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Zehntes Kapitel.

Am nächsten Morgen wurde ich zu früher Stunde durch Frau Rosarios Stimme geweckt, die laut und heftig mit ihrem Milchmann unterhandelte, der sich offenbar in nächster Nähe der Veranda befand. Ich richtete mich etwas auf, schaute hinaus und entdeckte vier Kühe und ebensoviele Kälber. Der Milchmann trug ein buntes Tuch um den Kopf und einen alten, abgetragenen roten Soldatenrock mit Epauletten, und Frau Rosario überwachte, in eine schmutzige Steppdecke gehüllt, das Melken der Kühe.

Leise, um meine noch schlafenden Gefährtinnen nicht zu wecken, erhob ich mich und ging ins Badezimmer. Es war höchst einfach und die Wanne bestand nur aus einem halben Fasse, aber die Erfrischung wäre mir doch eine Wohltat gewesen, wenn nicht solche Unmengen von entsetzlichen Käfern und Riesenspinnen mit langen, haarigen Beinen überall an den Wänden auf und ab gekrochen wären, die mich mit Angst und Ekel erfüllten. Sobald ich glücklich wieder heraus war, packte ich meine Schreibmappe aus und verfaßte eine Anzeige, die ich so schnell als möglich in ein Lokalblatt einrücken lassen wollte. Das Entsetzen vor dem Ungeziefer im Badezimmer war es wohl, was mich zu solcher Eile anspornte. Die Anzeige lautete:

 

Eine musikalische, sprachkundige junge Engländerin, geschickt im Nähen und bereit, sich im Haushalt nützlich zu machen, sucht sofort Stellung als Erzieherin, Haushälterin oder Gesellschafterin einer Dame. Ansprüche bescheiden. Zu erfragen ...

 

Das höchst einfache Frühstück wurde in schweigender Hast eingenommen, worauf sich sofort fast sämtliche Hausbewohner auf den Weg nach ihren verschiedenen Schulen, Läden und sonstigen Arbeitsgebieten machten. Jocasta sah ich mit roten Bändern zwischen den Zähnen durch den Garten jagen und sich noch im Laufe die Zöpfe flechten. Dann trat ein wenig Ruhe ein und ich erkundigte mich bei Frau Rosario nach dem nächsten Wege zum Geschäftsgebäude der gelesensten Madraser Zeitung.

»Mr. Friedrich Augustus ist eben im Begriff, in die Stadt zu fahren. Er wird Sie mit Vergnügen mitnehmen und vor der Türe der Geschäftsstelle absetzen.«

Arme Leute dürfen bekanntlich nicht wählerisch oder gar anspruchsvoll sein, und so nahm ich des reichen Mannes Aufforderung mit geziemendem Danke an. Fitz Alan, der Müßiggänger, wartete vor dem Hause und wollte mir dienstbeflissen in den Wagen helfen, wurde jedoch von Mr. Friedrich unsanft zur Seite gestoßen, worauf die Fahrt losging.

Der Versuch, eine Stelle zu finden, erwies sich leider als erfolglos. Tag für Tag schaute ich sehnsüchtig nach dem Briefträger und seiner großen, ledernen Tasche aus – nie hatte er etwas für mich. Frau Rosario vertröstete mich wohl in ihrer freundlichen Weise auf bessere Zeiten, allein die Anzeige hatte zehn meiner kostbaren Rupien verschlungen, und es blieben mir jetzt nur noch zwanzig, denn die unwiderstehliche Eulalie hatte wiederholt Geld von mir entlehnt und es mir natürlich nie wiedergegeben.

Bald war ich mit der täglichen Einteilung des Haushaltes vertraut und versuchte, mich auf verschiedene Weise nützlich zu machen. Ich nahm mich Tante Gams an, kochte ihr Haferschleim und Kakao, und hörte ihre Klagen und endlosen Ergüsse über ihre schöne entschwundene Jugendzeit und die Eroberungen, die sie einst gemacht, mit an. Sie erzählte mir auch viel über Tante Rosario, und daß »Eglantine« einst das schönste Mädchen in ganz Blacktown gewesen sei und einen reichen Kaffeeplantagenbesitzer hätte heiraten können, wenn sie nicht ein dummes, törichtes Ding gewesen wäre.

