Joseph Conrad
Der Geheimagent
Joseph Conrad

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XIII

Das ungeheure eiserne Vorhängeschloß an der Tür des Tellerschranks war der einzige Gegenstand im Raum, auf dem das Auge verweilen konnte, ohne an dem elenden Mangel an Formschönheit und an dem schäbigen Material Anstoß nehmen zu müssen. Dieser Tellerschrank hatte sich im laufenden Geschäft wegen seiner edlen Ausmaße als unverkäuflich erwiesen und war darum dem Professor von einem Matrosentrödler im Osten Londons um wenige Pence überlassen worden. Das Zimmer war groß, sauber, ehrbar und arm. Von jener Armut, die auf die Unterdrückung jeder Lebensnotdurft, bis auf das trockene Brot, schließen läßt. Die Wände zeigten die glatte Fläche der giftiggrünen Tapete mit untilgbaren Schmutzflecken da und dort, deren größte wie verschwommene Landkarten unbewohnter Erdteile aussahen.

An einem Brettertisch neben dem Fenster saß der Genosse Ossipon, den Kopf zwischen beiden Fäusten. Der Professor, in seinem einzigen, bös vertragenen Anzug, hatte die Hände tief in die überanstrengten Taschen seiner Jacke geschoben und schleppte auf dem Boden ein Paar unglaublich ausgetretener Pantoffel herum. Er erzählte seinem muskelstarken Gast von einem Besuch, den er neulich dem Apostel Michaelis abgestattet hatte. Der vollkommene Anarchist war beinahe gemütlich aufgelegt.

»Der Bursche wußte gar nichts von Verlocs Tod. Natürlich! Er liest ja keine Zeitung. Sie machen ihn zu traurig, sagt er. Doch abgesehen davon. Ich ging also in sein Landhaus. Keine Seele zu sehen. Ich mußte ein halbdutzendmal brüllen, bevor er mir antwortete. Ich dachte, er schliefe noch fest. Aber weit davon. Er hatte schon vier Stunden an seinem Buch geschrieben. Er saß in seinem engen Käfig, von Papieren eingesargt. Eine halb verzehrte, rohe Mohrrübe lag neben ihm auf dem Tisch. Sein Frühstück. Er lebt nun diät, von rohen Mohrrüben und ein wenig Milch.«

»Wie sieht er dabei aus?« fragte Ossipon zerstreut.

»Engelhaft . . . Ich nahm eine Handvoll seiner Blätter vom Boden auf. Die Armseligkeit der Beweisgründe ist verblüffend. Er hat keine Logik. Er kann nicht zusammenhängend denken. Aber das macht nichts. Er hat seine Lebensgeschichte in drei Teile geteilt, betitelt »Glaube, Hoffnung, Mitleid«. Nun arbeitet er die Vorstellung einer Welt aus, die er sich wie ein ungeheures, sauberes Spital denkt, mit Gärten und Blumen, und in dem die Starken sich der Pflege der Schwachen zu widmen haben.«

Der Professor unterbrach sich.

»Verstehst du die Narrheit, Ossipon? Die Schwachen! Die Quelle alles Übels auf dieser Erde!« fuhr er ingrimmig fort. »Ich sagte ihm, daß ich mir eine Welt wie ein Schlachthaus erträume, wo die Schwachen der restlosen Vernichtung zugeführt würden.

Verstehst du, Ossipon? Die Quelle alles Übels! Sie sind unsere Zwingherren – die Schwachen, die Dummen, die Feigen, die Schwachherzigen und die Sklavenseelen. Sie haben Macht. Sie sind die Masse. Ihrer ist das Königtum der Erde. Vernichtung! Vernichtung! Das ist der einzige Weg zum Fortschritt. Das ist er! Folge mir, Ossipon. Erst muß die ganze Masse der Schwachen weg, dann die Menge der Halbstarken. Siehst du? Erst die Blinden, dann die Tauben und Stummen, dann die Lahmen und Bresthaften – und so weiter. Jeder Makel, jedes Laster, jedes Vorurteil und jede Bindung muß ihr Schicksal finden!«

»Und was bleibt?« fragte Ossipon gepreßt.

»Ich bleibe! Ich bin stark genug«, versicherte der schmächtige, kleine Professor, dessen große Ohren, dünn wie Membranen, weit von dem mageren Schädel abstehend, nun plötzlich tiefrote Färbung annahmen.

