Anna Croissant-Rust
Arche Noah
Anna Croissant-Rust

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Der Kakadu

»Kakudu« hatte sie der zwölfjährige Bengel des Hausbesitzers genannt, als er sie zum erstenmal ohne Hut über den Hof gehen sah, und seitdem nannten alle im Hause das Fräulein den »Kakadu«. Der Name paßte auch gar nicht so schlecht. Frieda trug nämlich das Haar aus ihrer zurückgehenden Stirn straff nach hinten gekämmt, es bäumte sich aber ein widerwilliger, krauser Schopf von ehemaligen Locken direkt in der Mitte über der Stirn auf, dann erst senkte sich das Haar jäh hinunter und endigte in einem hartgeflochtenen kleinen Zöpflein, das sich im Genick ein paarmal um sich selber wand, und den grotesken Schopf noch mehr hervorhob. Uebermäßig eitel schien sie nicht, denn man sah sie immer nur in demselben altmodischen Regenmantel und in demselben Federhut mit den sehr dünnen, schwindsüchtigen Federn über den Hof trippeln. In ihrem Gang lag etwas Vogelartiges, etwas von dem Unruhigen und zierlich Scheuen kleiner Vögel; so ähnlich war auch ihr Blick schnell und 146 ängstlich, und wenn sie grüßte, tat sie immer einen kleinen Hups zur Höhe und zur Seite, was sehr possierlich aussah und immer ganz unerwartet kam; sie wollte wohl auch von keinem angesprochen werden. Nicht daß sie unfreundlich war, sie grüßte alle aus dem Hause höflich, wenn sie ihnen auf ihren seltenen Gängen begegnete, aber sie wich augenscheinlich einer Anrede aus. Und keine von den Frauen – und es waren einige sehr neugierige Weiber unter den Bewohnern – hatte sich getraut, mit ihr anzubinden, obwohl sie es recht gern getan hätten. Die scheue und groteske Höflichkeit des Kakadu zeigte doch zugleich so viel Kälte und Stolz, daß das Vorderhaus nichts weiter wagte, trotz aller Neugierde. Es ging nämlich die Sage, der Kakadu im Rückgebäude sei eigentlich von Adel; bei den Kutschersleuten, die die Hausmeisterstelle zugleich versahen, war er schon zur »Baronin« avanciert. Besonders als die Möbel beim Einzug sich zwar als alte, aber dennoch höchst gediegene Herrschaftsmöbel erwiesen, stieg der Kakadu in der Hochachtung des hausmeisterlichen Paares.

Auf der Visitenkarte stand freilich nur Frieda Kausnitz, aber der Hausbesitzer begrüßte sie immer mit Nachdruck und laut als »Fräulein von Kausnitz«, denn er hielt auf die »Feinheit« 147 seiner Parteien, auch wenn sie im Rückgebäude wohnten.

Viel wußte auch er nicht von ihr, nur daß sie Stickerin war und ihre Arbeiten in eines der ersten Geschäfte lieferte. Ihm hatte sie den Eindruck einer gebildeten Person gemacht, die gute, aber altmodische Manieren hatte, wahrscheinlich, weil sie nicht mehr mit ihren Kreisen in Berührung kam. Sonst erschien sie ihm etwas exaltiert, ungemein schüchtern, lächerlich stolz und verdreht. Einmal hatte er versucht, eine zudringliche Frage nach ihrem früheren Leben zu tun, war aber von ihr mit einer zwar zitternden, jedoch sehr verständlichen Bestimmtheit zurückgewiesen worden. Seitdem zuckte er die Achseln, wenn von ihr die Rede war und brummte von überspannten, dummen, hysterischen Frauenzimmern. Was ging's ihn an? Eine stille Mieterin war sie jedenfalls; sie bekam nie Besuch, tat sich alle Arbeit selbst und ging nur aus, um ihre Stickereien abzuliefern. In dem kleinen Rückgebäude im Hofe wohnte niemand als die beiden Haumeistersleute, in der ersten Etage neben ihr, während die Wohnung neben dem Stall, unter der ihrigen gelegen, leer stand. Weil es so billig war, und weil das Haus samt Rückgebäude unter grünen Bäumen lag, in der Vorstadt draußen, hatte der Kakadu da eingemietet.

148 Vierzehn Tage, nachdem Frieda eingezogen, mietete ein junger Bildhauer die zwei unter den ihrigen gelegenen Zimmer. Er war ganz enthusiasmiert von der freien Lage, dem Blick ins Grüne und auf die blühenden Bäume des Gartens, Hals über Kopf ließ er seinen ganzen Krempel herausschaffen. Viel war's nicht, aber für eine Schlafzimmereinrichtung reichte es, und auch dazu, das vordere Zimmer notdürftig zum Atelier herauszustaffieren.

Am Abend schon stand er mit roten Backen im Hof, pfiff und sang und starrte den hellgrünen, frühjahrlichen Weidenbaum an, der seine Zweige tief, tief bis in den Kies senkte. Er hatte an seinem alten Filz die Krempe ganz heruntergestülpt und eine lange Hahnenfeder darauf gesteckt, das Hemd stand offen, er rauchte aus einer kurzen weißen Tonpfeife und sah in all seiner kräftigen, braunroten Derbheit aus, wie ein Bauer auf einem alten Niederländer. Dem Bengel des Hausherrn, der Frieda Kakadu getauft, kam er höchst verwunderlich vor, und da Huller sich schlecht hielt und einen runden Rücken machte, nannte er ihn von da ab das Dromedar.

Der Herr Papa wollte nicht hinter dem Witz des Sohnes zurückbleiben und hieß sein Rückgebäude den Raritätenkasten. Zudem war die Hausmeisterin schon vorher von ihm Sylphide benamst 149 worden, – sie sah ungefähr aus, wie ein Dickhäuter, und ihr Mann, – es war gerade nichts Auffallendes an ihm, als daß er Plattfüße hatte, – Sylphiderich.

Das war also der Raritätenkasten, für das ganze Vorderhaus fortan ein Gegenstand der Neugier. Man wartete mit einer gewissen Spannung, wie die Dinge zwischen den neuen Mietern sich entwickeln würden. Es entwickelte sich aber gar nichts, wenigstens vorderhand nicht. Das »Dromedar« grüßte den »Kakadu« und der dankte genau so wie jedem anderen und machte auch den gewohnten Hupf dazu. Im übrigen besuchte das »Dromedar« niemanden im Vorderhaus und auch den »Kakadu« nicht; die »Sylphide« hatte ihm in ihrer graziösen Art angeboten, seine Zimmer in Ordnung zu halten, er hatte angenommen, und sie besorgte es nun auf ihre Weise. Oben saß der Kakadu und stickte, unten knetete das Dromedar Lehm und pfiff und sang den ganzen Tag, während oben alles ruhig blieb, denn der Kutscher, der Sylphiderich, hatte genug in Haus und Stall und Hof zu tun, die Sylphide aber keinen allzu großen Hang zur Arbeit und zum Lärm, sie stierte lieber in eine Ecke, wenn sie in ihrem Zimmer hockte; auch erwartete sie ein Kind.

Weil es nun drüben so einförmig weiterging 150 und gar nichts vorkommen wollte, erlahmte das Interesse, und der Raritätenkasten wäre beinahe in Vergessenheit geraten, wenn sich nicht einige bedeutsame Dinge drüben ereignet hätten.

Eines Nachts, nach elf Uhr, als alles schon schlief, saß der Kakadu noch wach und stickte. Das Zimmer, in dem sie arbeitete, war ein niederer Raum mit zwei Fenstern und einer hellen Tapete, altmodisch mit Mahagonimöbeln eingerichtet. Ein paar große Rokokoporträts waren vielleicht von Wert, aber schon etwas zerfressen und die Farbe da und dort abgesprungen. Verblichene Daguerrotypen hingen über der Nähmaschine und auf der Kommode standen Porzellanfigürchen und Gläser, im ganzen sah es stark nach dem ausrangierten Kram einer vornehmen Familie aus.

Frieda hatte den Tisch mit der Lampe ans offene Fenster gerückt, um frische Luft zu haben; der Mond war hochgekommen, und sein heller Schein lag über dem Garten und den Kieseln des Hofes. Der Wind brachte Düfte von blühenden Bäumen und jungem Laub, es war ein zitterndes, gleichmäßiges Rauschen in der Luft vom englischen Garten her. Der Kakadu hielt im Arbeiten inne, die Erinnerung an das Rauschen der Bäume um das Elternhaus, an die Mondnächte im Park kam plötzlich mit dem Nachtwind, 151 der die Vorhänge hob. Da – was war das? Ein Stöhnen? Frieda horchte auf. Nichts, nur das weiche, seidenweiche Raunen der Frühlingsnacht. Von der kleinen Kirche hörte sie die Stunde schlagen. Und dieser harte, kalte, eifrige Ton brachte ihr eine schmerzhafte Unruhe, brachte ihr auf einmal das Gefühl des Alleinseins, eine Angst vor der Einsamkeit, ein Bangen nach Menschen. War sie denn noch immer nicht gewöhnt, ihr Leben allein zu tragen? Brauchte sie immer noch die andern? Es war doch schon lange genug, daß sie allein lebte.

Aber jetzt hatte sie auf einmal förmlich Furcht, denn da war wieder das Stöhnen. Gewiß, ganz deutlich, dicht unter ihr, wieder und wieder. Ein Kranker? Ein Unglück? Sie rührte sich zuerst nicht vom Platze, zitterte nur und horchte, ob niemand im Haus erwacht sei und herbeikäme, um zu helfen. Ihr Herz schlug. Herrgott! – plötzlich warf sie die Stickerei weg, die sie noch in der Hand gehalten hatte, nahm die Lampe und rannte zur Türe. Das Stöhnen dauerte ja fort und fort an! Auf der Treppe hörte sie's erst recht laut; es war unten, ganz gewiß! Gott sei Dank, die Türklinke gab nach, er hatte nicht zugeschlossen. Frieda war gefaßt jetzt und sicher; sie tastete sich durchs Atelier, durch den unordentlichen Wust von Lehmklumpen, alten Gipsmodellen und 152 hastig weggeworfenen Sachen, denn der Stöhnende lag im anderen Zimmer und die Türe war nur angelehnt. Zusammengekrümmt hockte der junge Bildhauer zwischen den Bettkissen, eines davon fest in den Arm gepreßt und den Kopf darauf gedrückt und konnte nichts herausbringen. Endlich, halb von gurgelndem Schluchzen erstickt, murmelte er: »Krämpfe, Herzkrämpfe.«

Ob sie was tun könne, vielleicht einen Arzt holen?

Er schüttelte mit dem Kopf, deutete auf die Tropfen auf dem Tische, er habe nicht mehr herausgekonnt, so furchtbar waren die Schmerzen! ah – ah! Endlich ließen sie nach, er streckte sich und schloß die Augen, während Frieda ratlos neben ihm stand. Sollte sie bleiben oder gehen?

In der Nacht sollte sie bei dem fremden jungen Menschen bleiben, was der wohl von ihr dachte? Aber wenn der Anfall wiederkam? Sie sah sich nach einem Sitz um, und merkte jetzt erst, wie wacklig sie in den Knien war. Und da mußte er gerade auch die Augen aufmachen! Augenblicklich stand sie wieder aufrecht.

»Ich habe Sie droben gehört, und bin deshalb gleich heruntergekommen. Kann ich jetzt noch etwas für Sie tun oder soll ich besser gehen?«

Huller streckte ihr die Hand entgegen.

»Dank' Ihnen schön. Weil's nur vorbei ist! 153 Sakre sind das Schmerzen, Sie! Ich bin lahm wie ein alter Gaul, schon lang hat's mich nimmer so angepackt.«

Sie schwieg hartnäckig und sah ihn nur hilflos an.

Huller grinste verständnislos. Was war denn mit dem Frauenzimmer los? Dieses Geziere! Sie fand das gewiß eine heikle Situation, so in der Nacht bei einem fremden jungen Manne zu sein? Sie verlangte wohl, er solle sich ihr in aller Form vorstellen! Eins, zwei, drei: aus dem Bett, eine Verbeugung wie im Frack, »mein Name ist Huller!« vielleicht so? Sie sah aus, wie wenn sie darauf wartete. Sie wollte also behandelt sein wie eine Dame und nicht wie ein altes Nähmädel? Lachhaft!

So sollte sie endlich gehen, zum Donnerwetter! Er brauchte ja die Dame nicht mehr, er verzichtete auf die Dame!

Doch wie er genau zusah, bemerkte er ihre Scheu und ihren ängstlichen Blick.

»Gehen Sie doch ins Bett, Fräulein!« Seine Gutmütigkeit drängte ihn dazu, ihr die Hand wieder entgegenzustrecken, er sah nicht, daß Frieda brandrot geworden war. »Ich brauche gewiß nichts mehr, die Tropfen hab' ich, und morgen komm' ich zu Ihnen und zeige, daß ich wieder ganz auf dem Damm bin. Gelt? Also gute Nacht!«

154 Jetzt gab sie ihm auch die Hand und war ganz verwirrt, denn sein Hemdärmel stand offen, und fiel weit über den muskulösen Arm zurück; sie ging schnell mit ihrer Lampe, es war fast wie eine Flucht. Draußen stand der Sylphiderich mit großen, weiten Filzpatschen und lauerte. Beinahe hätte sie die Lampe fallen lassen.

»Der Herr, der Herr Bildhauer, ist krank, wissen Sie. Oh, passen Sie doch auf, bitte, heute Nacht noch, wenn Sie vielleicht etwas hören!«

Er sah sie mißtrauisch an. »Ja mei, Freil'n Baronin, unsereins hat an g'sunden Schlaf, aber natirli, wenn i was hör', natirli. – Hab' die Ehre, gute Nacht zu wünschen.«

Damit schlurfte er in seine Wohnung, aus dem engen Gang glotzte mit verschlafenen stieren Augen die Sylphide nach ihr.

Die ganze Nacht lag Frieda wach und horchte mit ängstlichem Herzen, ob der drunten nicht etwa wieder stöhne. Bei jedem Ton schrak sie in die Höhe, es war nicht die Aufregung allein, sie sorgte sich. Sie sorgte sich um einen Menschen, um einen wildfremden Menschen! Und sie war ihm ins Zimmer gelaufen in der Nacht. Warum hatte sie nur den Kutscher nicht geweckt? War ihr denn der Gedanke nicht gekommen? Es lag doch so nahe; was der Bildhauer wohl von ihr meinte? Es wurde ihr heiß, wenn sie daran 155 dachte, daß er kommen wollte, morgen. Ach, das war vielleicht nur so gesagt! –

Um zehn Uhr am nächsten Morgen kam er aber wirklich. Nicht im Besuchsanzug, mit dem Hut und verbindlich, wie sie gedacht, nein, im gewöhnlichen Jackett und dem heruntergekrempelten Filz, in nachlässiger Haltung, die ihm den Namen das »Dromedar« eingetragen hatte.

Sein ganzes derbes, braunrotes, junges Gesicht strahlte wieder von Gesundheit und Leben. Wie er die Geschichte mit ihr, mit der »Halbdame« einleiten sollte, wußte er aber gar nicht. Alles war so sonderbar hier, sie, die verscheucht hinter der Nähmaschine stand, die altfränkische Einrichtung, die großen Rokokobilder mit ihren runden Augen und hochgewölbten Brauen – der Witz, mit dem er sich einführen wollte, blieb ihm im Halse stecken. Er hatte seinen Hut auf den nächstbesten Stuhl werfen wollen, behielt ihn aber in der Hand. Endlich kamen sie beide zum Sitzen und er zum Reden.

»Ich habe Sie recht erschreckt, Fräulein, heute Nacht, Sehen Sie, da schau ich aus wie's Leben, und auf einmal kommt so ein Anfall; ich bin sonst kerngesund, aber am Herzen, da fehlt's halt zu Zeiten. Und wenn man so ganz allein liegt, macht man sich dumme Gedanken –«

»Aber es ist nicht wiedergekommen?«

156 »Keine Spur, ich habe geschlafen wie ein Sack.«

Jetzt hätte er ruhig gehen können, denn sie wußten sich eigentlich nichts mehr zu sagen. Aber er blieb und betrachtete sich das Zimmer und zuletzt sie selbst.

Sie schämte sich, daß er sie so lange und aufmerksam anschaute. Gewiß hätte er das nicht getan, wenn sie nicht so voreilig gewesen wäre, und wenn er sie nicht für eine arme Stickerin gehalten hätte; ob er sich einer Dame gegenüber nicht anders benehmen würde?

»Ich hätte heute Nacht den Kutscher wecken sollen, anstatt selbst –«

Er schaute sie ohne Verständnis an.

