Joseph Conrad
Im Taifun
Joseph Conrad

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Viertes Kapitel.

Alles, was der Kapitän von dem Geschrei des Bootsmannes verstehen konnte, war die sonderbare Mitteilung: »All die Chinesen im vordern Zwischendeck sind toll geworden!«

Jukes stand leewärts und hörte das nur sechs Zoll weit von seinem Gesichte laut schreiend geführte Gespräch der beiden, wie man etwa in einer ruhigen Nacht zwei Männer, die eine halbe Meile weit entfernt sind, sich über ein Feld hin besprechen hört. Er vernahm Kapitän Mac Whirrs aufgeregtes: »Wie? Was?« und die angestrengte, heisere Stimme des andern. »In einem Klumpen – – hab' sie selbst gesehen – schauerlicher Anblick – – Herr – dachte – Ihnen sagen.«

Jukes blieb gleichgültig, als sei er aller Verantwortung überhoben angesichts der überwältigenden Macht des Sturmes, die den Gedanken an irgend welches Handeln auszuschließen schien. Außerdem vermochte er bei seiner Jugend nur mit Aufbietung aller Kraft sich innerlich gegen das Schlimmste zu wappnen, so daß er eine starke Abneigung gegen jede anderweitige Betätigung verspürte. Er war kein Feigling; das sagte er sich angesichts der Tatsache, daß er ruhig blieb bei dem Gedanken, den andern Morgen nicht mehr zu erleben.

Es sind das die Augenblicke tatlosen Heldentums, wie sie auch tüchtige Männer kennen. Gewiß werden viele Seeleute sich eines Falles aus ihrer Erfahrung erinnern, wo der gleiche unheilvolle Zustand starrer Apathie sich einer ganzen Schiffsbemannung bemächtigte. Jukes dagegen kannte Menschen und Stürme noch nicht aus Erfahrung. Er hielt sich für ruhig, unerschütterlich ruhig; in Wirklichkeit aber war er niedergeschlagen, mutlos – so weit eben ein anständiger Mann dies sein kann, ohne sich selbst zum Ekel zu werden.

Ohne daß er sich selbst dessen bewußt geworden wäre, hatte der langandauernde Kampf mit dem Sturm seinen Geist gewaltsam betäubt. Die körperliche und seelische Spannung während der endlos scheinenden Katastrophe war zu groß; es erforderte an sich schon Anstrengung, in dem überwältigenden Tumulte seine Existenz zu behaupten, und diese Anstrengung machte sich in einer ungeheuren Müdigkeit geltend. Es war jene Müdigkeit, die sich mit unwiderstehlicher, berückender Gewalt des Menschen bemächtigt, ihm Mut und Hoffnung benimmt – jene unüberwindliche Müdigkeit, die nichts will als Ruhe, Ruhe, und diese allen Schätzen der Welt – ja dem Leben selbst – vorzieht.

Noch hielt Jukes sich aufrecht. Er war sehr naß, sehr kalt und steif an allen Gliedern, und wie im Traume zogen im Fluge die verschiedensten Bilder an ihm vorüber – Erinnerungen aus seinem Leben, die nicht im mindesten mit seiner jetzigen Lage im Zusammenhang standen (man sagt, daß Ertrinkende auf diese Weise ihr ganzes vergangenes Leben überschauen). Er sah zum Beispiel seinen Vater, einen achtbaren Geschäftsmann, der in einer unglücklichen Krisis seiner Angelegenheiten stille zu Bett gegangen war und ruhig das Zeitliche gesegnet hatte. Jukes vermochte sich selbstverständlich nicht alle Einzelheiten des Falles vorzustellen, aber ohne daß es ihn sonderlich bewegt hätte, erblickte er das Gesicht des armen Mannes deutlich vor sich. Im nächsten Augenblick sah er sich als halbwüchsigen Jungen an Bord eines Schiffes in der Tafelbai, das seitdem mit Mann und Maus untergegangen war, bei einem gewissen Spiele, das er damals mit seinen Genossen häufig gespielt hatte. Jetzt schwebten ihm die dicken Augenbrauen seines ersten Kapitäns vor, und dann wieder erinnerte er sich seiner nun auch verstorbenen Mutter – wie er etwa vor Jahren ohne Gemütsbewegung irgendwelcher Art in ihr Zimmer getreten war und sie dort in einem Buche lesend gefunden hatte – die tatkräftige, in mißlichen Verhältnissen zurückgebliebene Frau, die seine Erziehung mit so sicherer Hand geleitet hatte.

Nicht länger als eine Sekunde mochte er geträumt haben; da warf sich ein schwerer Arm auf seine Schultern und Kapitän Mac Whirr rief ihm ins Ohr: »Jukes! Jukes!«

Die Stimme klang sorgenvoll und bekümmert. Der Sturm hatte sich mit voller Wucht auf das Schiff geworfen und suchte es in der Tiefe der Wogen festzuhalten. Das vereinte Gewicht der Sturzseen drohte es zu zerschmettern. Die schaumgekrönten Häupter der das Schiff umbrandenden Wogen strahlten ein gespenstisches Licht aus – das Licht des Meerschaumes, das in wildem, fahlem Aufleuchten das haushohe Aufwallen, den Niederfall und das tolle Spiel jeder einzelnen Woge mit dem stark mitgenommenen Schiffskörper erkennen ließ. Nicht für einen Augenblick mehr konnte sich das Schiff vom Wasser freischütteln. Der halberstarrte Jukes sah in seinen Bewegungen nur noch ein hilfloses Zappeln. Sich vernünftig zu wehren, war ihm nicht mehr möglich. Der Anfang vom Ende war da, und der Ton geschäftiger Sorge, der aus seines Kapitäns Stimme sprach, berührte Jukes unangenehm, als etwas Törichtes, Unzeitgemäßes.

Jukes stand im Banne des Sturmes, war von ihm an Leib und Seele gefesselt und gänzlich hingenommen, ja er hatte sich ihm gebeugt in einer Art dumpfer, starrer Ehrfurcht. Kapitän Mac Whirr fuhr fort ihn anzurufen, allein der Wind legte sich wie ein dicker Keil zwischen sie. Der starke Mann hing schwer wie ein Mühlstein am Halse seines ersten Steuermannes, und plötzlich stießen ihre Köpfe zusammen: »Jukes! Herr Jukes! Hören Sie nicht?«

Jukes mußte der Stimme antworten, die nicht schweigen wollte, und er tat es in der hergebrachten Weise: »Ja, Herr Kapitän.« Und sein Herz, das vom Sturme überwältigt, nur noch das eine Verlangen nach Ruhe kannte, empörte sich gegen die Tyrannei von Zucht und Gebot.

