Joseph Conrad
Das Herz der Finsternis
Joseph Conrad

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I

Die Nelly, eine seetüchtige Jolle, schwoite an ihrem Anker ohne die leiseste Regung in den Segeln und hielt Rast. Die Flut hatte begonnen, es war fast völlig windstill, und da wir stromabwärts wollten, so hatten wir weiter nichts zu tun, als liegenzubleiben, und das Kentern des Stromes abzuwarten.

Die Themsemündung dehnte sich vor uns wie der Anfang einer ungeheuren Wasserstraße. Draußen waren die See und der Himmel fugenlos zusammengeschweißt, und in dem leuchtenden Raum schienen die gegerbten Segel der Leichter, die mit der Flut herauftrieben, reglos still zu stehen, als scharf umrissene rote Leinwandstücke, vom Lackglanz der Spriete gehöht. Ein leichter Dunst lagerte über den niedrigen Ufern, die gegen die See zu ganz flach verliefen. Die Luft über Gravesend war dunkel und schien noch weiter zurück zu einer finsteren Wolke verdüstert, die unbeweglich über der größten Stadt der Erde lagerte.

Der Direktor der Handelsgesellschaft war unser Schiffer und Gastgeber. Wir vier betrachteten wohlwollend seinen Rücken, während er im Bug stand und seewärts Ausschau hielt. Auf dem ganzen Strom war sicher nichts zu finden, das halb so seemännisch ausgesehen hätte. Er erinnerte an einen Lotsen, der für einen Seemann der Inbegriff der Vertrauenswürdigkeit ist. Es war schwierig, sich vorzustellen, daß seine Berufsarbeit nicht dort vor ihm lag, in der leuchtenden Mündung, sondern hinter ihm, in der brütenden Dunstwolke.

Zwischen uns bestand, wie ich schon irgendwo gesagt habe, das Band der See. Das hatte nicht nur die Wirkung, unsere Herzen während langer Trennung einander zugetan zu halten, sondern auch die andere, daß wir einer für des anderen Geschichten – sogar Überzeugungen – Nachsicht aufbrachten. Der Rechtsanwalt – der feinste aller alten Knaben – hatte kraft der Zahl seiner Jahre wie auch seiner Tugenden das einzige Kissen auf Deck und lag auf der einzigen Decke. Der Buchhalter hatte schon eine Dominoschachtel heraufgebracht und führte nun mit den Steinen Kunstbauten auf. Marlow saß mit gekreuzten Beinen etwas weiter zurück und lehnte sich gegen den Besanmast. Er hatte eingefallene Wangen, eine gelbliche Hautfarbe, einen geraden Rücken und das Aussehen eines Asketen; wie er nun, die Handflächen auswärtsgekehrt, die Arme hängen ließ, erinnerte er an ein Götzenbild. Der Direktor, der sich mit Befriedigung überzeugt hatte, daß der Anker gut hielt, kam nun nach achtern und setzte sich zu uns. Wir tauschten träge einige Worte. Dann herrschte Schweigen an Bord der Jacht. Aus dem oder jenem Grunde begannen wir die Dominopartie nicht. Wir waren nachdenklich gestimmt und fühlten uns nur zu müßigem Schauen aufgelegt. Der Tag ging in stillem Glanz zu Ende. Die Wasserfläche leuchtete friedlich; der Himmel, fleckenlos, erweckte den Gedanken an selige, strahlende Unendlichkeit; sogar noch der Dunst über der Essexmarsch erschien als ein lichtes Schleiertuch, das von den waldigen Höhen landeinwärts niederwallte und die flachen Ufer hinter durchsichtigen Falten verbarg. Nur der Dunst im Westen, über dem Oberlauf des Flusses, wurde mit jeder Minute düsterer, als erzürnte ihn das Nahen der Sonne.

Und schließlich sank die Sonne tief ans Ende ihrer Bahn, wechselte von blendendem Weiß zu tiefem Rot, ohne Strahlen und ohne Hitze, als wollte sie plötzlich verlöschen, zu Tode getroffen von der Berührung mit der Dunstwolke, die über einem Menschenhaufen brütete.

Die Sonne sank, die Dämmerung brach über den Strom herein, und längs der Ufer begannen Lichter aufzutauchen. Der Leuchtturm von Chapman, der auf seinen drei Beinen kerzengerade auf einer Morastbank stand, gab grelles Licht. Schiffslichter kreuzten durch das Fahrwasser – ein Gewimmel von Lichtern, die auf und ab wanderten. Und weiter weg, im Westen, gegen den Oberlauf des Flusses zu, war die ungeheure Stadt immer noch am Himmel zu merken; ein brütender Dunst im Sonnenschein, ein düsterer Glanz unter den Sternen.

»Und auch dies«, sagte Marlow plötzlich, »ist einmal einer der dunklen Orte der Erde gewesen.«

Er war der einzige unter uns, der immer noch zur See fuhr. Das Schlimmste, was man ihm nachsagen konnte, war, daß ihm sein Beruf nicht anzumerken war. Er war ein Seemann, aber auch ein Wanderer, während doch die meisten Seeleute, wenn man so sagen darf, ein seßhaftes Leben führen. Ihr Sinn ist auf Häuslichkeit gerichtet, und ihre Häuslichkeit ist überall um sie – das Schiff; und so auch ihre Heimat – die See. Ein Schiff gleicht dem anderen so ziemlich, und die See ist überall dieselbe. An der Unveränderlichkeit ihrer Umgebung gleiten die fremden Gestade, die fremden Gesichter, der endlos bunte Wechsel des Lebens vorbei; doch kein Geheimnis hält die Beschauer vom Eindringen ab, sondern nur die eigene geringschätzige Unwissenheit; denn nichts Geheimnisvolleres gibt es für einen Seemann als die See selbst, die die Herrin seines Daseins ist und unergründlich wie das Schicksal. Im übrigen genügt nach arbeitsreichen Tagen ein kurzer Streifzug oder eine kurze Zecherei an Land, um ihm das Geheimnis eines ganzen Kontinents zu erschließen, und meist findet er das Geheimnis wenig wissenswert. Die Geschichten der Seeleute sind von unendlicher Einfalt, und ihren ganzen Sinn könnte eine Nußschale fassen. Aber Marlow war, wie gesagt, kein typischer Vertreter seines Berufs (seine Leidenschaft, ein Garn zu spinnen, vielleicht ausgenommen), und für ihn lag der Sinn eines Begebnisses nicht innen wie ein Kern, sondern außen, rings um die Geschichte, die ihn hervorbrachte, wie eine Glutwelle einen Dunst hervorbringt, oder wie etwa einer der Nebelhöfe, die mitunter durch den Mondschein sichtbar gemacht werden.

Seine Bemerkung wirkte durchaus nicht überraschend. Sie sah Marlow ganz ähnlich und wurde schweigend aufgenommen. Keiner nahm sich auch nur die Mühe, zu knurren; und nun fügte Marlow ganz langsam hinzu:

»Ich dachte an die uralten Zeiten, als die Römer zum ersten Male hierher kamen, neunzehnhundert Jahre ist es her – da neulich . . . Licht ist seither von diesem Fluß ausgegangen – Ritter sagt ihr? Ja; aber es ist nur wie ein wandernder Sonnenfleck auf einer Ebene, wie ein Blitz in Wolken. Wir leben in diesem Aufblitzen – mag es währen, solang die Erde rollt. Doch gestern noch herrschte Dunkelheit hier. Stellt euch die Gefühle des Befehlshabers einer – wie nennt ihr sie – Trireme im Mittelmeer vor, der plötzlich nach Norden versetzt wird; er durchquert die beiden Gallien in größter Eile; dann wird ihm eines der Fahrzeuge anvertraut, wie sie die Legionäre – fabelhaft geschickte Leute müssen es gewesen sein – zu bauen pflegten, hundertweise, wie es scheint, in ein oder zwei Monaten, wenn das, was wir lesen, zu glauben ist. Stellt ihn euch hier vor – wahrhaft am Ende der Welt, vor einer bleifarbenen See unter einem rauchfarbenen Himmel, auf einem Schiff, gebrechlich wie eine Harmonika – wie er diesen Strom hier hinaufgeht, mit Vorräten oder Befehlen oder sonst etwas. Sandbänke, Marschen, Urwälder und Wilde – verteufelt wenig zu essen für einen zivilisierten Menschen, nichts als Themsewasser zu trinken, kein Falerner Wein hier, keine Ausflüge an Land. Da und dort ein Militärlager, in der Wildnis verloren, wie eine Nadel in einem Heuhaufen – Kälte, Nebel, Ungewitter, Krankheit, Verbannung und Tod – Tod, der in der Luft, im Wasser, im Busch lauert. Sie müssen hier wie Fliegen gestorben sein. O gewiß, der Mann tat seine Pflicht. Tat sie gut, ganz ohne Frage, und ohne viel darüber nachzudenken, höchstens, daß er später einmal mit alledem prahlte, was er zu seiner Zeit durchgemacht hatte. Sie waren Manns genug, der Finsternis ins Auge zu sehen, und vielleicht hielt ihn die Aussicht aufrecht, nach und nach zur Flotte von Ravenna versetzt zu werden, wenn er gute Freunde in Rom hatte und das schauerliche Klima überlebte. Oder denkt euch einen wohlerzogenen jungen Bürger in einer Toga – ein bißchen zu viel Würfelspiel vielleicht –, der im Gefolge eines Präfekten, eines Steuereinnehmers oder sogar eines Händlers hier herauskam, um seine Finanzen aufzubessern. In einem Morast landen, durch die Wälder marschieren und dann an irgendeinem Posten landeinwärts fühlen, daß die Wildnis, die völlige Wildnis sich um einen geschlossen hat. – Dazu all das geheimnisvolle Leben der Wildnis, das im Wald, im Dickicht und in den Herzen der wilden Männer atmet. Es führt auch kein Weg zu diesen Geheimnissen. Man hat inmitten des Unverständlichen, das im gleichen Maße verhaßt ist, weiterzuleben. Allerdings hat es auch seinen Reiz, dem er sich nicht entziehen kann. Den Reiz des Grauens, wenn ihr das versteht. Stellt euch vor, wie die Reue wächst, zugleich mit der Sehnsucht, zu entrinnen, dem ohnmächtigen Widerwillen der Ergebung, dem Haß.«

Er brach ab.

»Bedenkt«, begann er von neuem, und hob dabei einen Arm mit nach außen gekehrter Handfläche im Ellbogengelenk hoch, so daß er, auf gekreuzten Beinen sitzend, wie ein predigender Buddha wirkte, ein Buddha allerdings in europäischen Kleidern und ohne Lotosblume – »bedenkt, keiner von uns würde genauso empfinden. Was uns rettet, ist die Leistungsfälligkeit. – Das Interesse am Nutzwert. Das nämlich fehlte den Burschen von damals völlig. Sie waren keine Kolonisatoren. Ihre Verwaltung war nichts als eine große Steuerschraube – so scheint es mir wenigstens. Sie waren Eroberer, und dazu brauchte es nichts als rohe Kraft – nichts, dessen man sich zu rühmen hätte, wenn man es besitzt, denn unsere Kraft ist ja immer nur ein Gefühl, das sich aus der Schwäche der anderen ergibt. Sie rafften zusammen, was zu kriegen war, und waren immer auf noch mehr aus. Es war richtiger Raubmord unter erschwerenden Umständen, in größerem Maßstabe, und die Leute gingen blind daran – wie es sich ja auch für die schickt, die sich in die Finsternis vorwagen. Die Eroberung der Erde (ein Wort, das meistens die Bedeutung hat, daß man Leuten, die eine andere Hautfarbe oder flachere Nasen als wir selbst haben, ihr Land wegnimmt), diese Eroberung ist nichts Allzuschönes, wenn man sie sich aus der Nähe betrachtet. Was sie versöhnlich erscheinen läßt, ist nur die Idee, die Idee hinter ihr; kein gefühlsmäßiger Vorwand, sondern die Idee; und ein selbstloser Glaube an diese Idee – etwas, das man hochhalten, vor dem man sich neigen und dem man ein Opfer bringen kann . . .«

Er brach ab. Flammen glitten durch den Fluß, kleine grüne Flammen, rote Flammen, weiße Flammen. Verfolgten, überholten einander, vereinigten sich, um gleich wieder langsam oder hastig sich zu trennen. Das Leben der großen Stadt ging in der sinkenden Nacht auf dem schlaflosen Strom seinen Gang. Wir sahen zu und warteten geduldig – nichts anderes war zu tun bis zum Ablaufen der Flut; doch erst nach einem langen Schweigen sagte Marlow leicht zögernd: »Ich denke, ihr erinnert euch ja, daß ich einmal eine Zeitlang Flußschiffer war«, und da wußten wir auch, daß wir, noch bevor die Ebbe einsetzte, eine von Marlows eigenartigen Geschichten anzuhören haben würden.

