Joseph Conrad
Im Taifun
Joseph Conrad

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Sechstes Kapitel.

An einem hellen, sonnigen Tage fuhr die Nan-Shan in den Hafen von Futschou ein. Ein leichter Wind trieb ihren Rauch weit voraus. Ihre Ankunft wurde an der Küste sofort bemerkt, und die Seeleute im Hafen riefen einander zu: »Seht! Seht den Dampfer! Was für eine Flagge ist das? Siamesisch – nicht wahr? Seht ihn nur einmal an!«

Das Schiff schien in der Tat als laufende Zielscheibe für die kleineren Geschütze eines Kreuzers gedient zu haben. Ein Hagel von Geschossen hätte seinen oberen Teil nicht übler zurichten können: es sah so heruntergekommen und verwüstet aus, als käme es vom äußersten Ende der Welt – und das mit gutem Grunde, denn auf seiner kurzen Fahrt war es in der Tat sehr weit gekommen, hatte die Grenzen des großen Jenseits gesehen, von wo nie ein Schiff zurückkehrt, um seine Bemannung dem Staube der Erde zu übergeben. Eine graue Salzkruste bedeckte die Nan-Shan bis hinauf zu den Knöpfen der Masten und dem oberen Rande des Schornsteins, als ob (wie ein witziger Seemann sagte) die Leute an Bord sie irgendwo vom Grunde des Meeres aufgefischt und um des Bergegeldes willen hergebracht hätten. Und in der Freude über seinen guten Witz fügte er hinzu, er biete fünf Pfund Sterling für sie – »wie sie da liegt.«

Die Nan-Shan hatte noch keine Stunde lang im Hafen gelegen, als ein magerer, kleiner Mann mit roter Nasenspitze und einem verbissenen Gesichte ans Land ging und sich noch einmal zurückwandte, um ingrimmig die Faust gegen das Schiff zu schütteln. Ein großgewachsener Kerl mit wässrigen Augen und für seinen rundlichen Oberkörper viel zu dünnen Beinen machte sich an ihn heran und bemerkte: »Eben das Schiff verlassen – he? Hat wohl pressiert?«

Er trug einen schmierigen Anzug von blauem Flanell und ein Paar schmutzige Segeltuchschuhe; ein graubrauner Schnurrbart hing von seinen Lippen herab, und zwischen dem Rand und dem Kopf seines Hutes schien das Tageslicht an zwei Stellen hindurch.

»Hallo! Was machst du hier?« fragte der Ex-Steuermann der Nan-Shan, einen hastigen Händedruck mit dem Manne wechselnd.

»Bin einem Geschäft zulieb unterwegs – hat mir einer was verraten – 's soll der Mühe wert sein,« erklärte der Mann mit dem zerrissenen Hute in abgebrochenen, keuchenden Lauten. Der zweite Steuermann ballte noch einmal die Faust gegen die Nan-Shan. »Ein Kerl ist da drüben, der nicht einmal verdient, daß man ihm das Kommando eines Fährbootes gibt!« sagte er, vor Zorn bebend, während der andre gleichgültig umhersah.

»So?«

Jetzt bemerkte er auf dem Kai eine schwere, braun angestrichene Seemannskiste unter einem abgenützten Überzug von Segeltuch und mit einer neuen, starken Schnur umwunden. Er betrachtete sie mit lebhaftem Interesse.

»Ich würde nicht schweigen,« fuhr der Ankömmling fort, »wenn die verdammte siamesische Flagge nicht wäre. Aber an wen soll man sich da wenden – ich wollt' ihm sonst schon heiß machen. Solche Falschheit! Sagt zu seinem ersten Ingenieur – der ein ebenso großer Narr ist wie er selbst – ich hätte den Verstand verloren! Ein größerer Haufe unwissender Narren ist nie auf einem Schiff beisammen gewesen. Nein! Du kannst dir nicht denken . . .«

»Hast doch dein Geld richtig gekriegt?« fragte sein schäbiger Bekannter plötzlich.