»Habe ich nicht genug gelitten an dieser Unterdrückung durch die Schwachen?« fuhr er angestrengt fort. Dann schlug er sich auf die Brusttasche: »Und doch bin ich die Stärke! – Aber die Zeit! Die Zeit! Gib mir Zeit! Oh, diese Masse, zu dumm, um Mitleid oder Furcht zu empfinden! Manchmal denke ich, daß sie tatsächlich alles zur Seite haben. Alles – sogar den Tod, meine eigene Waffe.«

»Komm und trinke ein Bier mit mir im Silenus«, sagte Ossipon nach einem Schweigen, das nur durch das schnelle Klappen von des Professors Pantoffeln unterbrochen worden war. Der Professor stimmte zu. Er war an diesem Tage gemütlich auf seine eigene Art. Er schlug Ossipon auf die Schulter.

»Bier! Soll's so sein! Wir wollen eins trinken und lustig sein. Denn wir sind stark, und morgen sterben wir!«

Er zog sich die Schuhe an und sprach dabei in seiner kurzen abgerissenen Art weiter:

»Was ist mit dir los, Ossipon? Du siehst trübe aus und suchst sogar meine Gesellschaft. Ich höre, daß du fortwährend an Orten zu sehen bist, wo Männer über Schnapsgläsern Dummheiten schwatzen. Warum? Hast du deine Frauensammlung aufgegeben? Das sind die Schwachen, die die Starken füttern, wie?«

Er stampfte mit einem Fuß auf und zog den zweiten Schuh geschnürt an, einen schweren, oft geflickten Schuh, mit dicker Sohle, ungeschwärzt. Er lächelte grimmig in sich hinein.

»Sag mir, Ossipon, furchtbarer Mann, hat sich je eines deiner Opfer für dich getötet? Oder sind deine Siege in diesem Punkt unvollständig – denn Blut allein besiegelt die Größe. Blut. Tod. Sieh die Geschichte an!«

»Hol' dich der Teufel«, sagte Ossipon, ohne den Kopf zu wenden.

»Warum? Laß das die Hoffnung der Schwachen sein, deren Gottesglaube die Hölle für die Starken erfunden hat. Ossipon, mein Gefühl für dich ist das freundschaftlicher Verachtung. Du könntest keine Fliege töten!«

Während sie aber auf dem Dach eines Omnibusses zum Abendschoppen fuhren, verlor der Professor seine gute Laune. Die Betrachtung der Massen, die sich über das Pflaster bewegten, erstickte seine Selbstsicherheit unter den drückenden Zweifeln, deren er immer nur Herr werden konnte, wenn er sich eine Zeitlang in dem Zimmer mit dem festverschlossenen Tellerschrank aufgehalten hatte.

Genosse Ossipon, der hinter ihm saß, sprach über seine Schulter: »Und so träumt also Michaelis von einer Welt wie ein schönes, barmherziges Spital?«

»Jawohl. Unendliche Barmherzigkeit für die Heilung der Schwachen«, stimmte der Professor höhnisch zu.

»Das ist dumm«, räumte Ossipon ein. »Schwäche ist nicht zu heilen. Aber vielleicht ist Michaelis schließlich nicht ganz im Irrtum. In zweihundert Jahren werden Ärzte die Welt regieren. Die Wissenschaft regiert jetzt schon. Im Schatten vielleicht – aber sie regiert. Und alle Wissenschaft muß schließlich in der Wissenschaft des Heilens gipfeln – nicht der Schwachen, sondern der Starken. Die Menschheit will leben – leben.«

»Menschheit«, bemerkte der Professor mit einem selbstbewußten Glitzern seiner stahlgefaßten Brillen. »Die Menschheit weiß nicht, was sie will.«

»Aber du weißt es«, grunzte Ossipon. »Eben vorher hast du nach Zeit – Zeit gejammert. Nun gut, die Ärzte werden dir Zeit verschaffen, wenn du etwas taugst. Du nennst dich selbst einen von den Starken – weil du in deiner Tasche Sprengstoff genug herumträgst, um dich selbst und, sagen wir, zwanzig andere Leute ins Jenseits zu befördern. Aber das Jenseits ist ein verdammtes Loch. Du brauchst Zeit. Du – wenn du einen Mann träfst, der dir unter Gewähr zehn Jahre Zeit verschaffen könnte, dann würdest du ihn deinen Meister nennen.«

»Mein Wahlspruch ist: Kein Gott! Kein Meister!« sagte der Professor gemessen, während er sich zum Aussteigen anschickte.

