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16

Da der kleine westdeutsche Ort natürlich nicht über einen Lufthafen verfügte und Esther außerdem jedes Aufsehen vermeiden wollte, ging die Maschine einige Kilometer vor Meppen auf einer Wiese nieder. Herbeieilende Leute wurden, soweit es nötig war, darüber aufgeklärt, daß es sich um eine Notlandung handle, und wenige Minuten später fuhr Esther in einem holprigen Wagen dem Städtchen zu. Sie ging sofort zur Bürgermeisterei, in deren Haus auch der Hauptposten der Landgendarmerie untergebracht war, zeigte ihre Ausweise vor und hatte eine kurze Unterhaltung mit den zuständigen Personen, die übereinstimmend behaupteten, daß hier im Laufe der letzten vierundzwanzig Stunden keine verdächtige Persönlichkeit angekommen sei. Der Bahnhofspolizist bestätigte, daß mit den letzten Zügen kein Fremder eingetroffen sei, die Straßenkontrolle ergänzte die Mitteilungen dahin, daß auch kein unbekannter Wagen auf der Chaussee gesehen wurde.

Esther war ärgerlich und ziemlich ratlos. Aber aufgeben wollte sie ihre Suche unter keinen Umständen. Sie fragte, ob man die Grenzgegend vom Flugzeug aus gut übersehen könne. Der Bürgermeister lachte und meinte, es sei nicht ganz einfach und rätlich, sich im Moor verstecken zu wollen. Es gebe ein paar Schmugglerwege, aber die seien sowieso überwacht – wenn die Dame sich außerdem die Mühe machen wolle, die Grenze abzufliegen –

Esther Raleigh beschloß, den Versuch zu machen, sich aber außerdem mit Selfride telefonisch in Verbindung zu setzen. Sie bekam einen Gendarmeriewachtmeister als offizielle Amtsperson mit und fuhr zuerst wieder zu ihrem Flugzeug zurück.

Eine halbe Stunde danach ging die Maschine auf knapp hundertundfünfzig Meter herunter und schoß in rasender Fahrt über das Bourtanger Moor. Sie sah unter sich die öligen Flecken der Sümpfe, vermischt mit buckligen Grasnarben und Ginstergebüsch, das aber zu niedrig war, um als Versteck zu dienen. Ein paar schmale Fußwege schlängelten sich durch das Moor, von dem allenthalben, aufgeschreckt durch das Dröhnen des Propellers, Schwärme von Vögeln emporstiegen. An zwei oder drei Stellen arbeiteten Menschen – offenbar waren sie beim Torfstechen. Esther war allem gegenüber mißtrauisch, aber der Gendarm beruhigte sie, daß diese Gruppen wirklich unverdächtig seien.

Nach einem Flug von zwei Stunden, der vollkommen ergebnislos verlief, gab Esther dem Piloten, der zuletzt über der Gegend gekreuzt hatte, das Zeichen zum Zurückfahren. Sie war tief niedergeschlagen, trotz Selfrides Warnung, bei einem Mißerfolg nicht den Kopf hängen zu lassen. Um sie aufzumuntern, erzählte ihr der Gendarm allerlei Schmugglergeschichten, aus denen hervorging, wie belebt zeitweilig dieses finstere Sumpfland war, und daß die Polizei nicht gerade selten zu spät kam.

Wieder in Meppen angelangt, wo sie nun dicht bei der Stadt landeten, ging Esther sogleich zum Postamt und rief im Kaiserhof an. Sie brauchte nicht lange zu warten, ehe sie Selfrides Stimme hörte. Sie meldete sich und wollte ihm den Mißerfolg eben mitteilen, als er sie unterbrach:

»Weiß Bescheid, alles in Ordnung. Kommen Sie sofort zurück. Sie haben Ray Jeffers bereits vor zwei Stunden gefaßt – Dongen hat sie schon. Melden Sie sich bei ihm und dann bei mir in Berlin.«

Esther hängte ab und blieb eine Minute lang wortlos stehen. Was sollte das heißen? »Sie haben Ray Jeffers schon gefaßt?«

Natürlich hatte Selfride sie irgendwo entdeckt, und alles weitere war dann klar – jedenfalls mußte sie so schnell wie möglich nach Berlin zurückfahren! Sie rannte hinaus und zum Flugzeug, an dem sich der Pilot zu schaffen machte. Er war nicht weiter erstaunt, als sie zum sofortigen Aufstieg drängte; als Polizeiflieger lernt man manches an Tempo!