Neben der Sorge für Tante Gam widmete ich mich auch der Pflege der vernachlässigten Blumen, begoß sie und pflückte einige zum Schmuck des Salons und Eßtisches. Ich staubte die Zimmer ab, besserte Wäsche aus und überwachte Mardies Schulaufgaben. Gelegentlich mußte ich wohl auch Klagen über Jocastas lügnerisches Wesen, Gwendolines Gefallsucht und Eulalies Verschwendung mit anhören. Auch über Lilys Geiz und Fitz Alans Vornehmtuerei fiel häufig im geheimen ein bitteres Wort, und nicht selten kam mir die Aufgabe zu, die erregten Gemüter zu beruhigen und Frieden zu stiften. Ich bin niemals eine Langschläferin gewesen, und so wachte ich auch jetzt oft schon auf, wenn die Hähne krähten und der allmählich sich färbende Himmel den Morgen verkündigte. Dann machte ich einen Spaziergang, besah mir die alten Festungswerke und ging zur Marienkirche, der ältesten von ganz Indien. Nachher durchforschte ich die benachbarte kleine Insel und drang durch die schattige Feigenallee bis zur stolzen Kathedrale und zum alten Fort Sankt Thomas – einst einer portugiesischen Festung – vor. Mit Vorliebe aber wanderte ich am Meeresstrande entlang und ließ den Blick über die weite, brausende See schweifen. Ich sah den Fischerbooten und indischen Segelflößen nach, und einmal durfte ich mich sogar am Anblick eines Sturmes weiden.

Ach, was für ein herrlicher, kraftvoller Gegensatz zu der dumpfen, dicken Luft der Crundallstraße war das! Am Ufer stehend, betrachtete ich entzückt die schäumenden Wogen und lauschte dem Donnern der Brandung und dem wütenden Pfeifen des Windes. Aber auch noch weitere Ausflüge machte ich, wenn die gutmütige Rosamunde mir ihr Fahrrad lieh. Dann fuhr ich die staubige Mount Road entlang nach Guindy und über die Mamlong-Brücke durch den ältesten, eigenartigsten Stadtteil bis hinaus nach Palaveram mit seinen weiten Ebenen und schattigen Straßen. Trotz des lästigen rötlichen Staubes waren diese frühen Morgenspaziergänge für mich ein großer Genuß. Sie richteten mich wieder auf im Kampfe gegen Mutlosigkeit und Enttäuschung und füllten wenigstens einen Teil der leeren Stunden des endlos langen indischen Tages aus.

Am Abend spielte ich öfters Tänze auf dem alten, vor Jahren bei einer Versteigerung erstandenen Klimperkasten der Frau Rosario. Dieses Aufspielen war mir indes immer noch lieber, als mit Fitz Alan oder den van Ledes tanzen zu müssen. Überdies erwies ich damit den jungen Mädchen, sowie meiner Hauswirtin einen großen Gefallen. Stillschweigend hatte ich auch nach und nach einen Teil von Lilys Arbeit übernommen, da diese durch die Vorbereitungen auf ihre Prüfung sehr in Anspruch genommen war, und Frau Rosario beinahe ihre ganze Zeit und Sorge den Kühen und Hühnern widmete. Sie verließ eigentlich niemals das Haus, außer wenn sie sich, aufs schönste herausgeputzt, in Begleitung ihrer sämtlichen Kostgänger am Sonntag nach der Matthiaskirche in Vepery begab. Was wurde an einem solchen Tage dann immer von alt und jung an Patschuli, Pomade und Puder verschwendet! Fand man doch dabei Gelegenheit, sich seinen Freunden und Verehrern zu zeigen.

Ich hatte die kleine Gesellschaft nur einmal zur Strandmusik begleitet und als fünfte in dem kleinen Gharri Platz genommen. Am Strande angelangt, stiegen die vier andern aus, um sich unter dem Publikum zu ergehen, während ich vorzog, im Wagen zu bleiben. Von hier aus beobachtete ich die Mädchen mit Fitz Alan und ihren Freunden, die auch ich kennen gelernt hatte, wie sie plaudernd, scherzend und lachend auf und ab wandelten. Größere Aufmerksamkeit schenkte ich den eleganten Europäern, Offizieren und Beamten samt ihren Damen – meiner eigenen Gesellschaftsklasse, aus der ich mich nun gänzlich ausgestoßen fühlte. Das war eine so schmerzliche Erfahrung, daß ich keine Lust empfand, ein zweites Mal zum Militärkonzert zu gehen. In Zukunft blieb ich lieber zu Hause und machte einen einsamen Spaziergang an den hinter dem Bungalow gelegenen alten Wällen hin oder vertrieb mir im Garten sitzend die Zeit mit Lesen.