Ossipon folgte ihm. »Warte nur, bis du flach auf dem Rücken liegst, nach Ablauf deiner Zeit«, gab er zurück und sprang nach dem anderen vom Trittbrett ab. »Deines elenden, schäbigen, dreckigen Bißchens Zeit«, fuhr er fort, während er die Straße überquerte und auf den Bürgersteig hüpfte.

»Ossipon, ich glaube doch, daß du ein Schwindler bist«, sagte der Professor und stieß gewandt die Tür des Silenus auf. Als sie sich an einem kleinen Tisch eingerichtet hatten, entwickelte er diesen freundschaftlichen Gedanken weiter. »Du bist nicht einmal Arzt. Aber du bist spaßhaft. Deine Vorstellung einer Menschheit, die in ihrer Gesamtheit die Zunge herausstreckt und von Pol zu Pol auf das Geheiß einiger ernsthafter Witzbolde Pillen nimmt, ist ihres Propheten würdig! Prophet! Wozu über das nachdenken, was sein wird?« Er hob sein Glas. »Auf die Zerstörung von allem, was ist«, sagte er ruhig.

Er trank und fiel in sein merkwürdiges Schweigen zurück. Der Gedanke an eine Menschheit, so zahlreich wie der Sand am Meer, so unzerstörbar und schwer zu behandeln, bedrückte ihn. Der Krach der platzenden Bomben verlor sich in der Unzählbarkeit der Körner ohne Widerhall. Diese Verloc-Sache zum Beispiel – wer dachte noch daran?

Ossipon zog plötzlich, als folgte er einem geheimen Antrieb, ein kleines, zusammengelegtes Zeitungsblatt aus der Tasche. Der Professor hob bei dem Rascheln den Kopf.

»Was ist's mit der Zeitung? Steht etwas darin?« fragte er.

Ossipon starrte ihn an wie ein überraschter Schlafwandler.

»Nichts. Gar nichts. Das Ding ist zehn Tage alt. Ich habe es in meiner Tasche vergessen, glaube ich.«

Er warf das alte Ding aber nicht weg. Bevor er es wieder in die Tasche steckte, warf er einen verstohlenen Blick auf die letzten Zeilen eines Abschnitts. Die lauteten so: »Ein undurchdringliches Geheimnis scheint für immer über dieser Tat des Irrsinns oder der Verzweiflung walten zu sollen.«

Das waren die Schlußworte einer kurzen Nachricht mit dem Titel »Selbstmord einer Dame vom Bord eines Kanaldampfers aus.« Dem Genossen Ossipon waren die Schönheiten des Zeitungsstils wohl vertraut. »Ein undurchdringliches Geheimnis scheint für immer . . .« Er wußte jedes Wort auswendig. »Ein undurchdringliches Geheimnis . . .« Und der muskelstarke Anarchist ließ den Kopf auf die Brust hängen und verfiel in endlose Träumerei.

Er war durch diese Sache an der Wurzel seines Daseins bedroht. Er konnte keiner seiner vielen Eroberungen, die er auf Bänken im Kensington-Garten oder nächst den Parkgittern traf, nachgehen, ohne fürchten zu müssen, daß er mit einmal in die Erzählung vom Schleier eines undurchdringlichen Geheimnisses verfallen könnte . . . Er fühlte sich wissenschaftlich beunruhigt bei dem Gedanken, daß der Irrsinn zwischen diesen Zeilen auf ihn lauern könnte. »Für immer über . . .« Es war wie eine Besessenheit, eine Marter. In letzter Zeit hatte er verschiedenen dieser Verabredungen fernbleiben müssen, die auf grenzenloses Vertrauen in die Sprache des Gefühls und der männlichen Zärtlichkeit gestimmt waren. Die Vertrauensseligkeit verschiedener Klassen von Frauen trug zur Befriedigung seiner Selbstliebe bei und verschaffte ihm einige Mittel. Er brauchte sie zum Leben. Daran lag es. Wenn er nicht länger damit fortfahren konnte, so lief er Gefahr, an Seele und Leib zu verhungern . . . »Diese Tat des Irrsinns oder der Verzweiflung.«

»Ein undurchdringliches Geheimnis« mußte allerdings »für immer walten«, soweit die Menschheit in Betracht kam. Wie aber, wenn er allein von allen Menschen das verfluchte Wissen nie loswerden konnte? Und das Wissen des Genossen Ossipon war so gründlich, wie es der Zeitungsmann nur liefern konnte, bis zur Schwelle des »undurchdringlichen Geheimnisses«, das »für immer . . .«

