Joseph Conrad
Das Herz der Finsternis
Joseph Conrad

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III

»Ich sah ihn an, in Verwunderung verloren. Da stand er vor mir, kostümiert, als wäre er einer Komödiantentruppe entlaufen, begeistert, unwahrscheinlich. Sein Dasein selbst war unwahrscheinlich, unerklärlich und ganz und gar verwunderlich. Er war ein unlösbares Problem. Es war unbegreiflich, wie er hatte leben, wie er hatte so weit kommen können, wie er es fertiggebracht hatte, durchzukommen – und warum er sich nicht im Augenblick in Nichts auflöste. ›Ich ging ein wenig weiter‹, sagte er, ›und dann noch ein wenig weiter – bis ich nun so weit gekommen bin, daß ich nicht mehr weiß, wie ich jemals zurückkehren soll. Macht nichts. Massenhaft Zeit. Wird sich schon finden. Nehmen Sie Kurtz schnell weg – schnell, sage ich Ihnen.‹ Der Zauber der Jugend überglänzte seine bunten Flicken, seine Verkommenheit und Einsamkeit, die trostlosen Male seines ziellosen Wanderns. Monate lang – Jahre lang, war sein Leben keinen Pfifferling wert gewesen; und da stand er nun vor mir, ganz springlebendig, hochherzig, unbekümmert und allem Anschein nach unantastbar, nur infolge seiner jungen Jahre und seiner bedenkenlosen Kühnheit. Ich fühlte mich zu etwas wie Bewunderung, ja Neid verleitet. Ein Zauber trieb ihn voran, ein Zauber hielt ihn unversehrt. Er verlangte sicher nichts weiter von der Wildnis als Raum, um atmen und immer weiter wandern zu können. Er wollte leben und unter den denkbar größten Gefahren und schlimmsten Entbehrungen sich weiterbewegen. Wenn je der völlig reine, nicht berechnende, wirklichkeitsfremde Abenteurergeist ein menschliches Wesen beherrscht hatte, so diesen flickenbesäten Jungen. Ich beneidete ihn beinahe um den Besitz der kleinen, klaren Flamme. Sie schien alle Gedanken an ihn selbst so gründlich aufgezehrt zu haben, daß man sogar, während er mit einem sprach, völlig vergaß, er selbst – der Mann da vor einem – sei durch alle diese Dinge gegangen. Seine Ergebenheit für Kurtz allerdings neidete ich ihm nicht. Darüber hatte er nicht gegrübelt. Die hatte ihn überkommen, und er hatte sie mit übereifrigem Fatalismus hingenommen. Ich muß sagen, daß mir diese Ergebenheit das weitaus Gefährlichste schien, was ihm je begegnen konnte.

Die Begegnung zwischen den beiden war unvermeidlich gewesen, wie die zweier Schiffe, die in einer Windstille festliegen und schließlich Seite an Seite getrieben werden. Ich nahm an, daß Kurtz einen Zuhörer wünschte, denn bei einer bestimmten Gelegenheit, als sie im Walde gelagert, hatten sie die ganze Nacht miteinander gesprochen, oder wahrscheinlicher: Kurtz hatte gesprochen. ›Wir sprachen von allem Möglichen‹, erzählte er, noch ganz hingerissen von seiner Erinnerung. ›Ich vergaß völlig, daß es so etwas wie Schlaf gab. Die ganze Nacht schien kaum eine Stunde zu währen. Über alles – über alles . . . auch über Liebe.‹ – ›Oh, er hat mit Ihnen über Liebe gesprochen!‹ sagte ich sehr belustigt. ›Es ist nicht, was Sie glauben‹, unterbrach er mich fast leidenschaftlich. ›Es war ganz allgemein. Er ließ mich Dinge sehen – Dinge . . .

Er warf die Arme hoch. Wir standen nebeneinander auf Deck, und der Häuptling meiner Holzfäller, der sich in der Nähe herumdrückte, wandte ihm seine schweren, glitzernden Augen zu. Ich sah in die Runde, und ich weiß nicht warum, aber ich versichere euch, daß nie, nie zuvor das Land, der Strom, das Dschungel und auch die Wölbung des strahlenden Himmels mir so hoffnungslos finster erschienen waren, undurchdringlich für jeden menschlichen Gedanken, so unbarmherzig gegen jede menschliche Schwäche. ›Und seither sind Sie natürlich immer bei ihm gewesen;‹ fragte ich.

Im Gegenteil. Es schien, daß ihr Verkehr aus verschiedenen Ursachen mehrfach unterbrochen worden war. Er hatte es fertiggebracht, wie er mir stolz mitteilte, Kurtz während zwei Krankheiten zu pflegen. (Das erwähnte er, als wäre es ein recht gefährliches Unternehmen gewesen.) Doch meistens wanderte Kurtz allein tief in den Wäldern herum. ›Oft, wenn ich in diese Station kam, hatte ich Tage und Tage lang zu warten, bis er auftauchte‹, sagte er. ›Oh, es war der Mühe wert, zu warten – manchmal.‹ – ›Was tat er? Forschen, oder was sonst?‹ fragte ich. – ›O ja, natürlich.‹ Er hatte eine Menge Dörfer entdeckt, auch einen See – der Russe wußte nicht genau, in welcher Richtung; es war gefährlich, zuviel zu fragen – meistens aber hatten die Expeditionen dem Elfenbein gegolten. ›Er hatte aber doch schon längst keine Tauschwaren mehr‹, warf ich ein. – ›Sogar jetzt sind noch eine Menge Patronen übrig‹, meinte er und sah weg. ›Er plünderte also das Land, kurz gesagt‹, sagte ich. Der andere nickte. ›Doch nicht er allein?‹ Der Russe murmelte etwas über die Dörfer rund um den See. ›Kurtz hat den Stamm dazu gebracht, ihm zu folgen, ja?‹ riet ich. Er zauderte ein wenig. ›Sie beteten ihn an‹, sagte er. Der Ton dieser Worte war so außergewöhnlich, daß ich ihn forschend ansah. Das Gemisch aus Bereitwilligkeit und Widerstreben, wenn er von Kurtz sprechen sollte, war lustig zu sehen. Der Mann erfüllte sein Leben, beschäftigte seine Gedanken, beherrschte seine Gefühle. ›Was wollen Sie?‹ brach er los. ›Er kam zu ihnen mit Donner und Blitz – sie hatten nie etwas Ähnliches gesehen – und so schrecklich! Er konnte wirklich schrecklich sein. Man kann Herrn Kurtz nicht beurteilen wie einen gewöhnlichen Menschen. Nein, nein! Da – nur um Ihnen einen Begriff zu geben – es macht mir nichts aus, Ihnen zu erzählen, daß er auch mich eines Tages erschießen wollte. Aber ich verurteile ihn nicht.‹ – ›Was, erschießen!‹ rief ich, ›weshalb?‹ – ›Nun, ich besaß einen kleinen Posten Elfenbein, den mir der Häuptling des Dorfes nächst meinem Hause gegeben hatte. Ich pflegte für ihn Wild zu schießen, wissen Sie. Nun, Kurtz wollte es haben und ließ keine Widerrede gelten. Er erklärte mir, er würde mich erschießen, wenn ich ihm nicht das Elfenbein gäbe und mich dann aus dem Lande davonmachte, denn das könnte er tun und es machte ihm Spaß, und nichts auf Erden könnte ihn hindern, jeden nach seinem Belieben zu töten. Und das stimmte auch. Ich gab ihm das Elfenbein. Was lag mir daran! Aber ich verließ das Land nicht. Nein, nein. Ich konnte ihn nicht verlassen. Natürlich mußte ich vorsichtig sein, bis wir wieder eine Zeitlang freundschaftlich miteinander standen. Damals erkrankte er zum zweiten Male. Nachher mußte ich mich wieder aus dem Wege halten; aber es machte mir nichts aus. Er lebte die meiste Zeit in den Dörfern am See. Wenn er an den Strom herunterkam, dann kam er manchmal wieder zu mir, und manchmal war es für mich ratsamer, vorsichtig zu sein. Der Mann litt zu sehr. Er haßte dies alles hier und konnte sich doch nicht davon losreißen. Als sich mir einmal die Gelegenheit bot, bat ich ihn, doch den Versuch zum Weggehen zu machen, solange es noch Zeit sei. Ich bot ihm an, mit ihm zurückzugehen. Und er sagte ja und blieb dann doch; ging nochmals auf die Elfenbeinjagd, verschwand für Wochen, vergaß sich ganz unter diesen Leuten – vergaß sich – Sie verstehen.‹ – ›Nun, er ist verrückt‹, sagte ich. Er widersprach entrüstet. Herr Kurtz konnte nicht verrückt sein. Wenn ich ihn reden gehört hätte, erst vor zwei Tagen, dann würde ich eine solche Andeutung gar nicht wagen . . . Ich hatte mein Fernglas aufgenommen, während wir sprachen, sah nach dem Ufer und suchte die Waldgrenze zu beiden Seiten und hinter dem Hause ab. Es war mir ein unbehagliches Gefühl, zu wissen, daß Leute in dem Busch steckten, so schweigend und reglos wie die Ruinen des Hauses auf dem Hügel. Nichts im Gesicht der Landschaft sprach von dieser fabelhaften Geschichte, die mir ja nicht so sehr erzählt, als vielmehr in Ausrufen der Verzweiflung und abgerissenen Sätzen mitgeteilt wurde, dann und wann von einem Achselzucken oder einer Gebärde unterbrochen, die in einem tiefen Seufzer endete. Die Wälder standen unbewegt wie eine Maske, wuchtig wie das geschlossene Tor eines Gefängnisses, sahen mir entgegen mit dem Ausdruck verborgenen Wissens, geduldiger Erwartung, unverbrüchlichen Schweigens. Der Russe erzählte mir gerade, Herr Kurtz sei erst ganz kürzlich zum Strom heruntergekommen und habe alle die Krieger des Stammes am See mitgebracht. Er war mehrere Monate weg gewesen – um sich anbeten zu lassen, nehme ich an – und war unerwartet heruntergekommen, offenbar in der Absicht, einen Plünderzug entweder nach der anderen Seite des Stromes, oder stromabwärts zu unternehmen. Offenbar hatte der Hunger nach noch mehr Elfenbein sich stärker erwiesen als die – wie soll ich sagen – weniger materiellen Wünsche. Jedenfalls aber hatte sich sein Befinden sehr verschlechtert. ›Ich hörte, daß er hilflos im Bett liege, und nützte die Gelegenheit aus, hinaufzukommen‹, sagte der Russe. ›Oh, es geht ihm schlecht, sehr schlecht!‹ Ich richtete mein Glas auf das Haus. Auch dort waren keine Lebenszeichen zu sehen, aber das zerstörte Dach war da und die lange Lehmmauer, die über das Gras emporragte, mit drei kleinen Fensteröffnungen darin, von denen nicht zwei von der gleichen Größe waren; all das war mir zum Greifen nahegerückt. Und dann machte ich eine hastige Bewegung, und einer der übriggebliebenen Pfosten des verschwundenen Zaunes sprang in das Sehfeld meines Glases. Ihr erinnert euch ja, daß ich euch sagte, wie mich aus der Ferne gewisse Ansätze zu Verzierungen überrascht hatten, die, angesichts der sonstigen Verkommenheit des Ortes, auffallend genug wirkten. Nun konnte ich es plötzlich aus größter Nähe sehen, und die erste Folge war, daß ich wie unter einem Schlag den Kopf zurückwarf. Dann ging ich sorgfältig mit meinem Glas einen Pfosten nach dem anderen ab und sah meinen Irrtum ein. Diese runden Kugeln waren nicht Verzierungen, sondern Wahrzeichen. Sie waren ausdrucksvoll und überwältigend, erschreckend und ergreifend – Nahrung für allerlei Gedanken und auch für die Geier, wenn irgendwelche vom Himmel heruntergesehen hätten; jedenfalls aber für alle Ameisen, die sich die Mühe nehmen wollten, den Pfosten hinaufzuklettern. Sie wären sogar noch eindrucksvoller gewesen, diese Köpfe auf den Pfählen, hätten sie die Gesichter nicht dem Haus zugekehrt. Nur einer, der erste, den ich erkannt hatte, sah zu mir her. Ich war nicht so entsetzt wie ihr wohl denken werdet. Mein Zurückzucken war weiter nichts als eine Regung der Überraschung gewesen. Ich hatte erwartet, eine geschnitzte Holzkugel dort oben zu finden. Nun wandte ich mich überlegt dem ersten der Köpfe wieder zu – und da war er also, schwarz, vertrocknet, eingesunken, mit geschlossenen Augenlidern – ein Kopf, der auf der Spitze des Zaunpfahles zu schlafen und da die verschrumpften Lippen die weißen Zähne entblößten, auch zu lächeln schien, ein unaufhörliches Lächeln über einen endlos heiteren Traum, der den ewigen Schlummer durchzog.