Kapitän Mac Whirr hielt den Kopf seines Steuermannes in der Biegung seines Ellbogens fest gefangen und preßte ihn gegen seinen schreienden Mund. Dann und wann unterbrach ihn Jukes mit einem ängstlich warnenden: »Sehen Sie sich vor, Herr Kapitän!« und der Kapitän hinwieder rief den beiden neben ihm eine dringende Mahnung zu, sich festzuhalten, während das ganze schwarze All mitsamt dem Schiffe zu beben schien. Ein Augenblick bangen Harrens – noch war das Schiff flott. Und Kapitän Mac Whirr begann aufs neue: ». . . sagt . . . der ganze Haufe . . . wie toll . . . sollte Nachsehen, was geschehen ist.«

Sobald der Sturm mit voller Macht losgebrochen war, war jeder Teil des Decks unhaltbar geworden, und die erschrockenen und betäubten Matrosen hatten sich in den Backbordgang unter der Brücke geflüchtet. Dieser hatte nach hinten eine Tür, die sie zumachten. Es war ein dunkler, unbehaglicher Aufenthalt. Bei jeder heftigeren Bewegung des Schiffes stöhnten sie alle zusammen laut auf. Der Bootsmann versuchte, ein Gespräch im Gange zu erhalten, aber eine unvernünftigere Bande, sagte er nachher, sei ihm noch nie vorgekommen. Sie hatten's da unten gut genug, meinte er, waren außer Gefahr und hatten auf der Welt nichts zu tun, und trotzdem hörten sie nicht auf zu jammern und zu klagen, wie ein Haufe kranker Kinder. Schließlich sagte einer, es wäre nicht so schlimm, wenn man wenigstens ein Licht hätte, daß doch einer des andern Nase sehen könnte. Es sei zum Verrücktwerden, erklärte er, so im Dunkeln zu liegen und auf das Sinken des elenden Huckers zu warten.

»Warum gehst du dann nicht hinaus und läßt dich lieber gleich ersäufen?« fragte ihn der Bootsmann, worauf sich ein Geschrei der Entrüstung erhob. Man überhäufte ihn mit Vorwürfen aller Art. Die Leute schienen es übel zu nehmen, daß nicht sofort eine Lampe für sie aus nichts erschaffen wurde. Sie winselten wahrhaftig nach einem Lichte, um dabei ertrinken zu können. Und obwohl die Unvernunft ihres Geredes sonnenklar war, da niemand hoffen konnte, das auf dem Vorderschiff gelegene Lampenzimmer zu erreichen, so fing der Bootsmann doch an, sich ernstlich zu bekümmern. Es kränkte ihn, daß sich alle gegen ihn wandten, und er sagte es ihnen; allein er empfing nur Schmähungen als Antwort, worauf er grollend schwieg. Während sie fortfuhren ihn durch ihr Murren und Klagen zu ärgern und zu quälen, fiel ihm ein, daß im Zwischendeck sechs Kugellampen hingen und daß es nichts schaden könne, den Kulis eine davon wegzunehmen.

Die »Nan-Shan« hatte eine quer durch das untere Schiff laufende Kohlenkammer, die zuzeiten als Lagerraum benützt wurde und durch eine eiserne Tür mit dem vorderen Zwischendeck in Verbindung stand. Diese Kammer war augenblicklich leer. Sie hatte eine Öffnung in den Raum unter der Brücke, gerade groß genug, daß ein Mann hindurchschlüpfen konnte. So war es dem Bootsmann möglich, hineinzugelangen, ohne auf Deck hinauszugehen. Zu seiner großen Verwunderung fand sich niemand bereit, ihm den Verschluß von der Öffnung wegnehmen zu helfen. Er tappte trotzdem suchend darauf zu, aber einer von den Leuten lag ihm im Wege und wollte sich nicht von der Stelle rühren. »Ich will euch ja nur das verwünschte Licht holen, nach dem ihr schreit,« hielt er ihm vor. Da sagte einer, er solle gehen und seinen Kopf in einen Sack stecken. Es tat ihm leid, daß er die Stimme nicht erkennen konnte und daß es zu dunkel war um zu sehen, sonst würde er es dem da ordentlich besorgt haben. Doch er hatte sich's einmal in den Kopf gesetzt, den Kerlen zu zeigen, daß er ein Licht herbeischaffen könne, und wenn er darum sterben müßte.

Das Schiff schlingerte so heftig, daß jede Bewegung erschwert, ja gefährlich war; auf dem Boden zu liegen, schien schon Arbeit genug. Beinahe hätte er den Hals gebrochen, als er sich in den Kohlenraum hinunterfallen ließ. Er fiel auf den Rücken und wurde nun von einer Seite auf die andre geworfen, und zwar in der gefährlichen Gesellschaft eines schweren eisernen Gegenstandes, wahrscheinlich einer Schaufel, die ein Kohlenlader hatte liegen lassen. Dieses Ding regte ihn so auf, als ob es ein wildes Tier gewesen wäre. Er konnte es nicht sehen, denn die Innenseite des Raumes war durch den daran haftenden Kohlenstaub schwarz wie die Nacht; aber er hörte es gleiten und klirren und da und dort aufschlagen, immer in der Nähe seines Kopfes. Es machte auch einen ganz außerordentlichen Lärm – ja es schien gewaltige Püffe auszuteilen, als ob es so groß wie ein Brückenträger wäre. Er konnte nicht umhin, dies alles zu bemerken, während er hilflos zwischen Backbord und Steuerbord hin und her geworfen wurde, wobei er verzweifelte Anstrengungen machte, sich an den glatten Wänden des Raumes festzuklammern, um einen Halt zu gewinnen. Da die Tür ins Zwischendeck nicht genau schloß, konnte er an ihrem unteren Ende einen schmalen Streifen schwachen Lichtes sehen.

Schließlich gelang es dem noch rüstigen Manne und tüchtigen Matrosen doch, auf die Füße zu kommen, und das Glück wollte es, daß er im Aufstehen die fatale Kohlenschaufel in die Hand bekam und sie festhalten konnte. Er hätte sonst fürchten müssen, das unselige Ding möchte ihm die Beine zerschmettern oder ihn aufs neue zu Fall bringen. Eine Weile stand er ganz still. Er fühlte sich unsicher und unbehaglich in dieser schauerlichen Finsternis, in der die Bewegungen des Schiffes ganz ungewohnt und unberechenbar erschienen, so daß man sich nicht dagegen vorsehen konnte. Der Kopf schwindelte ihm dermaßen, daß er nicht wagte, sich zu rühren, aus Furcht, nochmals das Gleichgewicht zu verlieren. Er hatte durchaus keine Lust, sich in dem Loche da unten zerschmettern zu lassen.

