Joseph Conrad
Der Geheimagent
Joseph Conrad

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II

Dies also war das Haus, der Haushalt und der Laden, die Herr Verloc hinter sich ließ, als er sich um halb elf Uhr morgens nach Westen zu auf den Weg machte. Das war für seine Verhältnisse ungewöhnlich früh; seine ganze Persönlichkeit hauchte den Zauber tauiger Frische aus, er trug seinen blauen Tuchüberzieher offen, seine Stiefel glänzten, seine Wangen, frisch barbiert, hatten eine Art Glasur, und sogar seine Augen unter den schweren Lidern sandten, erfrischt nach einer Nacht friedlichen Schlummers, verhältnismäßig muntere Blicke aus. Durch die Gitter des Parkes trafen diese Blicke Männer und Frauen, die in der Allee ritten; Paare, die einträchtig dahingaloppierten; andere, die gemäßigt vorwärtsschritten; müßige Gruppen von drei oder vier; einzelne Reiter, die wie Eigenbrödler wirkten, und einzelne Damen, in großem Abstand gefolgt von Stallburschen mit einer Kokarde auf dem Hut und einem Ledergürtel über dem eng sitzenden Leibrock. Wagen rollten vorbei, vor allem zweispännige Kaleschen, dann und wann auch eine Viktoria, mit irgendeinem Raubtierfell darinnen und dem Antlitz und Hut einer Frau über dem zusammengeklappten Wagendach. Und eine eigene Londoner Sonne – gegen die nichts weiter gesagt werden konnte, als daß sie blutunterlaufen aussah – überstrahlte alles das mit ihrem Glanz. Sie hing in mäßiger Höhe über Hyde Park Corner, wie mit pünktlicher und wohlwollender Wachsamkeit. Sogar das Pflaster unter Herrn Verlocs Füßen hatte eine Altgoldtönung in dem gedeckten Licht, in dem weder Mauer, noch Baum, noch Tier, noch Mensch Schatten warf. Herr Verloc schritt nach Westen, durch eine Stadt ohne Schatten, in einer Atmosphäre von zerstäubtem Altgold. Rotkupfrige Glanzlichter lagen auf Hausdächern, auf Mauerecken, auf Wagenwänden, ja sogar noch auf dem Fell der Pferde und auf dem Rückteil von Herrn Verlocs Überzieher, wo sie entfernt wie Rost wirkten. Doch Herr Verloc war sich nicht im entferntesten bewußt, verrostet zu sein. Er verfolgte durch das Parkgitter mit beifälligen Blicken die Schaustellung des Überflusses und Wohllebens der Stadt. Alle diese Leute mußten beschützt werden; Schutz ist das erste Bedürfnis bei Überfluß und Wohlleben. Sie mußten beschützt werden; und ihre Pferde, Wagen, Häuser, Diener mußten beschützt werden, und die Quelle ihres Wohlstandes mußte beschützt werden, im Herzen der Stadt und im Herzen des Landes; die ganze gesellschaftliche Ordnung, die ihnen ihre gesunde Untätigkeit erlaubte, mußte beschützt werden gegen die blanke Mißgunst ungesunder Arbeit. Das mußte sein – und Herr Verloc hätte sich zufrieden die Hände gerieben, wäre er nicht von Natur jeder überflüssigen Anstrengung abhold gewesen. Seine Untätigkeit war nicht gesund, paßte aber gut zu ihm. Er war ihr sozusagen ergeben, mit einer Art von trägem Fanatismus, oder vielleicht eher mit fanatischer Trägheit. Von fleißigen Eltern geboren, für ein Leben voll Arbeit, hatte er sich der Untätigkeit zugewandt, unter einem Antrieb, der so echt wie unerklärlich und nicht minder zwingend war, als der andere, der einen Mann eine bestimmte Frau unter tausend wählen läßt. Sogar für einen bloßen Demagogen, für einen Volksredner, für einen Arbeiterführer war er zu träge; das alles machte zu viel Mühe. Er brauchte eine vollendetere Art von Ruhe; vielleicht auch war er das Opfer eines philosophischen Glaubens an die Unwirksamkeit jeder menschlichen Anstrengung. Eine solche Art von Untätigkeit hat einen gewissen Grad von Intelligenz zur notwendigen Voraussetzung. Daran fehlte es Herrn Verloc nicht – und bei dem Bewußtsein, daß der menschlichen Gesellschaftsordnung Gefahr drohe, hätte er vielleicht sich selbst zugezwinkert, wäre nicht zu diesem Ausdruck von Skepsis eine Anstrengung nötig gewesen. Seine großen, vorstehenden Augen eigneten sich nicht gut zum Zwinkern. Sie waren eher dazu geschaffen, sich feierlich und majestätisch zum Schlummer zu schließen.