»Warum? Ich war froh, daß überhaupt jemand kam. Oder – Sie werden sich doch nicht etwa gar schämen, zum Donnerwetter? Das wäre ein Gaudium!« Er lachte aus vollem Halse. »So was! Nein, so was!«

»Ich meine ja nur, die andern im Hause drüben, ob die meinen, daß es sich schickt!«

Er ganz verdutzt: »Schickt! – Die drüben! Da dürfte ich ja auch gar nicht zu Ihnen kommen. Na, erlauben Sie, das schickt sich wohl auch nicht? Die alten verdammten Geschichten! Sind Sie so eine Prüde, auf die Stecknadel Gespießte? 157 Ich will's nicht hoffen. Die andern! Was kümmere ich mich um die!«

»Ich habe mich eben lange, lange Zeit in meinem Leben nur um die andern kümmern müssen!«

»Ich hätt's auch tun sollen eigentlich, das müßte ja schließlich jeder, aber ich danke dafür! Um mich kümmere ich mich, Teufel nochmal, zuerst komm' ich und immer ich, ich scher' mich um mich und nicht um die andere Bande. Ich und meine Freiheit und meine Kunst, sonst gibt's für mich nichts. Gar nichts. Frei, ganz frei, als Künstler frei, als Mensch frei; ich mache mir meine eigenen Gesetze. Sie leben doch auch allein und können tun, was Sie wollen, was machen Sie sich's so schwer?«

»Sie haben wohl keine Eltern oder keine Verwandten mehr?«

»Nein, die Eltern sind schon lange tot. Hätten auch nicht viel Freude an mir gehabt, so ein Paar echte, eigenwillige Bauernköpfe.«

»Und Ihre Geschwister?«

»Wollen nichts von mir wissen und ich nichts von ihnen. Was Geschwister! Die mit gleicher Seele sind meine Geschwister, eine andere Verwandtschaft kenn' ich nicht. Punktum. Altes, überlebtes Zeug.« Er machte eine verächtliche Handbewegung. »Wär' mir auch die rechte Freiheit! Glauben Sie, daß ich das nicht kenne von 158 früher? ›Schon wieder eine neue Hose, Fritz, ja, was denkst denn du?‹ – oder ›ah! ah! ich hab' dich mit einem Mädel gesehen, jawohl, leugne es nur nicht, aah – du!‹« und dabei machte er genau den zänkisch-nörgelnden Ton kleinlicher Weiber nach. »Oder die Auflage: ›Bildhauer willst du werden, so ein Hungerleider, dein bißl Gerstl durchbringen und uns dann übern Hals kommen? Lern was G'scheits, kannst überallhin heiraten, kriegst eine mit Geld!‹ Ob ich das nicht kenne? Protz, Protz – und das soll ich Geschwister nennen? Schämen tät' ich mich. Das ist ab, ab ist's, sag' ich.« Dabei rannte er im Zimmer hin und her, daß der Boden schütterte, weil er ein schwerer, plumper Kerl war und trotz des Rennens konnte er sich nicht beruhigen, zuletzt schwenkte er seinen Filz und ging.

Und ging ärgerlich und gereizt.

Eine schöne Bescherung, so zu quatschen vor der fremden Person! Das kam nur von dem verfluchten Anfall. Wenn er recht elend daran war, packte ihn immer diese feige Sentimentalität, dies Heimatverlangen, und darüber mußte er sich zu Tode ärgern und schämen und mußte es sich wegschimpfen und wegräsonieren.

»Pfui Teufel!« sagte er, als er draußen war, ganz laut und spuckte aus. Im Augenblick fiel's ihm aber ein, daß sie's falsch auslegen könnte, 159 und er klopfte noch einmal an und stürzte gleich ins Zimmer mit dem Hut auf dem Kopfe und schrie:

»Also ich dank' nochmal recht schön, Fräulein, beinahe hätt' ich's vergessen, und ich komm' wieder, mich umzuschauen, wie's Ihnen geht und Ihnen die unnötigen Flausen zu vertreiben. Mahlzeit!«

Dann polterte er die Treppe hinunter und brummte noch immer in sich hinein: »Wenn der Mensch krank ist, ist er unzurechnungsfähig, sag' ich, feig ist er, kuscht sich, für nichts kann er verantwortlich gemacht werden, für gar nichts, für gar – gar – nichts, verleugnet sich selbst, ist ein Hundsfott!« Schließlich fing er an zu pfeifen und stieß die halboffene Ateliertüre mit dem Fuß auf, beide Hände in den Hosentaschen.

»Das ist ab, – ab ist's, sag' ich.« –

Frieda setzte sich und wiederholte sich seine Worte. Das war etwas Neues für sie, so hatte sie nie gedacht, nein, niemals.

Die Eltern, die Verwandten, die Familie. Ja, die Familie! Sie hatte sonst nichts gehabt, woran sie sich klammern konnte, als die Hoffnung, wieder einmal zurück zu ihnen dürfen. Sie hatten ihr Fußtritte gegeben, jawohl, aber sie hatte sie verdient, sie waren im Recht. »Du hast dir's selbst verscherzt, du hast dir's selbst angetan, 160 schlafe nur, wie du dich gebettet hast, für uns existierst du nicht mehr.« Das waren die Abschiedsworte der »Familie« vor sechs Jahren. Und heute sehnte sie sich noch nach den Ihren, hatte in Briefen gebettelt, daß sie sie wieder aufnehmen möchten, hatte auf Antwort gewartet mit aller Sehnsucht. Nur ein paar armselige Worte: »Komm zurück.« Sie hatte ja keinen Menschen. Nach wem, nach was sollte sie sich sehnen?

War es denn nicht das Recht ihrer Verwandten, sie hatte doch gefehlt? Aber auch gelitten, schwer gelitten, weiß Gott, daß das wohl aufgewogen war! Hatten die ein Recht sie so zu behandeln, sie so zu verachten? Den ganzen Tag gingen ihr die Reden Hullers nicht aus dem Kopf, sie legte sich alles zurecht, wurde erbittert, trotzte, aber zuletzt kam ihr doch wieder die Sehnsucht und sie schluchzte: »nur jemanden haben, den man gern hat, der einem was zuliebe tut, nur jemanden –«

Am Nachmittag wollte Huller grüßend am Hausherrn vorübergehen. Doch der stellte ihn:

»Sagen Sie, waren Sie heute Nacht wirklich schwer krank?«

»Schwer krank? Ein kleiner Anfall.«

»Und da war der Kakadu gleich hilfsbereit?«

»Gleich? Weiß ich nicht, ich war ganz außer mir 161 vor Schmerz, aber hilfsbereit, ja, das Fräulein war sehr gut.«

»Meine Frau sah das Licht oben und dann unten bei Ihnen, und zuletzt wieder oben; na, bei der hat's keine Gefahr,« meinte der Hausherr, mit den Augen zwinkernd und ein bißchen diskret meckernd.

»Wieso Gefahr?« fragte Huller gereizt.

»Na, wenn man so häßlich und so alt ist –«

»Sie ist aber gar nicht häßlich, eigentlich hat sie viel Feines in den Linien, alt? nein, sie kann nicht alt sein, nur vergrämt ist sie.«

»Nicht alt, – nicht häßlich? – Aber erlauben Sie mein Lieber! – Ich verstehe mich doch gewiß auf Frauenschönheit und Sie als Künstler!« – er zuckte mitleidig die Achseln, und Huller zuckte sie auch.

»Arme, halbverhungerte Adlige.«

»Ja, etwas Aristokratisches hat sie,« entgegnete Huller eigensinnig. –

Seit der Zeit hieß der Hausherr Frieda den schönen Kakadu, und seine Meinung von der Kunst des jungen Bildhauers sank rapid. Er war wirklich nur das Dromedar.

Huller wurde jetzt erst recht bestärkt mit Frieda zu verkehren. Es freute ihn, die »andern«, die »drüben« zu ärgern.

»Zorn über Philisteria«, sagte er lachend, 162 wenn er bei ihr am Fenster saß und drüben die Köpfe hinter den Gardinen huschen sah. Auch war es so bequem, von der Arbeit wegzuspringen zu ihr hinauf, auf eine Tasse Tee. Sicherlich reizte ihn auch das Geheimnisvolle, Scheue, auch die Zurückhaltung in Friedas Charakter und, obwohl er sich's nicht eingestand, ihr Stolz. Man kam gar nicht dahinter, was mit ihr los sei, und er war sicher, daß sie eine Geschichte habe. Wenn er einmal eine Frage versuchte, war sie gleich abweisend, wenn auch in aller Scheu, so daß er sich tagelang nicht getraute zu ihr zu gehen.

»Ich bin ja ein Tölpel, Fräulein, sehen Sie, ich frage Sie gewiß nicht aus Neugierde! Sie dauern mich nur, und Sie sind gerade so allein wie ich; ich kenn' das, ganz gewiß, ich mein's auch nicht bös, es kommt nur so grob und ungeschliffen heraus.«

»Oh, ich bin nicht böse, ich war gegen Sie viel taktloser, habe Sie das erstemal gleich nach Ihren Eltern gefragt –«

»Takt! Takt! Was ist denn das wieder für eine anerzogene Dummheit?

Taktlos! – Herrgott! Mit so was können Sie mir nicht weh tun. Nur meine Kunst, Sapre, da bin ich empfindlich, da greift mich leicht einer falsch an.«

Nach und nach wurde es ein ganz komisches 163 Verhältnis zwischen den beiden. Sie war ihm gegenüber die Jüngere, Schüchterne, die, die belehrt wurde, die keine Erfahrung hatte, die in lauter Konventionen steckte.

»Ich weiß das besser, ich kenne das Leben, ich seh mit hellen Augen drein. Bilden Sie sich doch nicht ein, daß Sie etwas wissen, Sie wissen gar nichts, Sie sind befangen, verschüchtert, voller Vorurteile, aber wir wollen's schon machen, ja, ja, ich krieg' Sie frei.«

Und dabei rieb er sich die Hände vor Vergnügen. Und in alles steckte er seine Nase. Ihre Stickereien, ihre Haushaltung, ihre Einrichtung, ihre Bücher, alles mußte er sehen.

»Sie lesen schauderhaften Schund, da muß ich was Gescheiteres bringen.«

Da saß er nun stundenlang, trank Tee und las ihr vor. Tolstoi und Nietzsche und Zola und Flaubert, was ihm gerade in die Hand kam.

Einmal sagte er zu ihr: »Fräulein Frieda, warum ziehen Sie sich eigentlich so altmodisch an und verunstalten sich so? Die Leute –«

»Nennen mich den Kakadu, meinen Sie?«

»Nein, das meinte ich nicht, aber, wissen Sie das?« fuhr es ihm heraus.

»Ja, der Bursche da, von drüben, der Sohn des Hausherrn Lehnert, hat es mir ein paarmal nachgerufen.«

»Der Flegel! Tut's Ihnen weh?«

»Es sollte wohl nicht, Sie wissen, ich bin nicht gerade verwöhnt, aber – – nun gut, ich denke für mich ist alles gut genug, ich habe die alten Sachen noch und wenn man, wie ich, schon dreißig ist, braucht man sich und andern nicht zu gefallen.«

»Unsinn, man hat die Verpflichtung, immer so schön als möglich auszusehen, seiner Mitmenschen wegen, und besonders wenn die Mitmenschen Künstler sind.«

Er hatte zu lachen angefangen und sie dabei unverwandt angesehen.

»Sehen Sie z. B. Ihre gräuliche Haarfrisur,« schon war er aufgesprungen, vor sie hin und wollte ohne Umstände anfangen ihr die Haarnadeln aus dem kleinen Zöpfchen zu ziehen.

Da sprang auch Frieda auf, und es war das erstemal, daß er sie fest und zornig sah.

»Ich bin kein Modell.«

Ihre grauen Augen waren aufgerissen, der Mund offen. Er hatte zuerst laut gelacht über ihre unnötige Abwehr, dann schaute er sie an und zum ersten Male kam ihm das Gefühl, daß er ihr als Mann gegenüberstand, und er schämte sich, daß er sie früher oft unzart behandelt hatte.

»Nicht bös sein!« sagte er bittend wie ein 165 Kind und blieb vor ihr stehen, bis sie wieder freundlicher war.

»Ich wollte nicht frech sein, gewiß nicht, ich kann nur die Frisur nicht sehen, weil sie das Feine Ihrer Linien verdirbt, und es wäre nur etwas Natürliches –«

»Ich verspreche Ihnen, daß ich mir Mühe geben will anständiger auszusehen aus Scheu vor der Kunst,« sie lächelte, »nicht meinethalben.«

Frieda schlief unruhig in der Nacht. Sie war lange noch wach gesessen ohne zu arbeiten und hatte mit Eifer darüber nachgedacht, wie sie ihre Frisur wohl verändern könne und sich anziehen solle. Hell hatte ihr früher sehr gut gestanden – sie ertappte sich, daß sie angelegentlich in den Spiegel schaute und eine breite weiße Spitze um den Hals legte. Sie, Frieda, die Alte, die Armselige, Traurige! Und sie schaute sich an im Spiegel und lächelte mit einem vagen Lächeln, das nicht ihr und der weißen Spitze galt. Am nächsten Tage hatte sich das harte, starre Zöpflein in einen weichen lockeren Knoten verwandelt und der saß nicht mehr tief unten in der Halsgrube, sondern am Hinterkopf und ein paar kleine Locken krausten sich an den Schläfen. Nur der Schopf ließ sich nicht bändigen, wirr und widerspenstig stand er in der Mitte über der Stirn, 166 aber da das Haar nicht mehr steil zum Nacken abfiel, sah es nicht so übel aus.

Der alte, dunkle Regenmantel wurde abgedankt und das Haus sah erstaunt den Kakadu in einem hellen Frühjahrsjackett, einem gelblichen Kleid und einem Blumenhut über den Hof gehen. Noch eiliger als sonst, schien es. Frau Lehnert schüttelte bedenklich den Kopf, aber ihr Mann, weil er auf den Glanz des Hauses hielt, meinte: »es sieht besser aus, wenn sie auch im Hinterhaus wohnt.«

Huller war ganz glücklich, als er Frieda so verändert sah. Er drehte sie nach allen Seiten und klatschte in die Hände: »Sehen Sie, wie Sie aussehen können, schön und jung, für vierundzwanzig kann man Sie halten, aber sicher, Tatsache, keine Lüge. Nein, so eine Veränderung! Sie gefallen mir so, keine Falten ziehen, ich mein's nicht schlimm; wie mein Kamerad maskiert war an der Fastnacht und er war so schön, hab' ich mich grad so gefreut.«

Weil der Tag gar so sonnig war, schlug er ihr vor, zusammen spazieren zu gehen, blau zu machen. Er habe eben eine Konkurrenzarbeit »zusammengeschmissen, weil's doch der kriegt, der's kriegen soll«, und habe gar keine Lust, heute was Neues anzufangen, »also los?«

Ja, sie war einverstanden. »Aber auch etwas 167 kultivierter,« sie deutete lächelnd auf seinen zerdrückten Filz, linkisch über ihre Neckerei, wie ein junges Mädchen errötend.

»Natürlich, meinen schönsten!«

Sein Enthusiasmus fing an sie ein bißchen bitter zu machen. In ihren alten Kleidern hätte er sie nie zu einem Spaziergang aufgefordert; einmal war er ihr mit seinen Kameraden begegnet und es schien ihr, als habe er recht kurz und recht flüchtig gegrüßt. Möglich, daß sie sich täuschte, sie war so empfindlich.

Es war ihr eigentlich sehr lieb, daß sie heute länger zusammen sein konnten, sie hatte etwas mit ihm zu besprechen, das ihr schon viele Nächte im Kopf herumging.

Sie saßen auf einer Bank im englischen Garten und sahen über eine Lichtung mit junggrünem Rasen auf dunkle Tannen, der blaue Himmel stand drüber und leichtflockige Wölkchen. Die Luft war gesättigt mit dem schweren Geruch junger Pflanzen und ruhte; in der Ferne rasselte ein Wagen, sonst war's ganz still, noch früh am Mittag. Sie waren zuerst in fauler und behaglicher Stimmung, daß sie gar nicht reden mochten; endlich fing Frieda doch an zu sprechen, zögernd zuerst, dann lebhafter. Sie konnte nicht mehr allein sein, es ging nicht, daß sie so weiter lebte, sie ertrug es einfach nicht. Das 168 hatte sie wohl all die Jahre gequält und geängstigt: die Einsamkeit, sie war nicht geschaffen nur für sich allein zu leben. Und nun drückte sie ein Gedanke schon ein paar Tage und sie konnte zu keinem Entschluß kommen. Er müsse raten und helfen. Die Hausfrau, bei der sie früher wohnte, draußen in der Au war es, hatte eine hübsche, junge Tochter, wirklich ein prachtvolles Mädel, und sie, Frieda, hatte sie gern. Aber die Mutter! Absolut wollte sie das Mädel schlecht machen, und die hatte sich nur zu wehren und zu wehren Tag für Tag. Damals, als sie noch dort wohnte, versprach sie schon dem Mädel, etwas für sie zu tun, sie hatte ja ein kleines Vermögen neben ihrem Verdienst, und konnte gut ein wenig helfen. Aber noch hatte sie nichts getan, und nun ließ sie der Gedanke an das Kind nicht los.