Eines Abends machte mich Fitz Alan, der sich ebenfalls nach einer Stellung umsah, auf eine Anzeige aufmerksam, die, wie er glaubte, wohl meinen Wünschen entsprechen würde. Sie lautete:

 

Gesucht eine Erzieherin zu drei Kindern. Ajah vorhanden. Gehalt mäßig. Nur eine Europäerin möge sich melden bei Mrs. Smith, Cannanore Hotel, Madras.

 

Mein Herz hüpfte vor Freude, als ich diese Zeilen las. Hier war sicherlich das Richtige gefunden. Sogleich wollte ich mich ins Hotel Cannanore verfügen.

Ich zeigte die Anzeige Frau Rosario, die mir die Zeitung mit einem Seufzer zurückgab.

»Mein liebes Kind, die Leute werden natürlich mit beiden Händen zugreifen. Was für ein Verlust wird das aber für mich werden! Doch ich weiß ja wohl, es geht nicht anders.«

Sobald sich am nächsten Morgen die Flut der Kostgänger verlaufen hatte, zog ich ein hübsches Kleid an und ließ mich in einem Gharri zweiter Klasse nach dem in der Mount Road gelegenen Gasthofe bringen. Dort angelangt, gestattete ich mir sogar den ungeheueren Luxus, den Wagen warten zu lassen.

Im Gasthof wurde ich von einem eleganten portugiesischen Portier empfangen, der mich mit den Worten: »Die Dame ist dort drinnen,« nach dem Empfangszimmer geleitete. Als ich mich suchend in dem großen, luftigen Raume mit seinen blendend weißen Vorhängen und Draperieen, weißen Marmortischen und riesigen Spiegeln umschaute, entdeckte ich in einem Lehnstuhl eine sorgfältig gekleidete ältliche Dame mit hochblonden Stirnlöckchen und einem Roman in der Hand. Da sie nicht sprach, sondern mich nur eigentümlich anstarrte, fragte ich endlich: »Sind Sie Mrs. Smith? Ich bin gekommen, um mich für die ausgeschriebene Stelle einer Erzieherin zu melden.«

»Erzieherin?« Sie zog die Augenbrauen in die Höhe. »O nein, ich bin ein altes Fräulein und brauche keine. Ich weiß auch nichts von einer Mrs. Smith. Dies hier ist das allgemeine Wohnzimmer. Erkundigen Sie sich nur noch einmal draußen.« Damit nahm sie ihr Buch wieder auf.

Als ich im Begriff war, ihrem Rate zu folgen, erschien eine etwas unfein aufgeputzte Dame mit langem Kinn und stechenden schwarzen Augen, die mich mit ihrem Blicke durchbohren zu wollen schien.

»Ah! Wohl eine Bewerberin um die Stelle?«

»Ja,« antwortete ich zögernd. Zum Verlieben auf den ersten Blick sah diese Erscheinung gerade nicht aus.

»Sie können sich setzen. Wie heißen Sie?« Und wieder betrachtete sie mich mit kalten, prüfenden Blicken von der obersten Schleife meines Hutes bis zum Kleidersaum.

»Ferrars,« erwiderte ich kurz.

»Haben Sie schon eine ähnliche Stellung bekleidet?«

»Ich war zwei Monate Gesellschafterin bei einer Dame.«

»Sind Sie kinderlieb?«

»Ich ... ich glaube ja. Allein ich hatte bis jetzt noch nicht viel mit Kindern zu tun.«

»Musikalisch?«

»Ja, auch spreche ich geläufig deutsch.«

»So? Und können Sie nähen und zuschneiden, und sind Sie bereit, sich im Hause nützlich zu machen?«

»Ja, mit Vergnügen.«

»Nun, ich habe zwei Mädchen von Sieben und Neun und einen Jungen von Vier. Ich möchte sie nicht gern nach England schicken, denn das ist ein teurer Spaß, und da dachte ich, statt dessen eine Erzieherin zu nehmen. Wie alt sind Sie?«

»Ich war letzten Dezember Einundzwanzig.«

»Ah, Sie sehen viel älter aus. Was veranlaßte Sie, nach Indien zu kommen?«

»Ist die Beantwortung dieser Frage notwendig?«

»Natürlich!« fuhr sie mich an.

»Ich kam, um mich zu verheiraten.«

»Ah ... so!« rief sie und sah mich mißtrauisch fragend an.

