Joseph Conrad
Die Tremolino
Joseph Conrad

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VI

Es war abgemacht. Jetzt hatte ich den Mut, mich umzuwenden. Unsere Leute kauerten mit besorgten, niedergeschlagenen Gesichtern hier und dort an Deck und beobachteten unsern Verfolger. Zum erstenmal an diesem Morgen wurde ich Cesars gewahr, der lang ausgestreckt neben dem Fockmast an Deck lag. Ich fragte mich verwundert, wo er sich so lange versteckt hatte. Aber er mag vielleicht die ganze Zeit neben mir gestanden haben; wir waren zu sehr mit unserem Verhängnis beschäftigt, als daß wir noch aufeinander geachtet hätten. Niemand hatte an diesem Morgen etwas gegessen, aber ständig waren die Leute zum Trinken ans Wasserfaß gekommen.

Ich lief hinunter in die Kajüte. Dort hatte ich in einem Spind zehntausend Franken in Gold versteckt, von dessen Vorhandensein an Bord, soviel ich wußte, außer Dominic kein Mensch auch nur das geringste ahnte. Als ich wieder an Deck kam, hatte sich Dominic umgedreht und schaute unter seiner Kapuze heraus forschend auf die Küste. Voraus lag Kap Creux, an Backbord eine weite Bucht, deren Wasser durch die harten Böen so aufgewühlt war, daß die Luft ganz von Dampf erfüllt schien, und achteraus sah es bedrohlich am Himmel aus. Sowie mich Dominic sah, fragte er mich in ruhigem Ton, was geschehen sei. Ich ging nahe an ihn heran, tat ganz gleichgültig und sagte ihm, daß ich das Spind aufgebrochen vorgefunden hätte und mein Gürtel mit Geld fort sei. Gestern abend war er noch da. »Was wollten Sie denn damit?« fragte er mich. Er zitterte am ganzen Körper.

»Ihn umschnallen, natürlich«, gab ich zur Antwort, erschrocken, als ich hörte, wie er mit den Zähnen klapperte.

»Verfluchtes Gold!« murmelte er. »Das Gewicht des Geldes hätte Sie das Leben kosten können.«

Er schauderte. »Jetzt ist keine Zeit, darüber zu reden.« »Ich bin klar.«

»Noch nicht. Ich warte, daß diese Bö aufkommt«, flüsterte er. Die Minuten schlichen dahin. Schließlich setzte die Bö ein. Unser Verfolger wurde von einer Art Windhose überrascht und geriet in der dunklen Wolkenbank außer Sicht. Die ›Tremolino‹ bebte in allen Fugen und machte einen Satz nach vorn. Auch das Land voraus verschwand. Wir schienen allein in einer Welt aus Wasser und Wind zu sein.

»Prenez la barre, monsieur.« Mit rauher Stimme brach Dominic plötzlich das Schweigen. »Nehmen Sie das Ruder.« Er beugte seine Kapuze an mein Ohr. »Die Balancelle gehört jetzt Ihnen. Mit Ihrer eigenen Hand müssen Sie ihr den Schlag versetzen. Ich – ich habe noch ein anderes Stück Arbeit zu tun.« Laut sagte er zu dem Mann, der steuerte: »Laß den Signorino an die Pinne und halte du dich mit den anderen klar, das Boot längsseits zu holen, sobald ich die Order gebe.«

Der Mann war überrascht, gehorchte aber stumm. Die anderen kamen in Bewegung und spitzten die Ohren. Ich hörte sie flüstern: »Was nun? Wollen wir irgendwo einlaufen und uns aus dem Staub machen? Der Padrone weiß, was er tut.«

Dominic ging nach vorn. Er blieb einen Augenblick stehen, um auf Cesar zu blicken, der, wie ich schon sagte, lang ausgestreckt mit dem Gesicht nach unten beim Fockmast lag, dann machte er einen Schritt über ihn hinweg und geriet hinter der Fock aus meinem Blickfeld. Voraus konnte ich nichts erkennen. Es war einfach unmöglich, irgend etwas anderes als die Fock zu sehen, die offene, weite Fock, die mir wie eine große, unwirkliche Schwinge erschien.

Dominic hatte aber jetzt seine Richtung gefunden. Mit einem gerade noch hörbaren Ausruf kam seine Stimme von vorn: »Jetzt, Signorino!«

Ich legte die Pinne über, wie er es mir vorher gesagt hatte. Ich hörte noch einen zweiten schwachen Zuruf, dann brauchte ich nur noch gerade voraus zu halten. Kein Schiff ist jemals so freudig in den Tod gelaufen. Die Balancelle hob sich und sank, als schwebe sie im Raum, dann schoß sie vorwärts, schwirrend wie ein Pfeil. Bald erschien Dominic wieder. Gebückt ging er unter der Fock hindurch und blieb in abwartender Haltung mit erhobenem Zeigefinger gegen den Mast gelehnt stehen. Eine Sekunde vor dem Anprall ließ er den Arm zur Seite niedersinken. Als ich das sah, biß ich die Zähne zusammen. Und dann –