Von Tempelhof, wo sie am Nachmittag eintraf, telefonierte sie sofort an Dongen, der ihr dankte und sie bat, noch heute vorbeizukommen. Sie beschloß, sich mit einer eisernen Ruhe zu wappnen, wollte sich aber jedenfalls vorher mit Selfride in Verbindung setzen, um Näheres über die Vorgänge während ihrer Abwesenheit zu hören. Sie traf ihn im Kaiserhof, in den sie fuhr, nicht an – es mußte also auch ohne Informationen gehen.

Dongen kam ihr strahlend entgegen:

»Das war Ihr glänzendstes Manöver, Fräulein Raleigh! Wirklich, ich war zuerst ganz verblüfft!«

Esther lächelte verbindlich und verständnislos. Der Ministerialrat fuhr fort, nachdem er ihr einen Sessel vor seinen Schreibtisch gerückt hatte:

»Die Jeffers ist natürlich auf Ihre Taktik glatt hereingefallen. Ich will ja nicht fragen, mit wem Sie dabei zusammengearbeitet haben – jedenfalls ein tüchtiger und schneller Kerl. Also hören Sie: Sobald Sie fort waren, ach, keine halbe Stunde später, lese ich in der Mittagszeitung davon, daß ein weiblicher Detektiv unterwegs ist, um eine englische Industriespionin, die hier gestern wichtige Dokumente in die Hand bekommen hat, abzufangen. Sogar die Gegend war angegeben, Bourtanger Moor. Ich war zuerst sprachlos und – na, ich konnte diese Indiskretion einfach nicht begreifen. Aber sie hatte einen vollen Erfolg. Die gute Ray, die sich, wie Sie wußten oder ahnten, noch hier versteckt hielt, kam aus ihrem Schlupfwinkel hervor, und gegen zwei Uhr ruft mich Ihr Vertrauensmann an, daß Ray Jeffers gebunden und wahrscheinlich ohnmächtig in ihrem zweiten Zimmer, in dem kleinen Hotel in der Dorotheenstraße, liege. Der Schlüssel sei beim Portier des Hotels, da Frau Jeffers ihn beim Betreten ihres Zimmers nicht benötigt habe. – Nun, ich war mit zwei Beamten zehn Minuten später da – unsere Freundin war wirklich fachmännisch auf einer Chaiselongue gefesselt worden. Sie war bei vollem Bewußtsein, aber ein Knebel hinderte sie zunächst, sich auszusprechen. Am Boden lag ein Tuch, das mit Äther getränkt war. Die Untersuchung ihrer werten Person ergab einige kleine Überraschungen, die mir genügen, wenn auch von den gesuchten Dokumenten nichts zu finden war. Sie hat offenbar in ihrem Quartier, das sie gestern abend fluchtartig verlassen haben muß, Verschiedenes vergessen, was sie nun, nachdem sie glaubte, man suche sie an einer ganz anderen Stelle, noch holen wollte. Außerdem stand eine Schminkschatulle da, mit deren Hilfe wir sie eine Stunde später wohl schwerlich erkannt haben würden. – Hier ist übrigens das, was wir fanden –«

Dongen breitete auf dem Schreibtisch eine Reihe von Gegenständen aus, Esther sah darunter mehrere Pässe, eine Anzahl anscheinend hektografierter Papiere und das Zigarettenetui Ray Jeffers'. Der Ministerialrat nahm es hoch und öffnete es. Esther sah, daß es nur wenige Zigaretten enthielt. Dann drückte Dongen auf eine zweite Feder, die eine Außenseite sprang auf, und er zeigte ihr, daß sich in diesem Etui eine Vorrichtung, ähnlich Hektografierblättern, befand, mit deren Hilfe man von den meisten Schriftstücken Abzüge herstellen könne. Er erklärte, daß Frau Jeffers wahrscheinlich nicht mehr dazu gekommen sei, das Protokoll aufzunehmen – vielleicht habe sie auch schon verstanden, es zu beseitigen.

Esther nickte zu alledem. Sie erkannte, daß ihre Gegnerin erledigt war. Aber sie war sich auch darüber klar, daß sie selbst wenig oder nichts dazu getan hatte. Das war Selfrides Arbeit, und sie konnte sich gut vorstellen, wie das Zusammentreffen der beiden in dem kleinen Hotelzimmer vor sich gegangen war. Nur eines war ihr unverständlich: woher wußte Selfride, in welchem Hotel Ray Jeffers ein zweites Zimmer besaß?