»Die Heirat aber zerschlug sich.«

»Das ist ja auffallend. Haben Sie keine Freunde in Indien?«

»Nein.«

»Ich kann nicht begreifen, warum Sie nicht nach England zurückgekehrt sind. Leben Ihre Eltern noch?«

»Nein, sie starben, als ich noch ein kleines Kind war.«

»Was sind Ihre Bedingungen?«

»Ich dachte fünfzig Pfund jährlich und freie Wäsche ...« stammelte ich.

Mrs. Smith lachte laut und unverschämt auf. »Ich bitte Sie, daran ist ja gar nicht zu denken. Ich hatte die Absicht, Ihnen fünfundzwanzig Rupien monatlich anzubieten.« (Also die Hälfte meiner Forderung und die gleiche Summe, die Fitz Alan zurückgewiesen hatte!) »Sie werden die Annehmlichkeit haben, im Gebirge zu wohnen, was hoch anzuschlagen ist. Obwohl ich auch eine Ajah für die Kinder habe, müssen Sie sich doch stets um sie kümmern und natürlich die Mahlzeiten mit ihnen einnehmen, sie unterrichten und ihre Kleider ausbessern. Über all solche Einzelheiten muß man vollständig im klaren sein.«

Dies war nun allerdings kein sehr verlockendes Anerbieten.

»Nun, was sagen Sie zu meinen Vorschlägen?« fragte sie ungeduldig mit dem Fuße auf den Boden stampfend.

»Ich möchte es mir gern noch überlegen,« antwortete ich vorsichtig.

»Ah, wirklich?« antwortete sie giftig. »Ich kann mich doch wohl bei Ihrer letzten Herrschaft nach Ihnen erkundigen?«

»Nein, die Dame reiste ganz plötzlich nach Japan ab, und meine Briefe, Zeugnisse und der größte Teil meines Geldes wurden mir auf der Reise nach Madras gestohlen.«

»Aber Sie werden doch irgend jemand in Indien kennen?«

»Meine beste Freundin ist gestorben, ihr Mann mußte nach England zurückkehren, und an meine andern Bekannten hier möchte ich mich nicht gern wenden.«

»Die Verwandten des jungen Mannes natürlich,« warf sie barsch dazwischen.

Ich fühlte, wie mir das Blut in die Wangen stieg, und schwieg.

»Das soll also heißen, daß Sie tatsächlich keine einzige Empfehlung haben?« fragte sie, ihren Stuhl zurückschiebend.

»Ich kann mir eine Menge aus England verschaffen, wenn Sie Geduld haben und mir so lange Ihr Vertrauen schenken wollen. Mit jeder Post erwarte ich eine Empfehlung von Mr. Evans, der Forstmeister im Bezirk Lohara ist. Seine Frau war meine Freundin, sie starb aber ganz plötzlich, und er mußte nach England reisen. Ich verspreche Ihnen,« fügte ich im Gedanken an meine leere Kasse und die nicht bezahlenden Kostgänger in der Crundallstraße hinzu, »daß ich alles tun werde, mir Ihre Zufriedenheit zu erwerben. Ich bin ein anständiges Mädchen ...«

»Ja, ja,« spottete sie, verächtlich den Mund verziehend, »das sagt jede Abenteurerin.«

»Gnädige Frau!«

»Sie brauchen nicht so aufzufahren. Ich kenne mich aus mit dieser Art hübscher, gut angezogener und anspruchsvoller Mädchen. Sie haben sich in irgend eine alberne Heiratsgeschichte eingelassen, die dann verkracht ist, und ohne Empfehlungen versuchen Sie nun, sich durch die Türe meiner Kinderstube wieder in die anständige Gesellschaft einzuschleichen. Dafür danke ich aber.«

Ich war so bestürzt über diese rohe und grausame Rede, und so heftig zitterten meine Lippen, daß ich kein Wort hervorzubringen vermochte.

»Und nun ich Sie näher betrachte, erinnere ich mich auch, Sie in Gesellschaft lärmender, aufgeputzter Eurasier gesehen zu haben. Anständige Mädchen von gutem Ruf verkehren nicht mit solchen Leuten.«

»Mein Ruf ist ohne Tadel!« rief ich. »Wie können Sie es wagen, mir solche Dinge zu sagen! Das kann nur ein boshafter, schlechter Charakter!«

»Schlechter Charakter, ja, das sind Sie selbst! Ihr Kleid muß mindestens hundert Rupien gekostet haben. Wer weiß, wie Sie dazu gekommen sind!«

Und mit einer verächtlichen Bewegung erhob sie sich, schritt aus dem Zimmer und ließ mich zitternd vor Empörung zurück.

