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Nachwort zur zweiten Auflage.

Von Richard N. Coudenhove-Kalergi.

Das Forschungsergebnis Heinrich Coudenhoves, das Wesen des Antisemitismus sei religiöser Fanatismus, muß heute überraschender wirken als zur Zeit der Abfassung dieses Werkes.

Denn der Antisemitismus sucht heute mehr denn je seinen religiösen Ursprung zu verschleiern und sich auf Rassetheorien zu berufen.

Auf Grund des erdrückenden Beweismateriales werden die unvoreingenommenen Leser dieses Werkes zwar zugeben, daß der historische Antisemitismus religiös bedingt war: in der Antike provoziert durch die religiöse Intoleranz und freiwillige Absonderung der Juden – im Mittelalter durch die religiöse Intoleranz der Christen und die Zwangsabsonderung der Juden; aber manche unter ihnen werden nach wie vor bestreiten, daß auch der moderne Antisemitismus unserer irreligiösen Epoche sich auf das gleiche Grundphänomen zurückführen läßt.

Um dieser Argumentation zu begegnen, fühle ich mich zu einigen ergänzenden Worten veranlaßt. Eine kurze Analyse des modernen Antisemitismus soll die Grundthese dieses Werkes auch für unsere Epoche bestätigen und erweisen, daß die Entstehungsgeschichte des individuellen Antisemitismus der Genealogie des historischen Antisemitismus analog ist. –

Das Grundphänomen des modernen Antisemitismus ist die tiefgehende Antipathie, die der irreligiöse Antisemit von heute gegen alles empfindet, was ihm als jüdisch erscheint. Diese Antipathie führt er auf die Erkenntnis zurück, das Judentum sei eine minderwertige Rasse, die er mit Recht fürchtet und haßt, verachtet und verfolgt – und beruft sich dabei meist auf die Rassetheorien Chamberlains, Weiningers oder deren Epigonen.

Der antisemitische Instinkt, der sich durch eine Rassetheorie zu rechtfertigen sucht und sich für deren Äußerung hält, begeht jedoch einen Trugschluß. Ursache und Wirkung werden verwechselt: bei fast allen Antisemiten ist der gefühlsmäßige Antisemitismus älter als ihr Wissen um Rassetheorien – ihr praktischer Antisemitismus älter als ihr theoretischer. Ihre antisemitische Gesinnung konnte also nicht die Folge ihrer antisemitischen Überzeugung sein – sondern nur deren Ursache.

Fast in allen Fällen geht die Entstehung des Judenhasses der Kritik der Judenfrage voraus: der Antisemitismus gründet sich also nicht auf ein Urteil – sondern auf ein Vor-Urteil; nicht auf Erkenntnisse – sondern auf Instinkte.

Instinkte können entweder natürlich oder künstlich, angeboren oder erworben sein. Manche Antisemiten behaupten, es handle sich beim Antisemitismus um einen angeborenen, natürlichen Rasseinstinkt, vergleichbar etwa der Antipathie zwischen Hunden und Wölfen. Die Irrigkeit dieser Behauptung ergibt sich aus der Erfahrungstatsache, daß niemand mit Sicherheit Juden von Nicht-Juden unterscheiden kann und daß auch der extremste Antisemit keinerlei Rasse-Antipathie gegen Juden und Jüdinnen empfindet, die er nicht als solche erkennt: erst wenn er deren Judentum in Erfahrung bringt, erwacht sein antisemitischer Instinkt, geweckt durch das antisemitische Vorurteil. Umgekehrt findet es sich häufig, daß der Antisemitismus christlich erzogener Judenkinder sich in nichts von dem ihrer Kameraden christlicher Herkunft unterscheidet. Der gefühlsmäßige Judenhaß ist, ebenso wie der Deutschenhaß der Franzosen und der Franzosenhaß der Deutschen, hervorgegangen aus Mißverständnissen, Mißdeutungen und Verallgemeinerungen, aus Vorurteil und Massensuggestion. Ein Jude, ein Franzose und ein Deutscher, die, ohne Kenntnis ihrer Abstammung, von frühester Kindheit auf gemeinsam als christliche Anglo-Amerikaner erzogen würden – könnten gegen einander weder Rassen- noch Nationalhaß empfinden.

Der Antisemitismus beruht also auf einem künstlichen – nicht auf einem natürlichen Instinkt; er ist erworben – nicht angeboren.

Die Entstehungsgeschichte des antisemitischen Instinktes führt uns in die ersten Kinderjahre. S. S. 166 Seit Freuds Entdeckungen steht unzweifelhaft fest, daß die Kinderseele die Retorte ist, in der ein großer Teil der späteren Instinkte und Gefühle entsteht. Verschüttete Kindheitseindrücke und -vorurteile senken sich ins Unterbewußte und wandeln sich da in Instinkte.