»Ich will euch nicht viel mit dem langweilen, was mir selbst geschah«, begann er und bewies damit die Schwäche so vieler Geschichtenerzähler, die häufig gar nicht zu wissen scheinen, was ihre Zuhörer am liebsten hören würden. »Um aber die Wirkung der Ereignisse auf mich zu verstehen, müßt ihr natürlich wissen, wie ich dort hinauskam, was ich sah und wie ich den Fluß bis zu dem Punkt hinauffuhr, wo ich den armen Kerl zum erstenmal traf. Es war der Endpunkt der Schiffahrt und der Gipfelpunkt meiner Erfahrung. Es schien ein Licht auf alles um mich zu werfen – und noch in meine Gedanken hinein. Dabei war es trübe genug und erbarmenswürdig – keineswegs bemerkenswert und auch nicht sonderlich klar. Nein, gewiß nicht sonderlich klar. Und doch schien es Licht auszustrahlen.

Ich war damals, wie ihr euch erinnert, eben nach London heimgekehrt, nachdem ich den Osten reichlich gesehen und mich etwa sechs Jahre lang im Indischen und Stillen Ozean und im Chinesischen Meer herumgetrieben hatte; nun bummelte ich herum, hinderte euch Burschen in eurer Arbeit, drang in eure Häuser ein, als hätte mich der Himmel zu der Aufgabe berufen, euch zur Gesittung zu bekehren. Eine Zeitlang schien es recht nett, aber dann wurde ich des Faulenzens müde. Ich begann nach einem Schiff Ausschau zu halten, was mir die härteste Arbeit auf Erden zu sein scheint. Doch die Schiffe sahen nicht nach mir und so wurde ich auch dieses Spieles müde.

Nun hatte ich schon als ganz kleiner Junge eine Leidenschaft für Landkarten gehabt. Ich konnte mir stundenlang Südamerika, oder Afrika, oder Australien betrachten und mich in die Wonnen der Erforschung versenken. Damals gab es noch viele weiße Flecke auf der Erde, und wenn ich auf einen stieß, der auf der Karte einladend aussah (aber das tun sie ja alle), dann legte ich den Finger darauf und sagte: ›Wenn ich groß bin, will ich dahin gehen.‹ Der Nordpol war einer dieser Orte, wie ich mich erinnere: ich bin nicht dort gewesen und will es auch jetzt nicht versuchen. Der Zauber ist verflogen. Andere Flecke waren um den Äquator herum verstreut und über alle Breiten, über beide Halbkugeln. An einigen davon bin ich gewesen und . . . nun, wir wollen nicht davon reden. Aber einen gab es noch, den größten, den weißesten sozusagen, nach dem mir der Sinn stand.

Tatsächlich war es damals kein weißer Fleck mehr. Seit meiner Knabenzeit war er mit Strömen, Seen und Namen angefüllt worden. Er hatte aufgehört, ein Raum voll köstlicher Geheimnisse zu sein, ein weißer Fleck, von dem ein Knabe Ruhm erträumen konnte. Er war zu einem Ort der Finsternis geworden. Doch gab es darin einen Flußlauf, einen mächtig großen Strom, den man auf der Karte sehen konnte und der einer langgestreckten Schlange ähnelte, deren Kopf im Meere lag, während der ruhende Körper sich weit weg über weite Ländereien ringelte und der Schwanz sich tief im Innern verlor. Als ich mir in einem Auslagefenster diese Karte betrachtete, fühlte ich mich gebannt wie ein Vogel, ein ganz dummer kleiner Vogel, vom Blick einer Schlange. Dann erinnerte ich mich, daß es eine große Gesellschaft, eine Handelsgesellschaft an dem Flusse gab. Zum Teufel, dachte ich mir, sie können doch auf der Menge Süßwasser dort nicht Handel treiben ohne irgendeine Art von Fahrzeugen – Dampfbooten! Warum sollte ich nicht versuchen, eines davon in die Finger zu bekommen; Ich ging weiter durch Fleet Street, konnte aber den Gedanken nicht loswerden. Die Schlange hatte mich berückt.

Ihr müßt wissen, daß die Handelsgesellschaft ein Festland-Konzern war; aber ich habe eine Menge Verwandte, die auf dem Festland wohnen, weil es dort, soviel man hört, billiger und nicht gar so schlimm ist, wie es aussieht.

Ich muß zu meiner Schande gestehen, daß ich den Leuten auf den Hals rückte. Für mich war es schon der zweite Schritt ins Leben. Doch war ich es nicht gewohnt, Dinge auf diese Weise zu erreichen. Ich war immer auf meinen eigenen Wegen und auf meinen eigenen Beinen dahin gegangen, wohin ich hatte gehen wollen. Ich hätte es mir selbst gar nicht zugetraut; aber dann, seht ihr, fühlte ich plötzlich, daß ich krumm oder gerade dorthin kommen mußte. So lief ich also den Leuten die Türen ein. Die Männer sagten: ›Mein lieber Junge‹ und taten nichts. Dann, würdet ihr es glauben, versuchte ich es bei den Frauen. Ich, Charlie Marlow, setzte die Frauen in Bewegung – um eine Stelle zu bekommen. Himmel noch mal! Ja, seht ihr, mich peinigte meine fixe Idee. Ich hatte eine Tante, eine liebe überschwengliche Seele. Sie schrieb: ›Es wird entzückend. Ich bin bereit, alles, alles für Dich zu tun. Es ist eine gottvolle Idee. Ich kenne die Gemahlin einer sehr hochgestellten Persönlichkeit in der Verwaltung und auch einen Mann, der großen Einfluß hat‹, und so weiter und so weiter. Sie war entschlossen, kein Mittel unversucht zu lassen, um mir die Bestallung als Kapitän eines Flußdampfers zu verschaffen, wenn mir daran gelegen wäre.

Ich bekam den Posten – wie nicht anders zu erwarten; und überdies noch sehr schnell. Wie sich dann herausstellte, hatte die Gesellschaft die Nachricht bekommen, daß einer ihrer Kapitäne in einem Scharmützel mit den Eingeborenen getötet worden war. Das war mein Glück, und es machte mich noch versessener darauf, hinzugehen. Erst viele Monate später, bei dem Versuch, die Überreste des Leichnams zu retten, hörte ich, daß der ganze Streit durch ein Mißverständnis wegen einiger Hühner entstanden war. Jawohl, wegen zwei schwarzer Hennen. Fresleven – so hieß der Bursche, ein Däne – glaubte sich in dem Handel irgendwie benachteiligt, ging also an Land und begann den Häuptling des Dorfes mit einem Stocke durchzubläuen. Es überraschte mich nicht im geringsten, das zu hören und gleichzeitig auch die Versicherung zu erhalten, daß Fresleven das höflichste, ruhigste Geschöpf gewesen sei, das je auf zwei Beinen dahingegangen war. Das war ganz fraglos richtig; nur war er schon einige Jahre dort draußen gewesen, im Dienst der guten Sache, und hatte also wohl schließlich das Bedürfnis empfunden, vor sich selbst seine Selbstachtung auf irgendeine Weise zu bestätigen. Darum verprügelte er den alten Neger erbarmungslos, während eine große Menge Volkes wie betäubt zusah, schließlich führte ein Mann – der Sohn des Häuptlings, wie man mir sagte – in heller Verzweiflung über das Geschrei des Alten versuchsweise einen Speerstoß nach dem weißen Mann – und natürlich drang die Spitze ganz leicht zwischen den Schulterblättern ein. Dann verschwand die gesamte Bevölkerung in den Wald, in der Befürchtung alles erdenklichen Unheils, während andererseits der Dampfer, den Fresleven befehligt hatte, gleicherweise von Panik ergriffen, unter dem Befehl eines Ingenieurs abfuhr. Hinterher schien sich niemand um Freslevens sterbliche Reste sonderliche Gedanken zu machen, bis ich hinauskam und an seine Stelle trat. Ich konnte es nicht auf sich beruhen lassen; als sich mir aber endlich die Gelegenheit bot, mit meinem Vorgänger zusammenzutreffen, da war das Gras hoch genug durch seinen Körper gewachsen, um seine Knochen zu verbergen. Sie waren vollzählig da. Das übernatürliche Wesen war nach seinem Fall nicht mehr angerührt worden. Und das Dorf war verlassen, die Hütten gähnten schwarz, verfault, ganz windschief hinter den eingefallenen Zäunen. Ein Unheil war in der Tat über sie hereingebrochen. Die Einwohner waren verschwunden. Blindes Entsetzen hatte sie, Männer, Weiber und Kinder, durch den Busch gejagt, und sie waren nie wiedergekehrt. Was aus den Hennen geworden war, konnte ich auch nicht feststellen. Ich möchte aber glauben, daß sie der Sache des Fortschrittes anheimfielen. Doch so oder so, infolge dieser glorreichen Angelegenheit bekam ich meine Anstellung, bevor ich sie noch richtig zu erhoffen begonnen hatte.

Ich flog wie verrückt herum, um fertig zu werden, und noch vor Ablauf von achtundvierzig Stunden fuhr ich über den Kanal, um mich meinen Arbeitgebern vorzustellen und den Vertrag zu unterschreiben. Nach ganz wenigen Stunden kam ich in einer Stadt an, die mich immer an ein getünchtes Grab erinnert. Ein Vorurteil, ohne Frage. Ich hatte keine Schwierigkeiten, das Kontor der Gesellschaft zu finden. Es war die größte Unternehmung in der Stadt und ihr Name auf jedermanns Lippen. Die Leute waren eben dabei, ein überseeisches Reich zu errichten und im Handel ungeheuer viel Geld zu machen.

Eine enge, einsame Gasse im tiefen Schatten hoher Häuser, zahllose Fenster mit Jalousien, ein totes Schweigen, Gras zwischen den Pflasterfugen, mächtige Torbogen links und rechts, ungeheure zweiflügelige Tore, die wuchtig offen standen. Ich schlüpfte durch eines hinein, ging ein sauberes und schmuckloses Treppenhaus, kahl wie eine Wüste, hinauf und öffnete die erste Tür, an die ich kam. Zwei Frauen, die eine fett und die andere mager, saßen auf strohgeflochtenen Stühlen und strickten schwarze Wolle. Die schwarze stand auf und kam gerade auf mich zu – wobei sie immer noch mit niedergeschlagenen Augen weiterstrickte –, und erst als ich zu erwägen begann, ob ich ihr würde aus dem Wege gehen müssen wie einer Traumwandlerin, blieb sie stehen und sah auf. Ihr Gewand war schlicht wie der Überzug eines Regenschirmes; sie drehte ohne ein Wort um und ging mir in ein Wartezimmer voran. Ich nannte meinen Namen und sah mich um. Ein Tisch aus weichem Holz in der Mitte, einfache Stühle längs der Wand, an einem Ende eine leuchtende Landkarte, mit allen Farben des Regenbogens bemalt. Es gab viel Rot darauf – gut anzusehen, weil man weiß, daß dort nützliche Arbeit geleistet wird; verteufelt viel Blau, ein wenig Grün, ein paar Streifen Orange und an der Ostküste einen Fleck Purpur. Doch ich wollte ja in keines davon. Ich würde ins Gelbe gehen. Gerade in den Mittelpunkt. Und auch der Strom war da, berückend, toddrohend, wie eine Schlange. Uff! Eine Tür ging auf, der weißhaarige Kopf eines Sekretärs mit dem Ausdruck unverkennbaren Mitleids erschien, und ein knochiger Zeigefinger winkte mich ins Heiligtum. Die Beleuchtung darin war düster. Ein wuchtiger Schreibtisch nahm die ganze Mitte ein. Hinter dem Prunkbau war in Umrissen eine bleiche, unförmige Leiblichkeit in einem Gehrock zu erkennen. Der große Mann in Person. Er war fast sechs Fuß hoch, glaube ich, und hielt die Hand auf vielen Millionen. Er schüttelte mir die Hand, murmelte etwas, schien mit meinem Französisch zufrieden. Bon voyage!

Nach etwa fünfundvierzig Sekunden fand ich mich wieder im Wartezimmer neben dem mitleidigen Sekretär, der mich voll fassungslosen Erbarmens ein Dokument unterschreiben ließ. Soviel ich weiß, verpflichtete ich mich darin unter anderem, keine Geschäftsgeheimnisse zu verraten. Nun gut. Ich habe auch nicht die Absicht.

Ich begann, mich ein wenig ungemütlich zu fühlen; ihr wißt ja, daß ich an solche feierliche Umstände nicht gewöhnt bin, und überdies lag etwas wie die Vorahnung von Unheil in der Luft. Es war, als hätte man mich in eine Verschwörung aufgenommen – wie soll ich sagen – in irgend etwas Unerlaubtes; und ich war froh, wieder herauszukommen. In dem Vorzimmer strickten die beiden Frauen fieberhaft schwarze Wolle. Leute kamen an, und die Jüngere ging hin und her, um sie einzulassen. Die Alte saß auf ihrem Stuhl fest. Ihre flachen Tuchpantoffel waren fest auf einen Fußwärmer gestemmt, und eine Katze ruhte in ihrem Schoß. Sie trug eine weiße gestärkte Sache auf ihrem Kopf, hatte eine Warze auf einer Wange und eine silbergefaßte Brille auf der Nasenspitze sitzen. Sie warf mir über die Gläser weg einen Blick zu. Die Seelenruhe in diesem flüchtigen und gleichgültigen Blick verwirrte mich. Zwei junge Leute von munterem und leicht närrischem Aussehen wurden eben vorbeigelotst, und auch ihnen warf sie den gleichen Blick zu, voll unbeteiligten Wissens. Sie schien alles über die beiden, wie auch über mich zu wissen. Ein unbehagliches Gefühl begann in mir aufzusteigen. Sie wirkte unheimlich und schicksalhaft. Oft dachte ich weit dort draußen an diese beiden, die die Tür zur Finsternis hüteten und schwarze Wolle dazu strickten wie für ein warmes Leichentuch; die eine ließ ein, ließ unaufhörlich ein ins Unbekannte, die andere prüfte die munteren, närrischen Gesichter mit ihren teilnahmslosen alten Augen. Ave! Alte Strickerin, mit deinem schwarzen Wollknäuel. Morituri te salutant! Nicht viele von ihnen, die sie so angeblickt hat, haben sie jemals wiedergesehen. – Lange nicht die Hälfte.