Sie fragte Dongen, ob er noch weitere Auskünfte brauche, oder ob sie nun wieder für ein paar Stunden Ferien habe. Er lachte, bat sie wegen der Mühe, die er ihr mit dieser neuen Sache gemacht habe, um Entschuldigung und begleitete sie hinaus. In der Tür fragte sie noch ganz beiläufig:

»Wann kann denn die Verhandlung in der Sache Tsun-Herdemerten sein?«

»Wir wollen diese Dinge jetzt immer so sehr wie möglich beschleunigen, ich denke, im Laufe des nächsten Monats oder spätestens in acht Wochen.«

Ein erneuter Versuch Esthers, Selfride zu erreichen, glückte, sie verabredete, ihn vom Hotel abzuholen und ging die wenigen Schritte – sie hatte von der Post in der Französischen Straße aus telefoniert – in den Kaiserhof. Selfride war bereits in der Halle. Er sah sie schmunzelnd an:

»Na, ist Ihnen der Flug gut bekommen? Ich habe mir inzwischen erlaubt –«

»Ich weiß. Ich danke Ihnen –«

Er bemerkte natürlich ihre Mißstimmung.

»Ist Ihnen etwas nicht recht? Wollten Sie Ray Jeffers, die Ihren Freund –?«

»Nein, ich danke Ihnen wirklich. Es ist nur – es ist ein bißchen beängstigend, wie Sie – woher wußten Sie denn, wo die Frau wohnte?«

»Es gibt nicht sehr viele Hotels in dieser Gegend, in denen man ohne Anmeldung ein paar Tage wohnen kann, ohne aufzufallen. Ich kenne zufällig drei. Es war nicht sehr schwer, herauszubekommen, wo sie sich aufhielt. Ich bin ja hier nicht allein – glücklicherweise bekam ich die Meldung von Ihrem Flug gerade noch zum Umbruch in die Zeitung – dann überwachte ich die drei Hotels. Mittags hatte ich Ray Jeffers ermittelt und eine halbe Stunde später war die Sache in Ordnung.«

Esther schauerte plötzlich zusammen, ein kalter Wind schien durch die Hotelhalle zu fegen, wie erbarmungslos arbeitete dieser Mann vor ihr, wie ging er, bar jeder menschlichen Empfindung, über einen zur Strecke gebrachten Menschen zur Tagesordnung über! Esther haßte Ray von ganzer Seele – aber es schmerzte sie, daß diese stolze und schöne Frau von Selfride wie ein Huhn gefangen worden war, das man mit Körnern aus der dunklen Stallecke hervorlockt. Sie hatte einen häßlichen Geschmack im Munde – und unvermittelt fragte sie Selfride:

»Dongen hat die kopierten Gasprotokolle natürlich nicht finden können, weil –«

Ihr Gegenüber setzte sich gelassen zurecht und sah Esther mit einem kalten Blick an:

»Lassen Sie sich an dem genügen, Esther Raleigh, was man Ihnen bietet! Ich frage Sie nach manchen Dingen nicht – haben Sie vergessen, wer die Leute hier auf die Jeffers aufmerksam machte? Haben Sie das Brüsseler Paket vergessen? Ich habe für Sie – hören Sie, meine Liebe! – für Sie habe ich Ray Jeffers unschädlich gemacht – ich pflege mir meine Bezahlung selbst zu nehmen, wenn ich dazu in der Lage bin – Sie verstehen mich?!«

O ja, sie verstand ihn, sie verstand Herrn Selfride vollkommen! Sie stützte den rechten Ellbogen auf die Tischplatte und lächelte Selfride über ihre Hand hinweg an:

»Ich bin ganz im Bilde, und eine Bestätigung war wahrhaftig nicht notwendig! Verzeihen Sie mir meine Offenheit, Herr Selfride. Ich denke, Sie werden mich verstehen –«

»Sie sind noch ehrgeizig, Esther Raleigh, haha, sehr gut – aber ich nehme es Ihnen wirklich nicht übel. Haben Sie schon gehört –?«

Und nun begann er von Hardleys Tod zu erzählen. Er war ein glänzender Erzähler – Esther erinnerte sich bei seinen Worten an Burg. Da saß der Bruder Siegfried Burgs, dieser Bruder, dessen Geschäft das fürchterlichste war, das man erdenken konnte; und siehe da, er erzählte.