Ich verrate keine Geschäftsgeheimnisse. Tatsächlich sagte der Direktor später, daß die Methoden des Herrn Kurtz den Distrikt ruiniert hätten. Sie bewiesen nur, daß es Herr Kurtz an Hemmungen bei der Befriedigung seiner verschiedenen Lüste fehlen ließ, daß ihm kurz und gut etwas abging, irgendeine Kleinigkeit, die im äußersten Notfall unter seinem wundervollen Redefluß nicht zu finden war. Ob er selbst sich des Mangels bewußt war, kann ich nicht sagen. Ich denke, das Bewußtsein kam ihm ganz zum Schluß – im letzten Augenblick. Die Wildnis aber hatte den Mangel schnell gemerkt und hatte an ihm für den verrückten Einbruch eine furchtbare Rache genommen. Ich denke mir, sie hat ihm Dinge über ihn selbst zugeflüstert, die er nicht wußte, Dinge, von denen er keinen Begriff hatte, bis er mit der großen Einsamkeit zu Rate gegangen war – und dieses Flüstern hatte sich als unwiderstehlich und bezaubernd erwiesen. Es fand lauten Widerhall in ihm, weil er innerlich hohl war . . . Ich setzte das Glas ab, und der Kopf, der nahe genug zu sein schien, daß ich hätte mit ihm reden können, schien im Augenblick in unerreichbare Fernen zurückzuschnellen.

Der Bewunderer des Herrn Kurtz schien ein wenig bestürzt. Mit hastiger, deutlicher Stimme begann er mir zu versichern, er habe es nicht gewagt, diese Symbole herunterzunehmen. Die Eingeborenen fürchtete er nicht. Die Häuptlinge kamen jeden Tag, um Herrn Kurtz zu sehen. Sie krochen vor ihm . . . ›Ich will nichts von dem Zeremoniell wissen, das für das Erscheinen vor Herrn Kurtz vorgeschrieben ist‹, brüllte ich. Merkwürdig genug überkam mich das Gefühl, daß solche Einzelheiten unerträglicher sein mußten, als der Anblick der Köpfe, die dort auf den Zaunpfosten unter Herrn Kurtz' Fenster dörrten. Denn schließlich war dieser Anblick nur wild, während mich die kurze Andeutung mit einem Schlag in den lichtlosen Bereich letzter Schrecken versetzt zu haben schien, wo reine, unverworrene Wildheit eine wahre Erlösung bedeutete; denn sie war ja etwas, was ganz offenbar ein Recht darauf hatte, im Sonnenschein zu bestehen. Der junge Mann sah mich überrascht an. Ich nehme an, es kam ihm nicht zum Bewußtsein, daß mir jede Verehrung für Herrn Kurtz fernlag. Er vergaß, daß ich keines der wundervollen Selbstgespräche angehört hatte, über – was war es doch –, über Liebe, Gerechtigkeit, Lebensführung und was sonst noch alles. Wenn es darauf ankam, vor Herrn Kurtz auf dem Bauch zu kriechen, dann tat er das besser als der wildeste Wilde. Ich hätte keinen Begriff von den Lebensverhältnissen, sagte er: diese Köpfe seien die Köpfe von Rebellen. Ich empörte ihn aufs äußerste, indem ich lachte. Rebellen! Was würde ich wohl noch als nächste Erklärung zu hören bekommen? Es hatte Feinde gegeben, Verbrecher, Arbeiter – und diese waren Rebellen. Diese rebellischen Köpfe sahen mir auf ihren Pfählen recht unterwürfig aus. ›Sie wissen nicht, wie ein solches Leben einen Mann wie Kurtz angreift‹, rief Kurtz' letzter Schüler. ›Nun, und Sie?‹ sagte ich. – ›Ich bin ein einfacher Mann. Ich habe keine großen Gedanken. Ich verlange nichts von irgend jemand. Wie können Sie mich vergleichen . . .?‹ Seine Gefühle waren zu stark für Worte, und plötzlich klappte er zusammen. ›Ich verstehe es nicht‹, stöhnte er. ›Ich habe mein Bestes getan, um ihn am Leben zu erhalten, und das genügt. Ich hatte kein Geschick dafür, ich habe keine besonderen Fähigkeiten. Seit Monaten gibt es hier keinen Tropfen Medizin und keinen Bissen Krankenkost mehr. Man hat ihn schamlos im Stich gelassen. Einen solchen Mann, mit solchen Gedanken. Schamlos! Schamlos! Ich – ich habe die letzten zehn Nächte nicht geschlafen . . .

Seine Stimme verlor sich in dem stillen Abend. Während wir sprachen, waren die langen Schatten des Waldes über den Himmel herabgeglitten, hatten sich weit über die verfallene Wohnstätte und über die Reihe der Zaunpfähle mit ihren Wahrzeichen erstreckt. Alles das lag im Düstern, während wir unten am Strom noch Sonne hatten und die Stromstrecke von der Lichtung abwärts sich grell glitzernd gegen die Schattenmassen oben und unten abhob. Keine lebende Seele war am Ufer zu sehen. Die Büsche regten sich nicht.

Plötzlich tauchte um die Ecke des Hauses herum eine Gruppe von Leuten auf, als wären sie aus der Erde emporgewachsen. Sie wateten bis zur Hüfte durch das Gras, in einem gedrängten Haufen, und trugen eine notdürftig zurechtgezimmerte Bahre in ihrer Mitte. Augenblicklich gellte ein Schrei durch die leere Landschaft, dessen Schrille die Luft zerriß wie ein scharfer Pfeil, der mitten ins Herz der Landschaft flog; und wie durch Zauberschlag ergossen sich Ströme menschlicher Wesen – nackter menschlicher Wesen – mit Speeren in den Händen, mit Bogen, Schilden, mit wilden Blicken und heftigen Bewegungen aus dem dunkelblickenden, nachdenklichen Wald in die Lichtung. Die Büsche rauschten, das Gras wallte eine Zeitlang, und dann stand alles achtsam und unbeweglich still.

›Nun, wenn er ihnen jetzt nicht das rechte Wort sagt, dann ist es um uns alle geschehen‹, sagte der Russe an meinem Ellbogen. Die paar Leute mit der Tragbahre waren auch wie versteinert auf dem halben Wege zum Dampfer stehengeblieben. Ich sah, wie der Mann auf der Bahre sich mühsam aufsetzte und über die Schultern der Träger den Arm emporstreckte. ›Hoffen wir, daß der Mann, der so gut über Liebe im allgemeinen zu reden versteht, einen besonderen Beweisgrund finden wird, um uns diesmal zu retten‹, sagte ich. Ich litt schwer unter der unsinnigen Gefahr unserer Lage, als wäre es eine entehrende Notwendigkeit gewesen, von der Gnade dieses grausamen Gespenstes abhängig zu sein. Ich konnte keinen Ton hören, sah aber durch mein Glas den dünnen Arm befehlend ausgestreckt, sah den Unterkiefer, der sich bewegte und die Augen des Gespenstes, die tief aus dem knochigen, ruckweise nickenden Kopf leuchteten. Kurtz – Kurtz – das ist im Deutschen ein Name, wie auch ein Eigenschaftswort, nicht wahr? Nun also, der Name war so wahr, wie alles sonst in seinem Leben – und seinem Sterben. Der Mann schien mindestens sieben Fuß lang zu sein. Seine Decke war abgeglitten, und der Körper bot sich erbarmungswürdig dar, wie aus einem Leichentuch herausgeschält. Ich konnte sehen, wie heftig seine Rippen zitterten, seine Armknochen bebten. Es sah aus, als schüttelte ein beseeltes Bildnis des Todes, aus altem Elfenbein, gespenstisch drohend die Hand gegen eine reglose Menge von Menschen, die aus dunkler, glänzender Bronze gegossen waren. Ich sah ihn weit den Mund öffnen – es gab ihm einen unheimlichen, gefräßigen Ausdruck, als hätte er die ganze Luft, die ganze Erde, alle die Männer vor ihm verschlingen wollen. Eine tiefe Stimme klang schwach bis zu mir. Offenbar brüllte er. Plötzlich fiel er zurück. Die Bahre schwankte, während die Träger wieder vorwärtsschritten, und fast zur gleichen Zeit bemerkte ich, daß die Schar der Wilden fast ohne sichtbare Rückzugsbewegung verschwand, als hätte der Urwald, der diese Wesen so plötzlich ausgeworfen hatte, sie auch wieder eingesogen, so wie man die Luft in einem tiefen Zuge einatmet.

Einige der Pilger hinter der Bahre trugen seine Waffen – zwei Schrotflinten, eine schwere Büchse und einen leichten Repetierkarabiner – die Donnerkeile dieses kläglichen Zeus. Der Direktor beugte sich über ihn und murmelte etwas, während er neben dem Kopfende der Bahre weiterging. Sie legten ihn in einer der kleinen Kabinen nieder – es war gerade Platz genug für eine Bettstelle und einen Feldstuhl oder zwei. Wir hatten all seine verspätete Post mitgebracht, und sein Bett war mit einer Unmenge aufgerissener Umschläge und offener Briefe übersät. Seine Hand wühlte kraftlos unter diesen Papieren. Ich war betroffen von dem Feuer seiner Augen und der Fassung in seinen Zügen. Es war nicht so sehr Erschöpfung infolge seiner Krankheit. Er schien keine Schmerzen zu haben. Dieser Schatten blickte gesättigt und ruhig drein, als hätte er sich, für den Augenblick, an allen Gemütsbewegungen genuggetan.