Zweimal hatte er seinen Kopf aufgeschlagen, so daß er ordentlich betäubt war. Es war ihm, als höre er immer noch das Klirren und Schlagen des Eisens, wie es ihm um die Ohren geflogen war, und er faßte es fester, wie um sich selbst zu beweisen, daß er es sicher in der Hand hielt. Er empfand eine unbestimmte Verwunderung über die Deutlichkeit, mit der man hier unten den Sturm hören konnte. In der hohlen Leere des ihn umgebenden Raumes schien ihm dessen Heulen und Ächzen etwas Menschliches zu haben, menschliche Wut und Pein auszudrücken – es klang weniger gewaltig, aber um so schärfer, durchdringender. Und seltsam – bei jedem Rollen des Schiffes hörte man einen starken, gewichtigen Schlag, als ob ein großer Gegenstand von fünf Tonnen Gewicht oder mehr umhergeschleudert würde. Aber der Kohlenraum war ja leer. War es etwa auf Deck? Unmöglich. Oder auf der Längsseite? Das konnte nicht sein.

All das überdachte er schnell, mit der Klarheit und Sachverständigkeit des echten Seemanns, ohne klug daraus werden zu können.

Der Lärm schien von außen zu kommen, und er konnte ihn deutlich von dem Rauschen des Wassers auf Deck über seinem Kopf unterscheiden. War es der Wind? Der mußte es wohl sein. Hier unten war es, als hörte man das Geschrei einer tollgewordenen Menschenmenge. Er empfand nun auch den Wunsch, ein Licht zu haben – und wäre es nur um dabei zu ertrinken – und zugleich das ängstliche Verlangen, so schnell als möglich aus diesem Loche herauszukommen.

So zog er denn den Riegel zurück, und die schwere eiserne Tür drehte sich in ihren eisernen Angeln. Da war es, als habe er dem Getöse des Sturmes die Tür geöffnet. Ein vielstimmiges, heiseres Kreischen schlug an sein Ohr – der Sturm draußen und das Rauschen des Wassers oben wurde von einem Schwall halberstickter Kehllaute übertönt. Der Bootsmann spreizte seine Beine über die ganze Breite der geöffneten Tür und reckte spähend den Hals. Zuerst bemerkte er nur, was er zu suchen gekommen war: sechs kleine gelbe Flammen, die in der sie umgebenden Finsternis heftig hin und her schwangen.

Wie ein Minengang wurde der Raum von einer Reihe eiserner Träger gestützt, auf denen weithin ins Dunkel sich verlierende Kreuzbalken ruhten. Gegen Backbord erblickte der Bootsmann, wie in die Seitenwand eingesenkt, eine unförmliche Masse, deren Umrisse beständig wechselten. Der ganze Raum mit allen Gestalten und Schatten darin war in fortwährender Bewegung. Der Bootsmann riß die Augen auf: das Schiff rollte nach Steuerbord, und jene unheimliche Masse stieß ein lautes Geheul aus.

Holzstücke flogen durch die Luft – Planken, meinte der erschreckte Bootsmann, und warf den Kopf zurück. Vor seinen Füßen glitt ein Mann vorbei, mit offenen Augen auf dem Rücken liegend, die erhobenen Arme in die leere Luft streckend. Ein anderer kam, wie ein losgelöster Stein, mit dem Kopf zwischen den Beinen und mit fest geballten Händen daher geflogen; sein Zopf wippte in der Luft; er tat einen Griff nach den Beinen des Bootsmannes, und aus seiner geöffneten Hand rollte eine kleine, glänzend weiße Scheibe dem Bootsmann vor die Füße, der vor Erstaunen aufschrie, als er einen Silberdollar erkannte.

Unter dem Geräusche hastig trampelnder und gleitender bloßer Füße und erneutem heiserem Geschrei löste sich der gegen Backbord aufgehäufte Wall krampfhaft verschlungener Körper von dieser Seite des Schiffes los und glitt nach Steuerbord hinüber, wo die zappelnde Masse mit dumpfem, schwerem Falle aufschlug.

Das Schreien verstummte. An seiner Statt vernahm der Bootsmann durch das Heulen und Pfeifen des Sturmes ein anhaltendes Stöhnen; er sah ein scheinbar unlösbares Gewirre von Köpfen und Schultern, in die Höhe stehenden nackten Sohlen, erhobenen Fäusten – von Rücken, Beinen, Zöpfen und Gesichtern.

»Guter Gott!« schrie er voll Entsetzen und schlug die Türe zu vor dem grauenvollen Anblick.

Das war es, was zu erzählen er auf die Brücke gekommen war. Er konnte es unmöglich für sich behalten, und es gab an Bord nur einen einzigen Menschen, dem gegenüber es sich der Mühe lohnte, sich auszusprechen. Auf seinem Rückwege überhäuften ihn die Matrosen mit Verwünschungen. Warum brachte er nicht endlich die Lampe? Was zum Teufel kümmerte man sich um die Kulis?

Als er aufs Deck herauskam, ließ die Not und Gefahr des Schiffes selbst alles, was in dessen Innerem vor sich ging, klein und unwichtig erscheinen. Zuerst glaubte er, die »Nan-Shan« sei eben im Begriff zu sinken. Die auf die Brücke führende Treppe war weggeschwemmt; allein eine ungeheure See, die das Hinterdeck überflutete, hob ihn hinauf. Eine Zeitlang mußte er auf dem Bauche liegen bleiben, während er sich an einem Ringbolzen festhielt – in Absätzen atmend und Salzwasser schluckend. Dann arbeitete er sich auf Händen und Füßen vorwärts, da seine Furcht und sein Entsetzen zu groß waren, als daß er hätte umkehren mögen. So erreichte er den hinteren Teil des Steuerhauses. An dieser verhältnismäßig geschützten Stelle fand er den zweiten Steuermann, wodurch er sich angenehm überrascht fühlte, da er geglaubt hatte, es müßte längst jedermann auf Deck weggewaschen worden sein. Eifrig fragte er, wo der Kapitän sei.

Der zweite Steuermann lag auf dem Boden zusammengekauert wie ein boshaftes kleines Tier unter einer Hecke.

