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15

Georg hatte sich in diesen wenigen Tagen gut in die Arbeit hineingefunden. Es war wirklich ein interessantes Feld, bei dessen Beackerung er hier helfen sollte. Professor Berger war über die Vorstufen seiner Arbeiten schon hinausgelangt. Die Wirkung der einfachen »Berufsgase«, wie er diejenigen Gase nannte, die in gewissen Fabrikationszweigen, in der Elektrotechnik, der Spiegelherstellung, in Bergwerken entstehen können, war fast völlig durchgeprüft, und man arbeitete an den Schutzstoffen, meist ebenfalls Gasen oder Dämpfen, die imstande waren, die giftigen Gase zu binden und ihre Wirkungen aufzuheben.

Aber die neuen Versuche gingen in einer anderen Richtung. Es hatte damit angefangen, daß der Professor selbst an den im letzten Kriege verwandten Gasen, Senfgasen und anderen, gewisse Gegenmittel demonstrierte. Dann kamen Untersuchungen über Ungeziefer tötende Gase, Forstschutz und dergleichen. Kulturen waren angelegt worden, die man den neuen Gasen aussetzte. Kleine Wirbeltiere und Säuger wurden bei den Experimenten in großen Mengen verbraucht. Man erfand neue Zusammensetzungen, über die im Labor heftig diskutiert wurde.

Und an all diesen Versuchen zeigte sich Herr Tsun Rayi hervorragend interessiert. Es ergab sich zu Georgs Überraschung, daß der kleine Japaner, der doch auch erst mitten im Studium war, in vielem erheblich besser als er Bescheid wußte. Tsun Rayi – oh, er hatte eine empfindliche Nase für solche Dinge! Er konnte mehr als nur zuhören und vorsichtig fragen, wobei er niemals unterließ, Georg zu fragen, ob er ihm dies oder jenes auch anvertrauen könne, ohne – nun, er wisse schon!

Georg konnte nach solchen höflichen Erinnerungen einfach nichts anderes tun, als dem Freunde zu beteuern, daß er wisse, wie beruhigt er über Tsuns Diskretion sei. – Und der Japaner revanchierte sich. Er wußte wirklich Bescheid, und Professor Berger hätte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, wenn er mit Tsun hätte reden können und seine Kenntnis schwieriger Gasprobleme kennengelernt hätte.

So aber stieg Georg Herdemerten, der junge Student, in seiner Achtung: denn Georg konnte dank Tsuns Anregungen und kurzen Bemerkungen die Arbeiten im Labor in mehr als einem Fall erheblich fördern, vor zwei Tagen hatte er seinen Freund zufällig getroffen, Tsun Rayi war nicht allein, sondern ging neben einer auffallend schönen, aber sehr dezent gekleideten Dame, die einen halben Kopf größer war als der kleine Gelbe. Georg hatte höflich gegrüßt, während Tsun ihm nur kurz, wenn auch sehr freundlich, zugewinkt hatte.

Georg wunderte sich etwas, Tsun hatte im allgemeinen nicht viel für Geselligkeit übrig – nun, vielleicht kannte er die Dame von früher her. Er hatte in den nächsten Tagen – die beiden Freunde sahen sich ja fast täglich – nicht nach der Dame gefragt und der Japaner vermied es, darüber zu reden. An diesem Abend saß Georg in demselben Café wie Esther, allerdings auf der Galerie des ersten Stockes. Er hatte dagesessen und auch an sie gedacht, die er noch in London glaubte – keiner von beiden ahnte etwas, und sie gingen aneinander vorbei bis zum nächsten Male.