»Sie ist so hübsch, oh, so hübsch und lieb, und gerade weil ich glaube, daß sie ein klein wenig Hang zum Leichtsinn hat, dachte ich mir, es wäre schön, wenn ich sie zu mir nehmen würde.«

»Zu Ihnen? – Weiß denn die Mutter darum?«

»Nein, das ist's eben. Ich habe es dem Mädel gesagt, aber nichts mit der Mutter besprochen. Nun mache ich mir ein Gewissen draus, ob ich ein Recht hatte, das dem Kinde –«

»Ach was! Gewissen, Recht! Die Hauptsache 169 ist, ob Sie sie haben können, ob sie nicht zuviel Last ist für Sie. Und kennen Sie denn die Leute eigentlich? Ob Sie nicht eingehen mit Ihrer Gutmütigkeit? Wer weiß, was das für eine Gesellschaft ist!«

»Nein, nein, das Resl ist gut, gewiß. Wenn ich auch nur kurz dort wohnte, so weit kenn' ich sie. Und ich muß jemand haben, lachen Sie nicht, ich muß. Das Resl ist auch nur zum Frühstück und Abendbrot bei mir, so weit langt es, das Bett habe ich ja, und dann endlich auch einen Menschen um mich.«

»Das Mädel weiß darum, daß Sie sie zu sich nehmen wollen?«

»Nein, keine Spur, nur daß ich etwas tun will, sie muß von der Mutter weg. Unter Tag ist sie ja im Geschäft bei Weidner, dem großen Modewarenmagazin, sie näht dort, und abends hätte ich sie dann, und sie wäre gewiß froh um mich, denn sie hatte mich sehr gern.«

»Na, so probieren Sie's halt. Fortschicken können Sie sie ja immer, Sie wollen es einmal, gut.«

»Aber die Alte?«

»Kriegen Sie rum, sicher, die fühlt sich geehrt! Gehen Sie nur hin, oder wissen Sie was, gehen wir heute hin, wir zwei, ja?«

»Eben daran habe ich gedacht, schon die ganze 170 Zeit, traute mich aber nicht, Sie zu bitten. Ich habe mehr Courage, wenn Sie dabei sind.«

Er war plötzlich ganz enthusiasmiert. »Vielleicht wird das ganz famos, wenn wir einen kleinen Kameraden haben –«

»Die ist nicht klein,« lachte Frieda, »beinahe so groß wie Sie, obwohl sie kaum achtzehn sein wird.«

»Also kommen Sie, kommen Sie, schnell!«

Den ganzen Weg mußte sie von ihr erzählen, und sie wurden dabei ganz fröhlich, Frieda war sogar übermütig. Man konnte doch noch glücklich sein, also! Man konnte sich freuen! Der Frühling und die Sonne waren wieder schön, sie freute sich an ihren neuen Kleidern, sie freute sich mit ihm zu gehen.

»Sie sind ein ganz anderer Mensch, Frieda, seit Sie die neuen Kleider angezogen haben.«

»Nein, Sie haben mir neue Kleider angezogen.«

»Unsinn! Glauben Sie doch das nicht. Sie haben höchstens die Augen zugemacht und in sich gesehen, jetzt machen Sie sie auf, das heißt, so halb und halb, nicht Frieda?« Er schaute sie freundlich lachend an.

Sie nickte. »Wenn Sie nur wüßten, wie ich erzogen worden bin!« Nun fing sie an zu erzählen. Das kam halb gedrängt und halb 171 widerwillig heraus und doch konnte sie ohne die sonstige furchtbare Erregung und ohne die große Bitterkeit daran denken.

Sie war das einzige Kind eines adligen Offiziers. Ihre Eltern waren ganz früh gestorben und hatten ihr ein ganz kleines Vermögen hinterlassen. Nun wurde sie im Hause ihres Onkels mit gleichaltrigen Kousinen zusammen erzogen. Eine adlige Familie auf dem Lande, mit allen Vorurteilen, allem Stolze, allen Engherzigkeiten ihres Standes und einer Frömmigkeit, die nur von der ihrer Gouvernante übertroffen wurde. Und das waren ihre einzigen Verwandten, sie hatte nirgendwo einen, der sich um sie kümmerte. Ihrer eigenen Auffassung nach taten sie auch alles für sie, brachten ihr sogar große Opfer. Davon sprach ihr der Pfarrer, davon sprach die Erzieherin. »Dank, und wieder Dank, und Dankbarkeit, Ergebenheit und Demut,« das waren die Schlagworte ihrer Erziehung. Nie im Leben konnte sie's je wieder gut machen, die drei Kousinen lagen ihr immer in den Ohren mit ihrem ewigen: »Pa und Ma tun ja alles für dich.« Sie war ganz erdrückt davon, daß sie überhaupt existierte, daß sie den Leuten so viel kostete! Und dabei fühlte sie sich wie im Gefängnis. Ein paarmal schlug aber ihr Freiheitsdrang doch heimlich aus. Sie brannte durch zu den Dorfkindern, schrie und 172 spielte und tollte mit ihnen, bis zum Abend, dann schlich sie mit glühenden Backen heim. Natürlich wurde die undankbare Kreatur entdeckt. Sie mußte wohl sehr verworfen sein, daß sie all das Gute so lohnte! Sie redeten ihr das ein, und zuletzt glaubte sie es selbst. Es kamen noch ein paar ähnliche Extravaganzen von seiten Friedas vor, aber sie waren immer von stürmischen überzeugten Reueausbrüchen gefolgt.

Sie hatte ja nur diese Verwandten und mit der Zeit kriegten sie sie schon klein. Von der Welt sah sie nur die kleine Garnisonsstadt und die selten genug, da sie drei Stunden weit entfernt lag, und ein paar der jungen Offiziere, die das Schloß hie und da mit ihren Besuchen bedachten, besonders als sie und die Kousinen erwachsen waren. Aus Dankbarkeit hielt sie sich im Hintergrund, eigentlich hatte sie auch im allgemeinen kein großes Interesse an den jungen Herrn. Sie saß lieber droben in ihrem Zimmer und las. Aber da droben in ihrem engen Mädchenzimmer unter den Büchern, da kam ihr manchmal die Lebenslust, da kam das Verlangen, zu genießen, zu sehen, das Verlangen nach Menschen, die sie lieben konnte, denn wenn sie sich noch so viel Vorwürfe machte, sie konnte ihre »Familie« nicht gern haben.

»Ich war dreiundzwanzig Jahre alt geworden, 173 als ein sehr reicher Gutsbesitzer um mich anhielt, zu meinem Erstaunen. Die Tante und die Kousinen zischten vor Wut, aber der Onkel als praktischer Rechner wollte die Partie.

»Hier ist eine Gelegenheit, deine Dankbarkeit zu zeigen, hier kannst du den Deinen deine Schuld abtragen,« näselte der alte Pfarrer. »Du mußt« erklärte kategorisch der Onkel; ich kann mir's ja denken, daß ich zu viel war, denn er hatte selbst kein großes Vermögen.

Ich weigerte mich aber, trotzdem ich einen braven und guten Mann bekommen hätte. Ich konnte nicht, und das sagte ich dem Onkel ganz fest und einfach.

»Sie hatten einen andern gern, Frieda?«

»Ja, heimlich; einen der jungen Offiziere, er kam oft geritten, wenn die Verwandten fort waren.« Sie hatte sich in eine zitternde Aufregung hineingeredet. Plötzlich wurde es ihr bewußt. Sie schaute auf, und als sie seinen Augen begegnete, gab's ihr einen Riß. Sie schämte sich plötzlich, daß sie dem jungen Menschen ihre Vergangenheit erzählen wollte, ihre innersten Gedanken mit ihm teilen, die sie noch mit keinem geteilt. Sie hatte sich frei reden müssen, alles sollte endlich herunter vom Herzen – schämte sie sich dessen nicht? Er war ihr doch ein Fremder, vielleicht einer, der sie belächelte!

174 Sie war froh, daß er soviel Takt besaß, nicht weiter zu fragen, als sie schwieg.

»Dort ist schon das Haus.« Sie zeigte auf ein hohes enges Haus, das mit der Front gegen Norden lag und feucht und grau aussah; auch die Straße war ohne Sonne, kalt und düster. Alles Glücksgefühl war für Frieda weggewischt, der ganze sonnige, heitere Nachmittag ausgelöscht, es blieb ihr nur etwas Herbes, Trübes in der Seele hocken. Dies dumme Ausgraben ihres früheren Lebens, das ganz zwecklos war, denn auf dem Grunde blieb doch sitzen, was nie wegzubringen war, was sie peinigte, was sie elend, unsicher und heimatlos machte. Sollte sie das dem jungen Kerl vielleicht auch noch verraten? Was ging der sie denn eigentlich an? Als er fragte, ob er mit hinauf sollte, wies sie ihn barsch zurück; sie käme gleich wieder, er solle nur auf sie warten. Was war das auch mit Resl? Was hatte sie sich darum zu kümmern? Am Ende verbrannte sie sich nur die Finger. Doch wie das »Resl« – sie konnte nie »Reserl« sagen – gar so glücklich war, als sie kam und ihr beinahe um den Hals gefallen wäre, war sie wieder zufriedener und ruhiger. Und Reserl schrie gleich: »Oh der schöne Hut und das feine Jackett, ganz der moderne Schnitt, wie wir's schneiden, und wer wartet denn da drunten? Ein junger Herr?«

175 Die Alte knurrte und zeterte lange, als sie vom Mitnehmen hörte, doch da es vorderhand nur für eine Woche sein sollte, gab sie endlich nach, und schlurfte gleich wieder aus dem Zimmer, ohne Frieda Adieu zu sagen. Reserl begleitete Frieda bis unter die Haustüre, dort blieb sie mit neugierigen und spitzbübischen Augen stehen, während Huller langsam näher kam.

Uebermorgen konnte sie schon draußen sein bei Frieda in Schwabing, da war Samstag, da wurde das Geschäft früher geschlossen, oh, sie freute sich schon so sehr und hatte Frieda viel, viel zu sagen!

Huller war ganz frappiert von der Erscheinung Resls. Ein großes, blondes Mädchen mit unglaublich zartem Kolorit; wie ein Blütenblatt sah ihre Wange aus, und die ganze Haut schien die Feuchte und Kühle eines Blütenblattes auszuströmen. Fast zu zart schien die Haut bei Resls ausgeprägt üppigen Formen; die Augen waren groß mit langen, dunklen Wimpern, die sie meist gesenkt hielt. Ein klein wenig List lag wohl in den Augenwinkeln und genug Brutalität in dem großen, intensiv roten Munde, überlegte Huller bei sich. Lebenskräftig, genußsüchtig, begehrlich, aber noch unwissend, kalkulierte er weiter, als er grüßend näher trat. In dem Augenblicke sagte Reserl aber auch schon Adieu, 176 freilich nicht ohne ihn noch angesehen zu haben. Und wie hatte sie ihn angeschaut! Er machte in Gedanken ein Fragezeichen hinter das unwissend.

»Nun?« fragte er gespannt.

»Sie kommt.«

»Ein reizendes Ding.«

»Habe ich's Ihnen nicht schon gesagt? Und noch so kindlich!«

»Verliert sich, Fräulein Frieda, die sieht nicht danach aus, als wenn – –! verzeihen Sie, ich will Sie nicht kränken und kein Unglücksrabe sein. Ich meine, Sie kennen das Mädel am Ende doch nicht und Sie werden noch Geschichten kriegen mit ihr.«

»Mit der nicht, gewiß nicht, beruhigen Sie sich.«

Huller zuckte die Achseln und schwieg.

»Wann kommt sie?«

»Nächsten Samstag schon.«

»Da wollen wir ein bißl lustig sein, ein bißl Empfang feiern, Sie brauchen's, Frieda! Sie werden gewiß fröhlicher werden, wenn Sie ein junges Geschöpf um sich haben, gewiß, und das ist gut, also feiern wir? Ja? – Und dann werfen Sie all den alten Vergangenheitskrempel fort, denken Sie, das ist aus, ist vorbei! Schrumm! Schütten's zu, die ganze Grub'n, und lachen Sie 177 drüber, dann sind Sie frei, dann können Sie wieder leben.«

Aber sein Uebermut und seine Heiterkeit konnten sie nicht anstecken. Sie war müde und wollte nach Hause fahren; die Pferdebahn war gedrückt voll und sie wurden getrennt, auch auf dem kurzen Nachhauseweg kamen sie zu keinem richtigen Gespräch. Frieda blieb verstimmt und traurig.

Unter der Haustür blieb Huller stehen, straffte seinen Rücken und stand militärisch gerade. »Eins – zwei – drei! Kopf in die Höhe, Frieda! Jetzt zieht die Freude ein. Wir schreien hurra! Sie und ich auch, denn mit der Kunst die Freude! – Na ja! – Sie machen mir auch keine, wenn Sie immer in den alten Geschichten herumstochern! Ich allein kann Sie nicht frei machen, von innen heraus muß es kommen« – und in einem plötzlichen warmen Antriebe bückte er sich und küßte ihre Hand, von der sie schon den Handschuh gezogen.

»Sie verdienten es, Sie Gute.«

Frieda zitterte, als sie die Treppe hinaufsprang, und droben mußte sie sich gleich setzen. Das Gesicht in die Hände gedrückt, blieb sie lange unbeweglich. Dann kam ein Schauer über sie, die Achseln zuckten, die Brust hob sich, und dicke Tränen fielen zwischen ihren Fingern durch. Sie wußte nicht, was sie so traurig machte. Es war 178 nicht die Erinnerung an ihre Jugend, nicht die Vergangenheit, nicht ihre Sehnsucht, es war die Liebe.

 

Am Samstag kam das »Resl« wirklich. Schon vor sechs stand Huller auf der Lauer, jemand mußte doch da sein, vielleicht traute sie sich nicht herein, denn es stand groß angeschrieben: »Vor den Hunden wird gewarnt«. Aber das fiel dem Resl gar nicht ein. Sie kam in einem Fiaker, mit einem ziemlich großen Koffer, den ihr Huller gleich beim Eingang abnahm. Sie machte allseitig Furore; natürlich hatte sie sich möglichst schön gemacht und sah wirklich elegant aus. Man war nicht umsonst bei Weidner!

Die feine Toilette und der Fiaker verstimmten Frieda etwas, auch die neugierigen Augen ringsum. Resl war aber so unbefangen dabei, konnte so herzlich danken und sich so schüchtern und bescheiden geben, daß sie nicht böse bleiben konnte. Zum Anbeißen sah das Mädel aus mit der Apfelblütenhaut und den vollen roten Lippen, die ordentlich gespannt und prall waren. Huller schaute sie beständig an, während er hinter den zweien dreinstolperte. Der Koffer war sehr schwer, und er wollte doch mitkommen! Für »das Haus« war es ein großes »Gaudium«, daß sich das Dromedar so abzappeln mußte. Aber er gab nicht nach, 179 immer keuchte er dicht hinterdrein, und immer hingen seine Augen an Resl. Ja ja, etwas reif waren ihre Formen freilich für ein so junges Ding, sie sah viel eher wie eine junge Frau aus, der Nacken war voll und kurz, die Hüften sehr entwickelt.

Na, die gute Frieda, wenn sie sich nur nicht verrechnete in ihrer Güte, denn kokettieren konnte das Mädel, daß es nur so eine Art hatte!

Freilich im Verlauf des Abends verging der Eindruck wieder.

Resl hatte sich umgezogen und kam in einer ganz einfachen Bluse und einem weißen Schürzchen. War sie vorher eine Dame gewesen, so sah sie jetzt entzückend aus mit ihren etwas trägen, müden Kinderbewegungen und mit ihrer Unbeholfenheit in häuslichen Dingen.

»Ich möcht' ja gern helfen, Fräulein von Kausnitz, aber ich bring's nicht zusammen, Sie wissen ja, die Mutter hat mich nicht lassen. Wenn ich was unrecht mach', sagen Sie's halt, ich bitt' gar schön.«

»Aber Kind, du machst ja alles so nett!«

Frieda brachte es nicht übers Herz, ihr zu sagen, daß sie in hohem Grade linkisch war und ihr nur im Wege herumstand. Und wie rührend bemühte sich das Resl, hochdeutsch zu reden, sie hatte ja sonst ein ganz gräuliches Münchnerisch 180 gesprochen! Das tat sie ihr zulieb, sie wußte, daß sie es nicht leiden konnte. Das war doch reizend! Auch Huller fand das augenscheinlich.

Heute hatte Frieda schon den ganzen Tag nachgedacht, wie sie es wohl einrichtete, daß Huller jetzt nicht mehr so oft käme, wo das Resl da war. Er war nichts für das Mädel; natürlich wollte er jetzt erst recht kommen und »das Haus«, das sich allmählich, wenn auch knurrend, an ihre Kameradschaft gewöhnt hatte, wurde dann aufs neue wieder erregt und »schäumte« in unnötigen Klatschereien auf. Dem mußte sie vorbeugen und mit Huller reden, denn sie war verantwortlich für das junge Ding, das fast noch ein Kind war und bemuttert werden mußte. Es war denn doch etwas anderes, Huller und die Kleine und Huller und sie. Ein komisches Verhältnis übrigens, er bemutterte sie nämlich stets. Auch diesen Abend wieder. Er richtete den Teetisch, er kochte Tee, er war voller Fürsorge, daß sie alles Gute auf dem Teller hatte, und ließ sie gar nichts tun, wobei ihm das Resl fleißig zu assistieren versuchte.