»Der Kapitän? über Bord geschwemmt natürlich, nachdem er uns ins Unglück gebracht. Der erste Steuermann jedenfalls desgleichen. Ein ebenso großer Narr. Was liegt daran? Ein wenig früher oder später – kann nichts ausmachen.«

Der Bootsmann kroch wieder in den Bereich des Sturmes hinaus, nicht weil er hoffte, noch jemand finden zu können, wie er sagte, sondern nur um von »diesem Manne« wegzukommen. Er kroch hinaus wie ein Ausgestoßener, der den Kampf mit einer unbarmherzigen Welt aufnimmt. Daher seine große Freude, als er Jukes und den Kapitän fand. Was im Zwischendeck vor sich ging, erschien ihm jetzt von geringerer Wichtigkeit. Auch war es schwer, sich verständlich zu machen. So berichtete er nur kurz, was er gesehen hatte und zu erzählen gekommen war. Die Matrosen seien gut aufgehoben, fügte er hinzu. Dann ließ er sich beruhigt in sitzender Stellung auf Deck nieder, mit Armen und Beinen den Telegraphen des Maschinenraumes umklammernd – eine Eisenstange von der Dicke einer mäßigen Säule. Wenn diese den Elementen wich, ei, so mußte er wohl auch weichen. An die Kulis dachte er nicht mehr.

Kapitän Mac Whirr hatte Jukes bedeutet, er solle hinuntergehen und nachsehen.

»Was soll ich dann tun, Kapitän?« Das Zittern, das durch seinen ganzen nassen Körper ging, machte Jukes' Stimme einem Blöken ähnlich.

»Sehen Sie erst – – Bootsmann sagte – – –«

»Der verfluchte Narr!« heulte der schlotternde Jukes.

Die Ungeheuerlichkeit der an ihn gestellten Zumutung empörte ihn. Er war so wenig geneigt, zu gehen, als ob in dem Augenblick seines Gehens das Schiff unfehlbar sinken müßte.

»Ich muß es wissen – – – kann nicht – –«

»Sie werden sich wieder beruhigen, Herr – –«

»Sie kämpfen – – Bootsmann sagt – – Warum? Kann keinen Kampf – – Schiff – – haben. Behielte Sie lieber hier – – Fall – – ich selbst – – Bord geschwemmt würde – – Bringen Sie – – zur Ordnung – – irgendwie. Sehen Sie nach und berichten – – durch – Sprachrohr – – – Maschinenraum. Sie sollen nicht öfter herauf kommen. Gefährlich – – auf Deck – – bewegen.«

Jukes, der sich mit seinem Kopfe in der Gefangenschaft des Sprechenden befand, war gezwungen zu hören.

»Möchte nicht – Sie zu Grunde gehen – so lange – Schiff nicht – Rout – tüchtiger Mann – Schiff – kann noch – alles – durchkommen.«

Endlich wurde es Jukes klar, daß er gehen müsse. »Glauben Sie wirklich?« schrie er.

Aber der Sturm verschlang die Antwort – nur das eine, mit großem Nachdruck gesprochene Wort »immer« vermochte Jukes zu verstehen.

Kapitän Mac Whirr ließ ihn los, beugte sich zu dem Bootsmann nieder und schrie: »Gehen Sie mit dem Steuermann wieder hinunter.« Jukes fühlte, daß der Arm von seinen Schultern genommen war. Er hatte seine Befehle empfangen und konnte gehen – um was zu tun? In seiner Aufregung war er unvorsichtig genug, seinen Halt fahren zu lassen, und sofort wurde er vom Sturme erfaßt und weiter getrieben, so daß er meinte, er werde rettungslos über das Heck fliegen. Eilig warf er sich nieder, so daß der Bootsmann, der ihm folgte, auf ihn fiel.

»Bleiben Sie nur liegen, Herr,« schrie dieser, »'s hat keine Eile.« Eine Woge ging über sie hin. Aus der sprudelnden Rede des Mannes entnahm Jukes soviel, daß die Treppe weggerissen sei. »Ich werde Sie an den Händen hinunterlassen, Herr,« schrie der Bootsmann und fügte die tröstliche Bemerkung hinzu, daß der Schornstein wohl auch bald über Bord gehen werde. Jukes hielt dies für sehr wahrscheinlich und sah im Geiste die Feuer erlöschen, das Schiff hilflos . . .

Der Bootsmann an seiner Seite fuhr fort zu schreien. »Was? Was ist?« rief Jukes in Verzweiflung; und der andre wiederholte: »Was würde meine Alte sagen, wenn sie mich jetzt sehen könnte?«

In den Backbordgang war reichlich Wasser eingedrungen, dessen Plätschern und Gurgeln den Eintretenden ans Ohr schlug. In todähnlicher Ruhe saßen und lagen die Leute in der Finsternis beisammen, bis Jukes über einen von ihnen stolperte und ihn zornig fluchend schalt, daß er im Wege liege. Jetzt fragten mehrere Stimmen eifrig: »Ist noch Rettung möglich, Herr?«

»Was ist denn mit euch Narren?« fragte er seinerseits barsch. Es war ihm, als könne er sich mitten unter sie hinlegen, um sich nicht mehr zu rühren. Aber seine Worte schienen sie aufgemuntert zu haben; und unter sorglichen Warnungen, wie: »Geben Sie acht, Herr! Stoßen Sie sich nicht, Herr!« wurde er von diensteifrigen Händen in die Kohlenkammer hinabgelassen. Der Bootsmann fiel nach ihm hinunter und sobald er sich aufgerappelt hatte, bemerkte er: »Sie würde sagen: ›Es geschieht dir recht, alter Narr; warum gehst du zur See?‹«

Der Bootsmann war nicht unbemittelt und ließ dies gerne merken. Seine Frau – eine rundliche Erscheinung – führte mit zwei erwachsenen Töchtern ein Grünzeuggeschäft im Ostende von London.

Während Jukes sich mit aller Mühe fest auf seine Beine zu stellen suchte, vernahm er einen Lärm wie von schwachen Donnerschlägen. Dicht neben sich glaubte er halbersticktes Schreien zu hören, das von dem Tosen des Sturmes begleitet wurde. Der Kopf schwindelte ihm. Die Bewegungen des Schiffes kamen auch ihm hier unten ganz ungewöhnlich und gefahrdrohend vor; sie ängstigten ihn und lähmten seine Willenskraft, wie wenn er ein Neuling auf See gewesen wäre.