 

Esther holte am Vormittag einiges Versäumte nach. Sie besuchte ihre Mutter, die von dem sicheren Auftreten ihres Kindes ganz verwirrt und befangen war, ohne dabei warm zu werden. Sie hörte, daß ihr Bruder arbeite und sich nicht viel zu Hause sehen lasse und nahm das Beleidigtsein der Mutter, daß die »fein gewordene« Tochter natürlich nicht bei ihr wohnen wolle, kühl und abweisend lächelnd auf. Sie verließ die alte Wohnung mit einem merkwürdig fremden Gefühl und dachte beim Hinuntergehen mit einer schmerzlichen Heftigkeit an Jury –

Dann rief sie bei Georgs Wirtin an und erfuhr, wo er jetzt arbeite, und daß er am Nachmittag wohl zu Hause sein werde, und begab sich, da es Zeit geworden war, in die Redaktion, um Burg zum Essen abzuholen. Erst heute kam sie dazu, ihre Kollegen zu begrüßen; dann wurde ihr ein Brief übergeben. Er enthielt keine Unterschrift – Esther mußte bei dem Gedanken, daß die Mehrzahl der letzten Briefe diesen Mangel aufwiesen, laut lachen – war aber zweifellos von Dongen. Er schrieb ihr, daß der Japaner in der Lützowstraße wohne, er sei mittags meist in einem bestimmten Restaurant zu treffen – das ebenfalls genannt war –, wo er mit Frau Jeffers zusammen esse. Vielleicht sähe Fräulein Raleigh sich den Mann einmal an.

Sie steckte den Zettel ein und ging zu Burg. Der Alte hatte sich von seiner gestrigen Aufregung wieder völlig erholt, zumindest merkte man ihm nichts an, als er, jovial und gewaltig wie immer, heranrollte und sie begrüßte. Er hatte noch ein paar Anweisungen zu geben, donnerte wie eine Lawine in die Setzerei, wo er über die gesetzten Seiten hinfuhr, manche journalistische Blüte knickte und mit Stumpf und Stiel ausriß, bevor er sanft und entladen zurückkam und mit Esther in seine Wohnung fuhr.

Dieses Mittagessen mit Siegfried Burg in dessen behaglich eingerichteter Junggesellenwohnung blieb für Esther immer eine Erinnerung an die letzte ruhige Stunde, bevor die Ereignisse von neuem begannen, sich zu überstürzen und in einem rasenden Wirbel alle Bindungen zerrissen und alles Frühere untergehen ließen. Hier, in seinem Heim, zeigte sich Burg von seiner faszinierendsten Seite. Während des genießerisch aufgemachten Essens und danach, bei einem hervorragenden Kaffee, übernahm er die Führung des Gesprächs. Er quoll über vor Beredsamkeit, erzählte Anekdoten, schmückte seine Rede mit tausend scharmanten und unvorhersehbaren Wendungen und setzte Esther durch ein außerordentliches Allgemeinwissen in Erstaunen. Er erzählte ihr von Reisen und Abenteuern – ja, Siegfried Burg war nicht immer der schwerfällige Koloß gewesen wie heute! –, er schleppte Bilder herbei, neuere und alte, lachte, sprudelte Geschichten heraus und nahm nur einmal Esther mit sanfter Gewalt eine Fotografie aus der Hand, die ihn und seinen Bruder darstellte.

Aber dieser kleine Zwischenfall vermochte den heiteren Charakter des Beisammenseins nicht zu stören. Die Zeit verging fast zu schnell, bis Siegfried Burg zur Uhr sah und sich mit einem schweren Seufzer erhob:

»Wir müssen leider gehen, Esther. Es war sehr schön. Sie hier zu haben, sehr schön. Ich weiß nicht, wann wir noch einmal Gelegenheit haben werden, uns so wie vorhin zu unterhalten. Aber wir wollen nicht in diesem Augenblick sentimental werden. Ein sentimentaler Nachrichtenchef paßt nicht recht in die ›Welt‹. Fahren Sie auch in die Stadt, oder darf ich Sie zu irgendeinem anderen Punkt bringen?«

Esther Raleigh sah ihren alten Freund an und reichte ihm beide Hände. Burg nahm sie und behielt sie eine Zeitlang zwischen seinen großen, schweren Tatzen. Dann gingen beide hinaus und saßen schweigend nebeneinander in dem Wagen, der Burg zur Redaktion bringen sollte. Esther stieg am Potsdamer Platz aus und schritt, ohne ein festes Ziel zu haben, durch die Straßen dem Westen zu. Unterwegs erinnerte sie sich an Georg und rief nochmals in seiner Wohnung an. Die Wirtin teilte ihr mit, daß Herr Herdemerten von dem japanischen Herrn abgeholt worden sei, die Herren seien wahrscheinlich ins Café Wien gegangen, wo sie sich öfter schon verabredet hätten.

