocken verstanden, so verschwanden rasch all die schwachen Regungen des Heimwehs, einer Spezialkrankheit des echten Sohnes schwäbischer Erde. Dafür umgaukelten liebliche Träume Frommherz' Sinne, die sich mehr und mehr zu festen Absichten verdichteten, je länger er im Hause Bentans, des gütigen Alten, lebte.

 


 


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