Schlicht und stämmig wie ein Mastschweinchen schritt Herr Verloc seines Wegs, ohne sich zufrieden die Hände zu reiben, oder seinen eigenen Gedanken skeptisch zuzuzwinkern. Er trat mit seinen glänzenden Stiefeln wuchtig das Pflaster und sah, im ganzen genommen, wie ein besserer Handwerker aus, der für sich einen Gang macht. Er konnte alles sein, vom Glaser bis zum Schlosser: ein Arbeitgeber kleinsten Ausmaßes. Doch hatte er auch ein unbeschreibliches Etwas an sich, das kein Handwerker im Lauf seiner Arbeit, und wäre sie noch so unehrlich ausgeübt, erworben haben konnte; dieses Etwas, das allen denen gemeinsam ist, die von den Lastern, den Narrheiten oder niedrigen Ängsten ihrer Mitmenschen leben. Ein Ausdruck innerer Haltlosigkeit, wie ihn die Besitzer von Spielhöllen und verrufenen Häusern zeigen, die Privatdetektive und Spitzel, die Schnapswirte und, ich möchte sagen, auch die Verkäufer von elektrischen Kraftgürteln und die Erfinder von Patentheilmitteln. Dieser letzteren bin ich übrigens nicht ganz sicher, da sich meine Nachforschungen nicht so weit in die Tiefe erstreckt haben; meinetwegen könnte ihr Ausdruck auch ganz teuflisch sein. Es sollte mich nicht überraschen. Was ich aber betonen möchte, ist, daß Herrn Verlocs Ausdruck keineswegs teuflisch war.