Da redet man von zersplitternden Planken und krachendem Holz! Dieser Schiffbruch bedrückt meine Seele wie ein furchtbarer, entsetzlicher Mord mit solch unvergeßlichen Gewissensnöten, als hätte ich mit einem einzigen Schlage ein lebendiges, treues Herz zermalmt. Einen Augenblick lang noch die vorwärtsstürmende, schwebende Fahrt, dann im nächsten Augenblick ein Krachen, und Tod, Stille – ein Moment furchtbarer Leblosigkeit. Der Gesang des Windes hat sich in schrilles Wehgeschrei verwandelt, und die schwere See brodelt drohend um den Leichnam. Eine quälende Minute lang sah ich die Fockrah mit einem wilden Schwung in Längsschiffrichtung fliegen und die Männer zu einem Haufen zusammengedrängt, vor Angst fluchend, wie wahnsinnig an der Schleppleine des Bootes holen. Mit einem seltsamen Gefühl der Freude über einen vertrauten Anblick erkannte ich unter den Leuten Cesar und Dominics alte, wohlbekannte und so wirkungsvolle Geste, wie er mit seinem kraftvollen Arm weit ausholte. Ich erinnere mich deutlich, daß ich mir sagte: »Cesar muß jetzt natürlich zu Boden gehen«, und dann versetzte mir die hin und her fegende Pinne, die ich losgelassen hatte, um auf allen vieren fortzukriechen, einen Schlag aufs Ohr, daß ich bewußtlos zusammenbrach.

Ich glaube nicht, daß ich länger als ein paar Minuten wirklich besinnungslos war, aber als ich wieder zu mir kam, trieb das Dingi vor dem Wind in eine geschützte kleine Bucht, wobei es zwei Mann mit Riemen auf Land zu hielten. Dominic saß neben mir auf dem Achtersitz, er hatte einen Arm um meine Schulter gelegt und stützte mich. Wir landeten an einem wohlvertrauten Teil der Küste. Dominic nahm einen Riemen aus dem Boot mit. Ich vermute, er dachte dabei an den Fluß, den wir nach kurzer Zeit überqueren mußten, wo immer ein elender Kahn lag, dessen Ruderstangen meist gestohlen waren. Zunächst mußten wir jedoch die Hügelreihe hinter dem Kap emporsteigen. Dominic half mir hinauf. Mir war schwindelig. Mein Kopf fühlte sich dumpf und schwer an. Als wir oben waren, hing ich nur noch an ihm, und wir hielten an, um auszuruhen.

Die weite, dampfende Bucht unter uns war leer. Dominic hatte sein Wort gehalten. Nicht ein Splitter war mehr bei dem schwarzen Felsen zu sehen, von dem auf einen Schlag die ›Tremolino‹ mit ihrem mutigen Herzen in tiefes Wasser zu ihrer ewigen Ruh hinabgeglitten war. Die weite offene See war in Nebelschwaden eingehüllt, und in der Mitte einer abziehenden Bö stürmte wie ein Phantom das Zollboot unter vollen Segeln dahin, das ahnungslos immer noch auf der Verfolgung nach Norden jagte. Unsere Leute kletterten schon den rückwärtigen Abhang hinab, um den Kahn zu suchen, der, wie wir wußten, nicht immer leicht zu finden war. Mit geblendeten, trüben Augen blickte ich hinter ihnen her. Einer, zwei, drei, vier. »Dominic, wo ist Cesar?« schrie ich.

Als ob er schon den bloßen Namen abwehren wollte, machte der Padrone diese weitausholende, niederschlagende Geste. Ich trat einen Schritt zurück und starrte ihn erschrocken an. Sein offenes Hemd ließ seinen muskulösen Hals und das dichte Haar auf seiner Brust sehen. Er stieß den Riemen senkrecht in die weiche Erde, rollte langsam seinen rechten Hemdsärmel auf und streckte den nackten Arm vor meinem Gesicht aus.

»Das«, begann er ganz langsam, wobei er mit übermenschlicher Anstrengung seine Gefühle unterdrückte, »ist der Arm, der ihm den Schlag versetzt hat. Den Rest, fürchte ich, hat Ihr eigenes Gold besorgt. Ich habe Ihr Geld ganz vergessen.« Er schlug in einer plötzlichen Schmerzaufwallung die Hände zusammen. »Ich habe es vergessen, habe es vergessen!« wiederholte er untröstlich. »Cesar hat den Gürtel gestohlen?« stammelte ich bestürzt. »Wer sonst? Canaglia! Er muß Ihnen tagelang nachspioniert haben. Und er hat den Streich ausgeführt. Den ganzen Tag in Barcelona an Land. Traditore! Verkaufte seine Jacke – um ein Pferd zu mieten. Haha! Ein schöner Handel! Ich sage Ihnen, er war es, der sie auf uns gehetzt hat...« Dominic zeigte hinaus auf die See, wo das Zollboot nur noch als dunkler Fleck zu sehen war. Sein Kinn sank auf die Brust. »... mit genauen Informationen«, murmelte er in traurigem Ton. »Ein Cervoni! Oh, mein armer Bruder!...« »Und Sie haben ihn ertränkt«, sagte ich leise.