Es blieb noch der Besuch beim Arzt. ›Eine einfache Formsache‹, versicherte mir der Sekretär, immer noch mit einer Miene, als nähme er an allen meinen Sorgen ungeheuern Anteil. Danach tauchte ein junger Bursche, der seinen Hut schief über dem linken Auge trug, ein Beamter vermute ich – es müssen Beamte in dem Geschäft gewesen sein, obwohl das Haus still war, wie das einer Totenstadt – tauchte also auf, irgendwoher aus dem oberen Stock und führte mich hinaus. Er sah schäbig und vernachlässigt aus, mit Tintenflecken auf den Rockärmeln; seine Krawatte war breit und bauschte sich unter seinem Kinn, das wie die Kappe eines alten Stiefels geformt war. Es war noch zu früh für den Doktor, darum schlug ich vor, wir sollten eins trinken, und daraufhin wurde er gemütlich. Als wir bei unserem Wermut saßen, pries er die Geschäfte der Gesellschaft, und ich äußerte im weiteren Verlauf meine Verwunderung darüber, daß er nicht auch hinausginge. ›Ich bin nicht ganz so dumm, wie ich aussehe, sagte Plato zu seinen Schülern‹, gab er vielsagend zurück, trank entschlossen sein Glas aus, und wir brachen auf.

Der alte Doktor fühlte meinen Puls und dachte offenbar dabei an etwas ganz anderes. ›Gut, gut genug für dort‹, murmelte er und fragte dann, ob ich ihm erlauben würde, meine Schädelmaße zu nehmen. Ich bejahte ziemlich überrascht, worauf er ein Ding, ähnlich einem Zirkel, hervorzog und die Maße rückwärts, vorne, seitlich und überall nahm und sorgfältig aufschrieb. Er war ein unrasierter kleiner Mann in einem fadenscheinigen Rock, mit Pantoffeln an den Füßen, und ich hielt ihn für einen harmlosen Narren. ›Ich bitte immer um die Erlaubnis, der Wissenschaft zuliebe, die Schädel der Leute zu messen, die dort hinausgehen‹, sagte er. – ›Auch wenn sie zurückkommen?‹ fragte ich. – ›Oh, dann sehe ich sie niemals‹, meinte er, ›und überdies gehen ja die Veränderungen innerlich vor sich, müssen Sie wissen.‹ Er lächelte, als hätte er einen kleinen Scherz gemacht. ›So, Sie gehen also dort hinaus! Famos! Auch interessant!‹ Er sah mich forschend an und machte noch eine Notiz. ›Kein Fall von Irrsinn in Ihrer Familie?‹ fragte er in trockenem Geschäftston. Ich war recht ärgerlich: ›Geschieht auch diese Frage der Wissenschaft zuliebe?‹ – ›Es wäre‹, gab er zurück, ohne meine Erregung zu beachten, ›für die Wissenschaft sehr wichtig, an Ort und Stelle die seelischen Veränderungen in den Leuten zu beobachten, aber . . .‹ – ›Sind Sie Irrenarzt?‹ unterbrach ich ihn. – ›Jeder Doktor sollte das sein – ein wenig‹, gab der originelle Kauz unbeirrt zurück. ›Ich habe da eine kleine Theorie, die ihr Herren, die ihr dort hinausgeht, mir zu beweisen helfen müßt. Das ist mein Anteil an den Vorteilen, die mein Land aus dem Besitz so herrlicher Ländereien ziehen soll. Den bloßen Wohlstand überlasse ich anderen. Entschuldigen Sie meine Fragen, aber Sie sind der erste Engländer, den ich beobachten kann . . .‹ Ich beeilte mich, ihm zu versichern, daß ich in keiner Weise typisch wäre. ›Wäre ich das‹, meinte ich, ›dann unterhielte ich mich nicht so mit Ihnen‹. – ›Was Sie sagen, ist recht tiefsinnig und wahrscheinlich auch falsch‹, meinte er lachend. Vermeiden Sie jede Erregung mehr noch als grelle Sonne. Adieu! Wie sagt ihr Engländer? Good-bye. Ach ja, good-bye. Adieu. In den Tropen muß man vor allem anderen Ruhe bewahren . . .‹ Er hob warnend den Zeigefinger ›Du calme, du calme. Adieu.‹

Es blieb noch eines zu tun: meiner ausgezeichneten Tante Lebewohl zu sagen. Ich fand sie frohlockend. Sie bot mir eine Tasse Tee an – die letzte anständige Tasse Tee für viele Tage – in einem Zimmer, das äußerst ansprechend, gerade so aussah, wie man es vom Wohnzimmer einer Dame gerne erwartet, hatten wir am Feuer einen guten, langen Plausch. Im Laufe dieser Herzensergüsse wurde es mir offenbar, daß ich der Gemahlin des hohen Würdenträgers und Gott weiß wie vielen Leuten sonst noch als ein begnadeter Ausnahmemensch dargestellt worden war, geradezu als ein Haupttreffer für die Gesellschaft, als ein Mann kurzum, wie er einem nicht alle Tage in die Finger läuft. Großer Gott im Himmel! Und dabei sollte ich den Befehl über einen Fünf-Pfennig-Flußdampfer übernehmen, mit einem Kinderpfeifchen daran. Darüber hinaus sollte ich scheinbar auch noch ein Arbeiter sein, ihr versteht mich schon, vom Schlage der Arbeiter im Weinberge, und etwas wie ein Sendbote des Lichts. Nicht viel weniger als ein Apostel. Gerade damals war eine Unmenge solchen Zeugs in Druck und Rede losgelassen worden, und die ausgezeichnete Frau hatte mitten im Strom des sie umgebenden Unsinns den Boden unter den Füßen verloren. Sie sprach davon, man müßte ›die unwissenden Millionen von ihren schlimmen Wegen abbringen‹, bis mir, Hand aufs Herz, ganz ungemütlich wurde. Ich wagte eine Andeutung, daß die Gesellschaft ein rein geschäftliches Unternehmen sei.

›Du vergißt, lieber Charlie, daß der Arbeiter seines Lohnes wert ist‹, erwiderte sie strahlend. Es ist merkwürdig, wie weit entfernt die Frauen von der Wahrheit sind. Sie leben in einer Welt ihrer eigenen Schöpfung, dergleichen es nie gegeben hat und auch nie geben kann. Denn diese Welt wäre zu schön, und wollten sie sie wirklich in den Raum stellen, so würde sie vor dem ersten Sonnenuntergang in Stücke gehen. Die eine oder die andere der verwünschten Tatsachen, die wir Männer vom Tage der Schöpfung an ruhig in den Kauf genommen haben, würde aufstehen und alles umstürzen.

Daraufhin wurde ich umarmt, gebeten, Flanell zu tragen, ganz bestimmt oft zu schreiben und so weiter; dann ging ich. In der Straße – ich weiß nicht, warum – überkam mich das peinliche Gefühl, ich sei ein Hochstapler. Merkwürdig genug war es, daß ich, der ich doch sonst gewohnt war, innerhalb einer Frist von vierundzwanzig Stunden nach jedem beliebigen Punkt der Welt aufzubrechen, ohne mehr Hemmungen als andere Leute sie beim Überqueren einer Straße empfinden – daß also ich vor dieser doch recht alltäglichen Geschichte nicht gerade zauderte, aber doch ein gewisses Unbehagen empfand. Ich kann es euch nicht besser erklären, als indem ich sage, ich hatte ein oder zwei Sekunden lang das Gefühl, daß ich nicht ins Innere eines Kontinents, sondern geradezu ins Erdinnere aufbrechen sollte.

Ich reiste auf einem französischen Dampfer, der jeden gesegneten Hafen anlief, den sie dort draußen haben, und zwar, soviel ich sehen konnte, zu dem einzigen Zweck, um Soldaten und Zollbeamte zu landen. Ich betrachtete die Küste. Eine Küste betrachten, wie sie am Schiff vorbeigleitet, kommt dem Nachdenken über ein Rätsel gleich. Da liegt sie vor euch – lachend, drohend, einladend, großartig oder langweilig, häßlich, wild vielleicht, immer stumm, und doch leise lockend: ›Komm und sieh selbst.‹ Die Küste dort war fast ohne Merkmal, als wäre sie noch im Wachsen, und wirkte eintönig, öde. Der Rand eines ungeheuren Dschungels von so dunklem Grün, daß es fast schwarz aussah, und von einem Streifen weißer Brandung umsäumt, lief kerzengerade, wie mit dem Lineal gezogen, weit, weit einem grellblauen Meer entlang, dessen Glitzern ein kriechender Dunst verschleierte. Die Sonne war unerbittlich, das Land schien von Wasserdampf zu triefen. Da und dort tauchten grauweiße Flecken auf, jenseits des Brandungsstreifens zusammengedrängt, mit einer wehenden Flagge darüber. Ansiedlungen, die vielleicht einige Jahrhunderte alt waren und doch auf dem ungeheuren Hintergrund kaum größer als Stecknadelköpfe wirkten. Wir stampften dahin, hielten an, landeten Truppen; fuhren weiter, landeten Beamte, die Zoll einheben sollten, in einem Landstrich, der eine gottverlassene Wildnis schien, mit einem Wellblechdach und einer Flaggenstange darin; landeten Truppen – wohl um die Zollwächter zu schützen. Wie ich hörte, ertranken einige davon in der Brandung, – doch ob so oder so, niemand schien sich sonderlich darum zu kümmern. Die Leute wurden einfach ausgesetzt, und wir fuhren weiter. Alle Tage sah die Küste gleich aus, als hätten wir uns nicht vom Fleck gerührt; doch kamen wir an mancherlei Orten vorbei, Handelsniederlassungen – mit Namen wie Groß-Bassam, Klein-Popo, Namen, wie aus einer schmutzigen Posse entlehnt, die vor einem düsteren Vorhang in Szene ging. Die träge Muße eines Passagiers, meine Einsamkeit unter all den Leuten, mit denen ich keinerlei Berührungspunkte hatte, die völlig langweilige See, das eintönige Dunkel der Küste schienen mich weitab von der wirklichen Welt in einer schwermütigen und sinnlosen Selbsttäuschung gefangenzuhalten. Die Stimme der Brandung, die ich dann und wann hörte, war mir eine rechte Freude, wie die Rede eines Bruders. Sie war etwas Natürliches, das seinen Grund und seinen Sinn hatte. Dann und wann gab einem ein Boot vom Ufer her eine kurzwährende Berührung mit der Wirklichkeit. Es wurde von schwarzen Kerlen gerudert, und man konnte schon von weitem das Weiß in ihren Augen blitzen sehen. Sie brüllten und sangen. Ihre Leiber waren überströmt von Schweiß, ihre Gesichter waren wie groteske Masken; doch hatten sie Knochen und Muskeln, eine wilde Lebenskraft, eine ungeheure Bewegungsenergie, das alles wirkte so natürlich und wahr wie die Brandung längs der Küste. Sie brauchten keine Entschuldigung für ihr Dasein. Es war ein großer Trost, sie anzusehen. Für eine Zeitlang hatte ich dann wieder das Gefühl, in einer Welt kerniger Tatsachen zu leben; doch das Gefühl hielt nicht lange an. Irgend etwas tauchte plötzlich auf und verscheuchte es. Einmal, erinnere ich mich, kamen wir an ein Kriegsschiff, das weitab der Küste vor Anker lag. Es war nicht einmal eine Niederlassung zu sehen, und der Panzerkreuzer beschoß den Urwald. Es ergab sich, daß die Franzosen an dieser Stelle gerade einen ihrer Kriege im Gange hatten. Die Flagge hing schlaff wie ein Fetzen am Toppmast. Die Mündungen der langen Acht-Zoll-Geschütze standen ringsherum über den niedrigen Rumpf hinaus; die träge, ölige Dünung hob und senkte das Schiff langsam und ließ die dünnen Masten schwanken. In der leeren Unendlichkeit von Land, Himmel und Wasser lag der Kreuzer da, unverständlich, und feuerte in einen Erdteil hinein. Bumm, ging eines der achtzölligen Geschütze los; eine schmale Stichflamme blitzte auf und verging, ein weißes Rauchwölkchen verwehte, ein schlankes Geschoß heulte kurz auf – und nichts geschah. Nichts konnte geschehen. Es lag etwas wie Irrsinn in dem Beginnen, eine fürchterliche Komik in dem Anblick; und es wurde nicht besser, als jemand an Bord mir ernsthaft versicherte, irgendwo, außer Sicht, befände sich ein Lager der Eingeborenen. Er nannte sie Feinde!