Am liebsten wäre er wieder hinausgeklettert; allein die Erinnerung an Kapitän Mac Whirrs Stimme ließ dies nicht zu. Er hatte Befehl, zu gehen und nachzusehen. – Natürlich würde er nachsehen, sagte er sich, innerlich wütend. Der unsicher hin und her stolpernde Bootsmann ermahnte ihn, ja vorsichtig zu sein beim Öffnen der Tür, da die Chinesen drinnen auf Tod und Leben kämpften. Und wie in großem körperlichem Schmerze fragte Jukes in gereiztem Tone, um was zum Teufel sie denn kämpften.

»Um Dollars, Herr! Um Dollars! All ihre wurmstichigen Kisten sind aufgebrochen. Das Geld rollt überall herum, und sie stürzen sich wie verrückt darauf – schlagen und beißen sich, daß es eine Art hat. Eine richtige Hölle ist da drinnen.«

Krampfhaft öffnete Jukes die Tür; der kleine Bootsmann guckte unter seinem Arme durch.

Eine der Lampen war ausgegangen, vielleicht zerbrochen worden. Wütende Kehllaute drangen den Eintretenden entgegen und ein sonderbares Keuchen – das Arbeiten all der überangestrengten Brustkasten. Ein schwerer Stoß traf die Seite des Schiffes: mit betäubender Gewalt hörte man oben das Wasser aufschlagen. Im Vordergrund der dicken rötlichen Atmosphäre sah Jukes hier einen Kopf heftig aufs Deck aufschlagen, dort zwei dicke Waden in die Höhe stehen, sehnige Arme einen nackten Körper umschlingen, ein gelbes Gesicht mit offenem Munde und wildem, starrem Blick auftauchen und wieder verschwinden. Eine leere Kiste fiel, sich überschlagend, geräuschvoll zu Boden. Mit dem Kopfe voran, wie durch einen Fußtritt in Bewegung gesetzt, flog ein Mann durch die Luft, während im Hintergrund andre wie ein Haufe rollender Steine einen Abhang hinunter zu gleiten schienen, das Deck mit ihren Füßen stampfend und wild die Arme schwingend. Die zur Luke hinaufführende Treppe war mit Kulis beladen; sie hingen daran wie schwärmende Bienen an einem Baumaste. In einem unruhig bewegten Klumpen kauerten sie auf den Stufen. Einige schlugen wie toll mit den Fäusten gegen die verlattete Luke. Jetzt neigte sich das Schiff stärker und sie fingen an herunterzufallen – erst einer, dann zwei, dann alle übrigen mit lautem Kreischen.

Jukes stand starr vor Entsetzen. Der Bootsmann mahnte ihn mit rauher Sorglichkeit: »Daß Sie mir ja nicht hineingehen, Herr!«

Der ganze Raum schien sich um sich selbst zu drehen und unaufhörlich auf und nieder zu wippen, und wenn das Schiff von einer See in die Höhe gehoben wurde, meinte Jukes nicht anders, als daß alle Chinesen in geschlossenem Haufen auf ihn zuschießen müßten. Er trat rückwärts aus der Tür, schlug sie zu und verriegelte sie mit zitternden Händen.


Sobald sein Steuermann ihn verlassen, hatte der allein auf der Brücke zurückgebliebene Kapitän sich seitwärts gewandt und war nach dem Steuerhause gewankt. Da dessen Tür nach außen aufging, mußte er dem Sturme den Eintritt abringen, und als er endlich hineinkam, geschah es mit großem Lärm und einem Schlage, als ob er durch das Holz hindurch gefeuert worden wäre. Nun stand er drinnen und hielt sich am Türgriff. Der Steuerapparat war nicht mehr dampfdicht; ein dünner, weißer Nebel erfüllte den beschränkten Raum, in dem das Glas des Kompaßgehäuses ein glänzendes Oval von Licht bildete. Der Sturm heulte und pfiff und stieß dazwischen in dröhnenden Schlägen gegen Türen und Läden, begleitet von heftig aufprasselnden Schauern. Das Rostwerk am Boden schwamm beinahe schon; mit jeder neuen See drang das Wasser stärker zu allen Ritzen um und neben der Tür herein. Der Mann am Steuer hatte Mütze und Rock weggeworfen und stand, gegen das Gehäuse der Steuermaschine gestemmt, in einem auf der Brust offenen, gestreiften Baumwollhemde da. Das kleine Messingrad in seinen Händen sah aus wie ein zierliches Spielzeug. Die Sehnen an seinem Halse traten stark hervor, ein dunkler Flecken lag in seiner Halsgrube und sein Gesicht war eingesunken und leblos wie das eines Toten.

Kapitän Mac Whirr wischte sich die Augen. Die See, die ihn beinahe über Bord gespült hätte, hatte ihm zu seinem großen Verdruß den Südwester vom kahlen Haupte gerissen. Sein flaumiges, helles Haar war naß und dunkel, so daß es aussah, als ob ein Strang grober Baumwollfäden um seinen bloßen Schädel geschlungen wäre. Sein vom Seewasser glänzendes Gesicht war vom Winde und dem Anprall des Flugwassers dunkel gerötet. Er sah aus, als käme er in Schweiß gebadet von der Seite eines glühenden Ofens.

»Sie hier?« murmelte er dumpf. Der zweite Steuermann hatte kurz vorher den Weg ins Steuerhaus gefunden. Er hatte sich in einer Ecke niedergelassen und saß nun da, die Kniee hinaufgezogen, eine Faust gegen jede Schläfe gepreßt; aus seiner Haltung sprachen Wut, Bekümmernis, hoffnungslose Ergebung und eine Art hartnäckigen Grolles. In kläglichem und zugleich trotzigem Tone sagte er: »Nun, ich habe ja die Wache unten, nicht wahr?«

Die Steuermaschine rasselte, setzte aus, rasselte wieder; die Augäpfel des Steuermannes traten aus seinem hungrigen Gesichte hervor, als ob die Windrose hinter dem Glase eßbar gewesen wäre. Gott weiß, wie lange man ihn am Steuer gelassen hatte; all seine Schiffsgenossen schienen ihn vergessen zu haben. Keine Glocke hatte geschlagen; keine Ablösung war erfolgt. Der Sturm hatte die Schiffsordnung verweht. Der Mann am Steuer aber versuchte noch immer das Schiff gegen Nord-Nordost zu halten, mochte das Ruder nicht mehr vorhanden sein, mochten die Feuer erloschen, die Maschinen zerbrochen, das Schiff bereit sein, im nächsten Augenblick wie ein Leichnam auf die Seite zu fallen. Er mußte sich alle Mühe geben, nicht irre zu werden und die Richtung nicht zu verlieren, da die Windrose weithin nach beiden Richtungen schwang, ja sich manchmal rundherum zu drehen schien. Er litt schwer unter der langandauernden geistigen Anspannung. Dabei fürchtete er beständig, das Steuerhaus möchte weggerissen werden – Berge von Wasser schlugen fortgesetzt dagegen. Wenn das Schiff in die Tiefe hinabtauchte, zuckte es nervös um seine Mundwinkel.