Während ich noch mühsam nach Fassung rang, rief plötzlich eine gellende Stimme: »Kommen Sie mal hierher!«

Es war die alte Dame, die ich vollständig vergessen hatte.

»Ich habe eine Reise um die Erde gemacht und bin im Begriff, nach England zurückzukehren,« sagte sie, als ich mich ihr zuwandte und sie ansah. »Wenn ich hier bliebe, würde ich Sie gern zur Gesellschafterin nehmen, Sie Hitzkopf! Ihr lebhaftes Wesen gefällt mir. Warum haben Sie sich denn so aufgeregt über die Reden dieser gemeinen Person?«

»Jedes Mädchen wäre darüber empört,« stammelte ich noch immer bebend. »Ich hätte ihr ins Gesicht schlagen mögen.«

»Ja, ja, das sah man Ihnen an. Wie heißen Sie? Ich habe Ihren Namen vorhin nicht recht verstanden.«

»Ferrars, Pamela Ferrars,« antwortete ich widerstrebend.

»Wie?« Und das Buch fallen lassend, schrie sie laut auf. »Also deshalb ist mir dieses Gesicht gleich so bekannt vorgekommen! Sie haben die Haare und das Temperament der Tregar ...« Wie überwältigt von innerer Erregung hielt sie inne; sie war todesblaß geworden und ihre Lippen zuckten krampfhaft. »Setzen Sie sich, mein Kind,« sagte sie endlich, »und erzählen Sie mir, was Ihnen alles zugestoßen ist.«

»Aber wozu?« antwortete ich mißtrauisch. Ich hatte an diesem Tage wahrhaftig schon genug Fragen beantwortet.

»Weil ich ein klein wenig das Recht zum Fragen habe. Sie sehen in mir eine einsame alte Frau, eine reiche alte Jungfer. Ich bin Lady Elisabeth Tregar, eine Verwandte von Ihnen. Früher hätte ich einmal die Frau Ihres Vaters werden sollen. Wie seltsam, daß ich hier im fernen Osten nun zufällig seiner Tochter begegne! Meine Tochter könnten Sie jetzt sein ...« – In ihren kleinen Augen schimmerte es wie Tränen. – »Ich habe niemand auf der Welt als eine launische, selbstsüchtige Cousine, die mich auf meinen Reisen begleitet, und jetzt warte ich auf den Abgang des Dampfers, der mich nach England zurückbringt ... Nun, Pamela Ferrars, darf ich Sie wohl bitten, sich zu setzen und mir zu sagen, was Sie hier in Indien treiben?«

»Ich kam nach Indien, um mich mit einem Manne zu verheiraten, den ich vor Jahren gekannt hatte. Seine Mutter und meine Tante wünschten die Heirat so sehr, und letztere wollte mich gern los sein. So kam ich nach Indien und fand ...« Zögernd hielt ich inne.

»Was?«

»Daß er ein Betrüger war, und obwohl der Hochzeitstag bereits festgesetzt und alles vorbereitet war, weigerte ich mich, ihn zu heiraten.«

»Genau so, wie Ihr Vater einst mich behandelt hat!« unterbrach sie mich heftig. »Das scheint also erblich zu sein ... Nun, und was geschah dann? Natürlich waren Ihre beiderseitigen Familien entzückt darüber und überschütteten Sie mit Beifall und Teilnahme?«

»Nein, sie waren empört, und da ich kein Geld hatte, sah ich mich nach einer Stellung um. Leider aber war sie nur vorübergehend, da die Dame nach Japan reiste. Nun kam ich mit der Absicht hierher, in Madras so lange eine Stelle anzunehmen, bis ich mir das Geld zur Heimreise erspart hätte. Allein mir wurde unterwegs fast all mein Geld gestohlen, und so war ich gezwungen, in ein billiges Kosthaus zu gehen, von wo aus eine gute Stelle sehr schwer zu finden ist.«

»Und wie ich sehe, ist Ihnen dies bis jetzt noch nicht gelungen.« – Sie hatte den Blick immer fest auf mich geheftet. – »Ich will Ihnen einen Vorschlag machen; kommen Sie mit mir nach England zurück. Ich werde Ihre Überfahrt bezahlen und Ihnen bei mir eine Heimat bieten.«

Ich war zu sehr überrascht, um gleich antworten zu können. Endlich sagte ich: »Es ist sehr gütig von Ihnen, Lady Elisabeth, allein ich kann eine solche Gunst nicht von Ihnen annehmen.«

»Warum nicht?« fragte sie, mich scharf ansehend.