Wir übergaben dem Kreuzer seine Post (ich hörte, daß die Leute auf dem einsamen Schiff zu zwei und drei am Tage an Fieber starben) und fuhren weiter. Wir liefen noch einige Orte mit lächerlichen Namen an, wo der Brauttanz von Tod und Geschäft in einer reglosen, erdigen Luft, wie der einer überhitzten Katakombe, vor sich geht. Immer weiter entlang der gegliederten Küste mit ihrem Saum von gefährlicher Brandung, als hätte die Natur selbst Eindringlinge fernhalten wollen, hinein und heraus aus Flüssen, die vom Tod ins Leben strömten, deren Ufer fauliger Morast bildete, deren Wasser zu Schlamm verdickt waren; verkrümmte Mangroven ragten daraus hervor, die uns wie im Übermaß hilfloser Verzweiflung anzuflehen schienen. Wir hielten nirgends lange genug, um tiefere Eindrücke gewinnen zu können, doch ein zielloses, bedrückendes Staunen erfüllte mich mehr und mehr. Es war wie ein müdes Wandern auf Spuren böser Träume.

Mehr als dreißig Tage vergingen, bevor ich die Mündung des großen Stromes erblickte. Wir gingen vor dem Sitz der Regierung vor Anker. Meine Arbeit aber sollte erst etwa zweihundert Meilen weiter stromaufwärts beginnen. So machte ich mich also, so schnell es ging, nach einem Ort dreißig Meilen weiter oben auf den Weg.

Ich fuhr auf einem kleinen seetüchtigen Dampfer. Der Kapitän war ein Schwede und lud mich, da er mich als Seemann erkannte, auf die Brücke ein. Er war ein junger Mann, schlank, blond und mürrisch, mit schlichtem Haar und schleppendem Gang. Als wir den elenden kleinen Landungssteg verließen, deutete er mit dem Kopf verächtlich nach dem Ufer. »Waren Sie dort gewesen?« fragte er. Ich bejahte. »Feine Gesellschaft, diese Herren von der Regierung, nicht?« fuhr er fort und sprach sein Englisch mit großer Genauigkeit und erheblicher Verbitterung. »Es ist lustig, zu sehen, was manche Leute für ein paar Franken im Monat zu tun imstande sind. Ich möchte wohl wissen, was aus den Burschen wird, wenn sie ins Innere kommen.« – Ich sagte, daß ich das bald selbst zu sehen hoffte. »Soo!« rief er aus. Er schlurfte beiseite, spähte aber dabei mit einem Auge wachsam voraus. »Seien Sie nicht allzu sicher«, meinte er. »Letzthin habe ich einen Mann an Bord gehabt, der sich dann unterwegs aufgehängt hat. Es war noch dazu ein Schwede.« – »Sich aufgehängt hat? Warum, um Gottes willen?« rief ich. Er spähte immer noch scharf voraus. »Wer weiß das? Vielleicht ist ihm die Sonne zuviel geworden, oder das Land.«

Schließlich liefen wir in eine freie Stromstrecke ein. Eine Felsenklippe tauchte auf, aufgewühlte Erdhaufen am Ufer, ein paar Häuser auf einem Hügel, andere, mit Blechdächern, inmitten einer Wildnis von Ausgrabungen, oder schräg an den Hängen klebend. Der anhaltende Lärm der Stromschnellen weiter oben begleitete dieses Bild unbewohnter Verwüstung. Ein paar Leute, meist schwarz und nackt, krochen wie Ameisen umher. Ein Quai ragte in den Fluß hinein. Der blendende Sonnenschein ertränkte von Zeit zu Zeit alles in einem jähen Aufwallen von Licht. »Da ist die Station Ihrer Gesellschaft«, sagte der Schwede und wies auf drei hölzerne, barackenartige Gebäude an dem felsigen Hang. »Ich will Ihre Sachen hinauf schicken; vier Kisten, sagten Sie? So. Leben Sie wohl!«

Ich kam an einem Kessel vorbei, der im Grase lag, und fand dann einen Fußpfad, der den Hügel hinanführte, in einem Bogen um die Felsblöcke herum und desgleichen um eine kleine Bahnlore, die, umgekehrt, mit den Rädern in der Luft dalag. Ein Rad fehlte. Das Ding sah tot aus wie ein Tierkadaver. Ich kam noch an einigen verrotteten Maschinenteilen vorüber, auch an einem Haufen rostiger Schienen. Zur Linken bot eine Gruppe von Bäumen ein wenig Schatten, und schwarze Gestalten schienen sich langsam darin zu bewegen. Ich blinzelte hinüber; der Weg war steil. Rechts ertönte ein Hornsignal, und ich sah die Schwarzen davonrennen. Eine schwere und dumpfe Detonation erschütterte den Grund, eine Rauchwolke kam aus der Klippe heraus, und das war alles. Keine Veränderung zeigte sich an der Oberfläche des Felsens. Sie waren dabei, eine Eisenbahn zu bauen. Die Klippe war nicht im Wege, noch sonst etwas; aber diese ziellose Schießerei war die ganze Arbeit, die überhaupt getan wurde.

Ein leises Klirren hinter mir ließ mich den Kopf wenden. Sechs Schwarze kamen hintereinander daher und keuchten den Pfad herauf. Sie gingen gerade und langsam, trugen kleine Körbe mit Erde auf den Köpfen, und das Klirren hielt mit ihren Schritten Gleichmaß. Schwarze Fetzen waren um ihre Lenden gewickelt, und die kurzen Enden wippten hinter ihnen her wie Schwänze. Ich konnte jede Rippe sehen, ihre Gelenke waren wie Knoten in einem Tau; jeder trug ein eisernes Halsband, und sie alle waren untereinander mit einer Kette verbunden, deren Glieder gleichmäßig klirrend zwischen ihnen niederhingen. Ein neuer Schuß von der Klippe her ließ mich plötzlich an das Kriegsschiff denken, das ich in einen Erdteil hineinfeuern gesehen hatte. Es war der gleiche schicksalsschwere Ton; nur konnten diese Menschen hier beim besten Willen nicht als Feinde bezeichnet werden. Sie wurden Verbrecher genannt, und das verletzte Gesetz war ebenso wie die platzenden Schrapnells von jenseits des Meeres als ein unfaßbares Geheimnis zu ihnen gekommen. Alle die mageren Brustkasten keuchten zusammen, die heftig geblähten Nüstern zitterten, die Augen stierten krampfhaft nach oben. Sie gingen haarscharf an mir vorbei, ohne einen Blick, mit der völlig apathischen Gleichgültigkeit unglücklicher Wilder. Hinter dem Häuflein Elend kam einer der Bekehrten, die Frucht der neuen Kräfte, die am Werke waren, nachlässig einhergeschlendert und hielt ein Gewehr an der Laufmitte. Er trug eine Uniformjacke, an der ein Knopf fehlte und schulterte, als er einen weißen Mann am Wege sah, hastig seine Waffe. Das war einfache Vorsicht, da auf eine gewisse Entfernung die weißen Männer einander so ähnlich sind, daß er nicht wissen konnte, wer ich war. Er vergewisserte sich alsbald und schien mich mit einem breiten, zähneblitzenden, schuftigen Grinsen und einem Blick auf seine Schutzbefohlenen als Genossen seiner schönen Überzeugung begrüßen zu wollen. Im Grunde genommen hatte ich ja auch meinen Anteil an der heiligen Sache und den erhabenen und gerechten Vorgängen.

Anstatt weiter hinaufzugehen, wandte ich mich um und ging nach links wieder hinunter. Ich wollte die Gruppe von Gefesselten außer Sicht kommen lassen, bevor ich den Hügel erstieg. Ihr wißt ja, daß ich nicht besonders zart besaitet bin. Ich habe Schläge austeilen und abwehren müssen. Ich habe Widerstand leisten und manchmal auch angreifen müssen – was ja eine Art des Widerstandes ist –, ohne allzu genau nach dem Preis zu fragen, nur den Anforderungen der Lebensweise entsprechend, die ich mir erwählt hatte. Ich habe manch einen Teufel an Gewalttätigkeit, Habsucht und heißer Gier gesehen, aber bei allen Himmeln, das waren starke, frische, rotäugige Teufel, die ihre Leute – Männer, sage ich euch – richtig schüttelten und herumjagten. Während ich aber auf dem Hügelhang stand, sah ich voraus, daß ich in dem blendenden Sonnenschein dieses Landes die Bekanntschaft des schlappen, anmaßenden, zwinkernden Teufels einer verrückten und unbarmherzigen Gier machen würde. Wie heimtückisch er überdies noch sein konnte, das sollte ich erst einige Monate später und rund tausend Meilen weiter weg erfahren. Im Augenblick stand ich bestürzt da wie vor einer Warnung. Schließlich ging ich den Hügel hinunter, schräg auf die Bäume zu, die ich gesehen hatte.

Ich wich einem großen künstlichen Loch aus, das jemand in den Hang gegraben hatte, dessen Zweck aber nicht zu erraten war. Es war weder ein Steinbruch, noch eine Sandgrube, soviel stand fest. Einfach ein Loch. Seine Entstehung konnte vielleicht mit dem menschenfreundlichen Wunsch in Verbindung sein, den Verbrechern etwas zu tun zu geben. Ich weiß es nicht. Dann stürzte ich beinahe in eine ganz enge Schlucht, die kaum mehr war als eine Hiebwunde im Hügel. Ich entdeckte, daß eine Unmenge für die Ansiedlung eingeführter Drainageröhren darin aufgehäuft worden waren. Nicht eine davon war unzerbrochen. Als hätte sich jemand einen Scherz daraus gemacht. Endlich kam ich unter die Bäume. Meine Absicht war, im Schatten ein wenig zu verweilen; doch kaum war ich dort, so schien es mir schon, als wäre ich in die Düsternis irgendeines Inferno geraten. Die Stromschnellen waren nahe, und ein ununterbrochenes, eintöniges, betäubendes Geräusch erfüllte die trübe Stille des Haines, wo kein Atemzug zu hören war, kein Blatt sich rührte, mit einem geheimnisvollen Laut – als wäre das Dahinsausen des Erdballs durch den Raum plötzlich hörbar geworden.

Schwarze Gestalten kauerten, lagen, saßen zwischen den Bäumen, lehnten sich gegen die Stämme, klammerten sich an die Erde, halb in dem trüben Licht, halb im Schatten verborgen, in allen Stellungen des Schmerzes, der Auflösung und Verzweiflung. Wieder erdröhnte ein Sprengschuß von der Klippe her, von einem leichten Erzittern des Bodens unter meinen Füßen gefolgt. Die Arbeit ging ihren Gang. Die Arbeit! Und dies war der Ort, an den sich einige der Helfer zurückgezogen hatten, um zu sterben.

Sie starben langsam – das war klar. Sie waren keine Feinde, sie waren keine Verbrecher, sie waren nun nichts Irdisches mehr – nichts als schwarze Schatten, krank und verhungert, die durcheinander in dem grünen Dämmern lagen. Man hatte sie aus allen Winkeln der Küste auf Grund gesetzlich einwandfreier Arbeitsverträge zusammengeholt; verloren in der ungewohnten Umgebung, auf ungewohnte Nahrung gesetzt, siechten sie dahin, wurden untauglich und erhielten schließlich die Erlaubnis, beiseite zu kriechen und auszuruhen. Diese sterbenden Gestalten waren frei wie die Luft – und fast auch so dünn. Ich begann das Glitzern von Augen unter den Bäumen wahrzunehmen. Dann entdeckte ich beim Niederblicken ein Gesicht nahe an meiner Hand. Die schwarzen Gebeine lehnten der Länge nach mit einer Schulter gegen einen Baum, die Augenlider hoben sich langsam, und die eingefallenen Augen sahen zu mir auf, riesengroß und leer, mit einem blinden, weißlichen Flackern in den Tiefen der Augäpfel, das langsam erstarb. Der Mann schien jung, fast ein Knabe, – aber ihr wißt ja, wie schwer es bei den Leuten zu sagen ist. Mir fiel nichts anderes ein, als ihm einen der guten schwedischen Schiffszwiebacke anzubieten, die ich noch in der Tasche hatte. Die Finger schlossen sich langsam darum und hielten fest – es erfolgte keine andere Bewegung, kein anderer Blick. Er hatte sich ein Stück weißes Dochtgarn um den Hals gebunden. Warum? Wo hatte er es her? War es ein Abzeichen – ein Schmuck – ein Amulett – ein Talisman? Hatte es überhaupt besondere Bedeutung? Es sah überraschend genug an dem schwarzen Hals aus, das kleine Stück weißen Fadens von jenseits der See.

Nahe bei dem gleichen Baum hockten noch zwei scharfkantige Menschenbündel auf hochgezogenen Beinen. Der eine hielt das Kinn auf die Knie gestützt und starrte ins Leere, in einer unerträglichen, quälenden Art; sein Unglücksgefährte stützte sich die Stirn wie in übergroßer Müdigkeit, und ringsherum lagen andere in allen Stellungen jähen Zusammenbruchs, wie auf der Abbildung eines Massenmordes oder einer Pest. Während ich starr vor Entsetzen davorstand, erhob sich eines der Geschöpfe auf Hände und Knie und kroch auf allen vieren zum Fluß, um zu trinken. Es schlabbte aus freier Hand, setzte sich dann im Sonnenlicht auf, kreuzte die Schienbeine und ließ nach einer Zeit den Wollkopf auf das Brustbein niedersinken.