Kapitän Mac Whirr hob den Blick zur Wanduhr empor, deren schwarze Zeiger auf dem weißen Zifferblatts ganz still zu stehen schienen. Es war halbzwei Uhr morgens.

»Ein neuer Tag!« murmelte er vor sich hin.

Der zweite Steuermann hörte es, und den Kopf erhebend mit der Miene eines Menschen, der unter Trümmern klagt, rief er: »Sie werden ihn nicht anbrechen sehen,« während seine Kniee und seine Handgelenke heftig schlotterten. »Nein, bei Gott! Sie werden's nicht!«

Wieder nahm er sein Gesicht zwischen seine Fäuste.

Der Mann am Steuer hatte leicht den Körper bewegt, während sein Kopf sich so wenig rührte wie ein Haupt von Stein auf einer Säule. Während einer heftigen Bewegung des Schiffes, die ihm aufs Haar die Beine weggerissen hätte, und während er noch schwankend sich in Sicherheit zu bringen suchte, sagte Kapitän Mac Whirr streng: »Hören Sie ja nicht auf das, was dieser Mann sagt.« Und mit einer undefinierbaren Veränderung des Tones fügte er sehr ernst hinzu: »Er ist nicht im Dienst.«

Der Matrose erwiderte nichts.

Der Sturm tobte und rüttelte an dem kleinen Hause, das luftdicht zu sein schien, und das Licht des Kompaßhauses flackerte unruhig.

»Sie sind nicht abgelöst worden,« fuhr Kapitän Mac Whirr fort, die Augen auf den Boden geheftet. »Ich wünsche trotzdem, daß Sie so lang, als Sie können, am Steuer bleiben. Sie sind jetzt im Zuge. Käme jetzt ein anderer her, so könnte er alles verderben. Darf nicht sein. Kein Kinderspiel. Und die Matrosen sind wahrscheinlich unten anderweitig beschäftigt – meinen Sie, daß Sie's leisten können?«

Der Steuerapparat rasselte jäh auf und stand plötzlich still. Von den Lippen des stillen Mannes mit dem regungslosen Blick aber kam es, als ob alle verhaltene Leidenschaft in ihm sich in seine Worte drängte: »Beim Himmel, Herr Kapitän! Ich kann in Ewigkeit steuern, wenn man mich in Ruhe läßt.«

»Ah, so! Ja ja! . . . Schon gut . . .« Zum ersten Male sah der Kapitän dem Manne ins Gesicht, ». . . Hackett.«

Damit schien der Gegenstand für ihn abgetan zu sein. Er beugte sich zu dem in den Maschinenraum führenden Sprachrohr hinab, rief hinein und senkte lauschend den Kopf. Ingenieur Rout antwortete, und sofort setzte der Kapitän seine Lippen ans Mundstück.

Während der Sturm in ungeschwächter Wut ihn umtobte, gebrauchte er bald seinen Mund, bald sein Ohr. Die aus der Tiefe antwortende Stimme des Ingenieurs klang rauh – gerade als ob sie aus dem Getümmel eines Gefechtes käme. Einer der Heizer sei dienstunfähig geworden, die beiden andern seien vom zweiten Ingenieur und dem Manne von der Ersatzmaschine abgelöst worden. Der dritte Ingenieur stehe am Dampfventil. Die Maschinen würden nebenbei bedient. Wie es denn oben stehe?

»Schlecht genug. Das Meiste kommt jetzt auf Sie an,« antwortete Kapitän Mac Whirr. Dann fragte er, ob der erste Steuermann schon unten sei. Nein? Dann würde er jedenfalls gleich kommen. Herr Rout möge ihn durchs Sprachrohr reden lassen – durchs Decksprachrohr, weil er – der Kapitän – gleich wieder auf die Brücke hinausgehen werde. Unter den Chinesen sei Streit ausgebrochen; es scheine, als kämpften sie gegen einander; das dürfe ja doch nicht sein – – –«

Herr Rout war weggegangen und Kapitän Mac Whirr konnte den Gang der Maschinen hören, gleichsam den Herzschlag des Schiffes. Dann hörte er Routs Stimme unten wie aus weiter Ferne rufen. Mit jähem Sturz tauchte das Schiff in die Tiefe – hastig und mit zischendem Lärm arbeiteten die Maschinen – dann war plötzlich alles still. Das Gesicht des Kapitäns blieb unbeweglich und seine Augen ruhten unabsichtlich auf der zusammengekauerten Gestalt des zweiten Steuermannes.

Wieder vernahm man Routs Stimme in der Tiefe, und die Pulsschläge der Maschinen begannen aufs neue, langsam zuerst, dann rascher. Herr Rout war ans Sprachrohr zurückgekehrt. »Wird einerlei sein, was die Chinesen machen,« sagte er hastig, dann in gereiztem Tone: »Das Schiff taucht unter, als ob es nie wieder heraufkommen wollte.«

»Furchtbare Seen!« bemerkte der Kapitän oben.

»Lassen Sie es mich nicht dem Untergang entgegen treiben,« bellte Salomon Rout das Rohr hinauf.

»Kann nicht sehen, was kommt bei dieser Finsternis,« kam die Antwort herab. »Müssen – in Bewegung halten, daß – steuern kann – und – darauf ankommen lassen.«

»Ich tue so viel ich irgend tun darf.«

»Wir werden tüchtig zerschlagen – da oben,« sprach die obere Stimme in gelassenem Tone weiter – doch – ist es – nicht – allzu schlimm. Natürlich wenn das Steuerhaus fortgerissen würde . . .«

Herr Rout horchte auf und murmelte ingrimmig etwas zwischen den Zähnen.

Plötzlich wurde die bedächtige Stimme oben lebhafter, indem sie fragte: »Ist Jukes noch nicht da?« Und nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: »Wenn er sich doch beeilen wollte! Ich möchte, daß er unten fertig wäre und herauf käme – für alle Fälle. Um das Schiff zu beaufsichtigen. Ich bin ganz allein. Der zweite Steuermann ist verloren . . .«

»Was?« schrie Rout in den Maschinenraum hinein, dann ins Sprachrohr: »Über Bord gegangen?« Und er preßte sein Ohr gegen das Sprachrohr.