»Ja. Hat mich sofort abgelohnt,« berichtete der Steuermann wütend. »›Suchen Sie sich Ihr Frühstück am Lande,‹ hat er gesagt.«

»Gemeiner Hund,« bemerkte der andre apathisch und leckte seine Lippen. »Was meinst du, wollen wir nicht eins trinken?«

»Er hat mich geschlagen!« zischte der zweite Steuermann.

»Was? Geschlagen? Nicht möglich!« Der Mann in blauem Flanell bewegte sich teilnehmend um ihn. »Hier kann man unmöglich reden. Du mußt mir alles erzählen. Geschlagen? – wie? Halt – der Bursche dort könnte deine Kiste tragen. Ich weiß eine ruhige Ecke, wo es gutes Flaschenbier gibt . . .«

Jukes, der die Küste mit dem Fernglase absuchte, erzählte dem ersten Ingenieur später, daß »unser ehemaliger zweiter Steuermann« nicht lange gebraucht habe, um einen Freund zu finden.

Das Klopfen und Hämmern, das die notwendigen Wiederherstellungsarbeiten mit sich brachten, hatte nichts Störendes für Mac Whirr, ja, der Steward fand in dem Briefe, den der Kapitän in dem wieder wohlgeordneten Kartenhause schrieb, Stellen von solchem Interesse, daß er zweimal beinahe bei der Lektüre überrascht worden wäre. Allein Frau Mac Whirr in ihrem Salon des Vierzig-Pfund-Sterling-Hauses unterdrückte ein Gähnen beim Lesen – vielleicht aus Selbstachtung, denn sie war allein.

Sie lehnte sich nachlässig zurück in ihren plüschbezogenen, vergoldeten Schaukelstuhl vor dem mit Porzellanplatten verkleideten Kamine, dessen Sims japanische Fächer zierten, während ein behagliches Kohlenfeuer hinter seinem Roste brannte. Sie erhob die Hände mit dem Briefe und blätterte gelangweilt in seinen zahllosen Seiten. Was konnte sie dafür, daß deren Inhalt so prosaisch war, so höchst uninteressant, von dem Anfange: »Geliebtes Weib!« bis zu dem »dein dich liebender Gatte!« am Schluß. Man konnte wahrhaftig nicht von ihr verlangen, daß sie all diese Schiffsangelegenheiten verstand. Sie war ja natürlich froh, von ihm zu hören, ohne sich je eigentlich die Frage vorgelegt zu haben, warum.

»Man nennt diese Art von Sturm Taifun . . . der erste Steuermann wollte nicht recht dran . . . nicht in Büchern . . . konnte es unmöglich dulden . . .«

Das Papier raschelte energisch. ». . . Eine Windstille, die über zwanzig Minuten anhielt,« las sie zerstreut; und die nächsten Worte, denen ihre gedankenlosen Blicke an der Spitze einer neuen Seite begegneten, lauteten: »dich und die Kinder wieder zu sehen . . .« Sie machte eine ungeduldige Bewegung. Immer dachte er daran, nach Hause zu kommen. Noch nie hatte er ein so hohes Gehalt gehabt. Was wollte er eigentlich?

Es fiel ihr nicht ein, das Blatt noch einmal umzuwenden und nachzusehen. Sie würde sonst gefunden haben, daß zwischen vier und sechs Uhr morgens am fünfundzwanzigsten Dezember Kapitän Mac Whirr tatsächlich geglaubt hatte, sein Schiff könne unmöglich noch eine Stunde lang in einem solchen Sturme aushalten, und er würde sein Weib und seine Kinder nie wieder sehen. Niemand sollte dies je erfahren (seine Briefe wurden so schnell verlegt) – niemand außer dem Steward, auf den diese Enthüllung tiefen Eindruck machte – so tiefen, daß er versuchte, dem Koch eine Vorstellung von der großen Gefahr beizubringen, »in der wir alle geschwebt,« indem er feierlich versicherte: »Der Alte selbst hatte verdammt wenig Hoffnung auf unsre Rettung.«

»Wie wollen Sie das wissen?« fragte der Koch, ein alter Soldat, geringschätzig. »Hat er es Ihnen am Ende gar gesagt?«

»Nun, er hat mir wenigstens eine dahingehende Andeutung gemacht,« antwortete der Steward mit dreister Stirne.