Genosse Ossipon war gut unterrichtet. Er wußte, was der Matrose vom Deckdienst gesehen hatte: »Eine Dame in schwarzem Kleid und schwarzem Schleier wanderte um Mitternacht am Kai entlang. ›Fahren Sie mit, Madame?‹ hatte er sie aufmunternd gefragt. ›Hier, bitte!‹ Sie schien nicht zu wissen, was sie tun sollte. Er half ihr an Bord. Sie schien schwach zu sein.«

Er wußte auch, was die Aufwärterin gesehen hatte: Eine Dame in Schwarz, mit weißem Gesicht, die mitten in der leeren Damenkajüte stand. Die Aufwärterin redete ihr zu, sich niederzulegen. Die Dame schien jedem Gespräch durchaus abgeneigt und schwer bekümmert. Als nächstes stellte die Aufwärterin fest, daß die Dame die Kajüte verlassen hatte. Die Aufwärterin ging dann an Deck, um nach ihr zu sehen, und Genosse Ossipon war unterrichtet, daß die gute Frau die unglückliche Dame in einem der Liegestühle fand. Ihre Augen waren offen, doch antwortete sie auf nichts von alledem, was man ihr sagte. Sie schien sehr krank. Die Aufwärterin holte den Oberwärter, und die beiden Leute standen zu Seiten des Liegestuhls und berieten über den außergewöhnlichen Fahrgast. Sie unterhielten sich in hörbarem Flüsterton (denn sie schien nichts zu hören) von St. Malo und dem Konsul dort und davon, daß man ihre Familie in England verständigen würde. Dann gingen sie an die Vorbereitungen, um die Frau hinunterzuschaffen, denn soviel man an ihrem Gesicht sehen konnte, lag sie tatsächlich im Sterben. Genosse Ossipon aber wußte, daß hinter jener weißen Maske der Verzweiflung eine starke Lebenskraft gegen Schrecken und Verzweiflung stritt, eine Liebe zum Leben, die der wütenden Angst widerstehen konnte, die zum Mord treibt, und der blinden, irren Angst vor dem Galgen. Er wußte das. Die Aufwärterin aber und der Oberwärter wußten nichts, als daß die Dame in Schwarz, als sie sie nach kaum fünf Minuten holen kamen, nicht mehr in dem Deckstuhl lag. Sie war nirgends. Sie war fort. Es war fünf Uhr morgens, und es war auch kein Unfall. Eine Stunde später fand einer der Matrosen einen Ehering, der auf dem Stuhl gelegen hatte. Er war an einer feuchten Stelle des Holzes haften geblieben und war durch seinen Glanz dem Mann aufgefallen. Auf der Innenseite war ein Datum eingraviert: 24. Juni 1 . .9. »Ein undurchdringliches Geheimnis scheint für immer über dieser Tat des Irrsinns oder der Verzweiflung walten zu sollen . . .«

Und Genosse Ossipon hob sein gebeugtes Haupt, so heiß geliebt von vielen schlichten Frauen dieser Insel, apollogleich im Glanze seines Haarbusches.

Der Professor war inzwischen unruhig geworden. Er erhob sich.

»Bleib«, sagte Ossipon hastig. »Hör' einmal. Was weißt du von Irrsinn und Verzweiflung?«

Der Professor fuhr mit der Zungenspitze über seine trockenen Lippen und sagte lehrhaft:

»So etwas gibt's nicht! Mit aller Leidenschaft ist es jetzt vorbei! Die Welt ist mittelmäßig, lahm, ohne Kraft. Und Irrsinn und Verzweiflung sind eine Kraft. Und Kraft ist ein Verbrechen in den Augen der Narren, der Schwachen und Dummen, die die Welt regieren. Du bist mittelmäßig. Verloc, dessen Angelegenheit die Polizei so geschickt niedergeschlagen hat, war mittelmäßig. Die Polizei hat ihn umgebracht. Er war mittelmäßig. Alle sind mittelmäßig. Irrsinn und Verzweiflung! Gib mir die als Hebel, und ich will die Welt bewegen. Ossipon, ich verachte dich von Herzen. Du bist sogar unfähig, das zu begreifen, was die Fettgemästeten ein Verbrechen nennen würden. Du hast keine Kraft.« Er brach ab und lächelte höhnisch unter dem stolzen, wilden Glitzern seiner Brillengläser hervor.