Er plauderte von Hardley, wie man von einem Fremden plaudert. Erwähnte, daß es Hardley gewesen sei, der Esthers Flucht auf seine Anordnung durchgeführt habe, ja, ja, er war ein tüchtiger Junge, nur ehrgeizig, verdammt ehrgeizig, zu ehrgeizig, verstehen Sie, Miß Raleigh? Er wollte mehr tun, als man ihm auftrug – natürlich, die meisten Menschen überschätzten ihre Kräfte und trauten sich zuviel zu – Ehre seinem Andenken! Er kam dann in eine dumme Zwickmühle – man hätte begreifen können, menschlich begreifen, daß er Angst bekam, vielleicht umkehren wollte; man ist in solchen Fällen leicht geneigt, beim bisherigen Gegner Schutz zu suchen – nun, es wurde ihm erspart, in womöglich lange und schlimme Gefahren zu kommen –

»Sie haben ja erfahren, daß er getötet wurde. Ermordet. Er war ein guter Mitarbeiter – nur, wie gesagt, leider – manchmal zu eifrig!«

Selfride schwieg und starrte Esther an, die seinen Blick, ohne mit einer Wimper zu zucken, erwiderte. Dabei hatte sie Mühe, ihm nicht mit der Faust ins Gesicht zu schlagen. Dieser Schuft! Deshalb also die Geschichte! Jawohl, Herr Selfride liebte, wie es schien, didaktische Prosa!

Es war eine Warnung, die er ihr da zukommen ließ, eine einigermaßen ernste Warnung; und es war noch sehr liebenswürdig von Herrn Selfride, diese Warnung so zu verbrämen, wie er es tat.

Esther löste ihren Blick aus dem seinen und fragte ihn, ob man nun gehen könne, und welche Vorschläge er für die nächste Zeit habe. Er zog zwei Theaterbilletts aus der Tasche und fragte sie, ob sie Zeit habe, mit ihm zu gehen; man könne sich ja nach dem Theater noch irgendwo hinsetzen und ein wenig plaudern. Er habe Nachrichten, die eventuell für die Russen sehr interessant sein könnten. Esther nahm an, und sie erhoben sich beide, um ins Theater zu fahren.

 

Inspektor Symes hatte in Chelmesford nach Kenntnisnahme des Polizeiprotokolls die Leichen der beiden Wageninsassen und danach das zertrümmerte Auto genau untersucht. Es zeigte sich, daß das Polizeitelegramm ein wenig ungenau gewesen war. Das Automobil war nicht im eigentlichen Sinne explodiert, sondern gegen einen Chausseestein gefahren und in Brand geraten. Nach dem Befund schien es, daß der Benzintank sogleich aufgerissen worden war, so daß das Benzin ausfloß und mit offener Flamme verbrannte, ohne zu vergasen und zu detonieren. Die Habseligkeiten der Toten, deren Kleider und Körper von dem Brande ergriffen worden waren, boten kaum Anhaltspunkte. Man hatte alle Sachen auf einen Tisch gelegt, wo Symes sie Stück für Stück prüfte. Seine Sorgfalt wurde belohnt, denn auf der Manschette eines blutbesudelten abgerissenen Hemdärmels fand er mit Kopierstift ein Wort, das er trotz der Verschmiertheit der Zeichen entziffern konnte. Es war der Name Hardley.

Mehr allerdings ließ sich auch bei sorgfältigster Suche nicht ermitteln, aber Symes betrachtete diese Entdeckung als eine nicht unwichtige Bestätigung seines verdachtes. Die genaue Untersuchung der Wagenreste war durch den Zustand der Trümmer außerordentlich erschwert. Wenn der Inspektor mit seiner Vermutung recht hatte, so mußte in dem Wagen entweder eine Höllenmaschine eingebaut gewesen sein, oder es mußte sich in ihm zum mindesten eine Vorrichtung befunden haben, welche zur Ursache des Unfalles geworden war. Sein Suchen war vergeblich. Das einzige, was ihm auffiel, ihn aber um keinen Schritt weiterbrachte, war die Tatsache, daß von den Resten der zerschmetterten Autouhr ein einzelner elektrischer Leitungsdraht, der mit einem Kontakt versehen war, herabhing. Aber selbst die anstrengendste Prüfung des übrigen Metallgewirres ließ ihn nicht einmal ahnen, was es mit diesem Draht für eine Bewandtnis haben könne.