»Weil ... weil ...« Die Worte blieben mir in der Kehle stecken, aber der Stolz gebot mir, die Scheu zu überwinden. »Sie wissen den Grund selbst am besten, Mylady.«

»Ja, die Sünden der Väter rächen sich an den Kindern. Nun denn, so folgen Sie Ihrem Kopfe. Sie haben das Gesicht der Ferrars und den Stolz der Tregar, doch wenn Sie so fortfahren, werden Sie einmal Ihre Tage in Kummer und Elend beschließen. Dann denken Sie vielleicht an diesen Tag zurück und bereuen, daß Sie das Anerbieten einer alleinstehenden alten Frau abgelehnt haben.«

Sie war ärgerlich, ihre Stimme bebte.

»Wohin mich mein Geschick auch verschlagen mag, immer werde ich Ihrer Güte gedenken,« antwortete ich bewegt.

»Wo wohnen Sie gegenwärtig?« fragte sie kurz.

»Bei Frau Rosario in der Crundallstraße.«

Sie schrieb die Adresse auf. »Vielleicht kann ich Ihnen doch von Nutzen sein. Ich habe Bekannte hier, denen ich Sie empfehlen will. Oder verbietet Ihr Stolz Ihnen, auch diesen kleinen Freundschaftsdienst anzunehmen?«

»O nein, wenn ich nur einen Menschen, eine einzige befreundete Seele hier hätte, so ...«

»So glauben Sie, daß Sie sich dann bald noch viele erwerben könnten? Ihr Gesicht, Ihre ganze Erscheinung könnte Ihnen zu entsetzlichen Fallstricken werden, wenn Sie unvorsichtig oder schwach wären, aber Sie scheinen ja einen festen Willen und eine scharfe Zunge zu haben. Was gedenken Sie nun zu tun? Vorläufig eigensinnig auf eigenen Füßen stehen und dann natürlich heiraten?«

»Verheiraten werde ich mich niemals!« rief ich entschieden. »Ich tauge nicht dazu. Ich hoffe, mir mein Brot zu verdienen und zugleich meinen Nebenmenschen nützlich sein zu können.«

»Ein schönes, erhabenes Ideal, mit dem sich die arme menschliche Natur nur nicht so recht zufrieden geben will ... Doch nun muß ich Sie leider fortschicken, ich bin zum Vizegouverneur eingeladen und muß mich vorher noch umkleiden. Kommen Sie aber morgen ganz bestimmt zu mir; vielleicht kann ich Ihnen bis dahin schon irgend etwas in Aussicht stellen ...«

»Euer Gnaden, der Wagen ist vorgefahren,« meldete ein eleganter portugiesischer Diener, und im nächsten Augenblick rauschte eine mit Federn und Spitzen überladene große dicke Dame herein und sagte mit einem Seitenblick nach mir hin: »Aber liebste Elisabeth, noch nicht angezogen? Wir werden ja viel zu spät kommen, und du weißt doch, daß nicht zu Tisch gegangen wird, ehe du da bist.«

Allein bevor Lady Elisabeth der dringenden Mahnung folgte, reichte sie mir die Hand und sagte: »Geben Sie mir einen Kuß, liebes Kind, und kommen Sie morgen ganz bestimmt.«

Als sei sie plötzlich in Stein verwandelt, so starr vor Erstaunen schaute ihre Gefährtin mich einen Augenblick an. Rasch aber hatte sie sich wieder gefaßt und führte die Lady nun hastig mit sich fort, damit diese ihre gesellschaftlichen Pflichten nicht versäume.

Mein Gharri wartete noch immer im Schatten eines Feigenbaumes; der Kutscher schlief und auch das Pferd war halb eingeschlummert. Auf meinen Ruf kam der Wagen an die Eingangstüre herangerasselt – und ohne Stellung, aber mit rasenden Kopfschmerzen wurde ich nach der Crundallstraße zurückbefördert.

Hier entdeckte ich Frau Rosario, die in ihrer gewohnten Ruhe und Gelassenheit auf der Veranda saß.