»Von Sinnen gekommen,« fuhr die Stimme von oben in trockenem Tone fort. »Fatale Geschichte!«

Herr Rout, der mit gesenktem Haupte zuhörte, öffnete weit die Augen bei dieser Mitteilung. Plötzlich drang ein Geräusch wie von einem Ringen, untermischt mit abgebrochenen Ausrufen, zu ihm herab. Er lauschte angespannt. Während dieser ganzen Zeit hielt Beale, der dritte Ingenieur, mit hochgehobenen Armen zwischen seinen beiden Handflächen den Rand eines kleinen schwarzen Rades, das an der Seite eines dicken kupfernen Rohres saß. Es sah aus, als halte er es sich über den Kopf und als sei dies eine richtige Stellung in einer bestimmten Art von Spiel.

Um einen Halt zu haben, preßte er die Schulter gegen die weiße Schottwand, während er ein Knie gebeugt hatte. Ein Schweißtuch hing in seinem Gürtel über der Hüfte. Seine bartlosen Wangen waren erhitzt und schmutzig, und der Kohlenstaub auf seinen Augenlidern erhöhte wie eine künstlich aufgetragene Farbe den feuchten Glanz des Weißen seiner Augen und gab so seinem jugendlichen Gesichte ein fast weibliches, fremdartiges und fesselndes Aussehen. So oft das Schiff in die Tiefe tauchte, schraubten seine Hände in nervöser Hast krampfhaft an dem kleinen Rade.

»Verrückt geworden,« ließ sich die Stimme des Kapitäns plötzlich in dem Sprachrohr vernehmen. »Hat sich auf mich gestürzt . . . jetzt eben. Mußte ihn niederschlagen . . . diese Minute. Haben Sie gehört, Herr Rout?«

»Zum Teufel!« murmelte dieser. »Passen Sie auf, Beale!«

Sein Ruf hallte wie der Ton einer warnenden Posaune von den Wänden des Maschinenraumes wider, die, weißgestrichen, hoch hinaufragten in die Dämmerung des Oberlichtes. Der ganze hohe Raum glich dem Innern eines Grabmales; er war durch eiserne Gitterböden abgeteilt; Lichter flackerten in verschiedener Höhe der Wand, während die in der Mitte des Raumes rastlos arbeitenden Maschinen großenteils in Dunkel gehüllt waren.

Ein starker Widerhall des gesamten atmosphärischen Aufruhrs erfüllte die unbewegte, warme Luft, in der sich der Geruch von heißem Metall und Öl mit leichten Dampfnebeln vermischte. Die Schläge der Wogen gegen das Schiff machten sich in lautlosen, betäubenden Stößen fühlbar.

Das hellpolierte Metall leuchtete in blassen, länglichen Flammen. Aus dem Boden unten tauchten die ungeheuren Kurbeln in ihrem funkelnden Stahl- und Messingglanze auf und gingen dann wieder hinunter. Mit unerschütterlicher Pünktlichkeit schienen die starkgelenkigen Kurbelstangen, die an die Glieder eines Skeletts erinnerten, sie hinunterzustürzen und wieder heraufzuziehen. Und tiefer im Halbdunkel glitten andre Stangen bedächtig hin und her; Kreuzköpfe nickten; Metallscheiben rieben die glatten Flächen aneinander, langsam und sanft, in einem wunderbaren Gemisch von Licht und Schatten.

Dann und wann verlangsamten sich all diese mächtigen und unfehlbaren Bewegungen gleichzeitig, wie wenn sie von einem lebenden Organismus ausgingen, der von plötzlicher Entkräftung befallen worden, und Herrn Routs Augen blickten düsterer aus seinem hageren, blassen Gesichte. Er kämpfte diesen Kampf in einem Paar Straminpantoffeln und in einer kurzen, abgetragenen Jacke, die ihm kaum bis an die Lenden reichte. Seine weißen Handgelenke ragten weit aus den engen Ärmeln hervor, als ob die Krisis, in der er sich befand, seiner Größe etwas hinzugefügt und seine Glieder verlängert hätte, wie sie seine Wangen gebleicht und seine Augen hohl gemacht hatte. Er war beständig in Bewegung: bald kletterte er in die Höhe, bald verschwand er in der Tiefe in rastloser, zielbewußter Geschäftigkeit, und wenn er, den Hebel vor dem Anlaßrade haltend, stillestand, beobachtete er einmal den Dampfmesser und dann wieder den Wassermesser, die beide an der weißen Wand angebracht waren und von einer hin und her schaukelnden Lampe beleuchtet wurden. An seiner Seite gähnten die Mundstücke zweier Sprachrohre. Die kreisrunde Fläche des Telegraphen glich dem Zifferblatt einer großen Uhr – anstatt der Ziffern zeigte sie kurze Worte. Tiefschwarz hoben sich die zu Wörtern gruppierten Buchstaben rings um die Achse des Indikators ab – laute Kommandorufe ausdrückend, wie: Voraus! Zurück! Langsame Fahrt! Halbe Fahrt! Achtung! Und der dicke schwarze Zeiger deutete nach unten auf das Wort »Volldampf«, das, auf diese Weise bezeichnet, das Auge auf sich zog, wie ein lauter Schrei Aufmerksamkeit erzwingt.

Der mit Holz bekleidete, von stolzer Höhe herabschauende Niederdruckzylinder ließ bei jedem Schlag ein schwaches Keuchen hören; von diesem leisen Zischen abgesehen, arbeiteten die stählernen Glieder der Maschinen, gleichviel ob schnell oder langsam, mit lautloser Glätte. Und alles zusammen – die weißen Wände, das bewegliche Metall, die Platten des Bodens unter Salomon Routs Füßen, das eiserne Rostwerk über seinem Haupte, die mannigfachen Schatten und Lichter – alles das hob und senkte sich beständig, während das Anschlagen der Wogen draußen gegen das Schiff einen rauhen Mißton in dieser Harmonie zu bilden schien. Der hohe Raum, in dem der Sturm ein hohlklingendes Echo fand, wurde am oberen Ende wie ein Baum hin und her bewegt und neigte sich tatsächlich bald auf die eine, bald auf die andre Seite unter den furchtbaren Stößen.