Er raschelte mit einem der Briefe, sah mir gerade ins Gesicht und sagte: ›Sehr erfreut!‹ Irgend jemand hatte ihm meinetwegen geschrieben. So fing es also wieder mit den besonderen Empfehlungen an. Die Tonstärke, die er ohne Anstrengung, fast ohne die Lippen zu bewegen, hervorbrachte, verblüffte mich. Eine Stimme! Eine Stimme! Ernst, tief, bebend, während der Mann selbst kaum fähig schien, zu flüstern. Doch hatte er immer noch genügend Kraft (wenn auch nur noch künstlich erzwungene) in sich, um uns allen den Garaus zu machen, wie ihr sofort hören sollt.

Der Direktor tauchte schweigend in der Kabinentür auf. Ich ging sofort hinaus und zog hinter mir den Vorhang zu. Der Russe, von den Pilgern neugierig gemustert, starrte nach dem Ufer hinüber. Ich folgte der Richtung seines Blickes.

Dunkle menschliche Gestalten waren in der Ferne zu erkennen, die deutlich vor dem dunklen Hintergrund des Waldes hinflitzten; nahe am Ufer standen zwei bronzene Gestalten auf hohe Speere gelehnt, kriegerisch und still, in bildhafter Ruhe, im Sonnenschein, unter ihrem phantastischen Kopfschmuck aus gefleckten Fellen. Und von rechts nach links, dem erleuchteten Ufer entlang, bewegte sich die wilde, prunkvolle Erscheinung einer Frau.

Sie war in gestreifte, mit Fransen besetzte Stoffe gehüllt, ging mit gemessenen Schritten dahin und setzte die Füße stolz auf den Boden, von einem leichten Klirren und Aufblitzen barbarischer Schmuckstücke begleitet. Sie hielt den Kopf hoch; ihr Haar war helmartig aufgesteckt. Sie trug messingene Fußringe bis zum Knie, messingene Armspangen bis zum Ellbogen hinauf, einen brennroten Fleck auf jeder ihrer lohfarbenen Wangen, zahllose Glasperlenschnüre um den Hals; fremdartige Dinge, Amulette und Geschenke von Zauberern, die sie an sich hängen hatte, zitterten und glitzerten bei jedem Schritt. Sie schien den Wert mehrerer Elefantenzähne an sich zu tragen. Sie war wild und stolz, prunkvoll, mit lohenden Blicken; etwas Schicksalhaftes, Feierliches lag in ihren langsamen Schritten, und in dem Schweigen, das sich plötzlich über das ganze Land hingesenkt hatte, schien die ungeheure Wildnis, der Riesenleib des fruchtbaren, geheimnisvollen Lebens nachdenklich nach ihr zu schauen, wie nach dem Abbild der eigenen leidenschaftlichen und düsteren Seele.

Sie kam bis hart vor den Dampfer, stand still und sah uns an. Ihr langer Schatten fiel bis über das Wasser hinaus. Ihr Gesicht zeigte den tragischen, ungestümen Ausdruck wilden Kummers und dumpfen Schmerzes, sowie das Ringen mit einem noch unfertigen Entschluß. Sie stand und sah uns reglos an, wie die Wildnis selbst, als brütete sie über undurchdringlichen Plänen. Eine volle Minute verging, dann machte sie einen Schritt vorwärts. Es gab ein leises Klingeln, ein Aufglänzen gelben Metalls, ein Rauschen gefranster Stoffe, dann blieb sie kurz stehen, als hätte ihr Mut sie verlassen. Der junge Mensch an meiner Seite knurrte. Hinter mir murmelten die Pilger. Sie sah uns alle an, als hinge ihr Leben von der Unverrückbarkeit ihres Blickes ab. Plötzlich öffnete sie ihre nackten Arme und warf sie grade über ihrem Kopf hoch, wie in dem unsinnigen Verlangen, den Himmel greifen zu können, und zugleich schossen auch die schnellen Schatten über die Erde, hüllten ringsum den Strom ein und zogen den Dampfer in ihre Umarmung. Ein ungeheures Schweigen hing über dem Ganzen.

Sie wandte sich langsam ab, schritt weiter dem Ufer entlang und verlor sich in den Büschen zur Linken. Einmal nur glänzten aus dem Dickicht ihre Augen zu uns zurück, bevor sie endgültig verschwand. ›Hätte sie ernstlich Anstalten gemacht, an Bord zu kommen, so hätte ich wirklich versucht, sie zu erschießen‹, sagte der Flickenmann etwas aufgeregt. ›Ich mußte während der letzten zwei Wochen tagtäglich mein Leben wagen, um sie aus dem Haus heraus zu halten. Eines Tages kam sie doch hinein und schlug einen Riesenkrach, wegen der elenden Fetzen, die ich im Vorratsraum aufgeklaubt hatte, um meine Kleider damit auszubessern. Ich sah ja nicht mehr menschenmöglich aus. Es muß sich darum gedreht haben, denn sie redete eine Stunde lang wie eine Furie auf Kurtz ein und wies dann und wann auf mich. Ich verstehe den Dialekt dieses Stammes nicht. Zu meinem Glück war wohl Kurtz an diesem Tage zu krank, als daß er sich darüber aufgeregt hätte, sonst hätte es sicher Unannehmlichkeiten gegeben. Ich verstehe nicht . . . Nein, es ist zu viel für mich. Aber, nun – jetzt ist ja alles vorbei!‹

In diesem Augenblick hörte ich Kurtz' Stimme hinter dem Vorhang: ›Mich retten! – Das Elfenbein retten, meinen Sie. Erzählen Sie mir nichts. Mich retten! Was denn – ich habe Sie gerettet! Sie stören jetzt meine Pläne. Krank! Krank! Nicht so krank, wie Sie wohl gern glauben möchten. Sorgen Sie sich nicht. Ich werde meine Pläne schon noch ausführen – ich komme zurück. Ich will Ihnen zeigen, was getan werden kann. Sie, mit Ihrem kümmerlichen bißchen Wissen – Sie wollen mir in den Arm fallen; Ich komme zurück, ich . . .

Der Direktor kam heraus. Er erwies mir die Ehre, mich unter den Arm zu fassen und beiseite zu führen. ›Er ist ganz herunter, ganz herunter‹, sagte er. Er hielt es für angebracht zu seufzen, unterließ es aber, auch im Gesicht den entsprechenden Schmerz zu zeigen. ›Wir haben alles, was wir konnten, für ihn getan – oder nicht? Aber die Tatsache ist nicht aus der Welt zu schaffen, daß Herr Kurtz der Gesellschaft mehr geschadet als genützt hat. Er hat nicht eingesehen, daß die Zeit für scharfes Vorgehen noch nicht gekommen war. Wir müssen noch vorsichtig sein. Der Distrikt ist uns nun für einige Zeit verschlossen. Bedauerlich! Alles in allem genommen wird der Handel leiden. Ich bestreite nicht, daß eine bedeutende Menge Elfenbein da ist – meistens fossil. Wir müssen es unter allen Umständen retten –, aber sehen Sie selbst, wie peinlich die Lage ist – und warum? Weil die Methode ungesund ist.‹ – ›Nennen Sie das‹, sagte ich mit einem Blick nach dem Ufer, ›ungesunde Methode?‹ – ›Ohne Zweifel‹, rief er hitzig aus. ›Sie etwa nicht?‹ – ›Mir scheint es überhaupt keine Methode‹, murmelte ich nach einer Weile. ›Sehr richtig‹, jubelte er. ›Das habe ich vorausgesehen. Zeugt von völligem Mangel an Urteilsgabe. Es ist meine Pflicht, es höheren Orts zur Kenntnis zu bringen.‹ – ›Oh‹, sagte ich, ›der Bursche – wie heißt er noch? – der Ziegelmacher, wird Ihnen schon einen lesbaren Bericht verfassen.‹ Er schien einen Augenblick lang verblüfft. Mir war es, als hätte ich nie zuvor eine so verpestete Luft geatmet, und ich wandte mich im Geiste an Kurtz um Hilfe – tatsächlich um Hilfe. ›Trotz allem bin ich der Meinung, daß Herr Kurtz ein hervorragender Mensch ist‹, sagte ich mit Nachdruck. Der Direktor fuhr auf, ließ einen kalten und schweren Blick auf mich fallen, sagte sehr ruhig: ›Das war er‹, und wandte mir den Rücken. Die Stunde meiner Bevorzugung war vorüber; ich fand mich, zusammen mit Kurtz, beiseite geworfen, als einen Anhänger von Methoden, für die die Zeit nicht reif war; ich war ungesund! Ah! Aber es war doch schon etwas, die Wahl zwischen zwei unangenehmen Zeitgenossen zu haben.

Tatsächlich hatte ich mich an die Wildnis gehalten, nicht an Herrn Kurtz, der, wie ich bereit war zuzugeben, schon so gut wie begraben war. Und einen Augenblick schien es mir, als wäre auch ich schon in einem Massengrab voll unaussprechlicher Geheimnisse eingeschlossen. Ich fühlte ein ungeheures Gewicht mir die Brust bedrücken, witterte den Geruch der feuchten Erde, die unsichtbare Gegenwart siegreicher Verderbnis, die Dunkelheit undurchdringlicher Nacht . . . Der Russe klopfte mir auf die Schulter. Ich hörte ihn etwas murmeln und stammeln von ›Bruder Seemann – konnte nicht verschweigen – mein Wissen um Dinge, die Herrn Kurtz' gutem Ruf schaden konnten.‹ Ich wartete. Für ihn war Herr Kurtz augenscheinlich noch nicht begraben; ich habe ihn sogar im Verdacht, daß für ihn Herr Kurtz zu den Unsterblichen gehörte. ›Nun‹, sagte ich schließlich, ›sprechen Sie sich aus. Zufällig bin ich Herrn Kurtz' Freund – sozusagen!‹

Er stellte mit ziemlicher Förmlichkeit fest, daß er, wären wir nicht ›Berufsgenossen‹ gewesen, die Sache ohne Rücksicht auf die Folgen für sich behalten hätte. Er hatte den Verdacht, daß die Weißen da ausgesprochen böse Absichten gegen ihn hegten, die . . . – ›Sie haben recht‹, sagte ich, in der Erinnerung an ein gewisses Gespräch, das ich belauscht hatte. ›Der Direktor meinte, sie müßten gehängt werden.‹ Diese Mitteilung ging ihm in einer Weise nahe, die mich zunächst belustigte. ›Ich sollte lieber still aus dem Wege gehen‹, sagte er sehr ernst. ›Für Kurtz kann ich nun nichts mehr tun, und sie würden rasch einen Vorwand finden. Was sollte sie abhalten? Dreihundert Meilen von hier ist ein Militärposten.‹ – ›Nun, auf mein Wort‹, sagte ich, ›vielleicht sollten Sie wirklich lieber gehen, wenn Sie unter den Wilden hier in der Nähe auch nur einen Freund haben.‹ – ›Eine Menge‹, sagte er. ›Sie sind einfältige Leute – und ich brauche ja nichts, wissen Sie.‹ Er stand und biß sich auf die Lippen, dann meinte er: ›Ich möchte nicht, daß den Weißen hier irgend etwas zustößt – doch Sie sind ja ein Bruder, ein Seemann, und ich dachte natürlich an Herrn Kurtz' guten Ruf . . .‹ – ›Schon recht‹, sagte ich nach einer Pause. ›Herrn Kurtz' Ruf ist bei mir gut aufgehoben.‹ Ich wußte nicht, wie wahr ich sprach.