»Und laß dir sagen, daß die kleine Erbschaft, die du angeblich gemacht hast, deinen Verstand nicht geschärft hat. Du sitzest bei deinem Bier wie eine Vogelscheuche. Leb' wohl.«

»Willst du sie haben?« fragte Ossipon und sah mit einem blöden Grinsen auf.

»Was haben?«

»Die Erbschaft, die ganze Erbschaft.«

Der unbestechliche Professor lächelte nur. Die Kleider fielen ihm fast vom Leibe, seine Schuhe, formlos von Flicken, schwer wie Blei, ließen bei jedem Schritt Wasser durch. Er sagte:

»Ich will dir, beiläufig, eine kleine Rechnung für gewisse Chemikalien schicken, die ich morgen bestellen werde. Ich brauche sie dringend. Verstanden – wie?«

Ossipon senkte langsam den Kopf. Er war alleine. »Ein undurchdringliches Geheimnis . . .« Es schien ihm, als sähe er sein eigenes Hirn frei in der Luft vor sich hängen und im Takt eines undurchdringlichen Geheimnisses pulsen. Das war heller Wahnsinn . . . »Diese Tat des Irrsinns oder der Verzweiflung.«

Das mechanische Klavier neben der Türe hämmerte einen Walzer herunter und brach plötzlich ab, als hätte es sich geärgert.

Genosse Ossipon, mit dem Spitznamen der Doktor, verließ die Silenusbierhallen. In der Türe zögerte er, blinzelte in den nicht übermäßig hellen Sonnenschein hinaus, – und die Zeitung mit der Nachricht von dem Selbstmord einer Dame war in seiner Tasche. Sein Herz schlug dagegen. Der Selbstmord einer Dame – diese Tat des Irrsinns oder der Verzweiflung.

Er ging durch die Straße, ohne darauf zu achten, wo er die Füße hinsetzte. Und er ging in eine Richtung, die ihn nicht zu einem mit einer anderen Dame vereinbarten Stelldichein führen konnte (einem älteren Kinderfräulein, die ihr Vertrauen in einen ambrosischen Apollokopf gesetzt hatte). Er ging weg davon. Er konnte keiner Frau ins Gesicht sehen. Es war das Verderben. Er konnte weder denken, noch arbeiten, schlafen oder essen. Doch begann er zu trinken, mit Vergnügen, mit Hingabe, mit Hoffnung. Es war das Verderben. Seine revolutionäre Laufbahn, gestützt auf das Gefühl und das Vertrauen vieler Frauen, war von einem undurchdringlichen Geheimnis bedroht – dem Geheimnis eines menschlichen Hirns, das im Takt von journalistischen Phrasen pulste . . . »Wird für immer walten . . .« Es ging der Gosse zu . . . »voll Irrsinn oder Verzweiflung«.

»Ich bin ernstlich krank«, murmelte er mit wissenschaftlicher Einsicht vor sich hin. Er ging schon in seiner ganzen Größe, mit dem (von Herrn Verloc geerbten) Geld eines gesandtschaftlichen Geheimfonds in der Tasche, im Rinnstein hin, als übte er sich für die Aufgaben einer unabwendbaren Zukunft. Schon beugte er seine breiten Schultern und das Haupt mit den ambrosischen Locken, wie in Bereitschaft für das lederne Joch der Aushängetafeln. Wie in jener Nacht vor mehr als einer Woche wanderte Genosse Ossipon dahin, ohne zu sehen, wo er die Füße hinsetzte, ohne Ermüdung zu fühlen, ohne irgend etwas zu fühlen oder zu sehen, ohne einen Laut zu hören. »Ein undurchdringliches Geheimnis . . .« Er wanderte unbeachtet . . . »Diese Tat des Irrsinns oder der Verzweiflung

Und auch der unbestechliche Professor wanderte und wandte seinen Blick von der verhaßten Menschenmenge ab. Er hatte keine Zukunft. Er verachtete sie. Er war eine Kraft. Seine Gedanken umspielten die Bilder von Zerstörung und Niedergang. Er wanderte dahin, schmächtig, schäbig, unbedeutend, elend – und furchtbar in der Einfalt seiner Idee, die Irrsinn und Verzweiflung zur Neugeburt der Welt zu Hilfe rief. Niemand sah nach ihm. Er ging unbeachtet und toddrohend dahin, wie eine Pest in der dichtbelebten Straße.

 

Ende

 


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