»Ich habe einmal zugeschlagen, und der Lump ging wie ein Stein unter – mit dem Gold. Ja, aber er hatte Zeit genug, in meinen Augen zu lesen, daß ihn nichts retten konnte, solange ich lebe. Und hatte ich nicht das Recht dazu – ich, Dominic Cervoni, Padrone, der ihn an Bord Ihrer Feluke gebracht hat – meinen Neffen, einen Verräter?« Er zog den Riemen aus der Erde und half mir vorsichtig den Abhang hinab. Während der ganzen Zeit sah er mir nicht ein einziges Mal ins Gesicht. Er stakte uns über den Fluß, nahm den Riemen wieder über die Schulter und wartete, bis unsere Leute etwas weiter weg waren, ehe er mir seinen Arm zur Stütze bot. Nachdem wir eine kurze Strecke gegangen waren, kam das Fischerdorf, wohin wir wollten, in Sicht. Dominic blieb stehen.

»Meinen Sie, daß sie allein bis zu den Häusern gehen können?« fragte er mich ruhig.

»Ja, ich glaube, aber warum? Wo wollen Sie hin, Dominic?« »Irgendwohin. Was für eine Frage! Signorino, Sie sind kaum mehr als ein Junge, wenn Sie einem Mann, der eine solche Geschichte in seiner Familie erlebt, diese Frage stellen. Oh, traditore! Was hat mich bloß dazu gebracht, diese Ausgeburt von einem hungrigen Teufel als unser eigenes Blut anzuerkennen! Ein Dieb, Betrüger, Feigling, Lügner – damit können sich andere Leute abgeben. Aber ich war sein Onkel, und so... Ich wollte, er hätte mich vergiftet – charogne! Aber das hier, daß ich, eine Vertrauensperson und ein Korse, Sie um Verzeihung bitten muß, weil ich an Bord Ihres Schiffes, dessen Padrone ich war, einen Cervoni brachte, der Sie verraten hat – einen Verräter! – das ist zuviel. Es ist einfach zuviel. Nun, ich bitte Sie um Verzeihung, und Sie mögen Dominic ins Gesicht spucken, weil ein Verräter unseres Blutes uns alle besudelt hat. Ein Diebstahl kann unter Männern wiedergutgemacht, eine Lüge berichtigt, ein Tod gerächt werden, aber was kann man tun, um einen Verrat wie diesen zu sühnen?... Nichts.« Er wandte sich um und ging von mir fort am Ufer des Stromes entlang. Er schwang seinen rächenden Arm und wiederholte langsam mit wildem Nachdruck: »Oh! Canaille! Canaille! Canaille!...« Zitternd vor Schwäche und stumm vor Schrecken blieb ich zurück. Unfähig, auch nur einen Laut hervorzubringen, starrte ich der fremdartig einsamen Gestalt dieses Seemannes nach, der unter dem düsteren, bleiernen Himmel des letzten Tages der ›Tremolino‹ mit einem Riemen über der Schulter eine dürre, felsenbedeckte Schlucht hinaufstieg. Bedachtsam, mit dem Rücken zur See, schritt er davon. So entschwand Dominic meinen Blicken.

Wie sich der Gehalt unserer Wünsche, unserer Gedanken und unseres Erkennens zu unserer unendlichen Kleinheit verhält, so messen wir selbst die Zeit nach unserer eigenen Größe. Im Bann unserer Illusionen scheint uns der Rückblick auf dreißig Jahrhunderte Menschheitsgeschichte weniger zu bedeuten als auf dreißig Jahre unseres eigenen Lebens. Dominic Cervoni hat in meiner Erinnerung seinen Platz an der Seite des legendären Wanderers über das wunder- und schreckensreiche Meer, an der Seite des unheilbringenden, ruchlosen Abenteurers, dem der heraufbeschworene Schatten des Sehers eine Reise ins Binnenland verkündete: mit einem Ruder auf der Schulter werde er so weit gehen, bis er auf Menschen träfe, die noch niemals Schiffe und Ruder zu Gesicht bekamen. Mir scheint, ich könne die beiden Seite an Seite im Zwielicht eines schalen Landes sehen, die unglücklichen Besitzer des geheimen Wissens um die See, die das Wahrzeichen ihres harten Berufes auf der Schulter tragen, umgeben von schweigenden und wißbegierigen Männern – wie auch ich, der ich gleichfalls der See den Rücken gekehrt habe, diese wenigen Blätter mit der Hoffnung durch das Zwielicht trage, in einem Tale landeinwärts das schweigsame Willkommen eines geduldigen Zuhörers zu finden.


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