Er dämpfte die Stimme und teilte mir mit, daß es Herr Kurtz gewesen sei, der den Angriff auf den Dampfer befohlen hatte. ›Er haßte mitunter den Gedanken, weggeholt zu werden, und dann wieder . . . aber ich verstehe diese Dinge nicht. Ich bin ein einfacher Mensch. Er glaubte, es würde Sie abschrecken – daß Sie es aufgeben würden, weil Sie ihn für tot hielten. Ich konnte ihn nicht hindern. Oh, ich habe den letzten Monat Furchtbares durchgemacht.‹ – ›Schon recht‹, sagte ich. ›Er ist ja nun gut aufgehoben.‹ – ›Ja‑a‑a‑‹, murmelte er, augenscheinlich nicht so sehr überzeugt. ›Danke‹, sagte ich, ›ich will die Augen offen halten!‹ – ›Aber unauffällig, ja‹, drang er ängstlich in mich. ›Es wäre schrecklich für seinen Ruf, wenn irgend jemand hier . . .‹ Ich versprach mit größtem Ernst unbedingte Verschwiegenheit. ›Ich habe ein Kanu und drei Schwarze, die nicht allzu weit weg auf mich warten. Ich gehe. Könnten Sie mir ein paar Martini-Henry-Patronen geben?‹ Ich konnte es und tat es mit der nötigen Heimlichkeit. Er bediente sich noch, mit einem Blinzeln zu mir, aus meiner Tabakdose. ›Unter Seeleuten – Sie wissen ja – guter englischer Tabak.‹ An der Tür des Ruderhauses wandte er sich um: ›Sagen Sie, hätten Sie nicht ein Paar Schuhe, das Sie entbehren könnten?‹ Er hob ein Bein. ›Sehen Sie doch selbst.‹ Die Sohlen waren mit oft geflickten Schnüren sandalenartig unter seine nackten Füße gebunden. Ich suchte ein altes Paar heraus, das er mit Bewunderung betrachtete, bevor er es sich unter den linken Arm klemmte. Eine seiner Taschen (knallrot) war krachvoll mit Patronen, aus der anderen (dunkelblau) sah ›Towsons Untersuchung und so weiter‹ heraus. Er schien sich für einen erneuten Kampf mit der Wildnis fabelhaft ausgestattet zu haben. ›Oh, nie, nie wieder werde ich einem solchen Mann begegnen. Sie hätten ihn Gedichte sprechen hören sollen – es waren sogar seine eigenen, wie er mir sagte. Gedichte! ‹ Er rollte die Augen bei der Erinnerung an diese Genüsse. ›Oh, er hat mir viel beigebracht.‹ – ›Leben Sie wohl‹, sagte ich. Er schüttelte mir die Hand und verschwand in die Nacht. Manchmal frage ich mich, ob ich ihn wohl wirklich gesehen habe – ob es möglich war, einem solchen Rätselwesen zu begegnen . . .

Als ich kurz nach Mitternacht erwachte, kam mir seine Warnung und die Andeutung von Gefahren in den Sinn, die tief in der bestirnten Dunkelheit berechtigt genug schienen, um mich zum Aufstehen und zu einem kleinen Rundgang zu bestimmen. Auf dem Hügel brannte ein großes Feuer und beleuchtete in Abständen eine der schiefen Ecken des Stationsgebäudes. Einer der Agenten bewachte mit einer kleinen Abteilung unserer Schwarzen, die zu dem Zweck bewaffnet worden waren, den Elfenbeinvorrat. Tief drinnen aber, im Urwald, zeigten rote Feuerkreise, die flackerten und zwischen verschwommenen, tiefschwarzen Säulen aus dem Boden aufzutauchen und wieder zu versinken schienen, die Stelle des Lagers an, wo Herrn Kurtz' Anbeter ihre Trauerwache hielten. Das eintönige Dröhnen einer großen Trommel erfüllte die Luft mit dumpfen Erschütterungen und nachhaltigen Schwingungen. Hinter der schwarzen Mauer des Waldes hervor kam, wie das Summen von Bienen aus dem Stocke klingt, der träge Klang vieler Männerstimmen, die, jede für sich, irgendeine Beschwörung sangen. Es wirkte merkwürdig einschläfernd auf meinen halbwachen Sinn. Ich glaube, ich schlief ein, während ich an der Reling lehnte, bis ein plötzlicher Aufschrei, ein überwältigender Ausbruch hochgepeitschter, geheimnisvoller Raserei, mich bestürzt auffahren ließ. Der Aufschrei brach sofort ab, und die leise, träge Beschwörung mit ihrer besänftigenden und einschläfernden Wirkung ging wieder weiter. Ich sah von ungefähr in die kleine Kabine. Ein Licht brannte darin, doch Herr Kurtz war nicht da.

Ich glaube, ich hätte aufgeschrien, wenn ich meinen Augen geglaubt hätte. Doch ich glaubte ihnen zunächst nicht, so unmöglich schien die Tatsache. In Wahrheit war es wohl so, daß ich aus bloßer Angst, aus nacktem Schrecken, die mit der Gewißheit persönlicher Gefährdung nichts zu tun hatten, völlig von Sinnen war. Was das Gefühl so überwältigend machte, war – wie soll ich es erklären – der innerliche Stoß, den ich bekam, als wäre etwas Ungeheuerliches, dem Verstande wie der Seele gleich Unerträgliches, plötzlich über mich hereingebrochen. Das hielt natürlich nur den Bruchteil einer Sekunde an, und gleich darauf hatte der gesunde Menschenverstand wieder die Oberhand, dem die Lebensgefahr, die Möglichkeit eines plötzlichen Überfalls, eines Gemetzels oder etwas dieser Art, das ich voraussah, geradezu willkommen und tröstlich erschien. Er beruhigte mich tatsächlich so sehr, daß ich nicht einmal Lärm schlug.

Zwei Schritte vor mir schlief ein Agent, in einen Mantel geknöpft, in einem Deckstuhl. Das Geschrei hatte ihn nicht aufgeweckt; er schnarchte leise; ich überließ ihn seinem Schlummer und sprang an Land. Ich verriet Herrn Kurtz nicht – es war vorherbestimmt, daß ich ihn nie verraten – es stand geschrieben, daß ich dem Ungeheuer meiner Wahl treu bleiben sollte. Ich brannte darauf, mich, ganz für mich allein, mit diesem Schatten auseinanderzusetzen – und bis auf den heutigen Tag weiß ich nicht, warum ich es so eifersüchtig ablehnte, mit irgend jemand das eigenartig dunkle Erlebnis jener Stunde zu teilen.

Sobald ich auf dem Ufer stand, sah ich eine Fährte – eine breite Fährte durch das Gras. Ich erinnere mich noch, mit welchem Jubel ich mir sagte, ›er kann nicht gehen, er kriecht auf allen vieren, er gehört schon mir!‹ Das Gras triefte von Tau. Ich ging schnell mit geballten Fäusten dahin. Ich glaube, ich hatte die dunkle Absicht, über ihn herzufallen und ihn durchzuprügeln. Ich weiß es nicht. Ich hatte einige blödsinnige Vorstellungen. Das strickende alte Weib mit der Katze fiel mir ein, und ich empfand plötzlich, wie ungehörig es war, daß sie am anderen Ende einer solchen Geschichte sitzen sollte. Ich sah eine Horde von Pilgern aus Winchester-Karabinern, die sie an der Hüfte angeschlagen hielten, Blei in die Luft spritzen. Ich stellte mir vor, daß ich nie wieder zum Dampfer zurückkommen und allein und unbewaffnet in den Wäldern bis zum hohen Alter leben würde. Lauter solche Dummheiten, wißt ihr. Ich erinnere mich auch, daß ich die Trommelwirbel mit meinem Herzschlag verwechselte und über sein ruhiges Gleichmaß erfreut war.

Ich hielt die Fährte eine Weile und blieb dann stehen, um zu lauschen. Die Nacht war sehr klar: ein dunkelblauer Raum, glitzernd von Tau und Sternenlicht, in dem schwarze Dinge ganz ruhig standen. Ich glaubte, gerade vor mir eine kleine Bewegung wahrnehmen zu können. Ich war in jener Nacht aller Dinge merkwürdig sicher. Nun verließ ich die Fährte und rannte in einem weiten Halbkreis (vor mich hin kichernd, glaube ich sogar) voran, um der Bewegung, die ich wahrgenommen hatte, wenn ich wirklich irgend etwas gesehen hatte, den Weg abzuschneiden. Ich schlug einen Kreis um Kurtz, als spielten wir ein Knabenspiel.

Ich kam an ihn, und wenn er mich nicht kommen gehört hätte, so wäre ich wohl auch über ihn gestürzt; aber er stand noch zur rechten Zeit auf. Er erhob sich, unsicher, lang, blaß, undeutlich, wie ein von der Erde ausgeatmeter Dunst, und schwankte leicht nebelig, stumm, vor meinen Augen; unterdessen glühten in meinem Rücken die Feuer zwischen den Bäumen, und das Murmeln vieler Stimmen drang aus dem Wald. Ich hatte ihm richtig den Weg verlegt; als ich ihm aber nun so gegenüberstand, schien ich wieder zur Besinnung zu kommen und übersah die Gefahr in ihrer ganzen Tragweite. Sie war durchaus noch nicht beseitigt. Angenommen, er begann zu brüllen? Wenn er auch kaum stehen konnte, so war doch noch Kraft genug in seiner Stimme. ›Gehen Sie weg – verstecken Sie sich‹, sagte er in seinem tiefen Ton. Es war ganz schrecklich. Ich sah zurück. Wir waren ungefähr dreißig Meter vom nächsten Feuer weg. Eine schwarze Gestalt erhob sich, schritt auf langen, schwarzen Beinen dahin durch den Feuerschein und schwenkte lange, schwarze Arme. Sie hatte Hörner – Antilopenhörner, glaube ich – auf dem Kopf. Irgendein Zauberer, ein Medizinmann, ohne Frage; er sah teuflisch genug aus. ›Wissen Sie auch, was Sie tun?‹ flüsterte ich. – ›Vollkommen‹, gab er zurück und hob die Stimme für dieses einzelne Wort. Sie klang mir wie von fern her, doch laut, wie ein Anruf durch ein Sprachrohr. Wenn er Lärm schlägt, sind wir verloren, dachte ich. Dies war augenscheinlich kein Fall, der durch einen Faustschlag zu erledigen war, ganz abgesehen von der sehr natürlichen Abneigung, die ich dagegen hatte, diesen Schatten, dieses irrende, gequälte Ding zu schlagen. ›Sie werden verloren sein‹, sagte ich. ›Ganz und gar verloren.‹ Man hat manchmal so blitzartige Eingebungen. Ich sagte gerade das rechte Wort, obwohl er ja tatsächlich nicht schlimmer verloren sein konnte, als er es gerade in jenem Augenblick war; damals, als der Grundstein für unsere Vertrautheit gelegt wurde, die dann lange – lange – bis zum Ende – und noch darüber hinaus anhalten sollte.