»O hören Sie auf! Nächstens wird er auch noch zu mir kommen, um es mir zu sagen,« höhnte der alte Koch. –

Frau Mac Whirrs Blicke flogen suchend weiter.

». . . mußte tun, was recht ist . . . elende Geschöpfe . . . Nur drei haben ein Bein gebrochen, und einer . . . dachte, es sei besser, keinen Lärm zu machen . . . hoffe, das Rechte getan zu haben . . .«

Sie ließ die Hände sinken. Nein, er schrieb nichts mehr vom Heimkommen. Hatte, wie es schien, nur einen frommen Wunsch ausgesprochen. Frau Mac Whirr hatte ihre Gemütsruhe wieder gewonnen. Wie fein und behaglich die schwarze Alabasteruhr tickte; der Juwelier hatte sie auf drei Pfund achtzehn Schilling und sechs Pence geschätzt.

Die Tür flog auf und ein Mädchen in der Periode der langen Beine und kurzen Kleider stürzte ins Zimmer. Ihr farbloses, etwas spärliches Haar hing lang über ihre Schultern herab. Als sie ihre Mutter mit dem Briefe in der Hand erblickte, blieb sie stehen und richtete ihre wasserblauen Augen neugierig auf das Schreiben.

»Vom Vater,« murmelte Frau Mac Whirr. »Wo hast du dein Band hingebracht?«

Das Mädchen griff mit den Händen nach dem Kopfe und warf die Lippen auf.

»Er ist wohl,« fuhr Frau Mac Whirr in gleichgültigem Tone fort. »Ich denke es wenigstens; sagen tut er es ja nie.« Dabei lachte sie ein wenig. Das Gesicht des Mädchens aber drückte gleichgültige Zerstreutheit aus. Ihre Mutter betrachtete sie mit liebevollem Stolze.

»Geh' und hol' deinen Hut,« sagte sie nach einer Weile. »Ich muß ausgehen und einige Einkäufe machen. Bei Linoms ist eine Versteigerung.«

»Oh, das ist fein!« rief das Kind mit einer Lebhaftigkeit, die man nicht hinter ihm gesucht hätte, und eilte aus dem Zimmer. –

Es war ein regenloser Nachmittag, der Himmel grau und die Gehsteige trocken. Vor dem Laden des Modisten begrüßte Frau Mac Whirr eine stattliche Frau in einem reich mit Schmelz und Perlen besetzten schwarzen Mantel und mit einem blumengeschmückten Hute über dem gelben, ältlichen Gesichte. Die beiden wechselten einen Strom lebhafter Begrüßungen und Ausrufe und überstürzten sich darin, als ob die Straße sich im nächsten Augenblick auftun und das ganze Vergnügen verschlingen könnte, ehe sie Zeit gefunden, es zu genießen.

Die hohe Ladentür hinter ihnen mußte halb offen stehen bleiben; der Verkehr war gesperrt; einige Herren standen geduldig wartend da, während Lydia in die nützliche Beschäftigung vertieft war, das Ende ihres Schirmes zwischen die Steinplatten zu bohren. Frau Mac Whirr sprach hastig.

»Danke schön. Er kommt noch nicht nach Hause. Es ist natürlich sehr traurig, ihn nicht hier zu haben, aber es ist doch ein großer Trost, ihn so wohl zu wissen.« Frau Mac Whirr holte Atem. »Das Klima dort bekommt ihm sehr gut,« fügte sie strahlend hinzu, als ob der arme Mac Whirr seiner Gesundheit wegen China bereiste. –

Der erste Ingenieur wollte auch nicht sofort nach Hause kommen. Herr Rout wußte den Wert eines vorteilhaften Kontraktes zu gut zu würdigen.

»Salomon sagt, es gebe auch heutzutage noch Wunder,« rief Frau Rout vergnügt der alten Dame im Lehnstuhl am Kamine zu. Herrn Routs Mutter, deren welke Hände in schwarzen Halbhandschuhen auf ihrem Schoße lagen, rührte sich ein wenig.

