Joseph Conrad
Die Tremolino
Joseph Conrad

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IV

Jedenfalls war unser Dominic einfach vollkommen, wie Doña Rita erklärt hatte. Das einzig Unzulängliche (und sogar Unerklärliche) an ihm war sein Neffe Cesar. Es war bestürzend zu sehen, welch trostloser Ausdruck der Scham die draufgängerische Kühnheit in den Augen dieses Mannes verhüllte, der über alle Skrupel und Ängste erhaben war. »Ich hätte niemals gewagt, ihn an Bord Ihrer Balancelle zu bringen«, entschuldigte er sich einmal bei mir. »Aber was sollte ich machen? Seine Mutter ist tot, und mein Bruder ist in den Busch gegangen.« Auf diese Weise erfuhr ich, daß unser Dominic einen Bruder hatte. »In den Busch gehen«, heißt nur, daß ein Mann im Verfolg einer erblichen Blutrache seine Pflicht getan hat. Die seit langer Zeit bestehende Feindschaft zwischen den Familien Cervoni und Brunaschi war so alt, daß man annehmen konnte, sie sei schließlich verglommen. Eines Abends saß Pietro Brunaschi nach einem arbeitsreichen Tage unter seinen Olivenbäumen auf einem Stuhl an der Mauer seines Hauses mit einer Schüssel Suppe auf den Knien und einem Stück Brot in der Hand. Dominics Bruder, der mit einem Gewehr über der Schulter nach Hause ging, fühlte sich durch dieses Bild der Zufriedenheit, das so augenscheinlich darauf berechnet war, seine Haß- und Rachegefühle zu wecken, plötzlich beleidigt. Er und Pietro hatten nie einen persönlichen Streit gehabt, aber, wie Dominic erklärte, »alle unsere Toten schrien aus ihm«. Hinter einem Schutzwall aus Steinen rief er Pietro zu: »Paß auf, Pietro, was jetzt kommt!« Und als der andere aufblickte, zielte er auf die Stirn und glich die alte Vendettarechnung so elegant aus, daß, wie Dominic sagte, der tote Mann mit dem Suppennapf auf den Knien und dem Stück Brot in der Hand sitzen blieb.

Deswegen – weil in Korsika deine Toten dich nicht verlassen – mußte Dominics Bruder in den maquis gehen, in den wilden Busch des Gebirges, um den Gendarmen für den unbedeutenden Rest seines Lebens auszuweichen. Darum hatte Dominic den Neffen in Obhut genommen mit dem Auftrag, einen Mann aus ihm zu machen. Man kann sich kein aussichtsloseres Vorhaben vorstellen. Es schien hierzu einfach an allem zu fehlen. Wenn die Cervonis auch keine schönen Männer waren, so doch von rechtem Schrot und Korn. Aber dieser ungewöhnlich magere, bleiche Jüngling schien nicht mehr Blut in seinen Adern zu haben als eine Schnecke.

»Eine verfluchte Hexe muß das Kind meines Bruders aus der Wiege gestohlen und diese Ausgeburt der Hölle an seine Stelle gelegt haben«, sagte Dominic einmal zu mir. »Sehen Sie ihn bloß an! Sehen Sie ihn sich bloß an!«

Es war kein Vergnügen, Cesar anzusehen. Seine pergamentartige Haut schimmerte am Schädel kreidebleich durch die dünnen Strähnen schmutzig braunen Haares, die ganz fest auf seine großen Knochen geklebt schienen. Obwohl er keineswegs irgendwie körperlich mißgestaltet war, kam er dem, was man im allgemeinen unter dem Wort »Monstrum« versteht, so nah wie nichts, was ich je gesehen habe. Daß diese Wirkung auf seine geistige und seelische Verfassung zurückzuführen war, unterliegt für mich keinem Zweifel. Es war der körperliche Ausdruck einer völlig hoffnungslos verderbten Natur, von der jedes Glied, einzeln genommen, gar nichts absolut Erschreckendes an sich hatte. Man stellte sich vor, er fühle sich kalt und feucht wie eine Schlange an. Dem leisesten Vorwurf, der mildesten gerechten Ermahnung begegnete er mit einem wütenden Blick, einem boshaften Zurückziehen seiner dünnen, vertrockneten Oberlippe und einem haßerfüllten Knurren, dem er noch das angenehme Geräusch knirschender Zähne beigesellte.