Esther beschloß, Georg zu überraschen, und fuhr zum Kurfürstendamm, um ihn in dem genannten Café aufzusuchen. In dem Teesalon des ersten Stockwerkes, der ebenso dicht wie der Hauptraum besetzt war. entdeckte sie an einem Tisch zwei Herren und eine Dame. Sie erkannte Ray Jeffers und stockte unwillkürlich einen Augenblick. Neben Frau Jeffers saß ein Asiate, dessen Gesichtszüge ihr fremd waren. Der Dritte am Tisch war ein Europäer; sie sah, da er ihr den Rücken kehrte, nur sein blondes Haar und ein paar kräftige Schultern. Dieser Anblick bestimmte sie, sich in der Nähe einen Platz zu suchen, vorausgesetzt allerdings, daß Ray Jeffers sie nicht sofort erkennen würde. Sie bewegte sich, ein wenig Deckung suchend, so, daß sie sich unerkannt nähern konnte, und es gelang ihr, einen Platz am Nebentisch, an dem eine Familie saß, zu bekommen. Sie bestellte etwas und versuchte, aus dem sie umgebenden Stimmengewirr die Stimmen der hinter ihr Sitzenden genauer herauszuhören.

Das Gespräch der drei war im besten Gange. Der Japaner – es zeigte sich, daß der Asiate ein Japaner war – wurde von Frau Jeffers mit »Herr Tsun« angeredet: der andere Mann, dessen Stimme merkwürdig heiser klang, hieß »Herr Merker« oder »Mertens«. Esther vermutete sofort, daß es Georg Herdemerten sei, aber die Stimme klang ganz anders, und, obwohl sie den Mann von vorn nicht hatte sehen können, erschien ihr das Haar viel zu hell für Georgs braunen Schopf.

Das Gespräch der drei wurde leiser, blieb aber für sie nicht unverständlich. Sie hörte, daß von Gas die Rede war, dann fiel das Wort »Versuchslabor«, und der Japaner bat den anderen Herrn, ihm doch die letzten Protokolle zu zeigen. Ein paar Bogen, die der blonde Mann aus der Tasche zog, raschelten: dann wurde das Gespräch zwischen dem Japaner und der Frau noch leiser und sehr hastig in einer Esther unbekannten, gutturalen Sprache geführt. Sie merkte, daß der Europäer unruhig wurde, jetzt verlangte er die Papiere zurück, worauf der Japaner leise lachte und ihn um ein Weilchen Geduld bat.

Es war Esther klar, daß hier irgendeine Schurkerei vorgenommen wurde, bei der die schöne Ray Jeffers wieder einmal hervorragend beteiligt war. Sie überlegte sich gerade, was sie tun könne, und ob sie überhaupt in der Lage sei, hier irgendwie einzugreifen, als ein Kellner an den Nebentisch herantrat und mitteilte, Herr Tsun werde am Telefon verlangt. Esther hörte ein Stuhlrücken, dann eilte der Japaner mit einer hastigen Entschuldigung davon. In der Hand hielt er, wie sie sah, scheinbar nachlässig, die eng beschriebenen Bogen, die der andere ihm vorhin übergeben hatte.

Ray Jeffers fing sofort ein geschicktes Gespräch mit dem blonden Mann an, der seine Ungeduld mühsam beherrschte. Plötzlich stand auch sie auf, um sich für einige Augenblicke zu entschuldigen. Esther drehte sich, als Ray Jeffers an ihr vorbeieilte, zur Seite und hoffte, nicht bemerkt worden zu sein. Der junge Mann hinter ihr wurde immer unruhiger; einige Minuten vergingen, ohne daß seine beiden Begleiter wieder erschienen. Er machte mehrmals Anstalten aufzustehen, stockte aber immer wieder im letzten Augenblick. Schließlich stieß er seinen Stuhl hart nach hinten und traf dabei gegen denjenigen Esthers. Er fuhr im gleichen Augenblick wie sie herum, sie sahen sich an; es war Georg Herdemerten.