Die Augen der jüngeren Frau tanzten geradezu über das Papier. »Der Kapitän seines Schiffes – ein etwas beschränkter Kopf, wie du dich erinnern wirst, Mutter – hat etwas sehr Gescheites getan, sagt Salomon.«

»Ja, meine Liebe,« antwortete die alte Dame sanft. Sie hatte das Silberhaupt geneigt und ihr Gesicht zeigte jenen Ausdruck innerlichen Schweigens, wie er sehr alten Leuten eigen ist, die in die Betrachtung der letzten flackernden Regungen des Lebens vertieft zu sein scheinen. »Ich glaube, mich zu erinnern.«

Salomon Rout, der alte Sal, Vater Sal, der Chef, Rout – der tüchtige Mann – Herr Rout, der väterliche Freund der Jugend, war das jüngste ihrer vielen, jetzt außer ihm sämtlich verstorbenen Kinder. Sie konnte sich ihn am besten denken, wie er als Knabe von zehn Jahren gewesen – lange ehe er fortging, um seine Lehrzeit in irgend einem großen Maschinenwerke des Nordens durchzumachen. Sie hatte seitdem so wenig von ihm gesehen und hatte so viele Jahre durchlebt, daß sie jetzt sehr weit zurückgehen mußte, um ihn durch den Nebel der Zeit deutlich zu erkennen. Manchmal kam es ihr vor, als spreche ihre Schwiegertochter von irgend einem fremden Manne. Frau Rout jun. war enttäuscht. »Hm! hm!« Sie wandte das Blatt um. »Wie schade! Er sagt nicht, was es war. Sagt, ich könnte doch nicht verstehen, was es heißen will. So etwas! Was könnte denn so schwer daran zu verstehen sein? Was für ein böser Mann, daß er uns nicht mehr sagt!«

Sie las ohne weitere Bemerkung mit ernster Miene weiter und blieb endlich in Nachdenken versunken sitzen. Herr Rout hatte nur ein oder zwei Worte über den Taifun geschrieben, hatte sich aber veranlaßt gefühlt, eine vermehrte Sehnsucht nach dem Zusammensein mit seiner Frau auszusprechen. »Wäre es nicht, daß du die Mutter nicht allein lassen darfst, ich würde dir heute noch das Geld zur Reise schicken. Du könntest dir hier ein kleines Haus einrichten, und ich hätte dann doch die Möglichkeit, dich öfter zu sehen. Wir werden ja nicht jünger . . .«

»Er ist wohl, Mutter,« seufzte Frau Rout, sich aufraffend.

»Er ist immer ein gesunder, kräftiger Knabe gewesen,« sagte die alte Frau ruhig. –

Steuermann Jukes' Schilderung seiner Erlebnisse war höchst lebendig und ausführlich. Sein Freund, der auf dem Atlantischen Ozean fuhr, teilte seinen Brief mit Behagen den Kameraden an Bord mit. »Ein Bekannter schreibt mir über eine merkwürdige Geschichte, die an Bord seines Schiffes während jenes Taifuns passiert ist, von dem wir vor zwei Monaten in den Zeitungen gelesen haben. Eine kostbare Geschichte! Lesen Sie nur selbst, was er schreibt! Da ist sein Brief.«

Die Epistel enthielt Sätze, die berechnet waren, dem Leser den Eindruck kühnen, unerschütterlichen Mutes zu machen. Jukes hatte sie in gutem Glauben geschrieben; denn während er schrieb, hatte er so und nicht anders empfunden. Er malte die Vorgänge im Zwischendeck in gespenstischer Beleuchtung und schloß seine Erzählung wie folgt: »Plötzlich kam mir der Gedanke, daß diese verdammten Chinesen nicht wissen konnten, ob wir nicht eine Art tollkühner Räuberbande seien. Es ist nicht gut getan, dem Chinesen sein Geld zu nehmen, wenn er der stärkere Teil ist. Wir hätten allerdings toll sein müssen, um in einem solchen Sturme auf Raub auszugehen; aber was wußten diese armen Teufel von uns? Also bedachte ich mich nicht zweimal, sondern kommandierte die Matrosen so schnell als möglich hinaus. Unsere Aufgabe war gelöst, der Wunsch des Alten erfüllt. Wir machten uns davon, ohne uns zu erkundigen, wie sie sich fühlten. Ich bin überzeugt, sie hätten uns in Stücke zerrissen, wären sie nicht so unbarmherzig zusammengerüttelt gewesen und hätten sie sich nicht, einer wie der andre, so sehr gefürchtet. O, es hätte nicht viel gefehlt, das kann ich dir sagen, und du kannst dein Leben lang auf dem großen Teiche, den man das Atlantische Meer nennt, hin und her fahren, ohne daß du dich solch einem Auftrage gegenübersiehst.«