Er fuhr nach London zurück und bemühte sich nun, den Wohnort und die Tätigkeit der beiden getöteten Italiener zu ermitteln. Ein Besuch in ihrem leeren Quartier, den er am nächsten Tage vornahm, führte zu nichts. Der einzige Anhaltspunkt, der aber reichlich dürftig war, bestand darin, daß ihm ein altes Weib, das in derselben Straße wohnte, mitteilte, die beiden Italiener hätten zweimal Besuch eines auffallend dicken und großen Mannes gehabt, den die Frau aber nicht näher beschreiben konnte. Symes ging mißmutig wieder ins Amt und grübelte darüber nach, zu welchem Namen die mysteriösen Firmenbuchstaben, die er auf dem Umschlag gefunden hatte, passen könnten. Das alte Mittel, auf dem Wege über den Hersteller oder Verkäufer der Briefumschläge ihren Besitzer zu ermitteln, war ziemlich aussichtslos, da das Papier ebenso wie die Lettern von einer Art waren, wie sie in Dutzenden von Druckereien und Papierfabriken hergestellt wurden. Blieb also als letzte Möglichkeit der weg der reinen Kombination.

Wer war Hardley gewesen? Zweifellos ein politischer Agent. Er war Amerikaner und war offiziell als Sonderberichterstatter von United Service for Press Information in London gewesen. Es war auffallend, daß sich die Redaktion, d. h. die Londoner Vertretung, noch nicht gemeldet hatte. Symes ergriff die Offensive und klingelte selbst dort an. Er hörte, nicht sonderlich erstaunt, daß man Herrn Hardley gar nicht kenne, es müsse sich wohl um einen Schwindler oder um ein Mißverständnis handeln.

Der Inspektor hängte ab und überlegte weiter. Also United Service kannte den Mann nicht, der Ausweise von United Service in seinen Taschen hatte. Dann war es doch auffallend, daß dieser falsche Sonderberichterstatter in einem der teuersten Hotels wohnen und sich als Mitarbeiter von United Service bezeichnen konnte, ohne daß es deren Vertretung Anlaß zum Einschreiten gab.

Die Obduktion Hardleys hatte ergeben, daß er nur an dem zielsicher geführten Stich gestorben war; die Leiche war bereits zur Beerdigung freigegeben worden. Symes war überzeugt, daß die wirklichen Auftraggeber Hardleys ihn durch die Italiener hatten beseitigen lassen. Er war überzeugt davon, daß diese Auftraggeber in amerikanischen Kreisen zu suchen seien – aber woher konnte er die Beweise dafür bekommen?

Er war noch mitten in seinen fruchtlosen Grübeleien, die sich nun schon über Tage erstreckten, als ihn Lord Addison zu sich rufen ließ. Er erfuhr, daß man eine der tüchtigsten Mitarbeiterinnen des britischen Nachrichtendienstes in Berlin verhaftet habe, und bekam den Auftrag, sofort dorthin zu fahren und, wenn möglich, zu ermitteln, durch wen und durch welche Umstände diese Verhaftung veranlaßt worden sei. Symes verbeugte sich, verschloß in seinem Zimmer die Funde im Falle Hardley in seinem Schreibtisch und begab sich in seine Wohnung, um sich zu der plötzlichen Reise nach Berlin fertigzumachen.

 

Esther war nun schon beinahe eine Woche lang wieder in Berlin und fragte sich jeden Tag, weshalb sie nicht endlich für einige Zeit in einen abgelegenen Ort zur Erholung fahre. Etwas hielt sie hier fest, ohne daß sie sich darüber hätte Rechenschaft geben können, was es eigentlich sei. Dongen sprach sie in diesen Tagen gar nicht, erfuhr also auch nichts Neues über das Schicksal Georgs. Mit Burg war sie noch zweimal zusammen gewesen, hatte aber dabei nicht erwähnt, daß Selfride in Berlin sei.

Ganz unklar war ihr, was der heimliche Chef von United Service überhaupt hier wollte. Er hatte durch einen Zufall die Gasformeln Bergers in die Hand bekommen und jedenfalls weitergeleitet – worauf wartete er noch? Es drängte Esther nicht, mit Selfride zu sprechen; sie sah keinen neuen Anlaß, ihn anzurufen, und er meldete sich nicht.