Wegen dieses boshaften Betragens und weniger um seiner Lügen, seiner Unverschämtheit und Faulheit willen schlug ihn sein Onkel manchmal zu Boden. Aber man darf sich darunter keinen brutalen Angriff vorstellen, sondern man sah nur Dominics muskulösen Arm ganz bedächtig eine weit ausholende Bewegung machen, einen würdevollen Schwung, und Cesar purzelte wie ein Kegel um—das nahm sich sehr komisch aus. Aber wenn er erst einmal lag, dann krümmte und wand er sich an Deck und knirschte dabei vor ohnmächtiger Wut mit den Zähnen. Es war einfach schrecklich anzusehen. Und mehr als einmal geschah es auch, daß er zu unserer großen Überraschung unsichtbar wurde. Die volle Wahrheit ist, daß er sich einfach fallen ließ, ehe er überhaupt einen Schlag erhielt, und dann eilends verschwand. Er flüchtete Hals über Kopf in eine offene Luke oder Kappe, dann wieder versteckte er sich hinter hochkant stehenden Fässern, je nachdem, wo er gerade mit dem mächtigen Arm seines Onkels in Berührung kam.

Einmal – es war im alten Hafen kurz vor der letzten Reise der ›Tremolino‹ – verschwand er zu meiner größten Bestürzung über Bord. Dominic und ich hatten achtern über geschäftliche Dinge gesprochen, und Cesar war hinter uns hergeschlichen, um zu lauschen, denn neben allen anderen Eigenschaften war er auch noch ein abgefeimter Horcher und Spion. Beim Geräusch des lauten Plumpses längsseits hielt mich der Schreck wie angewurzelt auf der Stelle fest. Dominic trat jedoch ruhig an die Reling, lehnte sich über Bord und wartete darauf, daß der erbärmliche Kopf seines Neffen wieder auftauchte. »Ohé, Cesar!« rief er verächtlich dem platschenden Wicht zu. »Halte dich hier an der Achterleine fest – charogne!«

Darauf kam er zu mir her, um die unterbrochene Unterhaltung wieder aufzunehmen.

»Was ist mit Cesar?« fragte ich besorgt.

»Canaglia! Lassen Sie ihn dort hängen«, war seine Antwort, und ruhig sprach er weiter über das vorliegende Geschäft, während ich vergebens versuchte, aus meinem Gedächtnis das Bild loszuwerden, wie Cesar bis zum Hals im Wasser des alten Hafens lag, in diesem Absud jahrhundertealter Schiffsabfälle. Ich versuchte das Bild loszuwerden, weil mir schon bei dem bloßen Gedanken an diese Flüssigkeit übel wurde. Kurz darauf rief Dominic einen Bootsführer an, der gerade nichts zu tun hatte, und beauftragte ihn, seinen Neffen herauszufischen. Eine Weile später erschien Cesar am Kai und kam an Bord. Er zitterte, das schmutzige Wasser lief an ihm hinunter, in seinem Haar hatten sich Reste verfaulten Strohs verfangen, und auf seiner Schulter war ein Stück schmutzige Apfelsinenschale liegengeblieben. Seine Zähne klapperten, seine gelben Augen warfen uns verstohlen giftige Blicke zu, als er nach vorne ging.

Ich hielt es für meine Pflicht, gegen diese Behandlung zu protestieren. »Warum schlagen Sie ihn immer, Dominic?« fragte ich. Denn ich war ja davon überzeugt, daß es nicht den geringsten Zweck hatte und reine Kraftvergeudung war.

»Ich muß versuchen, aus ihm einen Mann zu machen«, antwortete Dominic hoffnungslos.

Ich unterdrückte die naheliegende Entgegnung, daß er auf diese Weise Gefahr liefe, aus seinem Neffen, nach den Worten des unsterblichen Herrn Mantalini, »einen verdammt feuchten, widerlichen Leichnam zu machen«.

»Er will Schlosser werden!« brach es aus Cervoni heraus. »Wahrscheinlich um zu lernen, wie man Schlösser aufbricht«, fügte er mit höhnischer Bitterkeit hinzu.

»Warum soll er nicht Schlosser werden?« wagte ich zu fragen. »Wer würde ihn wohl in die Lehre nehmen?« schrie er, und dann fragte er mit versagender Stimme: »Wo sollte ich ihn dann unterbringen?« Zum ersten Male sah ich Dominic richtig verzweifelt. »Er stiehlt, das wissen Sie, ach! Par la Madonna! Ich glaube, er könnte Gift in Ihr und mein Essen tun, die Natter!«

Er hob sein Gesicht und seine geballten Fäuste langsam zum Himmel. Wie dem auch sei, Cesar schüttete kein Gift in unsere Tassen. Man kann es nicht genau wissen, aber ich nehme an, er ging auf andere Weise zu Werke.