Es folgten nun einige fachmännische Mitteilungen über die Beschädigungen, die das Schiff erlitten hatte, dann hieß es weiter:

»Als der Sturm sich gelegt hatte, befanden wir uns in einer bedenklichen Lage, zu deren Verbesserung der Umstand, daß wir kürzlich zur siamesischen Flagge übergegangen waren, durchaus nicht beitrug, wenn auch der Kapitän nicht begreifen kann, daß darauf irgend etwas ankommt – ›so lange wir an Bord sind‹ – wie er sagt. Es gibt Empfindungen, die dieser Mann einfach nicht kennt – da ist nun einmal nichts zu machen. Man könnte ebensogut versuchen, sie einem Bettpfosten begreiflich zu machen. Abgesehen von subjektiven Empfindungen aber ist ein Schiff in einer verdammt verlassenen Lage, wenn es ohne richtige Konsuln, ohne irgend jemand, an den man sich in der Not wenden kann, ja selbst ohne irgendwo ein eigenes Kanonenboot zu besitzen, auf den chinesischen Meeren herumfährt. Wäre es nach mir gegangen, so hätte man die Kulis noch ungefähr fünfzehn Stunden länger im Zwischendeck gelassen, da wir nicht mehr viel weiter von Futschou entfernt waren. Dort hätte man jedenfalls irgend ein Kriegsschiff gefunden, dessen Kanonen uns genügend Sicherheit gewährt hätten; denn jeder Kapitän eines Kriegsschiffes – ob englisch, französisch oder holländisch – würde sich in einer derartigen Angelegenheit auf die Seite der Weißen stellen. Der Chinesen und ihres Geldes hätten wir uns dann entledigt, indem wir sie ihrem Mandarin oder Taotai übergeben hätten, oder wie man diese Kerle heißt, die sich in Sänften in ihren stinkenden Straßen herumtragen lassen. Dem alten Manne aber wollte das nicht einleuchten. Er wollte kein Aufhebens von der Sache gemacht haben. Das hatte er sich einmal in den Kopf gesetzt, und keine Dampfwinde hätte es wieder herausgebracht. Er wollte so wenig als möglich von der Sache geredet wissen, um dem Schiffe keinen üblen Namen zu machen und um seiner Eigentümer willen – ›um aller Beteiligten willen,‹ sagte er und sah mich streng an. Es machte mich wütend. Es war ja unmöglich, eine Sache, wie diese, geheimzuhalten. Anderseits waren die Kisten der Chinesen auf die übliche Art verwahrt gewesen, wie es für jeden gewöhnlichen, natürlichen Sturm genügt hätte, während bei diesem alle Mächte der Hölle sich verschworen zu haben schienen. Du kannst dir unmöglich einen Begriff davon machen.

»Inzwischen konnte ich mich kaum mehr auf den Füßen halten. Niemand von uns war während der letzten dreißig Stunden irgendwie abgelöst worden, und da saß der alte Mann, rieb sich das Kinn, rieb sich den Kopf und sinnierte, ohne auch nur daran zu denken, seine langen Stiefel auszuziehen.