Esther verbrachte ihre Tage mit einer Art von Nichtstun, die allmählich unendlich anstrengend wurde. Sie hatte Mühe, ihre Zelt einzuteilen, weil sie nichts Bestimmtes vorhatte. Sie ging täglich ins Wellenbad, pflegte sich ausgiebig, tanzte – und fühlte sich todunglücklich. Nun war schon fast ein halbes Dutzend Briefe an Jury unterwegs, und vorläufig war doch auf kein Lebenszeichen zu rechnen, solange er noch unterwegs war.

Da meldete sich auf einmal Burg in einer sonderbaren Weise. Einer der Botenmeister der »Welt« kam ins Hotel und gab für Fräulein Raleigh ein Paket Zeitungen ab. Der verschnürte Packen wurde auf ihr Zimmer gelegt, wo sie ihn am Abend vorfand. Sie konnte sich den Grund nicht erklären – weshalb sandte man ihr deutsche und ausländische Blätter von der Redaktion hierher?

Sie öffnete das Paket und überflog die einzelnen Exemplare, plötzlich stockte sie. Auf einer Nummer der »Times« war am oberen Rande etwas gekritzelt. Sie betrachtete die Schrift genauer – es war Burgs Handschrift, die Buchstaben von einer geradezu ängstlichen Winzigkeit. Esther las:

»Kommen Sie heute abend ins Kabarett Lari-Fari. Ich bin dort und bleibe bestimmt bis zum Schluß, um Sie zu erwarten. Kommen Sie, auch wenn es spät wird!«

Esther sah nach der Uhr, es war kurz vor Mitternacht. Sie zauderte keinen Augenblick, verbrannte die Ecke der Zeitung, die sie abriß, zog sich wieder den Mantel an und fuhr in das bezeichnete Lokal. Die Kasse war schon geschlossen, sie drückte dem Portier ein Trinkgeld in die Hand, legte ihre Garderobe ab und betrat den dicht besetzten Raum. Es war dunkel, aus der Bühne wurde gerade ein Sketch gespielt. Ihre Augen gewöhnten sich rasch an das matte Licht, sie begann, die Besucher zu mustern – da, an der einen Seite drehte jemand den Kopf zum Eingang hin, ohne die Vorgänge auf der Bühne zu beachten. Sie erkannte Burg und schritt schnell und leise am Rande des Mittelraums zu Burgs Tisch. Sie setzte sich, drückte dem Wartenden und, wie sie sah, sehr Aufgeregten, die Hand, und sah zuerst interessiert aus die Bühne.

Dann neigte sie sich zu Burg hinüber, der ihr zuhauchte:

»Sie werden verfolgt, Kind. Man beobachtete Sie seit mehreren Tagen. Post und Telegramme und Telefon sind unter Kontrolle.«

Er versank wieder in Schweigen, während Esther, ohne zu antworten, weiter aus die Bühne starrte, die sie nicht sah.

Verfolgt? wer war hinter ihr her? Die Engländer? Das konnte doch hier nicht gefährlich sein. Selfride? Aber was sollte er beabsichtigen? Rein, es mußte etwas anderes sein. Hatte jemand sie belasten können? Aber wie denn, um Himmels willen?

Der Saal erhellte sich, Beifall prasselte, und die kleine Kapelle begann, die letzten Schlager zu intonieren. Esther sah auf Burg, der sie bekümmert anblickte. Sie nahm sich zusammen und fragte, harmlos wie in irgendeiner Plauderei:

»Welche Seite?«

»Dongen.«

Esther fühlte, wie ihre Hände zitterten, was konnte Dr. Dongen, was konnte der Referent von ihr wollen, dem sie die besten Dienste geleistet hatte? Burg rührte mit dem Löffel in seinem Kaffee:

»Ein Mann von Herrn Addison ist hier.«

Nein, so ging es nicht weiter! Sie war schon im Begriff, Burg vorzuschlagen, man solle gehen, als das Licht wiederum erlosch; das Programm wurde fortgesetzt. Jetzt rückte Burg dicht heran – mochte man denken, sie seien ein ungleiches Paar, das war jetzt wirklich gleichgültig! – und erzählte ihr, was vorgefallen sei.