»Ja, wenn Sie das Resl anlernen, mich so zu verwöhnen, daß ich gar nichts mehr tun darf, bin ich bald überflüssig,« scherzte Frieda.

»Natürlich muß das Fräulein mir helfen. In allem. Sie muß auch mithelfen, daß Sie wieder 181 lustig werden, so wie wir zwei! Wir sind frohe Menschen, wir scheren uns den Kuckuck um andrer Leute Nasen und böse Zungen, wir sind frei, nicht, Fräulein Reserl? Ich hab's Ihnen ja gleich angesehen, daß Sie sich nichts aus den umgebenden Kaffern machen. Jetzt schaut sie! Das versteht sie nicht! Macht nix. Auf's Wissen kommt's nicht an, nur auf die Praxis und die hat das Reserl, mein' ich immer, gelt? – Verzeihen Sie, Fräulein Frieda, ich schwätze ja Blech, und vergesse, daß Sie keinen Tee mehr haben! Schimpfen Sie nur tüchtig, das soll Ihnen gut tun und mir auch.« Und kniend bot er ihr eine Tasse Tee an. Er war ganz wie ausgewechselt, voller Unruhe und Erregtheit.

»Ich will nämlich nur dem Fräulein Resi zeigen, wie sie Sie behandeln muß. Wenn das getan ist, und sie hat es endlich kapiert – schnell geht's nicht bei ihr! – setzen wir Alten uns zur Ruhe und lassen uns von der blühenden Jugend bedienen.«

»Freilich hab' ich's schon kapiert. Sie, da kennen's mich schlecht. Darf ich den Herren Eltern vielleicht eine Maß Bier holen? Ich hab' selber einen Mordsdurst nämlich, auf Bier, mein' ich; auf den Tee kann ich verzichten.«

»Fräulein Resi, Ganymed bin ich, das ist nämlich so was wie Schenkkellner, also bin ich 182 verpflichtet, für die jeweiligen Getränke zu sorgen. Unmöglich können Sie auch die nächsten Brennpunkte des Münchner Daseins, Bier und Wirtshäuser finden –«

»O je! Ich find' jedes Wirtshaus, ich hol's Bier!«

»Nein, ich, erlauben Sie gütigst!«

»Wo ist der Maßkrug?«

»Ich werde mich hüten, Ihnen meine Attribute auszuliefern! Ja, schauen Sie nur! Attribute sind etwas Scheußliches, Gräuliches, Fürchterliches! Man muß gewappnet sein bis an den Hals, wenn man sich getrauen darf –«

Zuletzt gingen sie miteinander. Auf der Stiege schon sprach ihr Huller sein Wohlgefallen aus, auf dem Hof hieß er sie kurzweg Resi und im Zurückgehen frug er das »schöne Mäderl«, ob es ihn nicht ein wenig gern haben könne.

Resi erwiderte gar nichts; es war, als habe kein Ton von dem, was er gesprochen, ihr Ohr berührt. Huller war baff. War sie zornig, hatte er sie unterschätzt, sich im Ton vergriffen und sie etwa wirklich gekränkt?

Auf der Stiege ging sie voraus und er nahm sie plötzlich fest um die Taille.

»Bist du mir bös, du?«

Sie schlug nach ihm, aber nur ganz leicht: »Sie!« Es klang vorwurfsvoll, doch gar nicht 183 recht zornig. Er dachte sich ihr Gesichterl dazu, die zusammengezogenen Augenbrauen, die halb drohend aufgeworfenen Lippen.

»Gelt, du möchtest lieber einen Kuß?« flüsterte er und suchte sie aufzuhalten, doch sie sprang schnell die letzten Treppenstufen hinauf:

»Kamel!« raunte sie ihm leise zu, als er halb verwirrt die Türe öffnete, und er sah, daß sie ihn auslachte. Drinnen war sie wieder wie vorher, schüchtern, bescheiden, lieb. Huller war voller Verwunderung, daß sie sich so schnell zurechtfand, denn ihm machte es Schwierigkeiten, den Unbefangenen zu spielen, und das »Fräulein Resi« blieb ihm immer im Hals stecken. Nach und nach ging's freilich, aber ein unangenehmes Gefühl Frieda gegenüber wurde er nicht los. Erst als sie später Wein tranken, kam ihm die Stimmung wieder.

Er plauderte von allem möglichen; von der Akademie, von seinen Freunden, von seinen Arbeiten.

»Mein Atelier müssen Sie sehen, Fräulein Resi!«

»Aber ich versteh' nichts davon!«

»Sie mögen halt nicht!«

»Ich mag schon, wenn Fräulein von Kausnitz mitgeht.«

Huller biß sich auf die Lippen. Er war wieder 184 ein rechter Tölpel gewesen! War es ihm denn je eingefallen, Frieda zu bitten? Sie schien ihm auch verstimmt, obwohl sie heiter erwiderte: »Ja, liebes Kind, mich hat Herr Huller noch nie eingeladen!«

»Aber!« Resl riß die Augen weit auf, schaute ihn mit einem Verziehen der Mundwinkel nach abwärts an und sagte halblaut: »So ein Kamel!«

»Dromedar, bitte, heiße ich, ich habe nämlich nur einen Höcker! Uebrigens, Fräulein Frieda, Sie sehen wieder einmal, daß ich ein Bauer bin. Es ist mir nie eingefallen, Sie zu bitten, zu mir zu kommen, weil es selbstverständlich war, daß Sie kommen könnten, wann Sie wollten. Ich hab' einmal keine Manieren. Schließen wir einen Pakt. Sie erziehen mir einiges an, und ich erziehe Ihnen einiges ab. Aber Sie haben ja mein Atelier schon gesehen! Natürlich, wenn auch nicht in Tagesbeleuchtung!«

»Herr Huller!« Frieda war ganz blaß geworden, und er hätte am liebsten mit Resi geäugelt, ob sie sich auch wie er über die prüde alte Jungfer mokiere, aber er schämte sich dessen auf einmal, er wußte zwar nicht recht, weshalb, er schämte sich einfach. »'tschuldigen Sie, Frieda! Ich glaube, ich bin nicht ganz zurechnungsfähig; ich habe zu viel Wein getrunken. Das vertrage ich 185 nie, das macht mich rabiat; es ist besser, ich gehe jetzt. Nur müssen Sie mir prompt sagen, daß Sie mir nicht bös sind, ich weiß zwar nicht mehr, warum Sie mir bös sein sollten, ich bin nämlich wirr im Kopf, oder so – aber es ist mir, als hätte ich Ihnen etwas abzubitten – so oder so.«

Während Resi Licht holte, um ihm hinunter zu leuchten, blieb er zwar etwas wacklig aber sehr schuldbewußt vor Frieda stehen. Er schämte sich vor ihr, obwohl sie ihm »grandios« lächerlich vorkam. Er war falsch gegen sie gewesen, keine Frage, und das Resl war auch falsch. Sie waren einfach Plebejer und Frieda von einer andern Rasse. Lächerlich prüde, ein verrupfter, verzupfter Kakadu – und doch, er bettelte förmlich: »Ich kann nicht gehen, bis Sie mir sagen, daß Sie mir verziehen haben. Was und weshalb und wodurch weiß ich nicht mehr, aber schimpfen Sie, zanken Sie, nur seien Sie wieder gut!«

»Ich bin ja gut!«

Unsicher bückte sich Huller über ihre Hand, drückte sie fest an die Lippen, sah ihr nochmals in die Augen, ganz erstaunt, daß sie voll Tränen standen, schüttelte, ein wenig aus der Fassung gebracht, den Kopf, tätschelte hierauf liebkosend ihre Hand: »Lieb sein, gut sein, lieb sein, gut sein« dabei murmelnd.

Er war nicht ganz sicher beim Hinuntergehen; 186 auch flackerte das Resl, ungnädiger Laune wie sie schien, mit dem Licht hin und her, daß er fast die Stufen nicht gefunden und über die Treppe hinabgestürzt wäre. Sie warf ihm noch ein ungnädiges: »Schlafen's wohl« nach, während sie die Treppe hinaufrannte.

Frieda stand noch auf demselben Fleck wie vorhin; sie schloß Resi lang und fest in die Arme und küßte sie.

»Jetzt kann ich dir erst richtig »Grüß Gott« sagen, liebes Kind. Hab mich ein wenig lieb, so wird es sehr schön werden bei uns. Ich hab' dich ja gern, das weißt du, und ich hoffe, es wird dich nicht reuen –«

»Aber Fräulein von Kausnitz! Ich bitt' Sie! Keine Spur! Sie wissen es ja selbst, wie's bei uns ist. Die Mutter! Brr! Grausen tut mir vor ihr! Wenn sie mich nur verkuppeln könnt', an den, den sie ausgesucht hat.«

»Komm setz dich zu mir und erzähle. Oder bist du müde? Dann können wir auch zu Bett gehen.«

Nein, sie war nicht müde; das kannte sie überhaupt nicht. Aber was sollte sie erzählen? Zu Hause war eben immer derselbe Tanz, und jetzt gerade war es noch ärger. Resi stockte – besser sie sagte gleich alles, was sie auf dem Herzen hatte.

187 »Warum ärger?« Frieda nahm sie bei der Hand. »Mir kannst du alles sagen, ich bin dir wie eine –« beinahe hätte sie ›Mutter‹ gesagt, besann sich einen Augenblick und sagte »wie eine Freundin!«

»Ich trau' mich nicht!«

»Oh, geh! Sag auch nicht immer Fräulein von Kausnitz, heiß mich Frieda.«

»Sie sind so gut! Wissen Sie die Mutter, ich hab's ja schon gesagt, hat einen für mich, der viel Geld hat und mich gleich heiraten würde. Ich mag ihn aber nicht –«

»Weil du einen andern gern hast! Hab' ich mir gleich gedacht. Will der dich auch heiraten?«

Resi nickte eifrig: »Darf ich ihn einmal bringen?«

»Gewiß, das mußt du sogar. Schau, schau, hat sich das Kind selbst einen gesucht!« Sie streichelte Resi die Backen: »Und lieb hat sie ihn arg? Oh, du Glückliche! Ich will alles für dich tun, was ich kann, aber du mußt ganz offen sein und mir alles sagen, kein Geheimnis vor mir haben. So jetzt bin ich beruhigt, nun gehen wir zu Bett.«

Am nächsten Morgen wollte Frieda ihr neues Pflegekind dem Hausherrn anmelden. Sie war schlechter Laune, denn sie hatte die halbe Nacht nicht schlafen können. Der Sylphiderich war 188 wieder einmal betrunken nach Hause gekommen, hatte fürchterlichen Radau auf der Treppe gemacht, mit seiner Frau krakehlt, die Türen zugeschlagen und zuletzt scheinbar alles kurz und klein geschlagen. Huller mußte sich eingemischt und geschimpft haben, die Frau weinte und Resl fand das alles scheinbar sehr komisch, denn sie wäre am liebsten aus dem Bett gesprungen, um zu sehen, was los sei, so neugierig war sie.

Frieda hatte gute Lust, den nächtlichen Skandal dem Hausherrn zu berichten, doch hielt sie der Gedanke an die Sylphide mit ihren stieren Augen davon ab. Vielleicht schlug dann der Mann in der Wut dies arme, stumpfe, gleichgültige Weib erst recht.

Der Bengel, der Frieda den Namen »Kakadu« aufgebracht hatte, öffnete. Er ließ sie draußen stehen, riß drinnen eine Türe auf und schrie aus vollem Halse:

»Papa, Papa! Der Kakadu ist eben angeflogen gekommen. Draußen wartet er!«

Frieda hatte es wohl gehört.

Der Vater kam nach einiger Zeit selbst und bat sie mit aller Würde in sein Arbeitszimmer einzutreten. Er war verbindlich mit einer gewissen herablassenden Ritterlichkeit, die nicht frei von Strenge war. Der »mächtige Pascha« nannte ihn Huller.

189 »Was wünschen Sie, Fräulein von Kausnitz?«

»Ich habe ein junges Mädchen zu mir genommen und möchte sie bei Ihnen anmelden. Sie haben nichts dagegen?«

Er betrachtete angelegentlich seinen dicken Smyrna-Teppich. »Die Eltern wissen darum?«

»Natürlich.«

»Das junge Mädchen hat irgendeine Stellung?«

»Gewiß.«

»Ist bei –? –«

»Bei Weidner.«

»Danke, ich habe natürlich nichts einzuwenden, empfehle mich, mein Fräulein.«

Er hatte freilich nichts einzuwenden. Besagtes Fräulein gefiel ihm sogar über alle Maßen gut, und er war Frauenkenner! Zu seinem Freunde, dem Hauptmann im zweiten Stock sagte er in aller Vertraulichkeit: »Nun ist's aber faktisch ein Raritätenkasten drüben, denn die haben eine Schönheit, eine Schönheit sag' ich dir! Paß nur auf, wenn das Geschäft aus ist und sie kommt, du wirst Augen machen!« –

 

Es regnete. Ein milder warmer Mairegen nach heißen, sonnigen Tagen, ein Regen, bei dem die Erde zu dampfen schien und die jungen 190 Blätter grüner, immer grüner wurden. Es sah aus, als wolle die Sonne jeden Augenblick durchkommen, so weiß und leicht war der Himmel; doch regnete es sachte weiter, nun schon den zweiten Tag. –

Frieda saß am offenen Fenster und stickte. Endlich wieder ein Tag, an dem sie mit Eifer arbeiten konnte! Sie war unverantwortlich leichtsinnig und faul gewesen seit Huller mit ihr verkehrte. War er des Abends da, so stickte sie wohl, das heißt sie hielt ihre Arbeit in der Hand und tat mechanisch ein paar Stiche. Sie hörte zu begierig zu, sie hatte zu viel in sich aufzunehmen. Alles was er sprach und was er las, war für sie aus einer andern Welt, aus einer, die sie nun kennen lernen wollte, um jeden Preis.

Nun kam der Termin der Arbeitsablieferung, sie war sehr im Rückstand geblieben und stickte ohne Unterbrechung. Es war ihr eine ganze Lust, daß es so schnell ging und sie summte vor sich hin: »Uebern Garten, durch die Lüfte, hör' ich Wandervögel ziehn.«

Wie lange hatte sie wohl nicht mehr gesungen? Ganz leicht war's ihr heute zumut, wenn auch nicht ruhig, nicht friedlich. Es war ein Drängen und Sehnen, ein wunderliches, bebendes Zusammenfassenwollen all dieser unklaren, immer wieder fliehenden Gedanken, eine kleine, beinahe 191 süße, zitternde Angst, sie nicht festhalten zu können.

Sie hörte auf mit Singen und wurde sich jetzt erst wirklich bewußt, daß sie laut und hell gesungen hatte.

Da lachte sie halb verlegen, halb belustigt vor sich hin und strich sich nachdenklich über die Haare. Dann stand sie auf, langsam, träg wie im Traum stellte sie sich vor den Spiegel. Ihr Mund lachte nicht, aber sie sah heiter aus; ihre Augen suchten ihr Spiegelbild, und doch tat sie das nur mechanisch, nur nebenbei. Ihre Gedanken waren durch etwas anderes gefesselt, aber durch etwas, das mit ihrem Spiegelbild in Zusammenhang stand. Sie zupfte ein paar der braunen gekrausten Haare in die Stirne und fuhr mit dem Zeigefinger über ihre dichten Augenbrauen, aber so oft, daß sie unmöglich noch wissen konnte, was sie tat, dann kamen wieder ein paar Takte des Liedes: »Sie ist meine, sie ist mein.« Nun war sie plötzlich wach. Außer dem feinen Sausen des Regens auf den Blättern hatte sie noch einen Ton gehört wie das Knirschen des Kieses, Resl sollte zurückkommen. Sie horchte. Sie hatte wohl das Oeffnen und Schließen der Haustüre gehört, aber keinen Tritt auf der Treppe und Resl machte sich sonst sehr bemerklich, sie war schwer und faul genug.

192 Hörte sie nicht ein hastiges Gespräch, ein Gekicher und Gewisper unten im Gang? Huller war zu Hause, sie wußte es. In diesem Augenblick gab's ihr einen Stich, das Blut stieg ihr zu Kopf, sie riß die Türe auf – richtig Resl. Sie kam gleichmütig die Treppe herauf, rot und heiter, und gerade drückte sich Huller ins Atelier.

»Hast du mit ihm gesprochen?«

Frieda hatte ihre Stimme nicht in der Gewalt. Halb mürrisch, halb erstaunt, erwiderte Resi:

»Er will heute abend kommen, aber wir sollen noch Antwort sagen.«

»So geh doch, geh! Er soll kommen,« drängte sie Resi fort.