Ich hatte keine Lust mehr, im Schatten zu verweilen, und ging hastig der Station zu. In der Nähe der Gebäude traf ich einen Weißen von so unerwarteter Eleganz, daß ich ihn im ersten Augenblick für eine Erscheinung hielt. Ich bemerkte einen hohen, gestärkten Kragen, weiße Manschetten, eine Jacke aus leichtem Wollstoff, schneeweiße Beinkleider, einen lichten Selbstbinder und Lackschuhe. Keinen Hut. Das Haar gescheitelt, gebürstet, geölt, unter einem grüngestreiften Sonnenschirm, den eine große, weiße Hand hielt. Er wirkte einfach verblüffend und trug einen Federhalter hinter dem Ohr.

Ich wechselte mit dem Gotteswunder einen Händedruck und erfuhr, daß er der Oberbuchhalter der Gesellschaft sei und daß die gesamte Buchhaltung auf dieser Station erfolge. Er sei, so sagte er, für einen Augenblick herausgegangen, ›um ein wenig frische Luft zu schnappen.‹ Der Ausdruck mit seinem Hinweis auf einen Stubenhockerberuf klang wunderlich genug. Ich hätte den Burschen vor euch gar nicht erwähnt, hätte ich nicht von seinen Lippen zuerst den Namen des Mannes gehört, der für mich mit den Erinnerungen an jene Zeit unlöslich verbunden ist. Überdies empfand ich auch Hochachtung vor dem Menschen. Jawohl, ich achtete seinen Kragen, seine breiten Manschetten, sein gebürstetes Haar. Gewiß sah er wie die Probierpuppe eines Haarkünstlers aus, aber er hielt doch in der allgemeinen Verwahrlosung des Landes auf sein Äußeres. Das nennt man Rückgrat. Sein gestärkter Kragen und die gut gebügelte Hemdbrust waren Energieleistungen. Er war schon seit fast drei Jahren draußen; und später einmal konnte ich nicht umhin, ihn zu fragen, wie er es fertigbrachte, so gutgepflegte Wäsche zu haben. Er errötete ein ganz klein wenig und sagte bescheiden: ›Ich habe mir eines der eingeborenen Weiber von der Station abgerichtet. Es war nicht leicht. Sie hatte eine Abneigung gegen die Arbeit.‹ So hatte also dieser Mann tatsächlich etwas fertiggebracht. Auch hatte er eine Leidenschaft für seine Bücher, die in peinlichster Ordnung waren.

Alles andere in der Station war ein großer Wirrwarr – Köpfe, Dinge, Gebäude. Scharen von staubigen Negern mit schwieligen Füßen kamen an und gingen weg; ein Strom von Waren, elendes Baumwollzeug, Glasperlen und Kupferdraht ergoß sich in die Tiefen der Finsternis, und von dort sickerte Elfenbein in die Station herein.

Ich mußte in der Station zehn Tage warten – eine Ewigkeit. Ich lebte in einer Hütte im Garten, um aber dem Chaos zu entrinnen, flüchtete ich mich manchmal in das Kontor des Buchhalters. Es war aus waagrechten Brettern erbaut und so schlecht zusammengefügt, daß er, wenn er sich über seinen hohen Tisch beugte, von Kopf bis Fuß von schmalen Sonnenstreifen übersät war. Es war unnötig, den großen Fensterladen aufzumachen, wenn man sehen wollte. Auch war es dort heiß; große Fliegen surrten feindselig und stachen nicht nur einfach, sondern teilten Dolchstöße aus. Ich saß gewöhnlich auf dem Fußboden, während der Buchhalter tadellos gepflegt (und sogar leicht parfümiert) auf einem hohen Drehstuhl hockte und dauernd schrieb. Mitunter erhob er sich, um ein paar Schritte zu gehen. Als ein Rollbett mit einem Kranken (irgendeinem Agenten aus dem Innern) hereingeschoben wurde, zeigte er höfliche Ablehnung. ›Das Stöhnen dieses kranken Individuums lenkt meine Aufmerksamkeit ab. Und ohnedies ist es in diesem Klima unendlich schwierig, Rechenfehler zu vermeiden.‹

Eines Tages bemerkte er, ohne den Kopf zu heben: ›Im Innern werden Sie zweifellos auch Herrn Kurtz treffen!‹ Auf meine Frage, wer Herr Kurtz sei, meinte er, er sei ein ganz erstklassiger Agent; und angesichts meiner Enttäuschung über diese Auskunft fügte er langsam, während er seine Feder hinlegte, hinzu: ›Er ist eine außergewöhnliche Persönlichkeit.‹ Durch weitere Fragen brachte ich aus ihm heraus, daß Herr Kurtz augenblicklich an der Spitze einer Niederlassung stände, und zwar einer äußerst wichtigen im wahren Elfenbeinland, ›mitten im Speck‹. ›Schickt allein so viel Elfenbein herein wie alle die anderen zusammen . . .‹ Er machte sich wieder ans Schreiben. Dem Kranken ging es zu schlecht, als daß er noch hätte stöhnen können. Die großen Fliegen surrten ungestört.

Plötzlich gab es ein wachsendes Stimmengesumm und großes Fußgetrampel. Eine Karawane war hereingekommen. Ein wüstes Durcheinander ungefüger Laute brach jenseits der Plankenwand los. Alle die Träger sprachen auf einmal, und inmitten des Aufruhrs hörte man die klägliche Stimme des Hauptagenten, der es in Jammertönen ›aufgab‹, zum zwanzigsten Male an jenem Tage . . . Der Buchhalter stand langsam auf. ›Was für ein schauerlicher Lärm‹, sagte er. Er überquerte leise das Zimmer, um nach dem Kranken zu sehen, und sagte mir beim Zurückkommen: ›Er hört nichts!‹ – ›Was! tot?‹ fragte ich bestürzt. ›Nein, noch nicht‹, antwortete er mit größter Seelenruhe. Dann wies er mit einer Kopfbewegung auf das Getöse im Stationsgarten und meinte: ›Wenn man richtige Eintragungen zu machen hat, dann fängt man an, diese Wilden zu hassen – sie bis auf den Tod zu hassen.‹ Er blieb einen Augenblick nachdenklich und fuhr dann fort: ›Wenn Sie Herrn Kurtz sehen, richten Sie ihm von mir aus, daß alles hier‹ – dies mit einem Blick über den Tisch weg – ›zu aller Zufriedenheit verläuft. Ich möchte ihm nicht gerne schreiben – denn bei den Boten, die wir hier haben, weiß man nie, wer dort auf der Station den Brief in die Hände bekommt.‹ Er starrte mich eine Weile aus seinen milden, vorquellenden Augen an. ›Oh, er wird es weit, sehr weit bringen‹, begann er dann wieder. ›Er wird in nicht allzulanger Zeit in der Verwaltung sein Wörtlein mitzureden haben. Die dort oben – der Aufsichtsrat in Europa, Sie verstehen schon – haben manches mit ihm vor.‹

Er wendete sich wieder seiner Arbeit zu. Der Lärm draußen hatte aufgehört, und als ich nun hinausging, blieb ich an der Tür stehen. Mitten in dem stetigen Fliegengesumm lag der nach Europa bestimmte Agent bewußtlos, mit rotem Gesicht; der andere, über seine Bücher gebeugt, trug einwandfreie Geschäfte einwandfrei in seine Bücher ein; und fünfzig Fuß unterhalb der Schwelle konnte ich die stillen Baumwipfel des Totenhaines sehen.

Am nächsten Tag verließ ich endlich an der Spitze einer Karawane von sechzig Mann die Station, zu einem Marsch von zwanzig Meilen.

Es hat keinen Wert, euch viel davon zu erzählen. Pfade, Pfade überall. Ein festgetretenes Netzwerk von Fußpfaden, das sich über das unbewohnte Land breitete, durch hohes Gras, durch verbranntes Gras, durch Dickicht, durch kühle Schluchten hinauf und hinunter, hinauf und hinunter über felsige Hügel, die vor Hitze kochten; und Einsamkeit, Einsamkeit, niemand, nicht eine Hütte. Die Bevölkerung war längst ausgewandert. Nun, wenn eine Schar geheimnisvoller Neger, mit allerlei fürchterlichen Waffen behängt, es sich plötzlich einfallen ließe, auf der Straße zwischen Deal und Gravesend hin und her zu reisen und die Burschen links und rechts einzufangen, um sie schwere Lasten tragen zu lassen, so wäre wohl, denke ich mir, jedes Bauernhaus und jedes Dorf in der Gegend sehr schnell leer. Nur waren hier auch die Wohnungen dazu verschwunden. Ich kam zwar noch durch einige verlassene Dörfer. Es liegt etwas ergreifend Kindliches über Ruinen von Graswänden. Tagelang ging es weiter, mit dem Stampfen und Scharren von sechzig Paaren nackter Füße hinter mir, jedes Paar unter einer Sechzig-Pfund-Ladung. Lagern, kochen, schlafen, Lager abbrechen, marschieren. Da und dort ein Träger tot im Geschirr, der im langen Gras am Wege ruhte, eine leere Wasserflasche und seinen langen Stab neben sich. Große Stille ringsum und über uns. Nur in einer ruhigen Nacht vielleicht einmal das Dröhnen großer Trommeln, weit weg, abschwellend, anschwellend, ein dumpfer, ferner Laut, unheimlich, packend, wild – und vielleicht von ebenso tiefer Bedeutung wie die Glockenklänge in einem christlichen Lande. Einmal auch ein weißer Mann in aufgeknöpfter Uniform, der längs des Weges inmitten einer bewaffneten Eskorte schlanker Sansibarer lagerte, äußerst gastlich und festesfroh – um nicht zu sagen betrunken. Er sei dabei, die Instandhaltung der Straße zu beaufsichtigen. Ich kann nicht sagen, daß ich irgend etwas von Instandhaltung gesehen hätte, es sei denn, der Leichnam eines älteren Negers mit einem Kugelloch in der Stirn, über den ich etwa drei Meilen weiter weg geradezu stolperte, hätte als bleibende Verbesserung zu gelten. Ich hatte auch einen weißen Gefährten, keinen üblen Menschen soweit, doch etwas zu fleischig, und mit der niederträchtigen Gewohnheit, auf den heißen Hügelhängen in Ohnmacht zu fallen, meilenweit weg von dem kleinsten bißchen Schatten und Wasser. Es ist recht langweilig, müßt ihr wissen, den eigenen Rock wie einen Sonnenschirm über eines Mannes Haupt halten zu müssen, während er langsam wieder zu sich kommt. Einmal konnte ich mich nicht enthalten, ihn zu fragen, was er sich gedacht habe, als er hier herausgekommen sei. ›Um Geld zu machen, natürlich, was denn sonst?‹ gab er geringschätzig zurück. Dann bekam er Fieber und mußte in einer Hängematte getragen werden, die an eine Stange gehängt war. Da er fast zwei Zentner wog, so kam ich aus dem Ärger mit den Trägern nicht heraus. Sie wurden störrisch, rannten davon, rissen mit ihrer Ladung während der Nacht aus – eine förmliche Meuterei. So hielt ich eines Abends eine Ansprache, auf englisch, von Gebärden begleitet, von denen keine den sechzig Augenpaaren vor mir entging, und setzte am nächsten Morgen die Hängematte an der Spitze in Marsch. Eine Stunde später stieß ich auf das ganze Zeug, das verknäuelt im Gebüsch lag – den Mann, die Hängematte, die Decke, Wehgeschrei und allerhand Grausen. Die schwere Tragstange hatte ihm die Nase zerschunden. Er drang heftig in mich, ich sollte jemand umbringen, doch war weit und breit nicht der Schatten eines Trägers zu sehen. Mir fiel der alte Doktor ein: ›Es wäre für die Wissenschaft wünschenswert, an Ort und Stelle die seelischen Veränderungen in den Leuten beobachten zu können.‹ Ich fühlte, wie ich langsam für die Wissenschaft interessant wurde. Aber das alles hat ja keinen Zweck. Am fünfzehnten Tage bekam ich wieder den großen Strom in Sicht und hinkte in die Hauptstation. Sie war an einem Nebenarm angelegt und von Busch und Wald umgeben, mit einem netten Gürtel übelriechenden Morastes auf einer Seite und auf den drei anderen von einem wackeligen Schilfzaun umschlossen. Als Eingangstor diente eine Art Bresche, und der erste Blick auf das Ganze zeigte zur Genüge, daß die unerhörteste Schlamperei herrschte. Weiße Männer mit langen Stöcken in den Händen tauchten träge zwischen den Gebäuden auf, schlenderten her, um einen Blick auf mich zu werfen und verzogen sich dann wieder irgendwohin. Einer von ihnen, ein stämmiger, jähzorniger Mensch mit schwarzem Schnurrbart, teilte mir, sobald ich mich ihm vorgestellt hatte, mit großer Zungenfertigkeit mit, daß mein Dampfer auf dem Grunde des Flusses liege. Ich war wie vom Donner gerührt. ›Was, wieso, warum?‹ – ›Oh, es war all right‹, der Manager in Person sei dabeigewesen. Alles in Ordnung, jedermann hat sich großartig benommen. Großartig! Sie müssen‹, sagte er mir aufgeregt, ›sofort den Direktor aufsuchen, er erwartet Sie!‹

Damals sah ich die tatsächliche Bedeutung dieses Schiffbruchs nicht sofort ein. Heute glaube ich sie zu sehen, bin dessen aber durchaus nicht recht sicher – durchaus nicht. Sicherlich war die ganze Geschichte, wenn ich sie heute nochmals überlege, zu dumm, als daß dabei alles ganz natürlich hätte zugehen können. Gut . . . Damals aber, im ersten Augenblick, stellte es sich einfach als niederträchtiges Pech dar. Der Dampfer war gesunken. Sie waren zwei Tage zuvor in plötzlicher Hast mit dem Direktor an Bord stromaufwärts losgefahren, unter dem Kommando irgendeines freiwilligen Kapitäns, der, bevor sie noch drei Stunden weit gefahren waren, dem Schiff auf dem steinigen Grund den Boden eingedrückt hatte, so daß es nahe dem Südufer gesunken war. Ich fragte mich, was ich da zu suchen hatte, da doch mein Schiff verloren war. Tatsächlich hatte ich Arbeit in Fülle, um mein Boot aus dem Fluß herauszufischen. Ich mußte mich sofort am nächsten Tage daranmachen. Das und die Ausbesserung, als ich endlich die Stücke in die Station gebracht hatte, nahm mehrere Monate in Anspruch.