Esther sah ihn mit entsetzten Augen an, während er sie wie ein Gespenst anstarrte. Endlich flüsterte sie:

»Du, Georg? Wie kommst du zu diesen Leuten?«

»Seit wann bist du hier, Esther? – Und hier im Café?«

Statt einer direkten Antwort sagte sie nur in einem leisen, aber keinen Widerspruch zulassenden Ton:

»Ich erwarte dich in der kleinen Konditorei in der Joachimsthaler Straße, unserer alten Konditorei, verstehst du? Laß dir um Gottes willen die Papiere zurückgeben und komm so schnell wie möglich! Sag den beiden kein Wort von mir!«

Er nickte nur, verwirrt und überwältigt. Esther zahlte schnell und verließ das Café. Sie fühlte ihr Herz bis in den Hals hinein klopfen. Was war mit Georg geschehen? Eines stand fest: dieser Japaner schien ihn in der schmählichsten Weise mißbraucht und mit der famosen Ray einen hübschen Plan ausgeheckt zu haben. Aber wie weit waren die Dinge gediehen? Hatte Georg sich verleiten lassen, irgendwelche gravierenden Mitteilungen zu machen? Aber woher sollte er, der Student, überhaupt Kenntnis von gefährlichen Dingen haben?

Sie war in der Konditorei angelangt und setzte sich, um auf Georg zu warten. Sie zweifelte keinen Augenblick daran, daß die beiden nicht wieder zu dem Tisch zurückkehren würden, zumal sie gesehen hatte, daß Ray Jeffers außer ihrer Handtasche beim Fortgehen auch noch ihr Zigarettenetui eingesteckt hatte, was bei einem kurzen Weggehen völlig überflüssig war.

Sie brauchte nicht lange zu warten. Nach etwa einer Viertelstunde erschien Georg, der sich hastig im Raum umsah und dann auf ihren Tisch zueilte. Er nahm Platz, und sie sah, daß er ganz verstört war. Wieder fiel ihr sein blondes Haar auf, und sie fragte ihn zuerst danach. Er erklärte, dies sei eine Folge der Arbeiten mit Chemikalien, mit denen er jetzt zu tun habe, und teilte ihr dann mit, wie er durch Tsun in Professor Bergers Laboratorium gekommen sei und was für Versuche man dort mache.

Jedes Wort von ihm traf sie wie ein Schlag, sie sah ihre schlimmsten Erwartungen erfüllt. Georg Herdemerten hatte sich, ohne eine Ahnung von den möglichen Folgen zu haben, zum Industriespion des Japaners machen lassen. Sie hatte ihn ausreden lassen und sah eine Weile vor sich hin, bis sie fragte:

»Sind die Protokolle, die der Japaner dir vorhin entwendet hat, sehr wichtig? Ich meine, handelt es sich um neue Forschungsergebnisse!«

»Tsun, mir entwendet? Esther, bist du verrückt? Mein Freund Tsun –«

»Dein Freund Tsun ist japanischer Agent, Georg – und die Dame an deinem Tisch ist eine der gefährlichsten Spioninnen des britischen Nachrichtendienstes.«

»Lieber Gott, aber das ist doch ganz unmöglich! Ich bitte dich, Tsun hat mir doch tausendmal bewiesen, daß er ein anständiger Kerl ist! Wenn du wüßtest, was er mir für Tips gegeben hat, wie er mir geholfen hat! Ihm verdanke ich es ja, daß Professor Berger mich in all diese Arbeiten einweihte, weil er mich für eine ungewöhnliche Begabung hält!«

»Herr Tsun ist jedenfalls ein ausgezeichneter Chemiker, und höchstwahrscheinlich Spezialist für Giftgasfabrikation. Hast du eine Ahnung, in welch fürchterlicher Gefahr du schwebst?«