Sie war ganz verwirrt. Als Resi gegangen war, verfolgte sie ihre Schritte die Treppe hinunter; sowie sie seine Stimme und die ihre hörte, war sie sich mit einemmal klar, was mit ihr sei. Sie liebte Huller und sie war eifersüchtig auf Resi.

Es war ihr nun unerträglich, zu denken, daß Huller im Augenblick kommen könne; sie wollte Resi zurückrufen, blieb aber steif stehen und starrte die Türklinke an. Ganz deutlich hörte sie den leisen Tropfenfall draußen, er tat ihr weh. Sie hätte schreien mögen vor Erregung und erwartete die beiden voller Angst.

193 Huller fühlte sich sehr unzufrieden an diesem Abend. Eigentlich schon länger, denn es kam ihm vor, als hätte er sich Frieda gegenüber eine Falschheit vorzuwerfen. All die kleinen Heimlichkeiten, das Gewisper mit Resi bedrückten ihn. Wenn er es genau besah, war es ja nichts. Er hatte Frieda wiederholt vor Resi warnen wollen und konnte doch eigentlich nichts Unrechtes von ihr sagen. Seine Zudringlichkeiten wehrte sie stets ab, aber es schien doch, als fordere sie sie heraus. Einmal wollte sie als Dame behandelt werden, ein andermal benahm sie sich wie ein Gassenjunge, oder über alle Maßen schnippisch. Wie oft hatte er das »schöne Mäderl« hören müssen! Jeden Tag. Denn er paßte jeden Tag getreulich auf, wenn sie nach Hause ging. Dann warf sie ihm gewöhnlich zu: »Das Mäderl geht nach Haus!« und sprang an ihm vorbei. Das konnte er doch Frieda nicht sagen! Auch das nicht, daß er Resi gern ins Atelier gezogen und herzhaft abgeküßt hätte. Sie würde es gleich tragisch aufgefaßt haben, denn sie war noch immer unglaublich albern und altmodisch in solchen Dingen. Und doch war ihm unbehaglich zumut, weil ihm die paar Worte, die er mit Resi gesprochen, als Heimlichkeit vorkamen. Sie fielen aus dem Ton, in dem sie beide vor ihr und aus dem Ton, in dem sie mit ihr verkehrten. Es 194 war ganz einfach Heuchelei dabei, und das widerstrebte eigentlich Huller gründlich, das lag ihm nicht; sackgrob sein, rücksichtslos sein, die Leute derb anpacken, das war seine Art, mit Katzentritten zu gehen, hatte er nicht gelernt, er »dilettierte« sehr darin – das machte ihn mürrisch.

Auch Frieda war an diesem Abend anders als sonst; sie war wieder ganz der schreckhafte Kakadu von früher, und hätte Resi nicht in einem fort geplappert, es wäre ein sehr stiller Abend geworden. Resi bekümmerte sich nicht im mindesten um Huller, und das reizte ihn.

»Ich habe Sie heute nämlich schon gesehen, Verehrte, und zwar in Begleitung,« sagte er herausfordernd.

Resi kniff die Augen zusammen und warf ihm hin, ohne ihn anzusehen: »Vielleicht sehen Sie das öfter noch.«

»Soo!« Huller war das Blut zu Kopf gestiegen, es riß ihm die Frage heraus: »Wer war der Herr?«

»Schaut's den an!« platzte Resi in echtem Münchnerisch heraus.

»Wir wissen's, gelten's Fräulein Frieda, wir zwei schon!« triumphierte das Resl, und streichelte fortwährend Friedas Hand. Huller war's, als habe sich Resis Zünglein schadenfroh zwischen die Lippen gedrängt, er stand auf, verabschiedete 195 sich rasch und ging in schlechter Laune, wütend auf Resi. Sie leuchtete ihm wieder wie immer, aber er gab ihr nicht die Hand wie sonst; als er unten war, konnte er sich aber doch nicht versagen hinaufzuschauen. Täuschte er sich, oder hatte sie wirklich etwas gesagt? Und so ein liebes Gesichterl machte sie dazu!

»Hex!« rief er halblaut und wäre beinahe wieder hinaufgerannt. Sie stand aber ganz ernsthaft oben, wie wenn nichts gewesen wäre, und ging ruhig zurück.

Frieda lag schon zu Bett; der Mond war durch die flockigen Regenwölkchen gekommen und machte das ganze Schlafzimmer hell. Als Resi eben einschlafen wollte, hörte sie ein Geräusch, das wie Schluchzen klang, und sah, daß Frieda im Bett kauerte, die Arme aufgestützt und den Kopf darauf gelegt. Mit einem Satz war sie wieder aus dem Bett und bei Frieda.

»Darf ich?« – Im Nu war sie unter die Decke geschlüpft und hatte wortlos ihren Arm um den Leib der andern gelegt. Frieda fing noch mehr zu weinen an, ihr Kopf legte sich hilflos auf Resis Schultern und zum erstenmal, seit sie das Mädel zu sich genommen, fühlte sie, daß sie recht getan. Weich und tröstend schmiegte sich der junge Körper an den ihren. Resi sprach nichts, fragte nichts, hielt nur die Zitternde an sich 196 gedrückt. Frieda wurde durch die ungewohnte Güte und die ungewohnten Liebkosungen in einen Zustand exaltierter Teilnahmebedürftigkeit gebracht und begann stockend, und von Weinen unterbrochen, zu reden. Ihre ganze Lebensgeschichte kramte sie aus. Wie wenn die Liebe zu Huller ihre andere, ihre erste wachgerufen, so stand sie mit allen Details vor ihr. Ja, Resl mußte sie verstehen, denn sie liebte! In dieser Stunde vergaß sie ganz, was sie nie vergessen, was sie immer gefühlt, daß sie die Aristokratin, Resl die Plebejerin, daß sie die Aeltere, die Ueberlegenere war; es war nur das Weib, das sich zum Weibe flüchtet in seiner Not, das Trost und Teilnahme heischt vom Weibe als von der Verstehenden.

Die halbe Nacht sprach Frieda fort. Nicht nur von ihrer Liebe erzählte sie, auch von ihrer Verstoßung, auch von ihrem Suchen nach einem Beruf, von ihrem kläglichen Scheitern überall, bis sie es zuletzt zur Stickerin gebracht. Auch das Allerletzte preßte es ihr noch heraus, halb schon von Resi erraten. Ja, sie hatte ein Kind; ein schwächliches Ding war's bei der Geburt und kam gleich in den allerersten Tagen fort. Resl aber solle ja nie davon reden, nie mehr! Nicht zu ihr und nicht zu andern. Sie wolle nicht daran 197 erinnert sein, nicht daran denken, es war alles so schrecklich, so schrecklich gewesen!

»Haben Sie es nicht wieder gesehen?«

»Nein, nein! Ich kann nicht! Seinetwegen habe ich so viel leiden müssen, seinetwegen wurde ich verstoßen –«

»Und sein Vater?«

»War ein Schuft, ich weiß nichts von ihm.«

So erzählte sie immer weiter, die ganze Leidenszeit nach der Geburt des Kindes, ihr einsames Leben, nur von Huller sagte sie nichts. Aber es war eine solche Innigkeit in ihren Worten an Resi und eine solche Zärtlichkeit, daß die nun auch ihrerseits alle Schleusen ihrer Liebe und ihres Stolzes auf den »Bräutigam« öffnete.

»Ich darf ihn recht bald bringen, ja? Ich kann's ja nimmer erwarten! Oh, er ist ein sehr feiner Kerl und splendid! Ich bin schon so gemein, daß ich keinen ohne Geld möcht', ich hab' zu viel Elend daheim g'sehen. Ich hab' genug! Ein schönes Leben will ich haben – aber ich bin so müd jetzt –« sie konnte die Augen nicht mehr aufhalten, und während ihr Frieda noch Warnungen zuflüsterte, schlief sie ein.

Am andern Morgen kam bei Frieda eine rechte Ernüchterung nach der nächtlichen Exaltation und ein großer Ekel vor sich. Gegen Resi war sie gereizt. Die war mürrisch, weil sie nicht genug 198 geschlafen hatte, schlurfte scheltend herum und erschien Frieda auf einmal roh und abstoßend. Auch war sie schnippisch und nahm einen ganz eigentümlichen Ton ihr gegenüber an. Die Aristokratin, die ältere Frau empörte sich. Sie war wohl toll gewesen heute Nacht? Einem so jungen Geschöpf, einem Mädel, das sie fast auf der Straße aufgelesen, ihr ganzes Leben zu erzählen, ihr Herz auszuschütten! Da hatte sie sich eine schöne Kette angelegt! Wahrlich, sie machte recht große Fortschritte in der Kunst frei zu sein!

Nachmittags besuchte sie Huller. Frieda hatte eben an ihn gedacht und sich nach ihm gesehnt. Daß er nun gerade kam, war ihr, wie wenn er sie ertappt hätte und machte sie demütig, unsicher und voll Scham. Huller hatte mit ihr zu reden. Es ging unmöglich mehr anders. Er hatte Resi heute Mittag bei Schleich gesehen, in einer ziemlich düstern Ecke und zwar mit einem »von insere Leit«, er machte eine sehr bezeichnende Bewegung mit dem Zeigefinger nach der Nase, die er herunterdrückte.

»Fräulein Frieda, ganz bestimmt, es ist ein richtiger Geldprotz, elend elegant und nicht mehr ganz jung, ich glaube er kriegt schon einen Bauch. Was braucht sie mit so einem Kerl in einem Restaurant zu sitzen? Und mit dem 199 mächtigen Pascha hab' ich sie auch schon gesehen, er ist mit ihr abends nach Hause gegangen und schaut sie an mit Augen –! – freilich am Tor grüßt er sie förmlich, wie wenn er sie eben erst getroffen hätte! Und mit dem lacht sie –! Oh, so lacht sie nie bei Ihnen, und so lacht sie nicht mit mir. Seien Sie vorsichtig mit dem Mädel, daß Sie nicht eingehen, wissen Sie, bei Weidners sind sie alle flott und nehmen's nicht genau; und wenn sie nicht so ist, wird sie's noch.«

»Bilden Sie sich doch nicht so viel ein! Warum soll das arme Ding nicht mit seinem Bräutigam in einem feinen Restaurant essen?«

»Bräutigam? hm! Ich zweifle vorderhand.«

»Warum? Lassen Sie dem jungen Mädel doch das bißchen Glück. Ich weiß nicht was Sie haben! Sie ist so glücklich, daß sie ihn bringen darf, und hat ihn wirklich gern, was schadet's denn, wenn er ein Jude ist?«

»Mir kann's recht sein. 's ist nur wegen Ihnen. Nur keine weitere Enttäuschung, das können Sie nicht brauchen. Ich weiß überhaupt nicht, seit das Mädel da ist, ist kein rechter Ton mehr zwischen uns. Haben Sie das noch nicht bemerkt? 's ist rein wie verhext! Man redet nichts Ordentliches mehr, lauter schlechte Witze und Dummheiten werden gemacht, man kommt gar nicht dazu, über das zu reden, was man auf 200 dem Herzen hat. Bei Ihnen allein konnt' ich's tun, das tat mir so wohl, ich wollt', sie wär' gar nicht gekommen! Alle Unbefangenheit ist zum Teufel, und lustiger sind Sie dadurch auch nicht geworden. Was ist das überhaupt in der letzten Zeit mit Ihnen? Sie sind ja die reinste Trauerweide! Mögen Sie mich nicht mehr?«

Frieda schüttelte nur wortlos und abwehrend den Kopf, sie schämte sich. Es war ihr, wie wenn sie ihm gezeigt hätte, daß sie ihn liebe, und wie wenn er sie drüber ausgelacht. Wie er jetzt so vor ihr stand, ganz Kraft und Jugend, so bewußt und eigenwillig, war sie ganz in seinem Bann, sie ertrug es nicht, daß er eine andere liebte, sie wollte ihn für sich, ganz für sich haben. Ihr Kopf wehrte sich, ihr Verstand wollte die unsinnigen Gedanken verjagen, und doch –

Huller stand am Fenster und trommelte an die Scheiben. »Ach was, Blödsinn ist alles. Vielleicht sind Sie gar nicht so tränenweidlich, wie ich meine. Ich bin nur wütend heute und trage Ihnen meine schlechte Laune schlecht garniert auf dem Präsentierteller her. Als wenn Sie so was brennend nötig hätten! Der Mensch ist eben hundsgemein, wenn er Hilfe braucht und schert sich den Kuckuck, ob's dem andern angenehm ist. Allez pack, pack! Halt ihn und klammer dich ordentlich an, wenn dem Kerl auch der Atem 201 ausgeht, du brauchst doch Hilfe! Ist ja ein Unsinn – das mit dem Selberfertigwerden! Das plappert man so nach und brüstet sich noch damit. Heimlich aber schreit man vielleicht nach einem, der das Geflenn mitanhören und helfen könnte. Nur wenn man keinen haben kann, probiert man's allein und tut, wie wenn man stolz und erhaben wäre so prachtvoll allein fertig zu werden. Sonst habe ich über den ganzen Mist gelacht, aber heute muß ich Ihnen sagen: Geld futsch, Gedanken futsch, Arbeitslust futsch, Konkurrenzarbeit futsch, ich weiß nicht, wo an und aus! Da hilft nichts als vergessen, sich einen Rausch machen. Mit Bier oder Wein, oder Musik, oder einem Mädel, je nach der Natur, all eins, nur stärker muß es sein, stärker als das, was einem im Augenblick in den Knochen liegt. Herrgott! Tanzen und Singen und Schreien und ein Mädel an mich drücken, daß mir der Atem ausgeht, das möcht' ich jetzt! Ich weiß nicht, ist es Freud' oder Schmerz, oder Zorn oder Liebe, nur rrraus, rrraus damit.«

Er lief immer schneller im Zimmer umher.

»Apostel der Freiheit!« spottete Frieda.

»Freiheit! Ein schöner Gedanke das! Aber 's hapert allweil noch damit, wie mir scheint! Ach ja, für mich allein nützt's mir ja doch nichts, ich kann ja nicht frei sein, wenn die um mich 202 rum nicht auch frei sind, und ich kann nichts tun, ohne denen auf die Köpfe zu spucken. Ein zweifelhaftes Vergnügen bleibt das immerhin, nur so einseitig ist es!«

»Ich meine Sie haben kein Geld, das ist's.«

Huller drehte sich um.

»Es scheint, Sie haben Menschenverstand. Freilich hab' ich nichts mehr. Keinen Pfennig.«

»Ich möchte, – – wollen Sie? Ich könnte Ihnen freilich nur zehn Mark –«

»Zehn Mark? Ein Riesenkapital für mich. Sehen Sie wie wunderbar von der Vorsehung, daß Sie auf der Welt sind! Nun haben Sie einen Zweck! – Nein, wirklich, von Ihnen nehm' ich's gern, nur entbehren dürfen Sie deshalb nichts!«

»Ich entbehre nichts, wenigstens vorderhand nicht.«

»Einen heiligen Eid! Sie kriegen's zurück. Die übrigen hab' ich nämlich mehrschdendeels angeschmiert! Eigentlich verdien ich es ja gar nicht, daß Sie so gut mit mir sind; warum sind Sie denn so gut mit mir, Frieda? Es ist Ihnen doch nicht schlecht? Was schauen Sie mich denn so komisch an? Sind Sie krank?«

»Nein, ich konnte nur nicht schlafen heute Nacht, der Hausmeister hat wieder Skandal gemacht, die arme Frau! Ich muß nun ruhen, ich 203 bin furchtbar müde, mein Kopf brennt, bitte gehen Sie jetzt.«

Huller sprang die Treppe hinab und pfiff. Wahrhaftiger Gott, er pfiff in der größten Fröhlichkeit, der ganze Weltschmerz war fort! Und die Türe des Ateliers ließ er sperrangelweit offen und rumorte drinnen mit allem Ueberschuß an Kraft, dessen er fähig war; er hatte ganz vergessen, daß Frieda schlafen wollte.

Resi sah, als sie am Abend heimkam, daß das Atelier offen stand, und daß ein breites Lichtband, aus dem zweiten Raum kommend, in das dämmerige Grau des niederen ersten Raumes fiel. Resi gruselte es ganz angenehm, denn das Atelier sah fremd und schwarz aus, und die Schatten ließen die Umrisse der hellen Figuren ins Riesenhafte wachsen. Sie schlüpfte schnell hinein, sich vorsichtig rechts und links nach dem anderen Zimmer durchtastend.