Meine erste Unterredung mit dem Direktor war merkwürdig. Er bot mir nach meinem Morgenmarsch von zwanzig Meilen keinen Platz an. Seine Gesichtsfarbe war so alltäglich wie seine Züge, sein Benehmen und seine Stimme. Er war mittelgroß und durchaus gewöhnlich gebaut. Seine Augen, vom üblichen Blau, waren vielleicht bemerkenswert durch ihre Kälte, und tatsächlich konnte er seinen Blick schneidend und schwer wie einen Axthieb auf einem ruhen lassen. Doch selbst dann schien der Rest seiner Persönlichkeit die Absicht Lügen zu strafen. Im übrigen war da noch ein unbeschreiblich flüchtiger Ausdruck auf seinen Lippen, etwas Verstohlenes – ein Lächeln – kein Lächeln – ich sehe es noch vor mir, kann es aber nicht beschreiben. Es war augenscheinlich unbewußt, dieses Lächeln, obwohl es sich nach jedem seiner Sätze für einen Augenblick verstärkte. Es stellte sich am Ende seiner Reden ein und wirkte wie ein Siegel, das den Worten aufgedrückt wurde, um den Sinn noch des alltäglichsten Satzes unergründlich erscheinen zu lassen. Er war ein gewöhnlicher Händler, der von Jugend an in diesen Gegenden gearbeitet hatte – nichts weiter. Man gehorchte ihm, doch flößte er weder Liebe noch Furcht ein, nicht einmal Achtung. Unbehagen war es, was er einflößte. Das war es, Unbehagen. Nicht ausgesprochenes Mißtrauen nur Unbehagen. Nicht mehr. Ihr macht euch keine Vorstellung, wie wirksam eine solche . . . Fähigkeit sein kann. Ihm fehlte die Gabe, aus sich heraus etwas zu schaffen, Anordnungen zu geben oder auch nur, Vorhandenes in Ordnung zu halten. Das zeigte sich unter anderem zur Genüge in dem trostlosen Zustand der Station. Er hatte keine Vorbildung, keine Intelligenz. Auf seinen Posten war er gekommen – wodurch? Vielleicht, weil er niemals krank war . . . Er hatte dort draußen drei Dreijahrsfristen abgedient . . . Denn strotzende Gesundheit inmitten allgemeinen körperlichen Verfalls bildet in sich selbst eine Art Macht. Wenn er auf Urlaub heimging, dann lebte er auf großem Fuß, in Saus und Braus, wie irgendein Matrose auf Landurlaub – der Unterschied lag nur im rein Äußerlichen. Das konnte man aus seinen gelegentlichen Bemerkungen entnehmen. Er schuf nichts, er konnte einfach nur die Arbeit in Gang halten. Sonst nichts. Doch er war groß. Er war groß infolge der einen Kleinigkeit, daß es unmöglich zu sagen war, was über einen solchen Mann Gewalt haben konnte. Dieses Geheimnis gab er nie aus der Hand. Vielleicht war gar nichts in ihm. Diese Vermutung mußte einen nachdenklich stimmen – denn äußere Hemmungen gab es ja dort draußen nicht. Einmal, als verschiedene Tropenkrankheiten so ziemlich jeden einzelnen ›Agenten‹ in der Station umgelegt hatten, hörte man ihn sagen: ›Leute, die hier herauskommen, sollten keine Eingeweide haben.‹ Er besiegelte den Ausspruch mit seinem gewissen Lächeln, als hätten die Worte die Tür zu einer Finsternis gebildet, die er in persönlicher Verwahrung hatte. Man konnte sich einbilden, Dinge gesehen zu haben – aber das Siegel stand davor. Als ihn bei den Mahlzeiten die ewigen Stänkereien der Weißen über den Vortritt geärgert hatten, ließ er einen ungeheuren runden Tisch machen, für den eigens ein Haus gebaut werden mußte. Das war dann der Meßraum der Station. Wo der Direktor saß, war der erste Platz – der Rest war nirgends. Man fühlte, daß dies seine unumstößliche Überzeugung war. Er war weder höflich noch unhöflich. Er war ruhig. Er erlaubte seinem Boy – einem überfütterten jungen Neger von der Küste –, vor seinen Augen den Weißen mit herausfordernder Frechheit zu begegnen. Sobald er meiner ansichtig wurde, begann er zu sprechen. Ich sei recht lange unterwegs gewesen, er habe nicht warten können. Habe ohne mich aufbrechen müssen. Die Stationen stromaufwärts hätten frisch versorgt werden müssen. Es habe bis dahin schon soviel Aufschub gegeben, daß er gar nicht mehr wisse, wer schon tot und wer noch am Leben sei, was sie alle trieben und so weiter und so weiter. Meine Erklärung beachtete er nicht, sondern wiederholte mehrmals, während er mit einer Stange Siegellack spielte, daß die Lage ›sehr, sehr ernst‹ sei. Es liefen Gerüchte um, daß eine äußerst wichtige Station in Gefahr sei und ihr Chef, Herr Kurtz, erkrankt. Er hoffe, daß es nicht wahr sei. Herr Kurtz sei . . . Ich fühlte mich müde und gereizt. Zum Teufel mit Kurtz, dachte ich. Ich unterbrach ihn mit der Mitteilung, daß ich von Kurtz an der Küste gehört hätte. ›Oh! So sprechen die da unten schon von ihm!‹ murmelte er vor sich hin. Dann sprach er weiter und versicherte mir, daß Herr Kurtz sein bester Agent sei, ein Ausnahmemensch, von größter Wichtigkeit für die Gesellschaft; darum würde ich wohl seine Sorge begreifen können. Er war, wie er mir sagte, ›sehr, sehr besorgt!‹, zerbrach die Stange Siegellack und schien über diesen Zwischenfall wie vom Donner gerührt. Als nächstes wünschte er zu wissen, wieviel Zeit es wohl brauchen würde, um . . . Ich unterbrach ihn abermals. Da ich hungrig war, versteht ihr, und er mich stehen ließ, so wurde ich allmählich wild. ›Wie könnte ich das sagen‹, warf ich hin. ›Ich habe das Wrack noch nicht einmal gesehen – ein paar Monate zweifellos.‹ Das ganze Gerede schien mir so nichtig. ›Ein paar Monate‹, sagte er. ›Nun, sagen wir drei Monate, bevor wir wieder aufbrechen können. Ja. Das sollte für die Geschichte wohl genügen.‹ Ich rannte aus seiner Hütte hinaus (er lebte ganz allein in einer Lehmhütte mit einer Art Veranda) und murmelte dabei meine Ansicht über ihn vor mich hin. Er war ein geschwätziger Trottel. Das nahm ich später zurück, als sich mir die Erkenntnis aufdrängte, mit wie ungewöhnlicher Genauigkeit er die Zeitspanne für die ›Geschichte‹ abgeschätzt hatte.

Ich ging am nächsten Tag an die Arbeit und wandte sozusagen der Station den Rücken. Nur so erschien es mir möglich, meinen Anteil am werktätigen Leben weiter zu sichern. Immerhin muß man sich ja mitunter umsehen; und dann sah ich diese Station, diese Männer, die ziellos im Sonnenschein des Gartens herumschlenderten. Mitunter fragte ich mich, was das alles wohl bedeuten sollte. Sie wanderten da- und dorthin, mit ihren lächerlichen langen Stäben in den Händen, wie eine Schar ungläubiger Pilger in die baufällige Umzäunung gebannt. Das Wort ›Elfenbein‹ zitterte in der Luft, wurde geflüstert, wurde geseufzt. Man hätte glauben können, sie beteten es an. Ein Hauch törichter Raffsucht wehte durch all das, wie die Ausdünstung eines Kadavers. Bei Gott! Nie in meinem Leben habe ich etwas so Unwirkliches gesehen. Und die stille Wildnis außerhalb, die diesen gelichteten Erdenfleck umgab, sprach mich wie etwas unbesiegbar Großes an, wie das Böse oder die Wahrheit schlechthin, ruhig wartend, daß der verrückte Einbruch sein Ende finden möge.

Oh, diese Monate! Reden wir nicht davon! Verschiedenes ereignete sich. Eines Abends brach in einem Schilfschuppen voll Kaliko, bedrucktem Kattun, Glasperlen und ich weiß nicht, was sonst noch, ein Brand aus, und zwar so plötzlich, daß man hätte glauben können, die Erde habe sich geöffnet, um durch ein rächendes Feuer den ganzen Plunder verzehren zu lassen. Ich rauchte eben ruhig meine Pfeife neben meinem abgetakelten Dampfer und sah sie alle mit hochgeworfenen Armen vor dem Lichtschein herumtanzen, als der stämmige Mann mit dem Schnurrbart zum Fluß heruntergesaust kam, mit einem Blechkübel in der Hand mir versicherte, daß alle sich ›großartig, großartig hielten‹, etwa einen viertel Liter Wasser schöpfte und wieder zurückrannte. Ich bemerkte auch, daß sein Eimer ein Loch im Boden hatte.

Ich schlenderte hinauf. Eile war unnötig. Das Ding war ja abgebrannt wie eine Streichholzschachtel. Hoffnungslos vom ersten Augenblick an. Die Flamme war hochgeschossen, hatte alles zurückgetrieben, alles beleuchtet – und war wieder zusammengesunken. Der Schuppen war nur noch ein Haufen glühender Asche. Nahebei wurde ein Neger geprügelt. Man sagte mir, er habe den Brand auf irgendeine Weise verschuldet; ob das nun stimmte oder nicht, jedenfalls schrie er ganz fürchterlich. Ich sah ihn später einige Tage lang in einem kleinen Schattenwinkel sitzen; er sah recht elend aus und versuchte, sich zu erholen; schließlich erhob er sich, ging weg – und die Wildnis nahm ihn lautlos wieder an ihre Brust. Als ich mich aus dem Dunkel der Glut näherte, fand ich mich plötzlich gerade hinter zwei Männern, die miteinander sprachen. Ich hörte den Namen Kurtz nennen, dann die Worte ›Vorteil aus dem unglücklichen Zufall ziehen‹. Einer der Männer war der Direktor. Ich wünschte ihm einen guten Abend. ›Haben Sie jemals so was gesehen, wie? Es ist unglaublich‹ sagte er und ging davon. Der andere blieb. Er war ein erstklassiger Agent, jung, elegant, ein wenig verschlossen, mit einem kleinen Spitzbart und einer Hakennase. Er war zurückhaltend gegen die anderen Agenten, die ihrerseits behaupteten, er sei vom Direktor bestellt, um sie zu bespitzeln. Ich selbst hatte kaum je zuvor mit ihm gesprochen. Wir kamen ins Gespräch und schlenderten allmählich von den zischenden Trümmern fort. Dann lud er mich auf sein Zimmer ein, das im Hauptgebäude der Station lag. Er strich ein Zündholz an, und ich konnte feststellen, daß der junge Aristokrat nicht nur silbernes Toilettezeug, sondern auch eine ganze Kerze für sich allein hatte. Gerade damals wurde allgemein angenommen, daß einzig der Direktor ein Recht auf Kerzen hätte. Matten in Negerarbeit bedeckten die Lehmwände; eine Sammlung von Speeren, Assagaien, Schilden und Messern war zur Trophäe zusammengestellt. Das Amt, das diesem Burschen anvertraut war, war die Herstellung von Ziegeln – so hatte man mir gesagt; doch war nirgends in der Station das kleinste Stückchen Ziegel zu sehen, und er war länger als ein Jahr da – und wartete. Anscheinend konnte er Ziegel nicht ohne irgend etwas machen, ich weiß nicht was – Stroh vielleicht. Jedenfalls war es dort draußen nicht zu finden, und da kaum anzunehmen war, daß es aus Europa geschickt werden würde, so schien es mir nicht ganz klar, worauf er wartete. Vielleicht auf einen besonderen Schöpfungsakt. Doch warteten ja sie alle – alle die sechzehn oder zwanzig Pilger – auf irgend etwas; und auf mein Wort, nach der Art, wie sie es taten, schien es keine üble Beschäftigung, wenn auch, soviel ich sehen konnte, keinem von ihnen etwas anderes zuteil wurde, als irgendeine Krankheit. Sie schlugen die Zeit damit tot, indem sie einer gegen den anderen in der kindischsten Weise hetzten und wühlten. In der ganzen Station herrschte geradezu Verschwörerstimmung; aber natürlich kam es nie zu einem greifbaren Ergebnis. Das eine war so unwirklich wie alles andere – wie die menschenfreundlichen Vorwände des ganzen Unternehmens, wie ihr Gerede, ihre Herrschaft, ihre angebliche Arbeit. Das einzig echte Gefühl war die Sehnsucht, auf eine Faktorei im Innern zu kommen, wo Elfenbein zu holen und also auf Prozente zu rechnen war. Sie verklatschten, verleumdeten und haßten einander einzig deswegen; aber wirklich einen kleinen Finger rühren, o nein! Bei Gott – schließlich gibt es in der Welt doch eine Art Gesetz, das einem Mann erlaubt, ein Pferd zu stehlen, während ein anderer nicht einmal nach der Halfter sehen darf. Geradeswegs ein Pferd zu stehlen. Ganz recht. Er hat es getan, vielleicht kann er reiten. Aber es gibt eine Art, nach einer Halfter zu sehen, die den mitleidigsten aller Heiligen dazu bringen könnte, einfach dreinzuschlagen.