»Aber das ist doch lächerlich, Esther! Ich bitte dich – du kommst hierher, direkt aus London, du hast keine Ahnung von dem, was hier vorgeht. Und auf einmal, innerhalb von fünf Minuten, willst du solche Dinge erkannt haben und – ich verstehe dich nicht!«

»Ist Herr Tsun oder ist Frau Jeffers vorhin zurückgekommen?«

»Nein, aber Tsun hat sich durch den Kellner entschuldigen lassen und mit mir ein Rendezvous für morgen verabredet.«

»Ausgezeichnet. Frau Jeffers ist jedenfalls auch nicht zurückgekommen, und deine Aufzeichnungen sind noch in den Händen der beiden ehrenwerten Leute, nicht wahr?«

»Ja.«

»Sind es überhaupt deine Aufzeichnungen? Woher hast du sie? Führst du das Protokoll im Labor oder –«

»Die Notizen gehören Professor Berger. Er hat sie gemacht – ich war allerdings dabei. Ich sollte die Reihen nochmals durchrechnen – sie gehören mir natürlich nicht!«

»Sag einmal, was willst du jetzt eigentlich machen? Bist du dir klar darüber, wo du hältst? Bist du dir klar darüber, was du getan hast?«

»Ja, es ist natürlich schrecklich; aber Tsun wird mir doch morgen die Papiere zurückgeben, und was du da erzählst – Esther, du bist sicher eine ausgezeichnete Redakteurin und hast in den paar Wochen in London sehr viel gelernt. Aber deine Behauptungen über Tsun und die Dame – woher weißt du das alles?«

»Georg, ich bitte dich, frage mich jetzt nicht überflüssige Dinge. Ich habe dich früher niemals belogen, und du kannst sicher sein, daß ich es heute ebensowenig tue! Ich weiß genau, wer Ray Jeffers ist, und ich weiß jetzt auch, was Herr Tsun hier macht! Georg, wenn diese Geschichte auffliegt – und du kannst dich darauf verlassen, daß sie auffliegt – dann hast du einen Landesverratsprozeß am Halse, der deine Existenz vernichtet!«

Georg starrte sie an, und Esther merkte, daß ihre Worte doch nicht ohne Einfluß auf ihn blieben. In seinen Augen spiegelte sich das Entsetzen wider, mit dem die wachsende Erkenntnis ihn schüttelte. Er war ganz blaß geworden und krampfte nervös die Hände ineinander. Sie betrachtete ihn mitleidig, aber ratlos und fast ebensosehr in Schrecken, wie er selbst es war. Sie schlug ihm vor, noch einige Schritte durch den Tiergarten zu gehen.

Die kühle Luft draußen erfrischte die beiden, wenn sie auch weder Esther noch Georg beruhigen konnte. Während des Spazierganges, der zuerst ganz schweigsam verlief, überlegte Esther krampfhaft, wie sie Georg helfen könne. Es hatte keinen Sinn, wenn er etwa jetzt selbst ging und eine Anzeige machte. Der Japaner würde ihn selbstverständlich nicht schonen. Es hatte keinen Sinn, wenn sie ihm Geldmittel gab, damit er fliehen konnte. Seine Flucht würde die beste Bestätigung seiner Agententätigkeit sein. Es gab nur eins, ein kümmerliches und wahrscheinlich vergebliches Mittel, und das hieß: Zeit gewinnen. Endlich fiel ihr etwas ein, ein Ausweg, dessen Zweischneidigkeit allerdings für sie nicht weniger gefährlich war als für Georg.

Sie empfahl ihm, sich so schnell wie möglich mit Tsun in Verbindung zu setzen und ihm einfach zu sagen, daß man hinter ihm her sei. Ihren Namen solle er ihm natürlich nicht nennen. Es sei anzunehmen, daß der Japaner, wenn Georg sich über den Zweck seines Hierseins plötzlich unterrichtet zeigte, sofort die Konsequenzen ziehen und sich schleunigst aus dem Staube machen würde. Das sei wahrscheinlich die einzige Möglichkeit einer Rettung für Georg.