Huller lag auf dem Sofa und ließ die Füße über die Seitenlehne hängen; er hatte einen Maßkrug vor sich stehen, starrte an die Decke und rauchte Zigaretten. Resi klopfte fest an die halboffene Türe. Sofort fuhr Huller erschreckt auf, daß seine Schlappschuhe mit Gepolter hinunterfielen. »Jessas, Sie! Ich hab' gemeint, die Frieda. Bei Ihnen kann ich doch so bleiben?«

204 »Die wär' Ihnen wahrscheinlich lieber gewesen?«

»Dummes Geschwätz! Uebrigens, die kommt doch net.«

»Wer weiß, – wenn man bis über die Ohren – na, i sag nix.«

»Resi, was reden's denn da?!«

»Nix, nix! hab' nix g'sagt.«

»Himmeldonnerwetter machen Sie keine dummen Geschichten.«

»Ich sag nix mehr. Und nachher, Sie haben's ja schon selber gesagt, daß sie einmal bei Ihnen war!«

»Ich war krank damals, – ich lasse nichts über Frieda kommen, hören Sie? Und wenn Sie nur deswegen hereingegangen sind –«

»Fressen's mich nur net, ich geh lieber wieder. Is das ein galanter Mensch! Zuerst fallt man sich zu Tod in seinem Atelier, nachher biet' er ei'm keinen Sitz an, und zuletzt wird man nausg'schmissen.«

Huller war zur Türe gegangen und hatte sie abgeschlossen.

»So, jetzt setzen Sie sich und reden Sie anständig. Sagen Sie, was Sie wollen, denn Sie wollen was. Daher, kleines Afferl, zu mir aufs Kanapee. Wollen Sie trinken? Ja? – So is recht. So mag ich Sie. Und brav sein und anständig und nicht die Leut' ausrichten!«

205 Resi zog einen schiefen Mund und wackelte beleidigt mit dem Kopf.

»Sie! Hören's! Sagen Sie's fein der Frieda net, daß Sie mich heut bei Schleich g'sehen haben.«

»Ist leider schon geschehen, Sie Unschuldslamm!«

»Sie sind mir ein Schöner! Müssen Sie einen so verklagen? Daß wir grad bei Schleich waren, hätten Sie net zu sagen brauchen!«

»Ich meine, meine weiße Taube, es wäre besser, wenn Sie nicht gerade in die düstersten Ecken bei Schleich gingen.«

»Geschmackssach'! Mir g'fallt's dort!«

»Resi! Resi! Ich meine alleweil –« er drohte mit dem Zeigefinger.

»Ja, heiraten tut er mich net!«

»Warum führen Sie dann die Frieda an und sagen, er sei Ihr Bräutigam?«

»Sonst laßt sie ihn nicht herkommen.«

»Warum leidet Ihre Mutter dieses zarte Verhältnis nicht, und warum setzt er sich in die düsteren Ecken und geht nur am Abend mit Ihnen?«

»Was brauchen denn Sie das zu wissen? Das ist doch meine Sach'! Das geht keinen Menschen was an.«

»Doch, Frieda geht es an.«

206 »Sie, die darf still sein! Jetzt kenn' ich mich aus, hören's auf mit der!«

Und nun fing sie an, die ganze Geschichte zu erzählen, die sie heute Nacht von Frieda gehört. Alles.

»Mich wundert's, daß sie mir's g'sagt hat. Bei uns zu Haus kein Wörtl, und heut Nacht die ganze Historie. Und g'weint hat's, daß sie's nur so geschüttelt hat. Mich hat sie arg gereut, und ich hab mitweinen müssen. Aber so dumm! Einen ganz armen Kerl nimmt sie sich, der sie noch dazu sitzen läßt und keinen Pfennig nicht gibt! Jetzt ist sie auch nix weiter wie eine arme Stickerin.«

Huller hörte ihr zerstreut zu, es war ihm unbehaglich bei der Geschichte, ja er kam sich fast wie ein Aushorcher vor. Frieda tat ihm wirklich leid, sie war doch ein nobler Kerl und mußte sich von der fixen kleinen Kröte da bemitleiden, oder gar verachten, zum mindesten aber an der Nase herumführen lassen.

»Hand drauf, Resi, daß Sie keinem was von der Geschichte sagen!«

»Haben's Sie's wirklich net gewußt?«

»Ich? Nein! Wie sollt' ich auch. Aber du, gewiß keinem was sagen, gelt? Versprich mir's! So! So!«

Als er ihre Hand hatte, zog er sie näher. Sie 207 gab langsam nach, bis sie direkt vor ihm stand. Nun kam's wieder über ihn wie heute Nachmittag: Ein Mädel an sich drücken, daß ihm der Atem ausgeht – und er preßte sie an sich, daß sie kaum sich rühren konnte, küßte sie wieder und wieder, soviel sie sich auch sträubte, bis sie endlich laut schrie. Da war's gleich vorbei bei ihm; er gab ihr sogar noch einen kleinen Stoß.

»Du riechst nach Zigarren, geh fort du! du – du – Judenmädel.«

Resi stand zuerst perplex, dann konnte sie vor Zorn nichts herausbringen, bis sie endlich die Zigarettenschachtel erwischte, die auf dem Tische stand, sie auf den Boden warf und zertrampelte.

»Da! Da! Du Grobian! Da schau an! Alles sag' ich der Frieda! Alles sag' ich ihr!«

Und zur Bekräftigung, daß es kein Geheimnis war, wenn sie Huller besuchte, schmiß sie die Ateliertüre dermaßen zu, daß ein Relief mit Gekrach umfiel und zerbrach. Huller hob die beiden Stücke auf, fügte sie in Gedanken wieder zusammen wie einer, den die ganze Geschichte nichts angeht, bis ihn eine plötzliche Wut packte, und er die beiden Stücke dröhnend zur Erde warf, daß sie zersplitterten.

 

Resi hatte den »Bräutigam« gebracht, sogar schon ein paarmal war er dagewesen. Kein 208 Zweifel, er war einer von den krummen Nasen und Geldmensch dazu. Frieda hatte eine Abneigung gegen seine Liebenswürdigkeit und seine ganze Atmosphäre. Was aber wollte sie machen? Er hatte gute Manieren, behandelte sie als Dame, nur fast zu süß und übertrieben devot, ging um zehn Uhr nach Hause und liebte Resl augenscheinlich sehr. Des Kindes halber fügte sie sich in die Situation, obwohl sie sich gelangweilt fühlte von den Phrasen des »Bräutigams« und den verstohlenen und offenen Zärtlichkeiten der zwei. Wenn es nur irgend anging, hielt sie sich in der Küche auf oder im Schlafzimmer. Das Liebespaar machte sie wieder alt, richtig wie eine Gardemama kam sie sich vor, wenn sie mit ihrer Stickerei dabei saß. Zu lächerlich und peinlich für sie obendrein, denn zu dieser unterhaltenden und geistreichen Rolle war sie fast jeden Abend verdammt! Huller kam natürlich auch sehr wenig zu ihr herauf, weil der Bräutigam da war, oder weil er ihn vermutete.

Kam er jedoch einmal, so war er mürrisch und versuchte, sie immer gegen Resi aufzuhetzen.

»Wie heißt der Kerl?« fragt er einmal barsch.

»Neumayer, sagt Resl.«

»Wissen Sie das bestimmt?«

»Resl sagt es.«

»Wenn es das brave Reserl sagt, muß es 209 natürlich so sein! Oh, Sie ahnungsloser Unschuldsengel, Sie! Lassen Sie sich nur recht viel X für U vormachen! Aber, wenn sich der Sohn meines Vaters nicht täuschen tut, geht die Geschichte brenzlich aus!«

Frieda zuckte die Achseln; sie sah wohl ein, daß sie sich eine große Verantwortung auf den Hals geladen hatte, aber sie gestand es Huller nicht ein.

Am unangenehmsten war ihr die Sache den Hausleuten gegenüber, denn der Bräutigam schlich sich immer erst kurz vor Torschluß herein und kam nie am Tag. Sie bat ihn, doch einmal am Nachmittag zu kommen, aber er beteuerte, Berge von Geschäften vor sich zu haben und unentbehrlich zu sein.

»Nächsten Sommer komme ich bombensicher bei Tag!« Aber währenddem blieb es beim alten, das heißt, Herr Neumayer kam noch öfter als anfangs und blieb auch länger, brachte Delikatessen und Weine mit und richtete sich des Abends nach und nach vollständig häuslich ein, sparte auch nicht mit schalen Witzen, allerdings in feiner Form vorgebracht und mehr an Resi gerichtet. – Ueberhaupt widmete er sich ausschließlich »seiner Braut« und das mit einer Beharrlichkeit, daß Frieda ihre Ueberflüssigkeit einzusehen anfing und sich baldmöglichst ins Bett drückte. Sie hatte nur 210 einmal Resi gebeten, nicht gar so lang aufzubleiben, darauf hatte die ihr erwidert: »Gehen Sie doch ins Bett, wenn's Ihnen zu lang wird.«

Seit der Zeit sagte sie beiden um neun Uhr »gute Nacht« immer mit der Phrase: »Sie erlauben doch?« zum »Bräutigam«, die er stets damit erwiderte: »Bitte, bitte, lassen sich Fräulein durchaus nicht stören, im übrigen seien Sie unbesorgt.« Dabei stand er immer auf, eine Hand auf der Stuhllehne und eine auf der Serviette, an der Brust, und machte eine Verbeugung, die Augen schon wieder auf den Teller gerichtet.

Wenn sie zu Bett war, waren die beiden Herr des Zimmers. Nicht nur, daß es elf Uhr, zwölf Uhr wurde, bis Herr Neumayer ging, er lachte und schäkerte ganz laut, stieß an, trabte auf und ab, kurz, tat ganz genau, wie wenn sie im Nebenzimmer nicht vorhanden gewesen wäre.

So weit hatte sie Huller also doch gebracht, daß sie sich keine ernsteren Skrupel über das Paar machte. Früher? Du lieber Gott! Alle Haare hätte sie sich ausgerissen! Doch gefielen ihr die Abende immer weniger, schon deshalb, weil sie eigentlich von neun Uhr ab gefangen war, denn ihr Schlafzimmer hatte keinen eigenen Ausgang, und da saß sie nun wie eine Maus in der Falle. Von Schlafen war keine Rede bei dem Gewisper 211 und Gekicher und Geküsse und Gelächter und Gelärm nebenan.

Frieda machte endlich Resi ernsthafte Vorwürfe.

»Sagen Sie's ihm doch selber! so was trau' ich mir nicht,« schmollte Resi, und machte ein geringschätziges, fast freches Gesicht dazu. Ueberhaupt, seit der »Bräutigam« jeden Abend kam, war sie eine ganz andere geworden. Keine Spur mehr von dem bescheidenen, reizenden »Resl«. Es schien fast, wie wenn sie mit ihrer Liebenswürdigkeit und Bescheidenheit nur danach getrachtet hätte, den Liebhaber glücklich herein zu kriegen. Nun das geschehen war, brauchte sie sich keine weitere Mühe zu geben. In der Frühe war sie stets mürrisch, wortkarg, fast zänkisch, und behandelte Frieda nicht wie eine ältere Person besseren Standes, sondern wie ihresgleichen, wie sie etwa die »Kolleginnen« bei Weidner behandelte. Rügte Frieda ihr Benehmen, so ließ sie sich wohl alles ohne Widerrede sagen, aber es glitt an ihr ab, oder sie machte ein überaus gelangweiltes Gesicht, wie wenn sie der ganze Sermon nichts anginge. Auch war sie zuzeiten wieder lieb und gutmütig wie früher, so daß Frieda sich immer nicht entschließen konnte, sie heimzuschicken, auch baute sie darauf, daß die ursprüngliche Gutmütigkeit Resis doch wieder zum Durchbruch käme. 212 So brachte Resi öfters Blumen und Kuchen für Frieda, oder sie besorgte etwas im Haus, von dem sie wußte, daß Frieda es nicht gern besorgte, sie suchte zu trösten, wenn Frieda traurig war: »Warten Sie nur, wenn ich einmal Geld hab', sollen Sie's auch fein kriegen!«

Frieda mußte dann trotz allem lachen und konnte ihr nicht böse sein. Freilich in der letzten Zeit hatte Resi die Blumen gegeben, wie man sich einer lästigen Pflicht entledigt, wortkarg, und sogar ein bißchen hochnäsig.

Frieda fragte sie, gutmütig spottend: »Du fühlst dich wohl schon als zukünftige Millionärin?« worauf »die Braut« erwiderte:

»So eine Knauserei wie Sie könnt' ich net mein ganzes Leben haben, pfüt di Gott! Das gibt's bei mir net. Fein und flott muß's zu gehn!« – –

Das Haus konnte sich natürlich nicht genug tun mit Aufpassereien und Klatschereien. Den »Bräutigam« nahmen die Leute Frieda übel, das konnte sie genau merken, das »Reserl« ließen sie es nicht entgelten; gegen diese Glanznummer des Raritätenkastens waren alle von ausgesuchter Freundlichkeit, besonders der männliche Teil.

»Schmeißen Sie doch den Kerl raus!« riet Huller ärgerlich, wenn sie klagte. »Lassen Sie's 213 nur noch lang so fortgehen, dann besorg' ich's, wird mir ein Hochgenuß sein!«

»Ja, habe ich denn das Recht dazu? Es liegt eigentlich nichts gegen ihn vor. Ich weiß nichts weiteres von ihm. Und dann – ich werde doch dem Kind die Partie nicht verderben! Viel besser wär's, ich täte sie fort, wenn das so weiter geht.«

Darauf erwiderte er nie ein Wort, aber er kam immer wieder auf den »Bräutigam« zurück, er suchte Gelegenheit, davon zu sprechen, er kam überhaupt jetzt wieder so häufig, ja noch häufiger als früher, und stets in einer unruhigen, unklaren Stimmung. Das Verhältnis zu ihm war etwas, was sie von Tag zu Tag mehr bedrückte, es nahm eine Vertraulichkeit an, die ihr nicht nur unbequem war, die sie beängstigte, vor der sie sich fürchtete. Er ließ sie in die kleinsten Details seines Lebens blicken, er fragte sie wegen jeder Geringfügigkeit um Rat, er hatte nicht das geringste Geheimnis vor ihr. Wenn er Geld brauchte, forderte er und nahm, fast ohne zu danken, was sie geben konnte.

»So was braucht unsereiner, Frieda! Jemanden wie Sie! Zu Ihnen kann ich reden wie zu einem Freunde, offen, rückhaltslos, derb sogar. Denn Sie sind nicht so schmutzig, wie die Männlichkeit oft sein kann, Sie haben den Zauber der Keuschheit. Außerdem hat das für mich doch noch 214 den Reiz, daß Sie nicht nur Freund und Kamerad, daß Sie Weib sind. Das hält vieles Rohe nieder, glauben Sie nur; das muß bei Ihnen außerdem in der Rasse liegen. Ich habe nämlich einen kolossalen Respekt vor Ihnen, ich denke mir oft, wie wunderbar es sein muß, eine feine Mutter oder eine feine Schwester zu haben.« Und da er sah, wie eine leise Röte von Friedas Hals in ihr Gesicht kam, fügte er bei: »Und noch eins. Sie wissen gar nicht, wie wohl mir das tut, daß Sie so jung geworden sind, jetzt, wo Sie mich bemuttern und mir helfen, viel, viel jünger als früher, wo ich Sie bemutterte.«

Es war einer der letzten Tage im Mai, einer jener schwülen bedeckten Tage, die mit ersten Gewittern drohen. Die Wolken standen starr, bleigrau und wurden schieferfarben gegen den Himmelsrand zu; es dunkelte früh in Friedas niederen Zimmern. Resi war nach Hause gekommen, hatte einen Arm voll Delikatessen mitgebracht und richtete den Tisch her. Für Frieda wurde es ein langer, einsamer Abend; während die zwei draußen aßen und tranken, stand sie im Schlafzimmer am Fenster und schaute auf den Himmel, der schwer über den Baumwipfeln des englischen Gartens lag. Schwarz und unbeweglich drohte das Geäste vor dem dunkeln Hintergrund, ein paar Dachfirste schoben sich plump 215 vor und bildeten eine kompakte Masse in den feinen Baumsilhouetten.

Das Rauschen der Isar klang durch den Abend, die Luft war träg, nur von Zeit zu Zeit strich ein müder Wind vom Wasser her, legte sich aber gleich wieder, von weit, weit her tönte einmal dumpfes Donnern. Es war Frieda schwer ums Herz, sie konnte kaum atmen und ihr Kopf hämmerte. Durch die halboffene Türe hörte sie das fröhliche Gelächter, das Schäkern, die Küsse. Ueberschäumendes, begehrendes Leben kam zu ihr herein auf dem breiten Streifen Lichts, der von dort in ihr dunkles Zimmer fiel, es breitete sich aus, es kam näher und näher, umringte, umhüllte sie. Vergessen wollte sie, leben, genießen! Ihr Blut brauste. Wie ein lang verschütteter Quell, der sich durch Steine und Geröll drängt, überflutete sie ihr Begehren nach Glück. Sie preßte den Kopf in beide Hände, daß es sie schmerzte, sie biß die Zähne übereinander, um nicht aufschreien zu müssen. Die draußen höhnten sie! Das lachte, das girrte, das küßte, es nahm kein Ende! Leben, leben und genießen wie diese! Einmal lag man in der Grube und faulte, und niemand gab einem etwas dafür, daß man wie ein Narr gelebt hatte. Jetzt war sie noch jung genug, jetzt schrie alles nach Genuß in ihr, jetzt begehrte sie vom Leben –

216 Frieda stierte in den Himmel, der schwerer und schwerer zu werden, sich tiefer über sie herabzusenken schien.

Draußen wieder Küsse, Gelächter, Gläserklingen – sie konnte es nicht mehr hören!