Auf der nächsten Reise, über die man keine Einzelheiten zu berichten braucht, mußten wir aus triftigen Gründen weit hinaus auf See gehen. Als wir von Süden hochkamen, um den wichtigsten und gefährlichsten Teil des vorgesehenen Planes abzuschließen, hielten wir es für notwendig, Barcelona anzulaufen, um eine gewisse präzise Information zu erlangen. Das scheint, als hätte man seinen Kopf in den Rachen des Löwen gesteckt, aber so war es in Wirklichkeit nicht. Wir hatten dort einen oder zwei einflußreiche Freunde, und dazu viele andere schlichte, aber nützliche, für gutes hartes Geld gewonnen und liefen keine Gefahr, belästigt zu werden. Tatsächlich erreichte uns die wichtige Information prompt durch einen Zollbeamten, der an Bord kam, um mit auffälligem Eifer einen Eisenstab in die Lage Apfelsinen zu stecken, die den sichtbaren Teil unserer Ladung in der Luke ausmachte. Ich vergaß am Anfang zu erwähnen, daß die ›Tremolino‹ offiziell als Frucht- und Korkholzfahrer angesehen wurde. Als der eifrige Beamte wieder an Land ging, ließ er ein nützliches Stück Papier in Dominics Hand gleiten, und als er einige Stunden später seinen Dienst beendet hatte, kehrte er durstig nach Getränken und einer Bezeugung der Dankbarkeit wieder zurück an Bord. Natürlich erhielt er beides, und während er in der kleinen Kajüte seinen Likör schlürfte, bearbeitete ihn Dominic mit Fragen über den derzeitigen Aufenthaltsort der Zollposten. Wir mußten mit den Zollwachen an der Küste rechnen, und es war für den Erfolg und unsere Sicherheit ausschlaggebend, die genaue Position der in unserer Nähe patrouillierenden Zollboote zu kennen. Die Nachrichten hätten für uns nicht günstiger sein können. Der Beamte nannte uns einen kleinen zwölf Meilen entfernten Ort an der Küste, wo das Boot ahnungslos und nicht seeklar mit abgeschlagenen Segeln vor Anker lag, um die Rahen zu malen und Stengen zu schrappen.

Nach den üblichen Höflichkeitsbezeigungen ging der Beamte wieder von Bord, wobei er uns beruhigend über die Schulter zulächelte. Aus übertriebener Vorsicht war ich fast den ganzen Tag unter Deck geblieben, denn der Einsatz, um den es auf dieser Reise ging, war groß. »Wir könnten sofort auslaufen, wenn dieser Cesar nicht wäre. Seit dem Frühstück ist er verschwunden«, erklärte mir Dominic in seiner bedächtigen, grimmigen Art.

Wir konnten uns gar nicht vorstellen, warum und wohin der Kerl gegangen war. Die üblichen Vermutungen, die man bei einem vermißten Seemann anstellt, waren auf Cesars Fernbleiben nicht anwendbar. Er war viel zu widerlich für Liebe, Freundschaft, Spiel oder auch nur eine flüchtige Verbindung. Aber er war vorher schon ein- oder zweimal weggelaufen.

Dominic ging an Land, um ihn zu suchen, aber nach zwei Stunden kam er allein zurück. An seinem vom Schnurrbart verdeckten Lächeln, das noch ausdrucksvoller geworden war, erkannte ich seine große Wut. Wir fragten uns, was aus dem Kerl geworden sein könnte, und überholten hastig unser bewegliches Eigentum. Er hatte aber nichts gestohlen. »Bald wird er wieder zurück sein«, sagte ich zuversichtlich. Zehn Minuten später rief einer der Leute an Deck laut aus: »Ich sehe ihn kommen.«

Cesar hatte nur Hemd und Hose an. Seine Jacke hatte er verkauft, offenbar um etwas Taschengeld zu haben.

»Du Schuft«, war alles, was Dominic mit beängstigend sanfter Stimme sagte. Er unterdrückte seinen Zorn. »Wo bist du Vagabund gewesen?« fragte er drohend.

Aber nichts hätte Cesar dazu bringen können, diese Frage zu beantworten. Es schien, als verzichtete er sogar darauf zu lügen. Unverfroren blickte er uns an, zog die Lippen zurück, knirschte mit den Zähnen und wich nicht einen Zoll vor Dominics ausholendem Arm zurück. Natürlich flog er wie von einer Kugel getroffen an Deck. Aber diesmal konnte ich beobachten, daß er beim Aufstehen länger als gewöhnlich auf allen vieren liegenblieb, seine großen Zähne fletschte und seinen Onkel mit einem neuen Ausdruck des Hasses in seinen runden gelben Augen über die Schulter anstarrte. Dieses stetige Gefühl schien bei ihm in diesem Augenblick durch eine besondere Bosheit und Neugier verstärkt zu sein. Ich beobachtete ihn interessiert. Wenn er es jemals fertigbringen sollte, dachte ich bei mir, Gift in unser Essen zu tun, wird er uns so wie jetzt ansehen, wenn wir dann bei Tisch sitzen. Aber selbstverständlich nahm ich nicht einen Augenblick an, daß er uns jemals Gift ins Essen tun würde. Er aß ja dasselbe wie wir. Überdies hatte er gar kein Gift, und ich konnte mir nicht vorstellen, daß ein menschliches Wesen so von Habgier geblendet sein könnte, um einem solch abscheulichen Geschöpf Gift zu verkaufen.


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