Er war mit allem einverstanden und vertraute ihr nach seiner anfänglichen Ungläubigkeit nun ebenso wie früher. Die so plötzlich hereingebrochene Katastrophe machte ihn blind für alles andere; und auch Esther konnte in diesem Augenblick an nichts anderes denken als an die Rettung ihres Jugendfreundes. Er wollte vor Tsuns Haus den ganzen Abend warten – einmal müsse der Japaner doch nach Haus kommen, und dann wollte Georg ihn sofort stellen und die Dinge ins reine bringen, soweit es möglich war. Sie trennten sich mit einem Händedruck wie früher, der doch von dem einstigen jungenhaften Unverständnis unendlich weit entfernt war; und Georg eilte schräg durch den Tiergarten dem Lützowplatz zu, in dessen Nähe Tsun Rayi wohnte.

Esther Raleigh ging langsam und in schweren Gedanken nach Haus. Sie hatte nicht erwartet, Georg so wiederzufinden. War es nicht wie ein Verhängnis? Hatte die Bahn, auf die sie selber gekommen war, und auf der sie nun, noch frisch und erfolgreich, vorwärts schritt, wirklich etwas so unentrinnbar Magisches an sich? Welch böser Stern hatte gerade Georg, den harmlosen und unverbrauchten Georg Herdemerten, mit diesen Kreisen zusammengebracht? Es war so unwahrscheinlich, daß diese Affäre ohne Folgen bleiben sollte, sosehr sie es auch hoffte und wünschte, wieder erinnerte sie sich an ihre morgige Verabredung mit Selfride – sie würde ihn bitten, ihr sofort die Mittel an die Hand zu geben, um Ray Jeffers unschädlich zu machen.

 

Esther war am nächsten Morgen dabei, ein erstes Frühstück zu verzehren, als ihr Telefon ging und Ministerialrat Dongen sich meldete. Er bat sie nur, wenn es ihr möglich sei, ihn sogleich im Amt auszusuchen, er würde ihre Zeit nicht lange in Anspruch nehmen. Sie sagte zu, machte sich schleunigst fertig und ließ sich gegen zehn bei Dongen melden. Er bat sie, Platz zu nehmen, während er selbst im Zimmer auf und nieder ging.

»Nun, Fräulein Raleigh, haben Sie über den Tsun etwas in Erfahrung bringen können!«

Esther hatte Mühe, ihrer Stimme den gewohnten ruhigen klang zu geben, als sie antwortete:

»Ich sah ihn gestern zufällig in einem Café am Kurfürstendamm. Er war mit Ray Jeffers zusammen.«

»Sonst war niemand dabei? Ich kann Ihnen mitteilen, daß wir Herrn Tsun gestern am späten Abend gefaßt haben.«

Esther verfolgte den hin und her wandernden Dongen, ohne sich zu äußern.

»Er war ein wenig unvorsichtig. Ich muß Ihnen verraten, daß wir durch einen reinen Zufall einige der diplomatischen japanischen Telegramm-Codes vor kurzem ermittelt haben. Herr Tsun hat ein höchst interessantes Funktelegramm nach Tokio aufgegeben. Da wir uns erlauben, diese Telegramme vor der Beförderung durch unser Dechiffrierbüro laufen zu lassen, konnten wir diesmal einwandfrei feststellen, was in der Depesche stand. Sie enthielt die Formeln für eine Reihe neuer Schutzgase und dergleichen, die unser Professor Berger entdeckt hat.«

Esther hatte während der Worte Dongens blitzschnell überlegt, wie sie sich verhalten müsse. Man hatte Tsun verhaftet. Man wußte Einzelheiten seiner letzten Unternehmung. Man hatte den Namen Berger. Tsun hatte bestimmt Angaben gemacht, deren Umfang sie nicht übersehen konnte. Wenn sie leugnete, gestern auch Georg bei den beiden Spionen gesehen zu haben, und man diese Unwahrheit erfuhr, kam sie selbst in die größte Gefahr. Wie, um Gottes willen, wie konnte sie Georgs Preisgabe vermeiden ohne sich selbst zu vernichten?