›Ich hatte ungeheure Pläne‹, murmelte er unentschlossen. ›Ja‹, sagte ich, ›aber wenn Sie versuchen, zu schreien, dann schlage ich Ihnen den Schädel ein mit . . .‹ Weder ein Stein noch ein Stock war in Reichweite. ›Ich werde Sie erwürgen‹, verbesserte ich mich. – ›Ich stand an der Schwelle großer Dinge‹, redete er weiter, mit einer Sehnsucht in der Stimme, mit einem Verlangen, das mein Blut kälter strömen ließ. ›Nun kommt dieser dumme Schuft . . .‹ – ›Ihr Erfolg in Europa ist für alle Fälle gesichert‹, tröstete ich ihn mit Nachdruck. Ich wollte es vermeiden, ihn zu erwürgen, versteht ihr – und tatsächlich hätte es ja wenig praktischen Zweck gehabt. Ich versuchte, den Zauber zu brechen, den schweren, stummen Zauber der Wildnis, die ihn an ihre erbarmungslose Brust ziehen zu wollen schien, indem sie vergessene, rohe Triebe und die Erinnerung an die Befriedigung ungeheuerlicher Lüste in ihm erweckte. Das allein, davon war ich überzeugt, hatte ihn an den Waldsaum hinausgetrieben, in den Busch, dem Feuerschein zu, dem Dröhnen der Trommeln und der langgezogenen Beschwörung; dies allein hatte seine gesetzlose Seele über die Grenzen erlaubter Wünsche hinausgelockt. Und seht ihr, das Grauen des Augenblicks lag nicht in der Aussicht, eins über den Kopf zu bekommen – obwohl ich mir auch dieser Gefahr genau bewußt war –, sondern darin, daß ich es mit einem Wesen zu tun hatte, dem im Namen von nichts Hohem oder Niedrigem beizukommen war. Ich mußte, gerade wie die Neger, ihn selbst anrufen, seine eigene unglaubliche und überspannte Verkommenheit. Über ihm war so wenig wie unter ihm, und ich wußte es. Er hatte sich von der Erde abgestoßen. Zum Teufel mit ihm! Er hatte die Erde selbst in Stücke geschlagen. Er war allein, und ich vor ihm wußte nicht, ob ich auf dem Boden stand oder in der Luft schwebte. Ich habe euch erzählt, was wir sagten, habe euch die Sätze wiederholt, die wir aussprachen – und doch – wozu das alles? Es waren gewöhnliche, alltägliche Worte – die vertrauten Worte, die man Tag für Tag wechselt. Doch was weiter? Hinter ihnen stand, meinem Empfinden nach wenigstens, die furchtbare Bedeutung von Worten, wie man sie in Träumen hört, von Sätzen, die man unter einem Alpdruck hinausschreit. Seele! Wenn je ein Mensch mit einer Seele gekämpft hat, dann bin ich es. Ich stritt auch nicht mit einem Irren. Ob ihr mir glaubt oder nicht – sein Verstand war völlig ungetrübt, allerdings mit furchtbarer Gewalt auf sich selbst eingestellt, aber ungetrübt; und hierin lag meine einzige Möglichkeit – außer der anderen natürlich, ihn auf dem Fleck totzuschlagen, die aber schon wegen des unvermeidlichen Lärms weniger vorteilhaft schien. Aber seine Seele war irr. Allein in der Wildnis, war sie in sich gegangen und – bei Gott, ich sage es euch – darüber verrückt geworden. Ich hatte – als Strafe für meine Sünden, nehme ich an – einen Blick hineinzutun. Keine Beredsamkeit hätte jeden Glauben an die Menschheit so gründlich erschüttern können, wie der schließliche Ausbruch seiner Offenherzigkeit. Er kämpfte auch mit sich selbst. Ich sah es, hörte es. Ich sah das Unbegreifliche einer Seele, die keine Hemmungen kannte, keinen Glauben und keine Furcht, und doch blindlings mit sich kämpfte. Ich bewahrte ziemliche Fassung; als ich ihn schließlich aber auf sein Lager gebettet hatte, trocknete ich mir die Stirn, und die Beine zitterten unter mir, als hätte ich viele Zentner auf meinem Rücken den Hügel hinaufgetragen. Und doch hatte ich ihn nur gestützt, sein knochiger Arm hatte um meinen Hals gelegen – und der ganze Mann wog nicht viel mehr als ein Kind.

Als wir am nächsten Tag gegen Mittag abfuhren, strömte die Menge, deren Anwesenheit hinter dem Vorhang der Bäume ich die ganze Zeit über genau gefühlt hatte, wieder aus den Wäldern heraus, erfüllte die Lichtung, bedeckte den Hügel mit einer Menge nackter, atmender, bebender Bronzeleiber. Ich dampfte ein kleines Stück stromauf, schwenkte dann stromabwärts, und zweitausend Augen verfolgten das Gebaren des plätschernden, stampfenden, bösen Flußteufels, der mit seinem furchtbaren Schweif das Wasser schlug und schwarzen Rauch in die Luft blies. Vor der ersten Reihe, hart am Ufer, tanzten drei Männer, von Kopf bis Fuß mit hellroter Erde bestrichen, ruhelos auf und ab. Als wir wieder an ihnen vorbeikamen, sahen sie nach uns her, stampften mit den Füßen, nickten mit den gehörnten Köpfen, schwenkten ihre scharlachenen Leiber; sie schüttelten dem Flußteufel ein Bündel schwarzer Federn entgegen, ein räudiges Fell mit hängendem Schwanz, irgend etwas, das wie ein gedörrter Kürbis aussah; von Zeit zu Zeit brüllten sie alle zusammen unverständliche Worte, die nicht mehr menschlich klangen; und das tiefe Murmeln der Menge, das dann und wann abbrach, klang wie die Responsorien einer satanischen Litanei. Wir hatten Kurtz in das Ruderhaus getragen, weil es dort etwas luftiger war. Von dem Ruhelager aus starrte er durch den offenen Fensterladen hinaus. Es gab eine Wallung in der Masse menschlicher Leiber, und das Weib mit dem helmartigen Kopfputz und den lohfarbenen Wangen stürzte bis an die Uferkante vor. Sie streckte ihre Hände aus, schrie etwas, und die ganze wilde Menge nahm den Schrei brüllend auf, in einem knappen, schnellen, atemlosen Chor.

›Verstehen Sie das?‹ fragte ich.

Er fuhr fort, mit fahrigen, verlangenden Blicken an mir vorbeizusehen, mit einem Ausdruck, aus Sehnsucht und Haß gemischt. Er antwortete nicht, aber ich sah ein Lächeln, ein unerklärliches Lächeln auf seinen farblosen Lippen erscheinen, die im Augenblick darauf krampfhaft zuckten. ›Etwa nicht?‹ sagte er langsam und keuchte, als wären ihm die Worte durch eine übernatürliche Macht genommen worden.

Ich zog die Dampfpfeife, und zwar deswegen, weil ich sah, wie die Pilger an Deck, wie in Erwartung eines lustigen Streiches, ihre Gewehre fertigmachten. Bei dem plötzlichen Aufheulen der Dampfpfeife rann eine Bewegung furchtbaren Entsetzens durch das gedrängte Meer von Körpern. ›Nicht! nicht! Sie verjagen sie‹, rief jemand vom Deck enttäuscht herauf. Ich zog ein ums andere Mal die Leine. Sie wandten sich und rannten, sprangen, krochen, verbargen sich zitternd vor dem fliegenden Schrecken des Tons. Die drei roten Kerle hatten sich, das Gesicht gegen den Boden, am Ufer flach hingeworfen, als hätte man sie totgeschossen. Nur das barbarisch prunkvolle Weib zuckte nicht und streckte mit tragischer Gebärde die nackten Arme über den düster glitzernden Strom nach uns aus.

Und dann begannen die Dummköpfe unten auf Deck mit ihrem kleinen Spaß, und ich konnte vor Rauch nichts mehr sehen.

Der dunkle Strom rann schnell aus dem Herzen der Finsternis hinaus und trug uns doppelt so schnell, wie wir heraufgefahren waren, der Küste zu; und auch Kurtz' Leben rann schnell dahin, verebbte aus seinem Herzen in das unerbittliche Meer der Zeit. Der Direktor war sehr sanftmütig, ihm blieben keine besonderen Ängste mehr, er umfaßte uns beide mit einem verständnisvollen und befriedigten Blick: die ›Geschichte‹ war so gut ausgegangen, wie er es sich nur hatte wünschen können.

Ich sah den Zeitpunkt nahe, da ich allein von den Anhängern der ›ungesunden Methode‹ übrig sein würde. Die Pilger folgten mir mit mißgünstigen Blicken. Ich wurde sozusagen schon zu den Toten gerechnet. Es ist merkwürdig, daß ich mir diese Einreihung gefallen ließ. Diese Wahl unter Ungeheuern, die mir in dem finstern Land von elenden, gierigen Gespenstern aufgezwungen worden war.

Kurtz sprach. Eine Stimme! Eine Stimme! Sie dröhnte tief, bis zuletzt. Sie überlebte seine Kraft, damit er unter dem Prunkgewand der Beredsamkeit die öde Nacht seines Herzens verbergen könnte. Oh, er kämpfte! Er kämpfte! Durch die Wüsten seines müden Hirnes zuckten nun schattenhafte Bilder, Bilder von Wohlstand und Ruhm, die seine unbesiegbare Gabe gehobener, edler Sprechweise immer neu erstehen ließ. ›Meine Braut, meine Stationen, meine Laufbahn, meine Ideen‹ – das waren die Ausgangspunkte für die gelegentliche Darlegung schöner Gefühle. Der Schatten des ursprünglichen Kurtz stand neben dem Krankenlager des hohläugigen Trugbildes, dem es in Kürze bevorstand, in jungfräulicher Erde bestattet zu werden. Sowohl der teuflische Hang zu den Mysterien wie auch der unirdische Haß dagegen, durch die diese Seele, von urweltlichen Erlebnissen gesättigt, gegangen war, machten einander nun ihren Platz streitig und äußerten sich in der Gier nach falschem Ruhm, erschlichener Auszeichnung, nach all den äußeren Merkmalen von Erfolg und Macht.

Mitunter war er unangenehm kindisch. Er wollte von Königen am Bahnhof empfangen werden bei seiner Rückkehr von einem gespenstigen Nirgendwo, wo er seine großen Pläne verwirklicht haben würde. ›Wenn man ihnen zeigt, daß man wirklich brauchbar ist, dann nehmen die Loblieder kein Ende‹, pflegte er zu sagen. ›Natürlich muß man auf die Beweggründe achten und sie immer sorgfältig wählen.‹ – Lange, gerade Strecken, die einander aufs Haar glichen, ebenso wie die eintönigen Ufer, glitten am Dampfer vorbei; zahllose hundertjährige Bäume sahen gleichgültig hinter diesem kümmerlichen Bruchstück einer anderen Welt drein, dem Vorboten des Wechsels, der Eroberung, des Handels, des Gemetzels und der Segnungen. Ich sah geradeaus und steuerte. ›Schließen Sie den Laden‹, sagte Kurtz eines Tages unvermittelt. ›Ich kann es nicht ertragen, das noch zu sehen.‹ Ich tat es. Es gab ein Schweigen. ›Oh, ich will dir schon noch das Herz aus dem Leibe reißen‹, schrie er der unsichtbaren Wildnis zu.