Ich hatte keine Ahnung, warum es ihm paßte, sich gesellig zu zeigen. Als wir aber in seinem Zimmer plauderten, merkte ich plötzlich, daß der Bursche etwas herausbringen und mich wirklich aushorchen wollte. Er spielte unaufhörlich auf Europa an, auf die Leute, die ich nach allgemeiner Ansicht dort kannte, fragte auch geradezu nach meinen Bekannten in der Grabesstadt, und so weiter. Seine kleinen Augen glitzerten wie Glimmerschein vor Neugierde, obwohl er sich mühte, wenigstens einen Rest von Hochmut beizubehalten. Zuerst war ich erstaunt, doch sehr bald wurde ich höchst neugierig, zu erfahren, was er eigentlich aus mir herausbringen wollte. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, was an mir ihm der Mühe wert scheinen mochte. Es war lustig, zu sehen, wie er sich vergeblich mühte. Denn tatsächlich hatte ich ja nichts als Fieberschauer im Leibe, und im Kopfe nichts weiter als die verteufelte Sache mit meinem Dampfer. Es war offenbar, daß er mich für einen ausgemachten Ränkeschmied hielt. Schließlich wurde er böse und gähnte, um eine Bewegung wütenden Ärgers zu verbergen. Ich erhob mich. Dann bemerkte ich eine kleine Ölskizze, auf Holz gemalt; sie stellte eine verhüllte Frau mit verbundenen Augen dar, die eine brennende Fackel trug. Der Hintergrund war dunkel, fast schwarz, die Bewegung der Frau war gemessen und die Wirkung des Fackellichtes auf dem Gesicht unheimlich.

Das ließ mich anhalten, und der Hausherr stand höflich dabei und hielt eine Champagnerflasche hoch, in deren Hals die Kerze steckte. Auf meine Frage sagte er mir, daß Herr Kurtz das gemalt habe, in ebendieser Station, vor mehr als einem Jahr, während er auf eine Gelegenheit wartete, nach seiner Faktorei abzugehen. ›Sagen Sie mir bitte‹, fragte ich, ›wer ist dieser Herr Kurtz?‹

›Der Chef der Station im Innern‹, gab der andere kurz zurück und sah weg. ›Sehr verbunden‹, sagte ich. ›Und Sie sind der Ziegelmacher der Hauptstation, jedes Kind weiß das.‹ Er schwieg eine Weile. ›Er ist ein Wunder‹, meinte er schließlich, ›ein Sendbote des Erbarmens, der Wissenschaft, des Fortschritts und weiß der Teufel sonst noch was. Wir brauchen‹, begann er plötzlich zu deklamieren, ›zur Durchführung der gerechten Sache, die uns von Europa anvertraut wurde, wenn wir so sagen wollen, höhere Intelligenz, ein weites Herz und Zielfestigkeit.‹ – ›Wer sagt das‹, fragte ich. – ›Viele von ihnen‹, sagte er. ›Manche schreiben es sogar; und so kommt er also hierher, ein besonderes Wesen, wie Sie ja wissen werden.‹ – ›Warum sollte ich das wissen‹, fiel ich ehrlich überrascht ein. Er beachtete es nicht. ›Ja, heute ist er Chef der besten Station, im nächsten Jahr wird er stellvertretender Direktor sein, nach weiteren zwei Jahren . . . aber ich denke, Sie wissen ja selbst am besten, was er in zwei Jahren sein wird. Sie sind auch von dem neuen Schlage – von den Tugendhaften. Dieselben Leute, die ihn hergeschickt, haben auch Sie besonders empfohlen. Oh, sagen Sie nicht nein, ich habe es mit eigenen Augen gesehen.‹ Mir ging ein Licht auf. Die einflußreichen Bekannten meiner lieben Tante brachten auf diesen Mann eine unerwartete Wirkung hervor. Fast wäre ich in ein Gelächter ausgebrochen. ›Lesen Sie die Geheimkorrespondenz der Gesellschaft?‹ fragte ich. Er konnte nichts darauf erwidern. Es war ungeheuer lustig. ›Wenn Herr Kurtz Generaldirektor ist‹, fuhr ich streng fort, ›werden Sie keine Gelegenheit mehr dazu haben.‹

Er blies plötzlich die Kerze aus, und wir gingen hinaus. Der Mond war aufgegangen. Schwarze Gestalten gingen lautlos herum und gossen Wasser auf die zischende Glut; Dampf wallte im Mondlicht auf, der geprügelte Neger stöhnte irgendwo. ›Was für einen Lärm das Vieh macht‹, sagte der rührige Mann mit dem Schnurrbart, der neben uns auftauchte. ›Recht ist ihm geschehen. Vergehen – Strafe – Punktum! – erbarmungslos. Das ist der einzige Weg. Das wird in Zukunft alle Brände verhüten. Ich habe eben dem Direktor gesagt . . . .‹ Er bemerkte meinen Gefährten und wurde sofort kleinlaut. ›Noch nicht zu Bett‹, sagte er mit kriecherischer Herzlichkeit. ›Es ist so natürlich! – Gefahr – Aufregung.‹ Damit verschwand er. Ich ging zum Flußufer hinunter, und der andere folgte mir. Ich hörte ein böses Zischen an meinem Ohr. ›Diese Dummköpfe – mögen sie zum Teufel gehen!‹ Man konnte die Pilger in Gruppen zusammenstehen und mit eifrigen Gebärden sprechen sehen. Viele hatten noch ihre Stäbe in den Händen. Ich glaube wirklich, sie nahmen diese Stäbe mit ins Bett. Jenseits der Umzäunung ragte der Wald gespenstisch im Mondlicht auf, und über die leise Bewegung, die schwachen Laute des jämmerlichen Gartenplatzes weg drang einem die Stille des Landes draußen gerade ins Herz: sein Geheimnis, seine Größe, die packende Tatsächlichkeit seines verborgenen Lebens. Der geprügelte Neger stöhnte leise irgendwo in der Nähe und stieß dann einen tiefen Seufzer aus, der mich zu schleunigem Weitergehen veranlaßte. Ich fühlte, wie sich eine Hand unter meinen Arm schob. ›Mein lieber Herr‹, sagte der Bursche, ›ich möchte nicht mißverstanden werden und besonders nicht von Ihnen, der Sie ja Herrn Kurtz sehen werden, lange bevor mir das Vergnügen beschieden sein wird. Ich möchte nicht, daß er einen falschen Begriff von meiner Sinnesart bekommt . . .

Ich ließ ihn weitermachen, diesen Mephisto aus Pappendeckel, und hatte dabei den Eindruck, daß ich, wenn ich nur wollte, meinen Zeigefinger glatt durch ihn durchstecken und dabei auf nichts als vielleicht ein wenig losen Unrat stoßen würde. Ihr seht schon, er hatte sich ausgedacht, nach und nach unter dem gegenwärtigen Manne stellvertretender Direktor zu werden, und ich konnte wohl sehen, daß die Ankunft dieses Kurtz sie beide nicht wenig beunruhigt hatte. Er sprach überstürzt, und ich machte keinen Versuch, ihm Einhalt zu tun. Ich lehnte mit den Schultern gegen das Wrack meines Dampfers, der wie der Kadaver irgendeines großen Flußtieres auf das Ufer heraufgezogen war. Der Geruch von Schlamm, von Urschlamm, bei Gott, war in meinen Nüstern, die tiefe Stille des Urwaldes breitete sich vor meinen Augen; Lichtflecke tanzten auf der schwarzen Wasserfläche. Der Mond hatte alles mit einem leisen Silberglanz überzogen – das hohe Gras, den Schlamm, die Mauern wuchernden Pflanzenwuchses, die höher als eine Tempelmauer emporragten; und auch den großen Strom selbst, den ich da und dort aufblitzen sah, während er lautlos, breit dahinfloß. All dies war groß, erwartungsvoll, stumm, während der Mann über sich selbst schwatzte. Ich fragte mich, ob die Ruhe auf dem Antlitz der Unendlichkeit, die uns anblickte, als Bitte oder als Drohung gemeint war. Wer waren wir, die wir hier eingedrungen waren? Konnten wir das ungefüge Ding handhaben oder würde es uns handhaben? Ich fühlte plötzlich, wie groß, wie unheimlich groß das Ding war, das nicht sprechen konnte und vielleicht ebensowenig hören. Was war dort drin? Ich konnte sehen, daß ein wenig Elfenbein von da herauskam, und hatte gehört, daß Herr Kurtz dort drin war. Ich hatte sogar reichlich genug davon gehört – weiß Gott! Und doch hatte ich mir noch kein rechtes Bild machen können. Nicht mehr, als hätte man mir gesagt, ein Engel oder ein Teufel sei dort drin. Ich glaubte es einfach, so wie einer von euch etwa glauben könnte, daß der Mars bewohnt ist. Ich habe einmal einen schottischen Segelmacher gekannt, der sicher, einfach totsicher wußte, daß Leute auf dem Mars wohnten. Fragte man ihn, wie sie seiner Meinung nach aussähen und sich benähmen, dann wurde er verlegen und murmelte irgend etwas von ›auf allen vieren gehen‹. Zeigte man daraufhin auch nur das leiseste Lächeln, so trug er einem, obwohl über Sechzig, einen Boxkampf an. Ich wäre natürlich nicht so weit gegangen, für Kurtz einen Kampf zu wagen, aber doch ging ich fast bis zu einer Lüge. Ihr wißt ja, daß ich jede Lüge hasse, verabscheue und unerträglich finde. Nicht etwa, weil ich geradsinniger bin als die meisten von uns, sondern einfach, weil sie mich erschreckt. Ich wittere darin einen Hauch von Tod und Verwesung – von eben dem, was ich in der Welt am meisten verabscheue und zu vergessen wünsche. Es macht mir Übelkeit, als kriegte ich etwas Verdorbenes zwischen die Zähne. Eine Temperamentsfrage, nehme ich an. Nun also, ich ging hart bis zu einer Lüge, indem ich den jungen Narren, soviel wie er nur Lust hatte, an meine Beziehungen in Europa glauben ließ. Im Handumdrehen wurde ich genauso zum Heuchler wie der Rest der Pilger. Und das alles einfach aus dem Grunde, weil ich das dunkle Gefühl hatte, als könnte es für jenen Herrn Kurtz, von dem ich mir damals noch kein Bild machen konnte, von Nutzen sein. Er war für mich nur ein Wort. Ich sah den Mann hinter dem Namen nicht besser, als ihr es tut. Seht ihr ihn? Seht ihr die Geschichte? Seht ihr irgend etwas? Mir kommt es vor, als versuchte ich euch einen Traum zu erzählen, versuchte es vergebens, denn niemals kann die Erzählung eines Traumes das Traumhafte wiedergeben. Dieses Gefühl, aus widersinniger Überraschung und bestürzter Gegenwehr gemischt, das Bewußtsein, von dem Unglaublichen gefangen zu sein, das ja das Wesentliche an allen Träumen ist . . .«

Er schwieg eine Weile.

». . . Nein, es ist unmöglich; es ist unmöglich, die Lebendigkeit irgendeines Abschnittes aus unserem Dasein wiederherzustellen, – das, was die Wahrheit, den Sinn und das innerste Wesen eines Erlebnisses ausmacht. Es ist unmöglich. Wir leben wie wir träumen – allein . . .«

Wieder unterbrach er sich, als müßte er nachdenken, und fügte dann hinzu:

»Natürlich seht ihr in dieser Geschichte jetzt schon mehr, als ich es damals tun konnte. Ihr seht mich, den ihr ja kennt . . .«

Es war so stockdunkel geworden, daß wir Zuhörer einander kaum mehr sehen konnten. Seit langem schon war Marlow, der abseits saß, für uns nur noch eine Stimme gewesen. Niemand sprach ein Wort. Die anderen mochten eingeschlafen sein, doch ich war wach. Ich lauschte, lauschte und lauerte auf die Moral, auf das letzte Wort, auf die Erklärung für das leichte Unbehagen, das mir diese Geschichte erweckte, diese Geschichte, die sich allein, ohne Menschenlippen, aus der schweren Nachtluft des Flusses zu formen schien.