Der Ministerialrat hatte geendet und sah sie fragend an. Sie hob die Schultern ein wenig und meinte obenhin:

»Ich sah außer den beiden einen jungen Mann, hatte aber keine Gelegenheit, Genaueres festzustellen, da ich mich hüten mußte, von Frau Jeffers erkannt zu werden. Glauben Sie, daß dieser andere Mann –?«

»Ja, wir wissen bereits, wer es ist. Es fanden sich bei dem verhafteten Tsun Dokumente, Kontrollreihen usw., Aufzeichnungen, die, wie ich feststellte, von Professor Berger persönlich gemacht wurden. Ich habe Berger noch gestern nacht angerufen und erfahren, daß er das Material einem seiner befähigtsten jüngeren Mitarbeiter, einem gewissen Georg Herdemerten, zur Überprüfung gegeben hatte, Tsun Rayi hat bei der Vernehmung heute früh bereits zugegeben, das Protokoll von Herdemerten erhalten zu haben.«

Esther saß reglos da. Sie hörte zwischen den Worten Dongens Glockenläuten. Es dröhnte wie ein ungeheures Grabgeläut in ihren Ohren, und sie wäre unfähig gewesen, in diesem Augenblick aufzustehen. Georg war verloren, er war rettungslos verloren. Der Tatbestand war so vollkommen eindeutig, jedes Leugnen von seiner Seite konnte die Angelegenheit für ihn nur verschlimmern. Sie fühlte, daß sie dicht vor dem Augenblick stand, in dem sie ihre Selbstbeherrschung verlieren und wie ein Kind zu weinen anfangen würde. Der Ministerialrat sah sie glücklicherweise nicht an, während er weitersprach:

»Ich habe Herdemerten heute früh unter dem Verdacht der Industriespionage verhaften lassen und ihn bereits kurz verhört. Er ist voll geständig, gibt aber an, ganz ahnungslos in die Falle gegangen zu sein, die ihm Tsun gestellt hatte. Mein Eindruck –« Dongen räusperte sich, als sei er im Begriff, ein Plädoyer zu halten, blieb stehen und sah Esther an, die wieder gefaßt, wenn auch mit erloschenen Augen dasaß, »mein Eindruck ist, daß Herdemerten tatsächlich verführt wurde. Er ist hereingefallen – schade um ihn. Er hat mir, offen gestanden, gefallen – aber da ist nichts zu machen. Ich werde ja hören, wie er sich bei der Konfrontierung mit dem Japaner verhält. Wenn man seinen Angaben vor dem Reichsgericht glaubt, wird er vielleicht – obwohl wir gezwungen sind, gerade bei Deutschen, die sich zur Industriespionage hergeben, besonders streng zu sein – mit vier oder fünf Jahren davonkommen.«

Esther murmelte nur: »Zuchthaus –«

»Natürlich Zuchthaus – Dachten Sie, Festung für derartige Geschichten? – Aber nun zu dem eigentlichen Grund meines Anrufes. Frau Ray ist uns leider durch die Lappen gegangen. Sie muß etwas gewittert haben und hat sich wohl noch gestern abend aus dem Staub gemacht. Wir müssen ermitteln, ob sie eine Ahnung von den Bergerschen Notizen hat, und wie ihre Zusammenarbeit mit dem Japaner ursprünglich zustande kam. Wenn Sie uns hierbei helfen könnten –?«

Esther stand auf und trat dicht vor Dongen hin:

»Wenn es mir möglich ist, Ray Jeffers zu überführen, dann werde ich sie überführen. Ich habe selbst eine kleine Rechnung mit ihr zu begleichen!«

Wenn Esther Raleigh gewußt hätte, wie bezaubernd schön und gefährlich sie so aussah, glühend vor Eifer und hochgetrieben von einem unbezähmbaren Rachegefühl, dann hätte sie den Blick Dongens verstanden, der sich rasch abwenden mußte, um dieser Frau gegenüber nicht seine Ruhe zu verlieren. Sie verabschiedete sich kurz und fuhr, zitternd vor Aufregung, zu Kranzler, um dort rechtzeitig mit Selfride zusammenzutreffen.