Fast wankend trat sie zur Türe und sagte »Gute Nacht«, zum erstenmal hatte sie die herkömmliche Phrase vergessen. Es wurde aber nicht besser zwischen den Kissen ihres Bettes, das brannte wie Feuer, das tobte durch alle Adern! Auch sie, auch sie wollte ihren Anteil am Leben, auch sie schrie danach!

Das Gewisper, das Geküsse, das Begehren sickerten durch die Türritzen. Sie sah die beiden Mund an Mund und Brust an Brust, sie vergrub ihr Gesicht in den Kissen, sie hielt sich die Ohren zu! Sie wollte nichts sehen, nichts hören: Küsse, Küsse, sie schlug mit der Faust auf die Bettkante: Küsse, Küsse, sie wollte das Bild zerschlagen, das sich ihr immer aufdrängte, aber es war da, es grub sich in ihre Augen.

Fiebernd sprang sie aus dem Bett und ans Fenster. Einen Augenblick wurde sie ruhig vor dem schweren, schweigenden Ernst der Nacht. Da kam ein träger Luftzug und brachte den schwülen Geruch des Flieders aus den Nachbargärten, – das Fieber war wieder da. Sie wehrte sich, sie floh förmlich davor; in die dunkelste Ecke ihres 217 Zimmers gekauert, drückte sie den Kopf an die Mauer. Aber sie konnte keine Ruhe finden, das Zimmer, die Luft, die ganze Atmosphäre erstickten sie. Ohne Rast und Ruhe rannte sie in dem kleinen Raum hin und her, flüchtete sich vor dem kleinen Streifen Lichts, der durch die Ritze fiel, wie wenn er ihr die Unruhe und Unstetheit dieser Nacht brächte. Zuletzt hielt sie dies verrückte Rennen von Mauer zu Mauer nicht mehr aus, sie stürzte plötzlich an die Türe und schrie heiser: »Gehen Sie, gehen Sie augenblicklich, das ist unerträglich!«

Einen Augenblick war es ganz still draußen. Dann folgte der Stille ein lautes Räuspern, ein Rücken von Stühlen, ein erzwungenes Gelächter und ein gedämpftes Gewisper. Dann hob sich die Männerstimme, frech und höhnend: »Sie scheinen wohl übergeschnappt, meine Gnädige? Sehr höflich, sehr gebildet! Ich werde mich in Zukunft danach richten! Es gibt andere Lokale! Und mit den Blumen und Delikatessen wird es Essig werden für Sie!« Dann halblaut: »So eine Gemeinheit!« Ein Flüstern – die Schranktüre knarrte, – das Kreischen der Stubentüre, Frieda hörte trotz des wütenden Klopfens ihres Herzens die Treppenstufen knarren, hörte, wie das Haustor zufiel, der Kies knirschte, das Hoftor einschnappte – Kam Resi zurück?

218 Vorsichtig, noch immer am ganzen Körper bebend, trat sie ins andere Zimmer, – Resi war fort. Frieda öffnete die Zimmertüre, horchte nach der Treppe, beugte sich über das Geländer –

»Frieda, was wollen Sie denn zum Kukuk in der Nacht hier?«

Huller stand im Hausgange und rief ihr halblaut zu: »Sie sind ja nur halb angezogen und fiebern. Machen Sie doch sofort, daß Sie hinaufkommen!«

Doch sie starrte ihn nur mit großen abwesenden Augen an.

Huller faßte sie bei der Hand und redete ihr zu wie einem Kinde.

»Hinaufgehen, Frieda, gleich! Hören Sie? Was ist denn los? Lassen Sie doch die Bande! Kommen Sie!« Er mußte sie schütteln, bis sie sich endlich rührte; dann folgte sie ihm auch willig, ließ sich führen und schieben. Im Zimmer fing sie zu weinen an, nahm Hullers Hand und preßte sie an sich, ihre Lippen zuckten. Als Huller sie beschwichtigen wollte, sah er in ihre Augen. Sie starrte ihn an und hielt ihn noch immer fest; nun suchte sein Mund den ihren.

»Küsse! Küsse!« stammelte sie, da nahm er sie in seine Arme.

Als Resi gegen Morgen wiederkam, fand sie die Türe des Schlafzimmers verschlossen und 219 mußte sich, schimpfend und murrend, entschließen, die paar Stunden bis zum Frühstück auf dem Diwan zuzubringen.

Es war ihr doch nicht recht geheuer, als sie am Morgen erwachte und Frieda sie mit keinem Wort anredete.

Sie wollte anfangen, sich zu entschuldigen, aber Frieda schnitt ihr das Wort ab.

»Du hast nichts mehr zu sagen hier. In einer Stunde sind deine Sachen gepackt, und dann fort mit dir, ich will nie mehr von dir hören.«

Resi machte zuerst ein verdutztes Gesicht, dann prasselte ein Regen von Schimpfworten der gemeinsten Sorte auf Frieda los.

Sie habe gut reden mit dem Liebhaber im Haus. Sie, Resi, werde hinausgeschmissen, damit andere Leute lüderlich sein könnten! Ihr brauche man nichts weiszumachen, sie kenne sich schon aus! Als ob nicht alles reichlich bezahlt worden wäre, mit Essen und Wein! Sie wolle niemandes Schaden gewesen sein! –

Als Frieda ihr nichts erwiderte und sich nur ins Schlafzimmer einschloß, packte Resi endlich unter weiterem halblauten Schimpfen ihre Sachen und war richtig in einer Stunde fort.

Das war also erledigt. Frieda empfand die Trennung von Resi nicht als Befreiung; sie war stumpf und wirr, hockte auf einem Stuhle und 220 wußte nicht, was sie mit diesem Tag anfangen solle.

War alles nur ein Traum gewesen? Die ganze heutige Nacht nur ein wüster Spuk?

»Es ist nicht wahr,« sagte sie vor sich hin, ihr Kopf schlug auf die Tischkante, und doch stand alles wieder klar vor ihr.

»Es ist nicht wahr, es ist nicht wahr!« schrie sie und sprang wieder in die Höhe. Schluchzend blieb sie vor ihrem Bett stehen. Einen Augenblick hatte sie sich darauf werfen wollen, von ihrer Unrast überwältigt, da überkam sie der Ekel. Sie mußte von Sinnen gewesen sein, diesen Mann zu umarmen, der sie aus Mitleid in die Arme genommen hatte, der eine andere gewollt, nicht sie! Resi, Resi hatte er gewollt und nicht sie! Sie wollte ihn nicht mehr sehen, er war gemein, brutal, sie haßte ihn. Sie warf ihm vor, daß er sie nicht zurückgestoßen hatte und litt zugleich unter der Möglichkeit dieser Schmach. Unter Resis Schimpfreden litt sie, die sie sich fortwährend wiederholte. War sie denn so viel besser? Hatte das Mädel eigentlich nicht mehr Gewalt über sich wie sie? Daß Resi mit ihrer Liebe spekulierte, ja, das war gemein, aber sie war auch gemein, Huller mußte das auch empfinden! Nein, das durfte er nicht; er dachte wohl von nun an – Nein, nein! Lieber fort – 221 fort, ohne ihn gesehen zu haben, in aller Heimlichkeit!

Auf einmal ohne Besinnen, ohne Ueberlegung, stürzte Frieda ungekämmt, mit wirren Haaren, wie sie war, wie von einer unsichtbaren Macht vorwärts gestoßen, über die Treppe hinab zu Huller. Unten hielt sie der Hausmeister auf: »Fräulein Baronin, wenn's doch nachher kommen möchten; i bitt gar schön! wir hab'n a Mäderl kriegt, gestern abend und ich muß jetzt arbeiten: Schauen Sie sich a wenig nach ihr um, sind's doch so gut, die Frau ist ganz allein.«

Frieda verstand ihn nur halb: ganz allein, Mäderl kriegt, gestern abend – Was war denn noch alles gestern abend? Sie nickte verwirrt und rannte schnell weiter.

Huller war schon an der Arbeit, als sie kam; es roch nach feuchten Lumpen, nassem Lehm und altem Zigarettenrauch, da alle Fenster geschlossen waren. Huller sprang sofort nach der Türe und machte sie zu, weil Frieda sie in der Hast weit aufgelassen hatte, dann schaute er sie fragend an.

Wie sah sie denn aus? Voller Falten, mit tiefen Ringen unter den Augen, alt, unordentlich, die Haare wirr, im Unterrock und ohne Schuhe. – Was war denn passiert, daß sie jede 222 Rücksicht außer acht ließ, sie, die Vorsichtige, Aengstliche?

»Frieda, so reden Sie doch, was soll denn das heißen, daß Sie in diesem Aufzug zu mir herunterstürzen? Schämen Sie sich denn nicht vor den Hausmeistersleuten? Das kann ein nettes Geschwätz geben, ich danke!«

Er dachte gar nicht mehr daran, daß er einmal geäußert hatte, daß er sich nicht um die umgebenden Kaffern schere, so empört war er. Die ganze Geschichte war ja dumm und fing an, ihn anzuwidern. Die ältliche Jungfrau, die sie eben in so erschreckender Weise war, wollte sich nun am Ende gar an ihn klammern, ihn verantwortlich machen, weil sie meinte, das müsse nun so sein, das seien die Konsequenzen von »so was«?

Ach Gott! Da stand sie vor ihm, blaß vor Erregung, zitterte und brachte nicht ein einziges Wort heraus.

Natürlich nahm sie's hochtragisch, Kolportageroman: »Die Verführte, Rache der Geschändeten, Geschichte einer Verlassenen oder so!« Nun, ihm konnte es ja egal sein, wenn sie nur keine Heulerei anfing, das vertrug er nicht, aber die Anstalten dazu machte sie schon.

»Was ist denn nur los?« schrie er sie an, »so reden Sie doch in drei Teufels Namen!«

»Sie müssen mir raten, ja, das müssen Sie 223 doch, was ich jetzt tun soll. Das sind Sie mir schuldig.«

»Ich? Ich verstehe nicht recht. Was Sie tun sollen?«

»Was ich anfangen soll, nach allem, was vorgefallen ist. Ich weiß ja, daß Sie mich nicht heiraten können oder wollen, ich sehe das so gut ein,« sie war blutrot geworden und bebte vor Scham und Unbeholfenheit am ganzen Leibe.

Und Huller fing an zu lachen und lachte so laut und herzlich und lachte immer lauter, er konnte sich kaum beruhigen.

»Törichte Jungfrau, möchte ich sagen, wenn das noch angängig wäre, – nein, was sind Sie für ein Unikum!«

Als sie gar nicht in sein Gelächter einstimmte, sondern wie versteinert stehen blieb, schob er gleichgültig die Zigarette von einem Mundwinkel in den andern und wurde zuletzt ärgerlich. Er begann weiter an seinem Ton zu kneten, wie wenn sie gar nicht da wäre.

Plötzlich hörte er sie laut schluchzen; mit einem zornigen Fluch warf er ein Stück Ton zur Erde, rieb die beschmutzten Finger gegeneinander und trat zum Fenster, ihr den Rücken kehrend. Das war ja ekelhaft!

»Mein Gott, so raten Sie mir doch!« schrie Frieda. »Wie können Sie so grausam mit mir 224 sein! Wie schrecklich ist das alles, ich wollte, ich lebte nimmer. Wenn ich nur den Mut hätte –«

»Hören Sie auf!« schrie Huller und hielt sich nervös die Ohren zu. »Was ist denn so Schreckliches geschehen? Das ist so recht Weiberart, zuerst die Besinnung verlieren und hintennach Zeter und Mordio schreien. Wir sind doch freie Menschen? Wer hat Verpflichtungen? Nicht Sie, nicht ich. Das ist doch verflucht einfach. Lassen Sie nur eine kurze Zeit darüber weggehen, und alles ist wie früher.«

»Wie früher! Nie! nie! Haben Sie denn keine Empfindung dafür? Löschen Sie doch alles aus, ich kann es nie überwinden, nie vergessen!«

»Wie kann es möglich sein, daß Sie solche exaltierte und überspannte Reden führen! Sie waren doch jetzt immer vernünftig, und Sie können es sein, wenn Sie wollen, und nun seien Sie sofort vernünftig!«

»Nein, nein, ich kann nicht!«

»Sie wollen nicht, aber ich will nun auch nicht mehr; ich bin auch nur ein Mensch und habe mich nur eine Zeitlang in der Gewalt, es geht mir schon bis an den Hals.«

»Ich kann es nicht vergessen, ich kann nicht!«

»Das sind Auffassungen, Frieda, hören Sie zu: ich will aber von Ihren Auffassungen jetzt nicht weiter belästigt werden, ich habe Wichtigeres 225 zu tun, das verstehen Sie? – Gut, also gehen Sie ruhig in Ihr Zimmer, ziehen Sie sich an, oder schlafen Sie, oder denken Sie sich meinetwegen einen neuen Lebensplan aus, vielleicht hilft das.«

Er machte ihr die Türe auf, und sie ging wie ein Automat an ihm vorbei, die ersten Stufen hinauf.

»Kommen's jetzt zu uns, Fräul'n Baronin?« Zweimal mußte sie der Sylphiderich anreden, bis sie verstand, was er wollte. Und da war's ihr immer noch unklar, sie sah an sich herunter, fuhr sich durchs Haar und schien ganz hilflos.

»Ich bitt' recht schön, kommen's nur a wenig, die Frau ist gar so schwach.«

Es war doch alles gleich. Sie ging mit ihm; ganz leis tappte er auf seinen großen Plattfüßen voran.

»'s Mäderl schlaft,« machte er wichtig, einen Zeigefinger steil in die Luft gereckt.

Blaß und gleichgültig lag die arme Sylphide in ihren rot- und weißkarierten Kissen, und neben ihr in einem Korbwagen das Kind. Die Luft war dick und stickig, alle Fenster geschlossen und das Zimmer voll der größten Unordnung.

»Die Freil'n Baronin bleibt a wenig bei dir, hörst? Verzeihn's halt die Unordnung und sind's so gut!«

Die Sylphide machte ihre runden Augen kaum auf, sie schien schwach und halb im Schlummer; reden konnte sie nicht. Frieda setzte sich neben das Bett, stumpf und gleichgültig.

War sie hier oder dort, alt oder jung, sagte sie dies oder das, tat sie dies oder jenes, es war ja gleich, ganz gleich. Das war so, das blieb so, nun sollte es eben so weitergehen, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Wem bedeutete sie etwas? Nach wem fragte sie, wer nach ihr? Sie war zu müde, um darüber wegzukommen, sie schleicht sich eben weiter im Leben, stumpfsinnig wie das arme Tier drinnen im Bett, ohne Freud und Leid. Sie erinnerte sich mit einer maßlosen Bitterkeit, wie sie sich schon in der Jugend empört hatte, wenn sie im Religionsunterricht hörte von den ungetauften unschuldigen Kindern, die, wenn sie stürben, an einen Ort kämen, wo nicht Freud noch Leid wäre! Das war grauenhaft! Nicht Freud noch Leid! So, beinahe so stand ihr ferneres Leben vor ihr.

Lieber Leid, als diese erbärmliche Gleichgültigkeit, lieber geprügelt und verachtet und dann wieder geliebt sein wie dies arme Weib. Das hatte wenigstens jetzt Frieden und Ruhe. Ja Ruhe! Da rührte sich ja das Kind, und sofort war sie in der Höhe und tastete ängstlich nach dem Wagen an ihrer Seite. Frieda beruhigte die 227 arme Frau und versuchte das Kind anders zu legen. Sie tat es mit Widerwillen, denn sie haßte in diesem Augenblick das kleine Wesen, das der Armen die Ruhe störte. Frieda saß da und schaute mit finsteren Augen in den Korbwagen hinein. Nicht rühren! Wenn es nur eine kleine Bewegung machte, gab's ihr einen zornigen Stich. Sie wußte noch gut, wie das war, wenn man da lag und zu Tod erschöpft war, und immer wieder von der Pflicht in die Höhe gepeitscht wurde. Da hatte es die da drinnen noch gut. Die war eine Frau, die hatte ein legitimes Kind und sie, Frieda, saß an ihrem Bett und hatte doch wenigstens einen Funken Teilnahme!

Wer war denn damals an ihrem Bett gesessen? Wer hatte sich um sie gekümmert? Als Geschäft ward alles abgemacht und als Geschäft ausgeführt. Fremde Gesichter, fremde Stuben, fremde Gefühle. Und was sie jagte und verzehrte in ihrem Bett, in dem einsamen Försterhaus! Da hatte es die doch gut! Wußte die etwas von durchweinten, durchsorgten Nächten, von Scham und Ekel und Sehnsucht und Abscheu vor sich selbst?