»Nun,« schrie sie mir schon von weitem entgegen, »gute Nachrichten für Sie und schlechte für mich? Sie gehen natürlich?«

»Nein,« antwortete ich, dem Weinen nahe. »Ich komme zurück wie schlechtes Geld. Die Stelle taugte nichts.«

»O je, warum denn nicht?«

»Sehr viel Arbeit: drei Kinder unterrichten, nähen, Musikstunden geben, Englisch, fremde Sprachen und fünfundzwanzig Rupien Gehalt!«

»Ha, die Unverschämtheit, Ihnen das anzubieten!«

»Empfehlungen hatte ich auch keine, und so war die Sache bald erledigt. Dagegen bietet sich mir vielleicht eine andre Aussicht. Ich traf nämlich zufällig eine alte Dame im Hotel, die meine Verwandten kennt. Zu der will ich morgen gehen.«

»Ah, die wird Ihnen sicherlich helfen! Und ich werde Sie dann schmerzlich vermissen, denn Sie sind mir eine rechte Stütze geworden.« Dabei drückte sie zärtlich meinen Arm und erlaubte mir, sofort ins Bett zu gehen.

Da Lady Elisabeth keine bestimmte Stunde angegeben hatte, wagte ich es nicht, sie vor vier Uhr nachmittags aufzusuchen. Als ich jedoch im Gasthof anlangte, wurde mir gesagt, daß Lady Elisabeth Tregar mit Gesellschaftsdame und Dienerschaft um zehn Uhr morgens nach England abgereist sei.

»Hat sie nicht eine Karte für mich zurückgelassen?« fragte ich ängstlich.

»Ich will mich beim Portier erkundigen,« antwortete der Gasthofbesitzer.

Eilig kam der hübsche Portugiese herbeigelaufen und sagte, die doppelte Reihe seiner schönen Zähne zeigend: »Nein, Miß. Die Herrschaften befanden sich in großer Eile; niemand hat mir etwas aufgetragen.«

So viel von Lady Elisabeth und ihrer versprochenen Hilfe.

*

Langsam schlichen die Wochen dahin, ohne mir eine Antwort auf meine Zeitungsanzeige zu bringen. Da stellte ich mir dann wohl auf meinen einsamen Abendspaziergängen längs der alten, verfallenen Wälle ärgerlich die Frage: Warum hast du das wohlgemeinte Anerbieten Lady Elisabeths, dich nach England mitzunehmen, nicht angenommen? ... Was? schrie aber mein Stolz dazwischen: von der Frau, die dein Vater tödlich gekränkt hat, willst du dich verhalten lassen? Niemals! War es nicht ihretwegen, daß die Familien Tregar und Ferrars für immer ihre Hand von deinen Eltern abzogen? Und du solltest dich nun als ihr Schützling bei all diesen dir übelgesinnten Leuten einführen lassen? Nein, alles eher als das. Lieber wollte ich noch im Armenhause eine Zuflucht suchen. Anderseits flüsterte mir aber auch wieder eine Stimme zu, daß ich armes Mädchen kein Recht hätte, stolz zu sein, und daß ich ohne diesen Stolz jetzt wahrscheinlich in Luxus und Wohlleben schwelgen würde, während ich in diesem halbzerfallenen, von Ameisen heimgesuchten Kosthause mit leerer Tasche und ohne Aussicht auf bessere Zeiten dahinlebte.

Ja, ich war tatsächlich beim letzten Penny angelangt. Schon hatte ich der Chinna Ajah zwei von meinen besten Kleidern zum Verkauf an Soldatenfrauen gegeben. Sie hatten fünfzehn Pfund gekostet, und ich erhielt nur fünfzehn Rupien dafür. Kaum noch eine Woche lang konnte ich mein Kostgeld bezahlen. Friedrich Augustus behandelte mich bereits mit schweigender Verachtung. Eulalie versuchte kein Geld mehr von mir zu borgen, sondern sagte in mitleidigem Tone: »Sie Ärmste, ich weiß, Sie sind ebenso übel daran wie ich,« und Lily fing schon an, mir unhöflich zu begegnen.

Sicherlich fragten sich bereits alle, ob ich, eine Fremde, nun wohl ebenfalls so weit herabsinken und der gutmütigen, mildtätigen Frau Rosario zur Last fallen würde. Nein, ich durfte nicht länger zögern, sie wenigstens mußte die Wahrheit erfahren. Als wir eines Abends wieder einmal allein miteinander auf der Veranda saßen, während die übrigen Hausbewohner ihren Vergnügungen nachgingen, begann ich ohne Umschweife: »Frau Rosario, ich habe Ihnen etwas sehr Wichtiges mitzuteilen.«

»Nun, was ist es, liebes Kind? Haben Sie einen Heiratsantrag bekommen?« Und aufgeregt griff sie nach meiner Hand.