»Sie sollen machen, daß Sie hinaufkommen,« rief Herr Rout, sobald er Jukes unter der Tür des Heizraumes erscheinen sah.

Jukes' Augen blickten starr und unstet; sein erhitztes Gesicht war angeschwollen, wie wenn er zu lange geschlafen hätte. Er hatte einen schwierigen Weg hinter sich und hatte ihn mit ungeheurer Schnelligkeit zurückgelegt, wobei die Erregung seines Gemütes mit den Bewegungen seines Körpers gleichen Schritt gehalten. In jäher Hast war er aus dem Kohlenraume geklettert, war in dem dunklen Raume unter der Brücke inmitten einer Menge aufgeregter Leute herumgestolpert, die unter seinen Tritten ein erschrockenes: »Was gibt's, Herr?« murmelten, war die Treppe in den Heizraum hinuntergeeilt, wobei er in seiner Hast mehr als eine der eisernen Stufen verfehlte – hinunter an einen Ort, der tief war wie ein Brunnen und dunkel wie die Hölle und sich zugleich wie eine Schaukel in fortwährender Bewegung befand. Das Wasser in den Schiffsböden unten verursachte bei jedem neuen Schlingern ein donnerähnliches Getöse. Große und kleine Kohlenstücke sprangen hin und her, von einem Ende bis zum andern mit einem Lärm, als ob eine Lawine von Kieselsteinen einen ehernen Abhang hinunterrollte.

Hier stöhnte jemand vor Schmerz; dort sah Jukes jemand sich über den anscheinend toten Körper eines Mannes beugen; eine heisere Stimme erging sich in Lästerworten und die Glut unter jeder Ofentür glich einem Pfuhle blutigroter Flammen, deren Schein ruhig das samtartige Dunkel beschien.

Ein heftiger Windstoß traf Jukes ins Genick, und im nächsten Augenblick fühlte er den Luftzug um seine nassen Knöchel strömen. Die Ventilatoren des Heizraumes brummten; vor den sechs Ofentüren arbeiteten wankend zwei wild aussehende Gestalten, bis an die Hüften entblößt, jede mit einer Schaufel in der Hand.

»Hallo! Zug genug jetzt!« schrie der zweite Ingenieur sofort, als habe er die ganze Zeit nach Jukes ausgesehen. Ein andrer, ein fixer kleiner Kerl mit blendend weißer Haut und einem zierlichen Schnurrbärtchen arbeitete in einer Art stummen Ingrimms. Sie hatten fortwährend Volldampf zu erhalten, und ein Rumpeln wie von einem leeren Möbelwagen, der über eine Brücke fährt, bildete die solide Baßgrundlage zu all den andern lärmenden Geräuschen, die den Raum erfüllten.

»Das bläst wie verrückt!« fuhr der Ingenieur zu schreien fort. Mit einem Getöse, als ob hundert eiserne Pfannen gescheuert würden, spie die Öffnung eines Ventilators plötzlich einen starken Guß Salzwasser auf seine Schulter, was er mit einem Strom von Flüchen auf alle Dinge in der Welt, seine eigene Seele nicht ausgenommen, quittierte, ohne einen Augenblick in seiner Beschäftigung innezuhalten. Klirrend öffnete sich die Feuerungstür; der Schein des Feuers fiel auf seinen kugelförmigen Kopf, beleuchtete seine sprudelnden Lippen und sein keckes Gesicht, bis sich die Tür, ein weißglühendes eisernes Auge, mit erneutem Klirren schloß.

»Wo befindet sich das edle Schiff eigentlich? Können Sie mir's vielleicht sagen? Unter Wasser oder wo? Hier unten kriegen wir's tonnenweise. Sind die verdammten Jammerlappen droben in den Hades gefahren? He? Wissen Sie denn gar nichts, Sie lustiger Seemann, Sie?«

Eine Bewegung des Schiffes hatte Jukes rasch durch den Heizraum hindurch an die offene Tür des Maschinenraumes befördert, und kaum hatten seine Augen flüchtig auf der verhältnismäßigen Weite, Stille und freundlichen Helle hier geruht, als das Schiff sich mit dem Hinterteil schwer ins Wasser setzte und er mit dem Kopfe voran auf Herrn Rout zuflog.

Der Arm des ersten Ingenieurs, lang wie ein Fühlfaden und wie durch Federdruck gerade ausgestreckt, empfing ihn und beförderte ihn mit tunlichster Eile ans Sprachrohr, während er eifrig wiederholte: »Sie müssen sich beeilen, hinaufzukommen.«

Jukes schrie: »Sind Sie da, Herr Kapitän?« und lauschte. Keine Antwort. Plötzlich fiel das Heulen des Sturmes ihm direkt ins Ohr, aber im nächsten Augenblick schob eine schwache Stimme den tosenden Gesellen ruhig auf die Seite: »Sind Sie es, Jukes? – Nun?«

Jukes war bereit zu erzählen. Die Sache sei leicht genug zu erklären, berichtete er. Er könne sich sehr wohl die in dem dumpfen Zwischendeck eingeschlossenen Kulis vorstellen, wie sie krank und verängstigt zwischen den Reihen ihrer Kisten gelegen. Eine dieser Kisten oder vielleicht mehrere waren bei einer heftigen Bewegung des Schiffes losgerissen worden, waren auf andre gestoßen, da und dort hatte eine Seitenwand nachgegeben, war ein Deckel aufgesprungen, und die Chinesen waren wie ein Mann aufgestanden, um ihr Eigentum zu retten. Dann hatte jeder Stoß, der das Schiff traf, die trampelnde, schreiende Masse hierhin und dorthin, von einer Seite auf die andre geworfen; Holzsplitter und Fetzen von zerrissenen Kleidern waren umhergeflogen, während die Silberdollars auf dem Boden rollten. Einmal im Kampfe, waren sie nicht imstande, ihm ein Ende zu machen. Nur mit überlegener Gewalt konnte man sie jetzt auseinander bringen. Es war eine unglückliche Geschichte. Er hatte alles mit Augen gesehen, und mehr vermochte er nicht zu sagen. Einige der Leute mußten getötet worden sein; die andern kämpften wohl noch jetzt . . . Er sprach rasch, und seine Worte überstürzten sich in dem engen Sprachrohr. Es war als stiegen sie in die schweigende Stille eines erleuchteten Verständnisses empor, das da oben allein mit dem Sturme wohnte. Und Jukes wünschte, dem widerwärtigen Vorgange den Rücken kehren zu dürfen, der sich dem Schiffe in seiner großen Not so störend aufdrängte.



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