Der Kerl, der Mann hatte wahrscheinlich Angst ausgestanden bei dem schmerzlichen Ringen seines Weibes. Die Ihren wären ja froh gewesen, wenn sie zu Grunde gegangen wäre! Dann 228 hätte sie die »Familie« nicht kompromittieren können! Ihre Hände krallten sich in die Falten ihres Rockes.

Sie schaute mit förmlichem Neid nach dem Proletarierweib. Natürlich! Alle, alle hatten etwas, nur sie nicht.

Da hockte sie und verbohrte sich mit hungriger Gier in die alten Gedanken, grub ihre ganze Vergangenheit aus und geißelte sich damit.

Die Sylphide rührte sich, da das Kind mit seinem dünnen Stimmchen schmerzlich zu weinen angefangen hatte. Gleich wollte sie sich aus dem Bett nach dem Wagen beugen, aber Frieda hinderte sie.

»Mei' Mäderl, geben's mir doch mei' Mäderl.«

Frieda reichte ihr das winzige Bündel, mit halber Scheu schaute sie auf die verschrumpften Fingerchen und das rotbraune, haarlose Köpfchen.

Sylphide küßte diese mageren Händchen, die Frieda wie Krallen vorkamen, bettete das kleine Scheusälchen neben sich und sah stolz und glücklich aus. Dieser kleinen, häßlichen Kreatur wurde so viel Liebe, und ihr gönnte niemand Liebe und Wärme. Sie hätte der Frau das Kind aus den Armen reißen mögen, es tat ihr zu weh, daß alle jemanden hatten, der sie liebte, nur sie nicht.

229 Und ihr eigenes Kind?

Das war ihr auf einmal wie ein Schlag aufs Herz. Dies armselige Wesen, das jetzt schon dem unangenehmen, brutalen Vater glich, bettete die Mutter warm und zärtlich. Wer hatte ihrem Kinde Wärme und Zärtlichkeit gegeben? Ach, was wußte sie davon! Es war ihr gleichgültig, fremd, ja ein fremdes Kind. War sie denn seine Mutter? Wußte sie etwas von ihm? Wie es aussah, wie es lachte und weinte, was ging das sie an? Sie hatte doch getan, was in diesem Fall ihre Pflicht war, sie hatte reichlich gesorgt, daß es in keiner Weise Not litt. Und nein! sie hatte keine Sehnsucht danach, nein! Sie hielt sich die Ohren zu, sie wollte nichts wissen. – Nun fing der kleine Wurm auch noch an, zu schreien! Und so bitterlich schrie er. Genau so hatte ihr Kind am letzten Tage geweint. Es lag da und wimmerte, und sie konnte gehen und sich nicht weiter darum kümmern! Sie hatte ihr Herz verhärtet gegen ihr eigenes Kind, – das nun schrie, war ihr Kind. – Hatte nicht Sylphide etwas gesagt? »Was, was ist denn? Ja so, helfen. – Gleich, gleich. Gern. Was denn? Das Kind – ob es nicht vielleicht trinken will? Ja, ich helfe, wir versuchen's.«

Und nun liegt's da an der Brust und saugt und saugt gierig, und wie's die Mutter anschaut!

230 »O mei' Mäderl! Alles is gut jetzt. Alles will i aushalt'n, wenn mir's Kinderl bleibt. Liegt mir an gar nix sonst. Schaug'n Sie's nur an, wie nett als is, o mein Freil'n!«

Frieda kann es nicht mehr sehen, kaum kann sie sprechen, sie will der Frau zulachen, aber ihr Mund ist verzerrt und ihre Hände werden eiskalt.

Nun weint das Kind wieder so schmerzlich!

Ihr Herz schlägt, daß ihr grüne Lichter vor den Augen tanzen, sie muß nach dem Bettpfosten langen. Das Kind ist ihr Kind. Nach ihr weint's und ruft's.

»Alles kann man aushalten. So a Kinderl, o mein Freil'n, so a Kinderl!«

Frieda hört nichts mehr, fort, sie rennt hinaus! Wieder die Treppen hinab, die Türe auf und keuchend, schreiend, erlöst: »Ich hole mein Kind!« so stürzt sie herein.

Und da kommt nun das Weinen über sie, ein lösendes, stilles, tiefes Weinen.

Huller störte sie nicht, ließ sie ruhig ausweinen. Zuerst hatte er spöttisch für sich gelacht und die Zigarette wieder einmal von einem Mundwinkel in den andern geschoben, wie er immer tat, wenn er aufgeregt oder erbost war.

»Soso! Hm hm!« Er tat nur einen raschen Seitenblick nach ihr hin und arbeitete wieder 231 weiter. Aber es ging doch nicht recht mit dem Arbeiten, und er trat zu der Verstummten hin.

»Soso, Frieda. Jaja! Ein bißl geschwind kommt der Umschwung, ich muß gestehen, ich kann Ihren Gefühlssprüngen und Steigerungen nicht so rasch folgen, Sie sind mir darin über. Aber vielleicht ist es gut, ja vielleicht ist es das Richtige, probieren wir nur einmal. Und frisch jetzt, weil der Entschluß da ist. Fertiggemacht und nicht aufgeschoben. Also los! Eigentlich gefallen Sie mir jetzt viel besser als mit der Tränenweide-Allüre. Am Ende haben Sie gar den gescheitesten Gedanken Ihres Lebens, und haben sich jetzt erst entdeckt. Nur stürzen Sie sich ja nicht in die Mutterliebe wie eine rasende Löwin in die Arena, denn wer weiß, ob Sie den Balg mögen. Ist auch so eine überkommene Sache das, Mutterliebe, Kindesliebe, steckt viel Einbildung und Gewohnheit darin; aber vielleicht ist es ein lieber, netter Fratz, den wir dann alle gern haben müssen, und auf den wir alle stolz sind. Ich weiß nur nicht, wie Resi und das Kind zusammenpassen werden. Können Sie dann Resi überhaupt noch behalten?«

»Ich habe das Resl doch heute fortgeschickt!«

»Sie! – Aber Frieda! Warum denn? Wo ist sie denn jetzt?«

232 »Das weiß ich nicht, es kümmert mich auch nicht.«

»Aber bedenken Sie doch! Wenn Sie das Mädel fallen lassen! und es ist wirklich jammerschade um das schöne Ding! – Der Kerl, – Sie wissen das wohl noch gar nicht? – ist nämlich der Weidner selber. Und er ist verheiratet. Schade, schade um das Mädel! Bei Ihnen wäre sie wenigstens noch eine Zeitlang so einigermaßen konserviert geblieben, wollen wir sagen. Schade! Und Sie wissen wirklich nicht, wo sie jetzt ist?«

»Wirklich nicht!«

Frieda mußte sogar über seinen Eifer lachen. Wie fremd er ihr auf einmal war, da sie nun die Zukunft so ganz erfüllte. Sie konnte ihm ruhig die Hand geben und Abschied nehmen, dann ging sie ganz allein zur Bahn.

 

Der Tag wurde schwül und drückend wie die Nacht vorher. Am Morgen schon war eine dunkle Wand, haarscharf abgeschnitten über den Bäumen des englischen Gartens gestanden, während der übrige Himmel im unbefangensten Blau glänzte. Gegen Mittag rannten ein paar hastige Wolken daher, weiß und zerzaust, dazu war ein leichter Wind gekommen. Ganz zögernd, ganz heimlich fing er an, wurde plötzlich heftig und legte sich wieder ganz plötzlich. Nur die Wolken 233 flogen immer dichter droben, es wechselte beständig heller Sonnenschein und trübes Licht. Huller wollte fortgehen, es war heute gar nichts mit der Arbeit, bei diesem wechselnden jähen Licht, seine Hand war unruhig, und er war mißmutig. Die dumme Geschichte mit Frieda! Es war albern von ihm gewesen, ihr zu raten, das Kind zu holen. Viel besser hätte er sie abgehalten, das wurde wahrscheinlich wieder so eine übereilte Geschichte wie mit Resi. Ein schreckliches Frauenzimmer war sie doch, die konnte einen ja verrückt machen!

Da hatte er's, auch mit dem Spazierengehen war's nichts! Aergerlich warf er den Hut auf den Tisch, es fielen schon dicke Tropfen, und ein Windstoß raste daher, daß der Weidenbaum im Hofe sich bis zur Erde neigte. Ein ganzes Schock Wolken drängte sich am Himmel, es wurde dunkel und ein sausender pfauchender Ton, der bis zu einem donnernden Gebrüll stieg, dröhnte vom englischen Garten her. Kaum vermochte Huller seine Fenster zu schließen, so plötzlich raste der Sturm daher. Große weiße Papierstücke flogen hoch in der Luft vorbei und drehten sich über Bäume und Dächer, schwere Stücke dicken Packpapiers tanzten schwerfällig nahe am Boden, Blätter und Blüten wirbelten am Fenster vorbei. Nun fiel auch der erste Blitz und lohte aus 234 der grauen weichen Wolkenmasse, die unbeweglich über dem Haus zu stehen schien, ein paar leichte Dunstwolken flogen unter ihr weg. Dann krachte der Donner, daß die schlecht schließenden Fenster klirrten, die Bäume ächzten und brausten, der Sturm riß und schüttelte an den Läden, die Wetterfahne auf dem Haupthause wirbelte kreischend herum, ein Laden krachte auf und zu, Blitz um Blitz und Donner um Donner, der Himmel kam immer näher und immer noch fiel kein Regen; nur die paar Tropfen, die wie geschleudert niedersausten. Auf einmal peitschte es den Regenschauer gegen die Fenster, man konnte nicht mehr durch die Scheiben sehen, so prasselte es mit förmlichem Geknatter dagegen. Immer schneller liefen die Tropfen, immer dichter wurde der Regen, dazu krachte der Donner weiter und Blitz um Blitz warf rote Lichter durch die düstern Fenster. Huller lag auf dem Diwan, er hatte sich eine Zigarre angezündet, eine extrafeine, von Friedas letztem Geld. Sie war wirklich vorzüglich im Geschmack, er lag behaglich und sah direkt ins Wetter und blies den Rauch in die Höhe. Fein bläulich gekräuselt stieg er auf, schwebte, breitete sich zu einem dünnen vibrierenden Schleier aus, bis ein dichterer gelbbrauner Dunst nachkam und ihn täppisch zur Seite drückte, über der Rauchschicht sah man den Weidenbaum wie verrückt mit 235 seinen grünen Aesten in der Luft herumfuchteln. Ein verdammtes Wetter eigentlich für Frieda; sie mußte wohl jetzt mit der Post unterwegs sein. Er betrachtete nachdenklich seine Zigarre. Ach was! Es war nichts für ihn, daran zu denken, sonst war ihm die Laune wieder einmal gründlich verdorben. Er holte sich Tolstoi und versuchte zu lesen.

Um zwei Uhr bekam er Besuch von einem Bekannten, den es im chinesischen Turm, drunten im englischen Garten eingeregnet hatte. Der paßte ihm heute gerade; er empfing ihn so herzlich, daß der andere ganz erstaunt war, an Huller war er das nicht gewöhnt. In heiterster Stimmung gingen beide später ausschauen, ob sie irgendwo noch was zu essen bekämen.

 

Frieda traf nach drei Tagen wieder ein; es war schon Dämmerung, aber doch sah »das Haus«, daß sie nicht allein war. Der Kakadu war durch die letzten Vorgänge wieder zu einer Merkwürdigkeit geworden. Wirklich, ein kleines Mädchen hatte sie mitgebracht! Ein ganz sonnverbranntes Kind mit dicken Zöpfen und langem Bauernröckchen, und es trug keinen Hut. Der Bengel hatte es natürlich zuerst gesehen, denn er hatte seine Augen überall.

»Der Kakadu hat ein Kakaduerl mit'bracht!« 236 schrie er außer Atem und voll Freude zum Zimmer herein. Sein Papa jedoch schien seine Freude nicht zu teilen.

»Drück' dich und kümmre dich um deine Sachen.« Der mächtige Pascha war verstimmt; sein Haus war ein anständiges, und er duldete zweideutige Personen durchaus nicht darin, auch nicht im Hinterhaus. Und eine zweideutige Person war Frieda, seit das Kind aufgetaucht war. Das ließ er ihr auch sofort merken, als sie ihm in der Frühe des nächsten Tages die Mitteilung machte, daß das Fräulein fort sei, und sie das Kind zu sich genommen habe. Er stand nicht auf, der mächtige Pascha, blieb fest in seinem Lutherstuhle sitzen und wippte sein Papiermesser hin und her. Als sie ausgesprochen, sah er angelegentlich nach dem Thermometer, das in der geschmackvollen Form einer Streitaxt über seinem wuchtigen Eichenschreibtisch hing, und sprach mit ihr, ohne sich weiter nach ihr umzudrehen.

»Ich bin über alles bereits unterrichtet. Ueber alle Vorgänge. Sie werden einsehen, daß mein Haus nicht für Sie paßt; betrachten Sie dies als Kündigung, Sie können also nächsten Monat ausziehen.«

Frieda war blaß geworden, das hatte sie nicht erwartet! Dann kam ihr der Trotz. Sie legte den fälligen Mietzins auf die Ecke des Schreibtisches.

237 »Ich werde heute noch gehen, gleich; hier –«

Und ohne eine Antwort abzuwarten, rannte sie in ihre Wohnung vor das Bett des Kindes, das sie mit verschlafenen Augen anschaute, dann aber die Aermchen um ihren Hals legte, den Kopf dicht angeschmiegt.

»Mutter magst mich?«

Am Nachmittag hatte sie nach langem Suchen am Ende der Stadt eine Wohnung gefunden. Nichts ganz Passendes gerade, aber sie war stumpf geworden und ihr kleines Mädchen müde.

»Nein, Herz, nein, wir gehen jetzt heim.« Es war ja gleich, wenn sie nur draußen fort war und das Kind für sich hatte. Wie hübsch es aussah in seinem schönen Stadtkleidchen. Und wie ihm die Augen glänzten von all dem Neuen, und wie es sich an sie schmiegte und Schutz suchte und ihre Hand nicht losließ. In der Nacht hatte es sich förmlich an sie geklammert, sie wagte kaum zu atmen, wenn sich das weiche Kinderkörperchen so eng an sie schmiegte! Gab es denn wirklich noch so viel Liebe für sie? –

Gegen Abend schon wurden ihre Möbel fortgeschafft, und sie kam nun mit der Kleinen aus ihren leeren Stuben. Die kalte, tote, fremde Wohnung anschauen zu müssen, hatte ihr noch zuletzt weh getan. Wie wenn sie nie teilgenommen hätte an ihr, an ihren Leiden und Freuden, an ihrem 238 Kämpfen und ihrem bißchen Glück. Abwehrend, verschlossen, fast höhnisch sahen die leeren Wände nach ihr, der das Abschiednehmen schwer wurde. Bei Huller ging es ganz leicht. Da die Kleine dabei war, sagten sie sich einfacher und vielleicht förmlicher Lebewohl, als sie sonst wohl getan. Er hob das Kind in die Höhe, küßte es, obwohl es sich sträubte, und betrachtete sein rundes, verbranntes Gesicht.

»Ein reizender Kerl!« Er nahm ihm den Hut ab; gerade über der Stirn bäumte sich ein Büschel krauser blonder Härchen. Huller zupfte daran, was die Kleine sehr ungnädig aufnahm, sie schlug ihm tüchtig auf die Hand.

»Kakadu,« sagte er und beide mußten lachen.

»Ja, auch einer,« meinte Frieda, »aber hoffentlich kein so scheuer und unsteter wie ich.«

Die Kleine wollte durchaus nicht bleiben, sie zog und zerrte Frieda fortwährend am Kleid; es gefiel ihr durchaus nicht im Atelier bei dem großen Manne mit der lauten Stimme, was sie ihm unzweideutig zu erkennen gab.

»Wenn Sie sich nur daran gewöhnen können,« meinte Huller kopfschüttelnd, »die ist nicht wie Sie! Die wird Sie tyrannisieren!«

»Mag sie doch! Es wird nicht so schlimm werden. Die hat mehr fertiggebracht als Sie, die hat mich erst frei gemacht, nicht, kleine Maus?«

239 Einen Augenblick zögerte Frieda, dann streckte sie ihm die Hand hin und wurde rot dabei wie ein junges Mädchen.

»Und wir – wir bleiben die alten, so – ja so wie wir früher waren!«

»Aber Frieda! Alter Philister! Alte Steifleinewand! Natürlich! Und ich werde bald kommen und nachsehen, wie es euch geht in Neuhausen draußen! Gott der Weg! Und Resi? Sie wissen wirklich nichts? – Ja ja, gewiß, ich komme recht bald, und das Geld ist Ihnen natürlich sicher, Frieda, und halten Sie den Kopf in der Höhe. Ich komme recht bald hinaus.«

Er wollte sie bis zum Tor begleiten, aber Frieda lehnte ganz entschieden ab.

»Na also! Adieu! Ich komme recht bald!«

Aber er kam nie; der Kakadu war viel zu weit weggezogen. 240

 


 


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