»›Herr Kapitän,‹ sage ich, ›Sie lassen sie doch hoffentlich nicht eher auf Deck kommen, als bis wir einigermaßen wissen, wie wir ihnen begegnen sollen.‹ Wohlverstanden, nicht, als ob ich es für leicht gehalten hätte, über die Bande Herr zu werden, falls sie etwas im Schilde geführt hätte. Der Aufstand einer Ladung Kulis ist kein Kinderspiel. Ich war auch furchtbar müde. ›Ich wäre froh,‹ sag' ich, ›wenn Sie uns erlaubten, ihnen den ganzen Haufen Dollars hinunterzuwerfen, damit sie die Sache unter sich ausfechten, während wir uns ausruhen.‹

»›Das ist sehr unbesonnen geredet, Herr Jukes,‹ sagt er und erhebt die Augen zu mir in seiner langsamen, langweiligen Art, die ich nun einmal nicht leiden kann. ›Wir müssen etwas ausdenken, wodurch wir allen Beteiligten gerecht werden.‹

»Wie du dir denken kannst, hatte ich alle Hände voll zu tun. Ich stellte also meine Leute an und dachte dann, ich wollte mich ein wenig zurückziehen. Aber ich hatte noch keine zehn Minuten geschlafen, als der Steward zu mir hineinstürzte und mich an den Beinen zog. ›Um Gottes willen, Herr Jukes, kommen Sie! Kommen Sie schnell auf Deck, Herr! O bitte, kommen Sie!‹

»Der Bursche erschreckte mich zu Tode. Ich wußte nicht, was geschehen war: hatte der Sturm sich wieder erhoben – oder was sonst. Ich konnte keinen Wind hören. ›Der Kapitän läßt sie heraus! O, er läßt sie heraus! Laufen Sie schnell auf Deck, Herr, und retten Sie uns! Der erste Ingenieur ist eben hinuntergelaufen, um seinen Revolver zu holen.‹

»So verstand ich den Mann wenigstens. Vater Rout schwört indessen, daß er nur gegangen sei, sich ein reines Taschentuch zu holen. Wie dem auch sein mag, ich fuhr mit einem Satz in die Hosen und stürzte nach dem Hinterdeck. Auf dem vorderen Teile der Brücke herrschte allerdings Lärm genug. Auf dem Hinterdeck aber waren vier Matrosen und der Bootsmann beschäftigt. Ich händigte ihnen rasch ein paar Pistolen ein, wie sie alle Schiffe an der chinesischen Küste in der Kajüte mit sich führen, und eilte mit ihnen auf die Brücke. Unterwegs rannte ich an den alten Sal an, der an einer unangezündeten Zigarre sog und mich verwundert ansah. ›Kommen Sie!‹ schrie ich ihm zu.

»So stürmten wir sieben Mann hoch zum Kartenhaus hinan. Doch alles war schon vorüber. Da stand der Alte noch immer in den bis zu den Hüften reichenden Wasserstiefeln und in Hemdärmeln – war ihm vermutlich warm geworden über dem Ausdenken. Bun Hins kleiner Schreiber stand neben ihm, so schmutzig wie ein Schornsteinfeger und noch grasgrün im Gesicht. Ich konnte sofort sehen, daß ich das Mißfallen meines Gebieters erregt habe.

»›Was zum Teufel sind das für Affenstreiche, Herr Jukes?‹ fragte der alte Mann. Er war so erzürnt, wie er nur überhaupt sein kann. Ich sage dir, ich war keines Wortes mächtig. ›Um Gottes willen, Herr Jukes,‹ fuhr er fort, ›nehmen Sie den Leuten die Pistolen ab, ehe jemand verletzt wird. Hol' mich der Henker, wenn es auf diesem Schiff nicht schlimmer zugeht als in einem Narrenhause. Passen Sie auf jetzt! Sie sollen mir und Bun Hins Schreiber helfen, das Geld da zu zählen. Vielleicht sind Sie auch so gut, mit Hand anzulegen, Herr Rout, da Sie einmal da sind. Je mehr wir unser sind, desto besser.‹

»Er hatte sich alles zurechtgelegt, während ich geschlafen hatte. Wären wir auf einem englischen Schiff gewesen oder hätten wir auch nur mit unsrer Ladung von Kulis einen englischen Hafen, wie Hongkong zum Beispiel, angelaufen, so hätte es Untersuchungen und Belästigungen ohne Ende gegeben – Entschädigungsansprüche und so weiter. Aber diese Chinesen kennen ihre Beamten besser als wir.