Beim Hinaufkommen in den ersten Stock sah sie ihn, der schon wartete. Er saß da, ein harmloser dicker Mann, der vergnügt an seiner Zigarre kaute und sie lachend begrüßte. Sie war zu nervös, um sich verstellen zu können. Er musterte sie flüchtig, bestellte etwas für sie und fragte dann:

»Was ist? Verdacht auf Sie?«

Esther schüttelte den Kopf und sah ihn voll an, so daß er die Augen zusammenkniff.

»Ich muß Ray Jeffers haben, Herr Selfride! Hören Sie? Ich habe nicht viel Lust, noch lange zuzusehen, wie dieses Weib –«

»Ein Freund von Ihnen –«

Selfride machte eine unzweideutige Bewegung, die Esther erbeben ließ. Sie nickte nur. Selfride dachte einen Augenblick lang nach:

»Was hat sie bekommen?«

»Vermutlich ein Protokoll über neue deutsche Schutzgiftgase.«

»Phhh –«

Selfride pfiff mit fast geschlossenem Munde durch die Zähne.

»Schutzgase – das kennen wir. Wann?«

»Gestern abend. Sie hatte Gelegenheit, die Originale einzusehen.«

»Konnte sie vielleicht dabei –«

Er wies aus die Armbanduhr, die Esther um das Handgelenk trug. Esther verneinte. Das Licht im Café sei viel zu schwach gewesen. Und um Selfride, von dem es letzten Endes fast allein abhing, ob sie Ray überführen konnte, ein genaues Bild zu geben, erzählte sie ihm die gestrigen Vorfälle mit allen Einzelheiten.

Er hörte ruhig zu, mit halbgeschlossenen Augen, nur ab und zu leise brummend. Zum Schluß strich er sich über das Gesicht, öffnete die Augen und meinte:

»Holländische Grenze – Sie pflegt nicht weit von Emmen die deutsche Grenze zu überschreiten –, übrigens ein alter Weg auch für ihre Freunde, wenn es was Wichtiges gibt. Da ist in Deutschland das Bourtanger Moor – die Grenze ist stellenweis ganz unwegsam. In Deutschland wird sie bis Meppen fahren – schätze, daß sie jetzt da sein wird und erst in der Nacht über die Grenze geht. Lassen Sie sich sofort ein Flugzeug geben und versuchen Sie, die Frau noch auf deutschem Gebiet zu kriegen. Haftbefehl aus alle Fälle mitnehmen. Grenze sofort nicht nur an Stationen sperren lassen. – Ich wohne im Kaiserhof. Melden Sie sich, wenn Sie zurückkommen. Beeilen Sie sich jetzt. Achten Sie aus die Handtasche von Ray Jeffers!«

Er schwieg und sah Esther an, die rasch aufstand.

»Wenn Dongen Sie fragt, wie Sie darauf kommen, sagen Sie ruhig: United Service, er weiß ja ohnehin von Ihrer Verbindung mit uns durch Mersheim.«

Sie reichte Selfride die Hand, der sie nahm und schüttelte:

»Und wenn es dort nicht klappt, nicht den Kopf hängen lassen, wir kriegen sie bestimmt, heute – oder morgen, verstanden?«

Esther nickte und eilte hinab, um nochmals zu Dongen zu fahren. Der Ministerialrat sah sie zwar etwas zweifelnd an, besorgte aber sofort das Nötige, knapp zwei Stunden später saß Esther in dem Sonderflugzeug D. P. 56, das in nordwestlicher Richtung Berlin mit zweihundertdreißig Stundenkilometer Geschwindigkeit verließ. In den Taschen ihres Sportkostüms befand sich ein Haftbefehl und eine amtliche Mitteilung für die Meppener Behörden sowie ihre kleine Selbstladepistole.

Vor ihrem Abflug hatte sie noch in die Redaktion telefoniert und Burg erzählt, daß sie auf längstens zwei Tage Berlin verlasse und sich sofort nach ihrer Rückkehr melden werde.


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