Unsere Maschine versagte – wie ich es erwartet hatte –, und wir mußten, um den Schaden auszubessern, an der Spitze einer Insel anlegen. Diese Verzögerung war es, die zuerst Kurtz' Vertrauen erschütterte. Eines Morgens gab er mir ein Paket Papiere, das Ganze mit einem Schuhband zusammengeschnürt. ›Bewahren Sie das für mich auf‹, sagte er. ›Dieser kümmerliche Narr‹, damit meinte er den Direktor, ›ist imstande, meine Koffer zu durchwühlen, wenn ich gerade nicht dabei bin.‹ Nachmittags sah ich ihn wieder. Er lag auf dem Rücken, mit geschlossenen Augen, und ich zog mich ruhig zurück, hörte ihn aber murmeln: ›Recht leben, sterben, sterben . . .‹ Ich horchte. Es kam nichts weiter. Wiederholte er im Schlaf irgendeine Rede oder war es ein Bruchstück aus einem Leitartikel? Er hatte für die Zeitungen geschrieben und gedachte es wieder zu tun, ›für die Verbreitung meiner Ideen. Es ist eine Pflicht.‹

Die Dunkelheit, in der er lebte, war undurchdringlich. Ich beobachtete ihn, wie man zu einem Mann hinunterspäht, der auf dem Boden eines Abgrundes liegt, wohin die Sonne nie scheint. Doch hatte ich nicht viel Zeit für ihn übrig, denn ich half dem Maschinisten beim Auseinandernehmen der lecken Zylinder, dem Strecken einer verbogenen Verbindungsstange und bei ähnlichen solchen Verrichtungen. Ich lebte inmitten eines höllischen Wirrwarrs von Rost, Feilspänen, Schraubenmuttern, Bolzen, Schraubenschlüsseln, Hämmern und Drillbohrern – lauter Dingen, die ich verabscheue, weil ich damit nicht zurechtkomme. Ich richtete die kleine Feldschmiede her, die wir glücklicherweise an Bord hatten, und arbeitete unaufhörlich unter dem Gerümpel herum – außer wenn ich zu starken Schüttelfrost hatte, um auf den Beinen stehen zu können.

Als ich eines Abends mit einer Kerze zu ihm hineinkam, war ich überrascht, ihn etwas zitterig sagen zu hören: ›Da liege ich im Dunkel und erwarte den Tod!‹ Das Licht war kaum mehr als eine Spanne von seinen Augen entfernt. Ich zwang mich zu einem gemurmelten: ›Ach, Unsinn!‹ und blieb wie angenagelt über ihn gebeugt.

Etwas, das auch nur im entferntesten an den Wechsel hingereicht hätte, der sich in seinen Zügen vollzog, habe ich noch nie zuvor gesehen und hoffe es auch nie wieder zu sehen. Oh, ich war nicht gerührt. Ich war wie gebannt. Es schien, als wäre ein Schleier gerissen. Ich sah auf dem Elfenbeingesicht den Ausdruck düsteren Stolzes, unbarmherziger Herrschsucht, feiger Angst – und tiefer, hoffnungsloser Verzweiflung. Durchlebte er, in jenem äußersten Augenblick völligen Wissens, sein Leben nochmals, mit jeder einzelnen Begierde, Versuchung und Schwäche? Er schrie in einem Flüstern einem Bild, einem Gesicht zu – schrie es zweimal, wenn es auch kaum lauter klang als ein Hauch:

›Das Grauen! Das Grauen!‹

Ich blies die Kerze aus und verließ die Kabine. Die Pilger aßen im Meßraum zu Nacht, und ich nahm meinen Platz gegenüber dem Direktor ein; er hob die Augen, um mir einen fragenden Blick zuzuwerfen, den ich aber mit Erfolg übersah. Er lehnte sich zurück, heiter und mit dem gewissen Lächeln, das die unausgesprochenen Tiefen seiner Gemeinheit versiegelte. Ein unaufhörlicher Schauer kleiner Fliegen umsurrte die Lampe, das Tischtuch, unsere Hände und Gesichter. Plötzlich steckte der Boy des Direktors seinen unverschämten, schwarzen Kopf durch die Türe und sagte im Ton äußerster Verachtung:

›Mistah Kurtz – er tot.‹

Alle die Pilger stürzten hinaus, um nachzusehen. Ich blieb zurück und beendete mein Abendessen. Ich glaube, sie hielten mich für unerhört hartherzig. Essen konnte ich aber doch nicht viel. Nur – dort drinnen brannte eine Lampe – es war hell, versteht ihr – und draußen war es so schrecklich, schrecklich dunkel. Ich ging nicht mehr in die Nähe des bemerkenswerten Mannes, der über das Erdenwallen seiner Seele ein solches Urteil gefällt hatte. Die Stimme war dahin. Was sonst war da gewesen? Aber ich weiß natürlich, daß die Pilger am nächsten Tage irgend etwas in einem Schlammloch vergruben.

Und dann begruben sie um ein Haar auch mich.

Aber wie ihr seht, verschwand ich damals noch nicht, um Kurtz zu folgen. Das tat ich nicht. Ich blieb zurück, um den bösen Traum zu Ende zu träumen und um noch ein letztes Mal Kurtz meine Treue zu beweisen. Schicksal! Mein Schicksal! Ein komisches Ding, das Leben – der geheimnisvolle Aufwand so unerbittlicher Logik für das so unwichtige Ende. Das meiste, was man davon erwarten kann, ist ein wenig Wissen über einen selbst – das zu spät kommt – ein Übermaß unauslöschlicher Reue. Ich habe mit dem Tode gerungen. Es ist der langweiligste Kampf, den man sich vorstellen kann. Er findet in einem grauen Dämmern statt, man hat keinen Boden unter den Füßen, nichts um sich, keine Zuschauer; es gibt keinen Lärm, keinen Ruhm, der heiße Wille zum Sieg fehlt genauso, wie die große Angst vor der Niederlage; eine peinlich laue Zweifelsucht ist da, nicht aber der Glaube an das eigene Recht und noch weniger der an das Recht des Gegners. Wenn das die letzte Weisheit ist, dann ist das Leben ein größeres Rätsel, als einige von uns glauben. Ich stand haarscharf vor der allerletzten Möglichkeit für eine Erklärung und fand zu meiner Demütigung, daß ich wahrscheinlich nichts zu sagen haben würde. Das ist der Grund, weshalb ich behaupte, daß Kurtz ein hervorragender Mann war. Er hatte etwas zu sagen. Er sagte es. Seitdem ich selbst um die Ecke gelugt habe, verstehe ich auch den Sinn dieses Blickes besser, der zwar nicht die Kerzenflamme sehen konnte, aber doch weit genug war, um die ganze Welt zu umfassen, scharf genug, um alle Herzen, die in der Finsternis schlagen, zu durchdringen. Er hatte eine Summe gezogen – er hatte geurteilt. ›Das Grauen!‹ Er war ein hervorragender Mann. Schließlich war auch das der Ausdruck einer Art von Glaube. Er war offen, von Überzeugung getragen; in seinem Flüstern zitterte Aufruhr mit, ein Funke Wahrheit – und es zeigte die eigene Mischung von Begierde und Haß. Und nicht meine eigene Krise ist es, an die ich mich am besten erinnere – sie scheint mir ganz grau in grau, formlos, von körperlichen Schmerzen erfüllt und von einer nachlässigen Verachtung für die Vergänglichkeit aller Dinge – und gar noch dieser Schmerzen selbst. Nein! Seine letzten Augenblicke sind es, die ich durchlebt zu haben schien. Gewiß, er hat diesen letzten Schritt getan, war um die Ecke herum gegangen, während es mir erlaubt worden war, den zögernden Fuß zurückzuziehen. Und vielleicht liegt darin der ganze Unterschied; vielleicht ist alle Weisheit, alle Wahrheit, alle Aufrichtigkeit in den einen unschätzbaren Augenblick zusammengedrängt, in dem wir die Schwelle zum Unsichtbaren überschreiten. Vielleicht! Ich hoffe, daß mein Schlußwort nicht etwa auch nachlässige Verachtung bekundet hätte. Weit besser sein Aufschrei – weit besser. Er war eine Bekräftigung, ein moralischer Sieg, für den er mit zahllosen Niederlagen gezahlt hatte, mit unendlichen Greueln und furchtbaren Ausschweifungen. Aber es war ein Sieg! Das ist der Grund, warum ich Kurtz bis zuletzt die Treue bewahrt habe und sogar noch darüber hinaus, als ich, lange Zeit nachher, noch einmal, nicht seine eigene Stimme hörte, sondern das Echo seiner wunderbaren Beredsamkeit, das mir aus einer Seele, durchsichtig klar wie ein kristallener Fels, zugeworfen wurde.