Inspektor Symes sei in Berlin eingetroffen. Er führe die Untersuchung gegen sie, die man als russische Agentin verdächtige. Symes müsse triftige Gründe und wichtiges Material mitgebracht haben, jedenfalls sei auf Dongens Veranlassung eine Sperre über ihre auf der Redaktion einlaufende Post und alle sie betreffenden Telefonate verhängt worden. Dongen nehme offenbar an, daß sie mit irgendwelchen prominenten Russen in enger Verbindung stehe.

Esther hörte zu, und ihr Herz klopfte ein Wort in rasendem Takt: »Ju-ry, Ju-ry, Ju-ry!«

Es konnte nur darauf gehen, man verfolgte immer noch diese unsinnige Spur. Es gab doch kein Material gegen sie!

Aber da fiel ihr auf einmal die alte Methode ein: Es war nicht schwer, Material zu beschaffen! Es war eine Kleinigkeit, Unterlagen beizubringen, die zwar der Beschuldigte nicht kannte, deren Vorhandensein aber eben deshalb auch nicht von ihm geleugnet werden konnte!

Es wurde ihr kalt und heiß, sie hatte plötzlich heftige Kopfschmerzen und mußte sich zwingen, klar weiterzudenken. Dongen war jedenfalls von Symes überzeugt worden, und vielleicht hatte die gefangene Ray sie bei einem Verhör Gott weiß wie belastet!

Mit einemmal fielen ihr die Briefe ein, die sie an Jury in diesen Tagen geschickt hatte! Es war beinahe sicher, daß man sie abgefangen und daß Dongen sie gelesen hatte. Sie wankte auf ihrem Sitz und mußte sich gegen Burg lehnen, der kein Wort sagte.

»Aber warum – warum fragt man mich denn nicht nach diesen Dingen?«

»Wahrscheinlich, weil man abwarten will, ob Sie sich noch mehr kompromittieren.«

»Ich gehe morgen zu Dongen und stelle ihn zur Rede.«

»Woher wissen Sie denn von der Überwachung?«

Sie sank zusammen. Das Publikum applaudierte wie rasend, der Beifall knatterte wie eine Salve. Esther schrak hoch und setzte sich wieder aufrecht hin.

»Was raten Sie mir?«

Burg sah einen Moment vor sich hin und überlegte, welchen Rat er Esther Raleigh geben könne. Da fiel sein Blick zufällig zum Eingang, und er wurde blaß:

»Sie können Dongen ruhig sagen, daß ich – ich meine. Sie können ihn morgen getrost zur Rede stellen. Drehen Sie sich nicht um, am Eingang steht Herr Symes, der mich auch kennt, mit einem anderen Herrn.«

Esther drehte sich nicht um. Sie entnahm ihrem Etui eine Zigarette. Es war also zu spät. Man hetzte sie bereits. Gut. Jetzt gab es nur einen einzigen Weg; selbst vorzugehen, sich selbst zu stellen und zu prüfen, wie weit man nachzustoßen gewillt war. Burg flüsterte ihr zu, daß die beiden Leute verschwunden seien.

Die letzten Nummern des Programms rollten ab, Burg und Esther klatschten mit, lächelten mit und grübelten über einen Ausweg nach. Die Vorstellung war zu Ende, sie ließen sich ihre Garderobe geben, wurden mit der Menge auf die Straße gedrängt und trennten sich mit einem langen Händedruck. Als Esther schon in einer Autodroschke saß, blickte sie noch einmal hinaus: da stampfte ihr Freund Burg durch die Nacht, er ging schwer gegen den Wind –, und die Straße verwandelte sich vor ihren Augen in eine weite Prärie, durch die ein einzelner alter Bison trabte, ein mächtiges Tier, ein gefährlicher und prachtvoller Einzelgänger – aber alt und krank. Da trabte er hin, mit schweren, schwingenden Schritten und mächtigen Schultern, trabte in die wüste Endlosigkeit, in den Winter, die Nacht und den Tod, den er nahe fühlte.

Sie hüllte sich frierend enger in den Mantel. Nur nicht denken: das durfte man jetzt nicht! Nicht denken – morgen würde sich viel, morgen würde sich alles entscheiden!

In einem Abstand von kaum hundert Metern hinter ihr fuhr eine zweite Autodroschke, die anhielt, als Esther vor dem Hotel ausstieg und todmüde in ihr Zimmer hinaufging. Sie schlief sofort ein. Ein Nachtbummler, der unten vor dem Hotel noch ein Weilchen hin und her gegangen war, verschwand nach einiger Zeit in der Richtung zur Tauentzienstraße.


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