»O nein, nichts Derartiges. Ich habe keine Stellung finden können und nun all mein Geld ausgegeben. Meine Verwandten zu Hause sind böse auf mich, ebenso meine Bekannten in Indien, denn ich kam hierher, um mich zu verheiraten, und weigerte mich in letzter Stunde.«

»O du lieber Gott! Warum taten Sie das denn aber auch?«

»Weil ich den Mann nicht liebte und er mich betrog.«

»Nun ja, besser keinen Mann als einen schlechten. Der meinige war auch kein Engel.«

»Da ich nun aber kein Geld habe, kann ich auch nicht mehr hier bleiben.«

»Warum denn nicht?« fragte sie ganz erstaunt. »Manche meiner Kostgänger lassen mich monatelang warten, bis sie bezahlen, andre bezahlen überhaupt niemals, machen sich aber nicht das mindeste daraus und ich auch nicht ... Sie bleiben hier.« Liebkosend legte sie ihre Hand auf die meinige.

»Nein, das kann ich nicht. Es ist sehr gut von Ihnen, daß Sie mich halten wollen, aber es geht nicht. Man sagte mir, daß es hier ein Obdachhaus für arme Europäer gebe, dorthin will ich gehen. Ich muß dann eben meinen Stolz beugen und meine Tante bitten, mir das Überfahrtsgeld zu leihen. Sobald sie es schickt, kehre ich nach England zurück, wo sich einem gebildeten Mädchen eine Menge Aussichten bieten.«

»Leicht, wird es Ihnen aber doch wohl nicht werden, Ihren Stolz zu beugen?« fragte sie sanft und mit beredten Augen.

»Nein, schwer, sehr schwer wird es mir ...«

»Nun denn, Sie suchen eine Stellung, und ich sage Ihnen, sie ist gefunden. Ich kann Ihnen eine anbieten, dann brauchen Sie Ihren Stolz nicht zu beugen. Hören Sie mich ruhig an. Sie wissen, daß Lily in vierzehn Tagen geht. Wer soll sie ersetzen? Ich bin unserm Hauswesen und den schrecklichen Dienstboten nicht gewachsen und muß mich somit nach einer Haushälterin umsehen. Warum wollen Sie den Posten nicht annehmen? Wir beide verstehen uns und haben uns gern. Sie machen die Einkäufe und führen die Bücher. Ich gebe Ihnen ein eigenes kleines Zimmer und zwanzig Rupien im Monat samt freier Wäsche. Das bringen Sie mir reichlich wieder ein.«

»O, Frau Rosario, wie freundlich von Ihnen!« stammelte ich gerührt, obwohl dies nicht gerade eine Stellung war, wie ich sie suchte. Allein auch diesmal hieß es wieder, sich bescheiden.

Liebevoll hielt sie meine Hand in der ihrigen und drückte sie zärtlich.

»Sobald sich Ihnen eine bessere Stellung bietet, können Sie sie ja sogleich annehmen. Ich will Ihnen ganz gewiß nicht im Wege stehen, und daß Sie über kurz oder lang etwas finden werden, steht außer Frage. Bis dahin aber ist Ihre Heimat hier.«

Dabei legte sie die Arme um meinen Hals und küßte mich auf beide Wangen.

»Wie gut sind Sie, Frau Rosario! Wie soll ich Ihnen danken?«

»Ich habe Sie in mein Herz geschlossen, mein liebes Kind, gleich vom ersten Augenblick an. Betrachten Sie mich von jetzt an als Ihre Mutter.«

»Ach, ich habe meine Mutter ja nie gekannt!«

»Nun, dann als Ihre Tante.«

Was meine Tante, die schlanke, vornehme Aristokratin, wohl zu dieser schwarzen, unförmlichen Stellvertreterin gesagt haben würde? So wenig schön indes Frau Rosarios Äußeres auch sein mochte, ihr Herz, worin sie mir ein Plätzchen eingeräumt hatte, war es jedenfalls.

»Nun also, die Sache ist abgemacht. Lily wird sich freuen, denn sie braucht die Zeit für ihr Studium, und wir andern haben auch nichts dagegen, wenn sie vorzeitig ihr Amt niederlegt, denn ihr Geiz wird immer unerträglicher; wir fürchten uns alle vor ihr,« fügte sie gut gelaunt hinzu.


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