Nein, sie begruben mich nicht, obwohl es eine Zeitspanne gibt, an die ich mich nur nebelhaft erinnere, mit einer fröstelnden Verwunderung, wie an die Durchquerung einer unbegreiflichen Welt, in der es keine Hoffnung und keine Sehnsucht gab. Ich fand mich in der Grabesstadt wieder und litt unter dem Anblick der Leute, die durch die Straßen eilten, um einander ein wenig Geld abzuknöpfen, ihre unwürdige Kost zu verschlingen, ihr unmögliches Bier hinunterzuschütten, ihre unbedeutenden, dummen Träume zu träumen. Sie verwirrten meine Gedankengänge. Sie waren Eindringlinge, deren Wissen vom Leben mir eine aufreizende Anmaßung schien, denn ich war sicher, daß sie die Dinge nicht wissen konnten, die ich wußte. Ihr Gebaren, das ganz einfach das von Durchschnittsmenschen war, die im Bewußtsein völliger Sicherheit an ihre Geschäfte gehen, machte mich rasend, als hätten sie sich angesichts einer Gefahr, die sie nicht verstanden, in närrischem Getue gefallen. Ich fühlte keine besondere Sehnsucht, sie aufzuklären, mußte mich aber zurückhalten, um ihnen nicht gerade in die Gesichter zu lachen, die so voll dummer Wichtigkeit waren. Ich kann wohl sagen, daß mir die ganze Zeit über nicht recht wohl war. Ich schlenderte durch die Straßen – es gab verschiedene Geschäfte zu erledigen – und grinste durchaus ehrenwerte Personen bitter an. Ich gebe zu, daß mein Benehmen unentschuldbar war, meine Temperatur aber war ja in jenen Tagen auch selten normal. Die Bemühungen meiner lieben Tante, mich wieder ›aufzupäppeln‹, schienen zur Fruchtlosigkeit verdammt. Nicht meine Körperkraft war es, die ein Aufpäppeln brauchte, sondern meine Einbildungskraft mußte beruhigt werden. Ich bewahrte das Briefpaket, das Kurtz mir gegeben hatte, auf, ohne genau zu wissen, was ich damit tun sollte. Seine Mutter war kürzlich gestorben, gepflegt, wie man mir sagte, von des Sohnes Braut. Ein glattrasierter Mann von amtlichem Gebaren, mit goldgefaßter Brille, besuchte mich eines Tages und forschte erst unauffällig, dann mit leisem Nachdruck nach gewissen Dingen, die er ›Dokumente‹ zu nennen beliebte. Ich war nicht überrascht, denn ich hatte schon dort draußen deswegen zweimal Streit mit dem Direktor gehabt. Ich hatte es abgelehnt, auch nur den kleinsten Zettel aus dem Paket herauszurücken, und nahm nun auch dem bebrillten Mann gegenüber die gleiche Haltung ein. Schließlich wurde er dumpf drohend, behauptete recht hitzig, daß die Gesellschaft ein Recht auf jede kleinste Auskunft hätte, die aus ihren Territorien stammte, und meinte: ›Herrn Kurtz' Kenntnisse der unerforschten Gebiete scheinen bestimmt tiefreichend und eigenartig zu sein – wegen seiner großen Fähigkeiten und der bedauernswerten Verhältnisse, in die er geraten war: darum –‹ Ich versicherte ihm, daß Herrn Kurtz' Kenntnisse, wie tiefreichend sie auch gewesen sein mochten, sich weder auf Handels- noch Verwaltungsprobleme erstreckten. Dann rief er den Namen der Gesellschaft an: ›Es wäre ein unberechenbarer Schaden, wenn . . .‹ und so weiter. Ich bot ihm den Bericht über ›Die Unterdrückung wilder Sitten‹ an, von dem ich die Nachschrift abgerissen hatte. Er nahm ihn hastig entgegen, gab ihn aber bald mit einem verächtlichen Naserümpfen zurück. ›Das ist es nicht, was wir ein Recht hatten, zu erwarten‹, bemerkte er. ›Erwarten Sie nichts weiter‹, sagte ich. ›Es gibt nur noch Privatbriefe.‹ Er zog sich unter Androhung gesetzlicher Schritte zurück, und ich sah ihn nie wieder; zwei Tage später aber erschien ein anderer Bursche, der sich Kurtz' Vetter nannte und sich ernstlich besorgt zeigte, alle Einzelheiten über die letzten Augenblicke seines lieben Verwandten zu erfahren. Beiläufig gab er mir zu verstehen, daß Kurtz im Grunde ein großer Musiker gewesen sei. ›Er hätte es zu fabelhaften Erfolgen bringen können‹, sagte der Mann, der, soviel ich weiß, ein Organist war, mit schlichtem grauem Haar, das ihm über den fettigen Rockkragen fiel. Ich hatte keinen Grund, seine Behauptungen anzuzweifeln; und bis heute kann ich noch nicht sagen, was Kurtz' Beruf war, ob er überhaupt je einen hatte, und welches das stärkste seiner Talente war. Ich hatte ihn für einen Maler gehalten, der für die Zeitungen schrieb, oder für einen Journalisten, der malen konnte – doch sogar der Vetter (der während unserer Unterhaltung Tabak schnupfte) konnte mir nicht sagen, was er eigentlich gewesen war. Er war ein Universalgenie – darin stimmte ich mit dem alten Knaben überein, der sich daraufhin geräuschvoll in ein großes baumwollenes Taschentuch schneuzte und in greisenhafter Aufregung davonging, nachdem er einige Familienbriefe und Aufzeichnungen ohne Bedeutung an sich genommen hatte. Schließlich tauchte noch ein Journalist auf, der begierig schien, etwas über das Schicksal seines ›lieben Kollegen‹ zu erfahren. Dieser Besuch unterrichtete mich, daß Kurtz' eigentliches Wirkungsgebiet die ›Politik für das Volk‹ hätte sein sollen. Der Mann hatte buschige, gerade Augenbrauen, kurzgeschorenes, borstiges Haar, trug ein Augenglas an breitem Band und gestand mir, als er etwas wärmer geworden war, daß seiner Überzeugung nach Kurtz überhaupt nicht schreiben konnte – ›aber, bei Gott, wie konnte der Mann reden! Er riß ganze Versammlungen mit sich fort. Er hatte Glauben, verstehen Sie mich? Er hatte den Glauben. Er konnte sich dazu bringen, alles zu glauben, einfach alles. Er hätte für eine extreme Partei einen glänzenden Führer abgegeben.‹ – ›Was für eine Partei?‹ fragte ich. ›Irgendeine Partei‹, antwortete der andere. ›Er war ein – ein – Extremist.‹ Ob ich nicht auch so dächte? Ich stimmte ihm bei. In einem plötzlichen Aufblitzen von Neugierde fragte er mich, ob ich wüßte, was ihn dazu gebracht hatte, hinauszugehen. – ›Jawohl‹, sagte ich und händigte ihm sofort den berühmten Bericht zur Veröffentlichung aus, falls er ihm passend erscheinen sollte. Er überflog ihn hastig, murmelte dabei unaufhörlich vor sich hin, meinte, es würde schon gehen und verschwand mit seiner Beute.

So blieb mir schließlich nur noch ein dünnes Paket Briefe und das Bild des Mädchens. Sie kam mir wunderschön vor, ich meine, ihr Ausdruck war wunderschön. Ich weiß ja, daß man auch das Sonnenlicht dazu bringen kann, zu lügen, und doch fühlte man, daß keine geschickte Zurechtmachung von Licht und Stellung den zarten Schimmer über dieses Gesicht gelegt haben konnte. Sie schien bereit, zuzuhören ohne inneren Vorbehalt, ohne Mißtrauen, ohne jeden Gedanken an sich selbst. Ich beschloß, hinzugehen und ihr das Bild und die Briefe persönlich zu übergeben. Neugierde? Gewiß. Und vielleicht auch noch ein anderes Gefühl. Alles, was Kurtz einmal besessen hatte, war mir aus den Händen geglitten; seine Seele, sein Leib, seine Station, seine Pläne, sein Elfenbein, seine Laufbahn. Es blieb nur noch sein Andenken und seine Braut – und ich wünschte, auch das in gewisser Beziehung der Vergangenheit zu übergeben, alles, was mir von ihm blieb, dem Vergessen zu überlassen, das das letzte Ende unseres gemeinsamen Schicksals ist. Ich verteidige mich nicht. Ich hatte keine klare Vorstellung davon, was ich eigentlich wollte. Vielleicht war es eine Regung unbewußter Anständigkeit, oder es geschah unter dem Druck einer der spöttischen Notwendigkeiten, die sich hinter den Tatsachen des menschlichen Lebens verbergen. Ich weiß es nicht. Ich kann es nicht sagen. Aber ich ging.

Ich denke, die Erinnerung an ihn war wie die anderen Erinnerungen an Tote, die sich in jedes Mannes Leben anhäufen – ein leichter Eindruck im Hirn von Schatten, die sich im raschen Vorbei abgeprägt haben; doch vor dem hohen, wuchtigen Tor, zwischen den mächtigen Häusern einer Straße, die still und ehrwürdig wirkten wie eine gut gehaltene Allee in einem Friedhof, stand plötzlich sein Bild wieder vor mir, wie er auf der Bahre lag und gefräßig den Mund öffnete, als wollte er die ganze Erde mit all ihren Bewohnern verschlingen. Er stand geradezu lebendig vor mir – lebendig, wie er es je gewesen war – ein Schatten, der sich unersättlich nach prunkvoller Umgebung, nach furchtbarer Wirklichkeit sehnte. Ein Schatten, dunkler als der der Nacht, und edel in die Fluten einer übermenschlichen Beredsamkeit gehüllt. Das Bild schien mich in das Haus hineinzubegleiten – die Bahre mit ihren gespenstischen Trägern, die wilde Schar der ehrfürchtigen Anbeter, das Waldesdüster, das Glitzern des Stromes zwischen den dunklen Ufern, die Schläge der Trommel, regelmäßig und dumpf wie die eines Herzens – des Herzens der siegreichen Finsternis. Es war ein Augenblick des Triumphes für die Wildnis, ein jähes, rachsüchtiges Vordringen, das ich, so schien es mir, ganz allein würde aufzuhalten haben, um des Heiles einer anderen Seele willen. Und die Erinnerung daran, was ich ihn dort, weit weg, sagen gehört hatte, während die Gehörnten sich hinter meinem Rücken im Flammenschein, im Schweigen der Wälder regten, diese abgerissenen Sätze kamen mir wieder in den Sinn, waren wieder in ihrer furchtbaren, schicksalhaften Einfalt zu hören. Ich erinnerte mich an seine verworfene Beweisführung, seine verbrecherischen Drohungen, das ungeheure Maß seiner niedrigen Lüste, die Verkommenheit, die Qualen und die entsetzliche Angst seiner Seele. Gleich darauf glaubte ich ihn wieder gefaßt und gleichmütig vor mir zu sehen, wie er mir eines Tages sagte: ›Dieser Posten Elfenbein gehört tatsächlich mir. Die Gesellschaft hat nichts dafür bezahlt. Ich habe ihn selbst unter ziemlich großer, persönlicher Gefahr zusammengetragen. Hm, es ist ein schwieriger Fall. Was glauben Sie, was ich tun sollte – Widerstand leisten? Wie? Ich will nichts weiter als Gerechtigkeit . . .‹ Er wollte nichts weiter als Gerechtigkeit – nichts weiter als Gerechtigkeit. Ich zog die Glocke vor einer Mahagonitür im ersten Stock, und während ich wartete, schien er mich aus den Glasscheiben anzustarren, mit dem weiten, ungeheuren Blick, der die ganze Welt umfaßte, verdammte und verabscheute. Ich glaubte, den geflüsterten Schrei zu hören: ›Das Grauen! das Grauen!‹

Die Dämmerung fiel ein. Ich hatte in einem luftigen, winzigen Wohnzimmer zu warten, mit drei hohen Fenstern, die vom Boden bis zur Decke reichten und wie drei leuchtende, verhängte Säulen wirkten. Die geschnitzten, vergoldeten Beine und Ränder der Möbel leuchteten in undeutlichen Umrissen. Der hohe Marmorkamin wirkte weiß und kalt wie ein Denkmal. Ein großes Pianino stand massig in einer Ecke, mit trüben Glanzlichtern da und dort, wie ein düsterer, polierter Sarkophag. Eine hohe Tür ging auf, schloß sich. Ich erhob mich.

Sie kam mir entgegen, ganz in Schwarz, mit einem blassen Haupt, das durch das Dunkel auf mich zuhielt. Sie war in Trauer. Es war mehr als ein Jahr seit seinem Tode, mehr als ein Jahr her, seitdem die Nachricht gekommen war. Es schien, als wollte sie nie vergessen und ewig trauern. Sie nahm meine beiden Hände in die ihren und murmelte: ›Ich hatte gehört, daß Sie kommen würden.‹ Ich bemerkte, daß sie nicht sehr jung war – ich meine, nicht mädchenhaft. Sie war wirklich fähig, Treue, Glaube und Liebe zu geben. Der Raum schien dunkler geworden, als hätte sich all das trübe Licht des wolkigen Abends auf ihre Stirn geflüchtet. Dies blendende Haar, das blasse Gesicht, die reinen Brauen schienen von einem silberigen Schein umgeben, aus dem mich die dunklen Augen anblickten. Ihr Blick war arglos, tief, zutraulich und treu. Sie trug ihr bekümmertes Haupt, als wäre sie stolz auf ihren Kummer, als wollte sie sagen: ›Ich, ich allein weiß um ihn zu trauern, wie er es verdient.‹ Noch während wir uns die Hände schüttelten, kam ein Ausdruck so furchtbarer Trostlosigkeit über ihr Gesicht, daß ich sie als eines der Geschöpfe erkannte, die nicht zum Spielzeug der Zeit geboren sind. Für sie war er erst gestern gestorben – nein, in dieser selben Minute. Ich sah sie und ihn im gleichen Augenblick – seinen Tod und ihren Kummer – ich sah ihren Kummer im Augenblick seines Todes. Versteht ihr das? Ich sah sie zugleich, ich hörte sie zugleich. Sie hatte mit einem tiefen Atemzug gesagt: ›Ich bin übriggeblieben.‹ Mit dieser verzweifelten Klage vermengt, glaubten meine gespannten Ohren deutlich das letzte Flüstern zu hören, das seine ewige Verdammnis anzeigte. Ich fragte mich, was ich da tat, und hatte dabei ein Gefühl von Panik, als hätte ich mich an einen Ort gewagt, wo grausame, sinnlose Mysterien abgehalten wurden, denen kein menschliches Wesen beiwohnen durfte. Sie forderte mich auf, Platz zu nehmen. Wir setzten uns. Ich legte das Paket langsam auf den kleinen Tisch und sie legte die Hand darüber . . . ›Sie kannten ihn gut‹, murmelte sie nach einem kurzen und traurigen Schweigen.