». . . Ja, ich ließ ihn weitermachen«, hob Marlow wieder an, »und bezüglich der Gewalten, die hinter mir standen, glauben, was er wollte. Das tat ich! Und doch war gar nichts hinter mir! Nichts, als das wracke, alte, verstümmelte Dampfboot, gegen das ich mich lehnte, während er fließend davon sprach, jeder Mann müsse ›trachten, vorwärtszukommen‹ – ›und wenn einer hier herauskommt, dann geschieht es nicht, um in den Mond zu sehen, wie Sie sich wohl denken können.‹ Herr Kurtz war ›ein Universalgenie‹, doch auch ein Genie mußte es wohl leichter finden, mit ›richtigen Werkzeugen – intelligenten Leuten‹ zu arbeiten. Er mache keine Ziegel – nun, dem stand eben ein ungewöhnliches Hindernis entgegen, wie ich mich überzeugen konnte. Und wenn er für den Manager Sekretärarbeit tat, so geschah das, weil ›kein vernünftiger Mensch unnötig das Vertrauen seiner Vorgesetzten zurückweist.‹ Ob ich das verstünde? Ich verstand es. Was ich sonst noch wünschte? Was mir wirklich fehlte, waren Nieten, bei Gott! um mit der Arbeit fortfahren, das Leck ausbessern zu können. Nieten brauchte ich. Drunten an der Küste standen Kisten voll davon. Kisten übereinandergetürmt, zerbrochen und zertrümmert. In dem Garten jener Station an dem Hügelhang stieß man bei jedem zweiten Schritt auf eine lose Niete. Nieten waren bis in den Todeshain gerollt. Man konnte sich die Taschen mit Nieten anfüllen, wenn man sich nur die Mühe nahm, sich zu bücken – hier aber, wo sie gebraucht wurden, war nicht eine einzige Niete zu finden. Wir hatten brauchbare Platten, aber nichts, um sie zu befestigen. Und jede Woche ging der Bote, ein einzelner Neger, den Postbeutel auf der Schulter und den Stab in der Hand, von der Station nach der Küste. Mehrmals in der Woche kam eine Küstenkarawane mit Tauschwaren herein. Schauerlich gestärkter Kaliko, daß einen das Schaudern ankam, wenn man ihn nur ansah, Glasperlen, von denen ein paar Hundert auf einen Penny gingen, dazu höllisch bunte baumwollene Taschentücher. Und keine Nieten. Drei Träger hätten alles bringen können, was für die Instandsetzung des Schiffes notwendig war.

Nun wurde der Bursche vertraulich, aber ich glaube, mein hartnäckiges Schweigen muß ihn schließlich außer sich gebracht haben, denn er hielt es für nötig, mir mitzuteilen, daß er weder Gott noch Teufel fürchtete, geschweige denn einen bloßen Menschen. Ich sagte, daß ich das recht gut sähe, daß aber das, was mir eigentlich fehlte, eine gewisse Anzahl von Nieten wäre – und Nieten wären es auch, die Herr Kurtz hauptsächlich wünschen würde, wenn er davon wüßte. Nun gingen ja wöchentlich Briefe zur Küste . . . ›Mein lieber Herr‹, rief er, ›ich schreibe unter Diktat.‹ Ich verlangte Nieten. Da gab es einen Weg – für einen intelligenten Menschen. Er änderte den Ton; wurde ganz kühl und begann plötzlich von Flußpferden zu sprechen. Erkundigte sich auch, ob es mir nicht unheimlich sei, an Bord des Schiffes zu schlafen (ich trennte mich bei Tag und bei Nacht nicht von meiner Bergung). Es gab da ein altes Flußpferd, das die üble Gewohnheit hatte, nachts auf das Ufer herauszukommen und die Umgebung der Station abzuwandern. Die Pilger pflegten in geschlossenem Haufen herauszukommen und alle Gewehre, deren sie habhaft werden konnten, auf das Tier zu entleeren. Einige waren sogar nächtelang deswegen aufgeblieben. Doch war aller dieser Aufwand vergeblich gewesen. ›Das Vieh hat ein Zauberleben‹, sagte er. ›Doch kann man das in diesem Lande nur von Tieren sagen. Keines, verstehen Sie mich, keines Mannes Leben hier ist durch Zauber geschützt.‹ Er stand einen Augenblick lang im Mondlicht, die feine Adlernase ein wenig hochgereckt, ein lichtes Flackern in den Glimmeraugen; dann ging er mit einem ›Gute Nacht‹ davon. Ich konnte sehen, daß er aufgeregt und ziemlich bestürzt war. Und das machte mich hoffnungsfroher, als ich mich seit Tagen gefühlt hatte. Es war ein rechter Trost, von dem Kerl weg zu meinem einflußreichen Freund, dem schwergeprüften, verstümmelten Kaffeetopfdampfer zurückzukehren. Ich kletterte an Bord. Das Schiff dröhnte unter meinen Füßen wie eine leere Blechbüchse, die man in der Gosse vor sich her schiebt. Es war nicht sonderlich solid gebaut und noch weniger schön geformt, doch hatte ich genug harte Arbeit darauf verwandt, um es nun zu lieben. Kein noch so einflußreicher Freund hätte mir nützlicher sein können. Das Schiff hatte mir die Möglichkeit gegeben, ein bißchen herauszukommen und zu entdecken, zu was ich eigentlich imstande war. Nein, ich liebe die Arbeit nicht, mir gefällt es viel besser, herumzuliegen und all die schönen Dinge zu überdenken, die getan werden könnten. Ich liebe die Arbeit nicht – kein Mann tut das – aber ich liebe das, was in der Arbeit drinsteckt – die Möglichkeit, sich selbst zu finden. Die eigene Wirklichkeit – für einen selbst, nicht für andere – die kein anderer Mensch jemals erkennen kann. Die anderen können immer nur die bloße Leistung sehen und nie begreifen, was eigentlich dahintersteckt.

Ich war nicht überrascht, jemand auf dem Achterdeck sitzen zu sehen, die Beine über Bord hinaus gehängt. Ihr müßt wissen, daß ich mit den wenigen Mechanikern, die sich in der Station befanden, ziemlich Kameradschaft geschlossen hatte, während die anderen Pilger sie natürlich verachteten – auf Grund ihres unfeinen Benehmens, denke ich mir. Dieser war der Vormann – ein gelernter Kesselschmied, ein guter Arbeiter. Er war ein langer, knochiger Mann mit einem gelben Gesicht und großen, eindringlichen Augen. Er sah müde aus, und sein Kopf war kahl wie meine Handfläche; doch schienen sich seine Haare beim Ausfallen an seinem Kinn gesammelt zu haben und in der neuen Umgebung gediehen zu sein, denn sein Bart hing ihm bis zum Gürtel hinunter. Er war ein Witwer mit sechs jungen Kindern (er hatte sie in der Obhut seiner Schwester gelassen, die ihm hierher nachkommen sollte), und seine ganze Passion waren Brieftauben. Darin war er begeisterter Kenner. Über Tauben konnte er ganz außer sich geraten. Nach den Arbeitsstunden kam er manchmal von seiner Hütte herüber, zu einem Plausch über seine Kinder und seine Tauben. Während der Arbeit, wenn er in dem Schlamm unter dem Kiel des Dampfers herumzukriechen hatte, pflegte er seinen Bart in einer Art Serviette aufzubinden, die er immer bei sich hatte. Sie hatte Schlingen, die er sich über die Ohren zog. Abends konnte man ihn am Ufer kauern, das Tuch mit größter Sorgfalt im Fluß waschen und dann zum Trocknen feierlich über einen Busch hängen sehen.

Ich klatschte ihm auf den Rücken und brüllte: ›Wir bekommen Nieten!‹ Er sprang auf die Füße und rief: ›Nein, Nieten!‹ als könnte er seinen Ohren nicht glauben. Dann fügte er leise hinzu: ›Sie . . . Was?‹ – Ich weiß nicht, warum wir uns wie die Narren gebärdeten. Ich hielt den Finger an die Nase und nickte geheimnisvoll. ›Gut gemacht‹, schrie er, schnalzte mit den Fingern über dem Kopf und hob einen Fuß. Ich versuchte einen Solotanz. Wir sprangen auf dem Eisendeck herum. Ein furchtbares Getöse dröhnte aus dem Schiffsrumpf, und der Urwald jenseits des Flußarmes warf es mit Donnerrollen über die schlafende Station zurück. Mehr als einer der Pilger mag davon wohl in seinem Unterschlupf aufgefahren sein. Eine dunkle Gestalt verfinsterte die erleuchtete Türöffnung der Hütte des Direktors, dann verschwand, etwa eine Sekunde später, auch die Türöffnung selbst. Wir hielten inne, und die Stille, die vor unserem Getrampel geflohen war, flutete nun aus dem Landinneren wieder zurück. Die große Pflanzenmauer, die wuchernde, ineinander verstrickte Masse von Stämmen, Zweigen, Blättern, Ästen und Schlingpflanzen, reglos im Mondlicht, wirkte wie eine Springflut stummen Lebens. Eine Woge aus Pflanzen, hochgereckt, schien über das Ufer hereinbrechen, jeden einzelnen von uns aus seinem kümmerlichen Leben fortfegen zu wollen. Und sie rührte sich nicht. Von weit her drang gedämpft ein mächtiges Plätschern und Schnauben zu uns, als nähme ein Ichthyosaurus ein Lichtbad in dem großen Strom. ›Schließlich‹, sagte der Kesselschmied, wieder vernünftig, ›warum sollten wir die Nieten nicht bekommen?‹ Warum in aller Welt nicht ? Mir fiel kein Grund ein, warum es nicht hätte sein dürfen. ›In drei Wochen sind sie da‹, sagte ich zuversichtlich.

Das stimmte aber nicht. Anstatt der Nieten kam ein Einmarsch, eine Heimsuchung, eine Plage. Sie kam in Abständen, während der nächsten drei Wochen, jede Abteilung von einem Esel angeführt, mit einem weißen Mann in neuen Kleidern und braunen Schuhen auf dem Rücken, der von seiner Höhe herunter nach links und rechts die ehrfurchtsvollen Pilger grüßte. Eine Schar mürrischer, fußwunder Neger trottete hinter dem Esel drein. Eine Unmenge von Zelten, Feldstühlen, Blechbüchsen, weißen Kisten, braunen Ballen wurden auf einem Hof niedergesetzt, und die geheimnisvolle Atmosphäre, die über der Station lagerte, vertiefte sich. Fünf solcher Unternehmungen kamen, und jede von ihnen erweckte den Eindruck, als wäre sie mit der Beute aus zahllosen Ausrüstungshäusern auf ungeordneter Flucht, um dann in tiefster Wildnis die Teilung vorzunehmen. Es war ein unentwirrbares Gemisch von Dingen, die an sich gut waren, durch die menschliche Torheit aber wie Diebsbeute wirkten.

Die fromme Schar nannte sich die Eldorado-Forschungs-Expedition, und ich nehme an, daß sie sich eidlich zur Geheimhaltung ihrer Ziele verpflichtet hatte. Ihre Reden allerdings waren die Reden unflätiger Freibeuter: rücksichtslos, ohne tapfer, gierig, ohne kühn und grausam, ohne mutig zu sein. Kein kleinstes bißchen Voraussicht oder ernsthaftes Wollen fand sich in der Bande. Und sie schienen auch nicht zu wissen, daß diese Eigenschaften für die Arbeit in dieser Welt erforderlich sind. Schätze dem Lande abzupressen, war ihr Begehren, mit dem gleichen sittlichen Rückhalt wie ihn Räuber haben mögen, die in ein Banksafe einbrechen. Wer die Kosten des hochherzigen Unternehmens bestritt, weiß ich nicht; aber der Onkel unseres Direktors war der Anführer.

Äußerlich sah er wie ein Vorstadtmetzger aus, und der Blick seiner Augen zeigte eine schläfrige Heimtücke. Er trug seinen fetten Bauch aufdringlich auf kurzen Beinen und sprach während der ganzen Zeit, in der seine Horde die Station verpestete, zu niemand als zu seinem Neffen. Man konnte die beiden den ganzen Tag herumwandern und in endlosem Geplauder die Köpfe zusammenstecken sehen.

Ich hatte es aufgegeben, mich wegen der Nieten zu ärgern. Die Fähigkeit eines Menschen zu dieser Art Verrücktheit ist beschränkter, als man glauben möchte. Ich sagte ›Pest!‹ und ließ die Dinge laufen. Mir blieb Zeit genug zum Nachdenken, und dann und wann pflegte ich Kurtz einen Gedanken zu widmen. Er interessierte mich nicht besonders, nein. Doch ich war immerhin etwas neugierig, ob der Mann, der mit irgendwelchen sittlichen Ideen hier heraus gekommen war, schließlich auf die Höhe gelangt, und wie er sich zu seinem Amt stellen würde, wenn er es erst einmal erreicht hatte.

 


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