»Die Kulis waren schon aus dem Zwischendeck befreit worden und befanden sich bereits alle auf Deck, nachdem sie eine Nacht und einen Tag unten zugebracht hatten. Es war ein eigentümlicher Anblick – diese vielen hageren, wilden Gesichter. Die armen Kerle glotzten umher, zum Himmel hinauf und aufs Meer hinaus, aufs Schiff – als hätten sie erwartet, die ganze Geschichte sei in Stücke geweht worden. Kein Wunder auch! Sie hatten so Furchtbares durchgemacht, daß einem weißen Manne darüber die Seele aus dem Leibe gefahren sein würde. Aber man sagt ja, der Chinese habe keine Seele. Jedenfalls hat er etwas verteufelt Zähes an sich. Da war zum Beispiel unter den Schwerverletzten ein Bursche, dem das eine Auge um ein Haar ausgeschlagen worden wäre. Es stand ihm so groß wie ein halbes Hühnerei aus dem Kopfe heraus. Einen Weißen würde so etwas auf vier Wochen ans Bett gefesselt haben, und da war dieser Bursche mitten im Gedränge, sich mit den Ellbogen Platz verschaffend und mit den andern schwatzend, als ob nichts geschehen wäre! Sie unterhielten sich mit großem Geräusch, sobald aber der Alte seinen kahlen Kopf auf der Vorderseite der Brücke sehen ließ, hörten sie auf zu räsonieren und sahen ihn von unten herauf aufmerksam an.

»Es scheint, daß der Kapitän, nachdem er seinen Plan gemacht hatte, den chinesischen Schreiber hinunterschickte, um seinen Landsleuten zu erklären, auf welche Weise allein sie ihr Geld zurückbekommen könnten. Er setzte mir später auseinander, daß, da alle Kulis am gleichen Orte und gleich lange gearbeitet hatten, er ihnen allen am besten dadurch gerecht zu werden hoffte, daß er alles Geld, das wir aufgelesen, gleichmäßig unter sie teilte. Man hätte ja unmöglich den Dollar des einen von dem des andern unterscheiden können, sagte er, und wenn man jeden hätte fragen wollen, wie viel Geld er an Bord gebracht habe, so hätten sie wahrscheinlich gelogen und er hätte sich sehr im Nachteil befunden. Ich glaube, darin hatte er recht. Hätte er aber das Geld irgend einem chinesischen Beamten gegeben, den er in Futschou hätte auftreiben können, so hätten die Kulis nicht mehr davon gesehen, meinte er, als wenn er es gleich in seiner eigenen Tasche hätte verschwinden lassen. Ich glaube, die Kulis dachten dasselbe.

»Wir wurden vor Dunkelwerden mit der Verteilung fertig. Es war ein merkwürdiges Schauspiel: die hochgehende See, das einem Wrack ähnliche Schiff, die Chinesen, wie sie einer nach dem andern auf die Brücke wankten, um ihren Anteil in Empfang zu nehmen, und der Alte, noch in seinen Stiefeln und in Hemdärmeln, geschäftig unter der Tür des Kartenhauses das Geld austeilend, während ihm der Schweiß von der Stirne rann – dann und wann Vater Rout und mir eine scharfe Rüge erteilend, wenn wir ihm nicht alles zu Dank machten. Denen, die nicht imstande waren, auf die Brücke zu kommen, brachte er ihren Anteil persönlich. Drei Dollars blieben übrig, von denen die drei am schwersten verwundeten Kulis je einen erhielten.

»Später machten wir uns daran, die Haufen nasser Lumpen und aller Arten von Bruchstücken formloser Gegenstände, denen man keinen Namen zu geben wußte, aufs Deck hinauszuschaufeln, es den Kulis selbst überlassend, das Eigentumsrecht daran festzustellen.

»So war allerdings alles Aufsehen vermieden und das Beste aller Beteiligten so viel als möglich gewahrt. Was sagst du dazu, alter Paketschifffritze? Der erste Ingenieur behauptet, dies sei wirklich das einzig Richtige gewesen. Der Kapitän sagte kürzlich zu mir: ›Es gibt Dinge, über die man in Büchern nichts finden kann.‹ Ich meine, für einen so beschränkten Mann hat er sich sehr gut aus der Sache gezogen.«

 


 


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