›Die Vertrautheit bildet sich da draußen schnell heraus‹, sagte ich. ›Ich kannte ihn so gut, wie ein Mann überhaupt einen andern kennen kann.‹

›Und Sie bewunderten ihn‹, sagte sie. ›Es war unmöglich, ihn zu kennen, ohne ihn zu bewundern, nicht wahr?‹

›Er war ein hervorragender Mensch‹, sagte ich unsicher. Dann fuhr ich unter dem eindringlichen Starren ihres Blickes, der nach weiteren Worten auf den Lippen zu spähen schien, fort: ›Es war unmöglich, ihn nicht . . .

›Zu lieben‹, ergänzte sie hastig, so daß ich bestürzt schwieg. ›Wie wahr! wie wahr! Wenn Sie aber bedenken, daß niemand ihn so gut kannte, wie ich! Ich besaß sein kostbares Vertrauen. Ich kannte ihn am besten.‹

›Sie kannten ihn am besten‹, wiederholte ich. Und vielleicht tat sie das. Doch mit jedem Wort, das gesprochen wurde, verdüsterte sich der Raum mehr und mehr, und nur ihre Stirn, glatt und weiß, blieb von dem unauslöschlichen Licht von Glaube und Liebe erhellt.

›Sie waren sein Freund‹, fuhr sie fort. ›Sein Freund‹, wiederholte sie ein wenig lauter. ›Sie müssen es gewesen sein, wenn er Ihnen dies gegeben und Sie zu mir geschickt hat. Ich fühle, daß ich zu Ihnen sprechen kann und, oh! Ich muß sprechen. Ich möchte, daß Sie – Sie, der sein letztes Wort gehört hat, wissen, daß ich seiner wert war . . . Es ist nicht Stolz . . . Jawohl! ich bin stolz darauf, zu wissen, daß ich ihn besser verstand als sonst jemand auf der Erde – das hat er mir selbst gesagt. Und seit seine Mutter tot ist, habe ich niemand gehabt, niemand, mit dem . . .

Ich hörte zu. Das Dunkel vertiefte sich. Ich war nicht einmal sicher, ob er mir das rechte Paket gegeben hatte. Ich glaube sogar, er wollte, daß ich auf ein ganz anderes Bündel seiner Papiere aufpassen sollte, das ich nach seinem Tode den Direktor unter der Lampe durchblättern sah. Und das Mädchen sprach, und ihr Schmerz löste sich in der Gewißheit meiner Zuneigung; sie sprach, wie durstige Menschen trinken. Ich hatte gehört, daß ihre Verlobung mit Kurtz von ihrer Familie mißbilligt worden war. Er war nicht reich genug gewesen, oder sonst etwas. Und tatsächlich weiß ich nicht, ob er nicht zeit seines Lebens arm war. Er hatte mir einigen Grund zu der Annahme gegeben, daß es die Auflehnung gegen seine verhältnismäßige Armut gewesen war, die ihn dort hinausgeführt hatte.

. . . Wer wäre nicht sein Freund gewesen, der ihn je sprechen gehört hat‹, sagte sie. ›Er zog die Menschen durch das Beste in ihnen an sich.‹ Sie sah mir fest ins Gesicht. ›Das ist die Gabe der ganz Großen‹, fuhr sie fort, und ihre leise Stimme schien von all den anderen Klängen getragen, voll von Geheimnis, Verzweiflung und Kummer, die ich je gehört hatte – dem Rauschen des Stromes, dem Seufzen der Bäume im Sturm, dem Murmeln einer aufgeregten Menge, unverständlichen Worten, kaum noch hörbar, von weit weg gerufen, dem Flüstern einer Stimme, die von jenseits der Schwelle zur ewigen Finsternis sprach. ›Aber Sie haben ihn ja gehört! Sie wissen es!‹ rief sie.

›Jawohl, ich weiß es‹, sagte ich, etwas wie Verzweiflung im Herzen, beugte mich aber dabei vor dem Glauben, der in ihr war, vor dem großen, rettenden Trugbild, das mit unirdischer Glut durch die Dunkelheit leuchtete, durch die siegreiche Dunkelheit, vor der ich sie nicht hätte schützen können, vor der ich mich selbst nicht einmal schützen konnte.

›Welch ein Verlust für mich – für uns!‹ verbesserte sie sich mit herrlicher Großmut. Dann fügte sie murmelnd hinzu ›für die Welt‹. Im letzten Schimmer des Zwielichts konnte ich das Glitzern ihrer Augen sehen, die voll von Tränen waren – von Tränen, die nicht fallen wollten.

›Ich bin sehr glücklich gewesen – richtig begnadet – sehr stolz‹, fuhr sie fort. ›Zu glücklich, eine kleine Weile lang. Und nun bin ich unglücklich – fürs Leben.‹

Sie stand auf; ihr blendendes Haar schien den letzten Rest von Licht in goldenem Leuchten aufzufangen. Auch ich erhob mich.

›Und von all dem‹, fuhr sie traurig fort, ›von allen seinen Hoffnungen, seiner Größe, seinem edlen, vornehmen Herzen bleibt nichts übrig – nichts als eine Erinnerung. Sie und ich . . .

›Wir werden immer an ihn denken‹, sagte ich hastig.

›Nein‹, rief sie. ›Es ist unmöglich, daß all dies verloren sein – daß ein solches Leben geopfert worden sein sollte, um nichts hinter sich zu lassen als Trauer. Sie wissen, daß er große Pläne hatte. Auch ich wußte davon. – Ich konnte sie vielleicht nicht verstehen – doch andere wußten davon. Etwas muß übrigbleiben. Seine Worte zumindest sind nicht gestorben.‹

›Seine Worte werden bleiben‹, sagte ich.

›Und sein Beispiel‹, flüsterte sie zu sich selbst. ›Die Menschen sahen zu ihm auf, seine Güte leuchtete aus jeder seiner Handlungen, sein Beispiel . . .

›Das ist ›wahr‹, sagte ich, ›auch sein Beispiel. Jawohl, sein Beispiel. Ich vergesse das.‹

›Ich aber nicht. Ich kann es – kann es nicht glauben – jetzt noch nicht. Ich kann nicht glauben, daß ich ihn nie wieder sehen soll, daß niemand ihn je wieder sehen soll. Nie, niemals wieder.‹

Sie streckte die Arme aus wie nach einer zurückweichenden Gestalt, streckte sie schwarz, mit gefalteten, bleichen Händen quer durch den schmalen, mattschimmernden Lichtstreifen des Fensters. Ihn nie wieder sehen! Ich sah ihn eben damals deutlich genug. Ich werde dieses beredte Gespenst sehen, solange ich lebe, werde auch sie sehen, einen tragischen, vertrauten Schatten, sie, die mich in dieser Gebärde an eine andere tragische Gestalt erinnerte; an die andere, die, mit unwirksamen Zaubermitteln bedeckt, nackte, braune Arme über das höllische Glitzern des Stromes, des Stromes der Finsternis, ausgestreckt hatte.‹ Sie sagte plötzlich sehr leise: ›Er starb, wie er gelebt hatte.‹

›Sein Ende‹, sagte ich, während sich ein dumpfer Ärger in mir regte, ›war in jeder Hinsicht seines Lebens würdig.‹

›Und ich war nicht bei ihm‹, murmelte sie. Mein Ärger machte einem Gefühl endlosen Mitleids Platz.

›Alles, was getan werden konnte . . .‹, murmelte ich.

›Oh, aber ich glaubte stärker an ihn als irgend jemand sonst auf Erden – mehr als seine eigene Mutter, mehr als er selbst. Er brauchte mich! Mich! Ich hätte jeden Seufzer, jedes Wort, jedes Zeichen, jeden Blick wie einen Schatz aufbewahrt.‹

Ich fühlte es wie eine eisige Hand auf meiner Brust. ›Nicht!‹ sagte ich mit erstickter Stimme.

›Vergeben Sie mir. Ich – ich – habe – lange schweigend getrauert, schweigend . . . Sie waren bei ihm – bis zuletzt. Ich denke an seine Einsamkeit. Niemand ihm nahe, um ihn zu verstehen, wie ich ihn verstanden hätte. Vielleicht auch niemand, um zu hören . . .

›Bis ganz zuletzt‹, sagte ich bebend. ›Ich hörte seine letzten Worte . . .‹ Damit brach ich erschreckt ab.

›Wiederholen Sie sie‹, sagte sie in größtem Schmerz. ›Ich will – ich will – etwas – etwas, um – um damit weiterleben zu können.‹

Ich war hart daran, ihr zuzuschreien: ›Hören Sie sie nicht?‹ Das Dunkel wiederholte sie rings um uns, hartnäckig flüsternd, in einem Flüstern, das drohend anzuschwellen schien, wie das erste Flüstern eines erwachenden Sturms: ›Das Grauen! Das Grauen!‹

›Sein letztes Wort – und damit weiterleben zu können‹, murmelte sie. ›Verstehen Sie nicht, daß ich ihn liebte – ihn liebte, ihn liebte!‹

Ich riß mich zusammen und sagte langsam:

›Das letzte Wort, das er aussprach, war – Ihr Name.‹

Ich hörte einen leichten Seufzer, und dann stand mein Herz still, hielt unvermittelt an, vor einem furchtbaren, jubelnden Aufschrei, vor einem Schrei unbegreiflichen Triumphs und unaussprechlichen Schmerzes. ›Ich wußte es, wußte es gewiß! . . .‹ Sie wußte es. Wußte es gewiß. Ich hörte sie weinen; sie hatte das Gesicht in den Händen verborgen. Mir war es, als müßte das Haus einfallen, bevor ich noch entrinnen konnte, als müßte mir der Himmel auf den Kopf stürzen. Doch nichts geschah. Der Himmel stürzt wegen einer solchen Kleinigkeit nicht ein. Wäre er wohl eingestürzt, wenn ich Kurtz die Gerechtigkeit hätte widerfahren lassen, die er verdiente? Hatte er nicht selbst gesagt, daß er nichts weiter als Gerechtigkeit wünschte! Doch ich konnte es nicht. Ich konnte es ihr nicht sagen. Es wäre zu dunkel gewesen, allzu dunkel . . .«

Marlow brach ab und saß undeutlich und schweigend da, in der Stellung des meditierenden Buddha. Niemand regte sich eine Zeitlang. »Wir haben den Anfang der Ebbe versäumt«, sagte der Direktor plötzlich. Ich hob den Kopf. Die Mündung war von einer schwarzen Wolkenbank umlagert, und die ruhige Wasserstraße, die zu den letzten Enden der Welt führte, strömte düster, unter bedecktem Himmel dahin, wie in das Herz einer ungeheueren Finsternis.

 


 


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