Auch der antisemitische Instinkt entsteht fast immer aus einem infantilen Vorurteil. Das Kind sieht ein Kruzifix und fragt seine Mutter oder Kinderfrau nach dessen Bedeutung. Es erhält zur Antwort, daß der Mann auf dem Kreuze der liebe Heiland (den es als »Christkind« liebt und verehrt) sei, der von den Juden zu Tode gemartert wird. Im Kinde erwacht natürlicherweise ein tiefes Mitleid mit dem Heiland, verbunden mit einem ebensotiefen Abscheu gegen dessen Feinde und Mörder: »die Juden«. Wenn es in der Folge von Juden hört oder Juden sieht, assoziiert es dieselben spontan mit den Christusmördern und empfindet gegen sie eine wohlbegründete Antipathie. Mit dieser Antipathie wächst das Kind auf und begegnet den Juden, mit denen es in Berührung kommt, voreingenommen, mißtrauisch und feindselig; natürlich stößt dieses Benehmen auf Gegenseitigkeit und liefert so dem Antisemitismus immer neue Nahrung.

Der Antisemit wird zum Jüngling, verliert seinen Kinderglauben und vergißt die ersten judenfeindlichen Einflüsse seiner Kindheit. Dagegen behält er seine Antipathie gegen die Juden, die ihm nun, da ihm ihre Entstehungsgeschichte entfallen ist, als angeborener Instinkt, als Ausdruck eines intuitiven Wissens erscheint. Für diesen wurzellos gewordenen Gefühls-Antisemitismus sucht er nach neuen, theoretischen Rechtfertigungen, und greift nach rassetheoretischen Abhandlungen, nicht um sein Vorurteil zu überprüfen, sondern um es zu bestätigen. Der pseudowissenschaftliche Rasse-Antisemitismus wirkt auf ihn wie eine Offenbarung, der er kritiklos folgt, weil er seinen Instinkten entgegenkommt, seiner Eitelkeit schmeichelt und seine Vorurteile wissenschaftlich rechtfertigt. So entwickelt er sich unter der Suggestion gleichgesinnter Freunde zum fanatischen Rasse-Antisemiten, den kein Gegenargument beirrt, weil sein Instinkt und sein Rasse-Glaube sich gegenseitig stützen.

Bei irreligiöser Kindererziehung suggerieren von klein auf antisemitische Verwandte, Kinderfrauen oder Erzieher durch spöttische oder gehässige Bemerkungen über die Juden ihre eigenen Vorurteile den Kindern ohne das Medium der Religion. Hier wird der religiöse Antisemitismus dem Kinde nicht direkt, sondern aus zweiter oder dritter Hand eingeimpft: denn, wenn wir die Spuren des Antisemitismus jener Erzieher zurückverfolgen, stoßen wir früher oder später auf jene oben geschilderte, religiöse Quelle.

Direkt oder indirekt ist also, fast immer, der religiöse Antisemitismus Vater des Instinkt-Antisemitismus – wie dieser Vater des Rasse-Antisemitismus ist. Das religiöse Vorurteil ist hier primär – die Antipathie sekundär – das Rassevorurteil tertiär.

Durch Suggestion und Verhetzung hat sich der Antisemitismus fast zu einer Massenpsychose entwickelt. Diese Psychose, die bei vielen Menschen Symptome des Pathologischen, der fixen Idee trägt, ist nur zu heilen durch einen klaren Einblick in ihre Ursachen und durch die Erkenntnis ihrer Entstehung. Denn ein Vorurteil als solches erkennen bedeutet den ersten Schritt zur Befreiung aus dessen Gewalt. Wenn erst die gebildeten Antisemiten zur Erkenntnis gelangen, daß der individuelle Antisemitismus ebenso wie der historische auf religiösem Fanatismus beruht, und daß ihre wissenschaftlichen Überzeugungen sich auf den religiösen Vorurteilen ihrer Kinderfrauen gründen – dann können sie sich, endlich, von ihrem Wahne befreien. Wie bei der psycho-analytischen Therapie handelt es sich hier darum, ein verschüttetes Kindheitserlebnis ins Bewußtsein zurückzurufen, um die Befreiung von einem zum Instinkte gewordenen Vorurteil durchzuführen. –

Möge dieses Buch allen seinen Lesern helfen, im Geiste des Verfassers in der Judenfrage durch Gerechtigkeit zur Wahrheit zu gelangen und durch Wahrheit zur Gerechtigkeit!


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