Bevor er Knightsbridge erreichte, bog Herr Verloc nach links ab, aus der breiten Verkehrsstraße, die von dem Hin und Her der schütternden Omnibusse und trabenden Geschäftswagen dröhnte, zwischen die fast lautlos und rasch gleitenden Reihen von Droschken. Unter seinem Hut, den er leicht nach hinten gesetzt trug, hatte er sein Haar sorgsam und ehrbar glattgebürstet, denn er hatte bei einer Gesandtschaft zu tun. Und Herr Verloc, ruhig wie ein Fels – ein harmloser Fels – schritt nun durch eine Straße, die am besten mit dem einen Wort »Privat« gekennzeichnet wäre. In ihrer Breite, Leere und Länge lag die Majestät unbeseelter Natur, einer Sache, die nie vergeht. An die Sterblichkeit gemahnte einzig nur der Wagen eines Arztes, der in erhabener Einsamkeit am Randstein hielt. Die blankgeputzten Türgriffe glänzten von weitem, und die sauberen Fenster gaben dunklen, opalartigen Schein. Und alles war ruhig, nur ein Milchwagen ratterte lärmend durch den fernen Hintergrund; ein Fleischerjunge, der mit der hehren Todesverachtung eines olympischen Wagenlenkers fuhr, sauste um die Ecke, hoch über seinen roten Rädern thronend. Eine schuldbewußte Katze tauchte irgendwo aus den Steinen, rannte eine Zeitlang vor Herrn Verloc her und verschwand dann in einem anderen Kellerloch; und ein dicker Schutzmann, dem jegliche Gemütsbewegung fremd schien, als gehörte auch er zur unbeseelten Natur, tauchte scheinbar aus einem Laternenpfahl hervor, ohne Herrn Verloc im geringsten zu beachten. Mit einer Wendung nach links verfolgte Herr Verloc seinen Weg durch eine enge Gasse längs einer gelben Mauer, die aus unerfindlichem Grunde in schwarzen Buchstaben die Inschrift trug: Nr. 1 Chesham Square. Chesham Square war mindestens sechzig Meter weit weg, und Herr Verloc, Weltmann genug, um sich von Londons geheimnisvollen Ortsbezeichnungen nicht täuschen zu lassen, schritt bedächtig fort, ohne Anzeichen von Überraschung oder Entrüstung. Schließlich erreichte er mit geschäftlicher Beharrlichkeit den Platz und überquerte ihn in der Richtung auf die Nr. 10. Diese prangte an einem gewaltigen Einfahrtstor in der hohen, sauberen Mauer zwischen zwei Häusern, deren eines verständlich genug die Nr. 9 trug, während das andere die Nr. 37 aufwies; die Tatsache aber, daß dies letztere zu Porthill Street gehörte, einer in der Nachbarschaft wohlbekannten Straße, war durch eine Inschrift oberhalb der Erdgeschoßfenster verkündet, dort von der wie immer Namen habenden Behörde angebracht, deren Aufgabe es ist, Londons verirrte Häuser unter Aufsicht zu halten. Warum vom Parlament (eine kurze Anfrage würde genügen) nicht die Machtmittel verlangt werden, diese Gebäude zur Rückkehr an ihren Bestimmungsort zu zwingen, bleibt eines der Geheimnisse städtischer Verwaltung. Herr Verloc beschwerte sich den Kopf nicht damit, da er seine Lebensaufgabe in der Beschirmung der gesellschaftlichen Ordnung sah, nicht in deren Verbesserung oder auch nur Beurteilung.

Es war so früh am Tage, daß der Pförtner der Gesandtschaft sich noch in den linken Rockärmel hineinarbeitete, als er hastig aus seiner Loge gestürzt kam. Er trug eine rote Weste und Kniehosen, schien aber verwirrt. Herr Verloc merkte den Flankenangriff, wehrte ihn durch den Vorweis eines Briefumschlages mit dem Wappen der Gesandtschaft ab und schritt vorbei. Den gleichen Talisman zeigte er auch dem Diener, der ihm öffnete und zurücktrat, um ihn in die Halle einzulassen.

Ein helles Feuer brannte in einem hohen Kamin, und mit dem Rücken dazu stand ein älterer Mann im Frack, mit einer Kette um den Hals; er blickte von einer Zeitung auf, die er mit beiden Händen vor seinem ruhigen, ernsten Gesicht ausgebreitet hielt, rührte sich aber im übrigen nicht; doch ein anderer Lakai, in braunen Hosen und Frack mit schmalen gelben Litzen, näherte sich Herrn Verloc, lauschte auf den gemurmelten Namen, wandte sich schweigend und begann davonzugehen, ohne sich ein einzigesmal umzusehen. Herr Verloc, der so durch einen Flur zu ebner Erde, links von dem teppichbelegten Stiegenhaus geführt wurde, sah sich plötzlich in einem ganz engen Raum, der als Einrichtung nur einen schweren Schreibtisch und einige Stühle aufwies. Der Lakai schloß die Türe, und Herr Verloc blieb allein. Er setzte sich nicht; Hut und Stock in einer Hand blickte er umher und strich sich mit der freien Polsterhand über den glatt gebürsteten Kopf.

Eine andere Türe ging lautlos, und Herr Verloc sah starr in ihre Richtung, konnte aber zunächst nur einen schwarzen Anzug, einen kahlen Schädel und einen wehenden grauen Backenbart wahrnehmen, der zu beiden Seiten zweier runzliger Hände niederfiel. Die Persönlichkeit, die eingetreten war, hielt sich einen Pack Papiere vor die Augen, schritt etwas zimperlich zum Tisch und sah sich dabei um. Der Geheime Staatsrat Wurmt, Siegelbewahrer der Gesandtschaft, war sehr kurzsichtig; dieser verdiente Beamte legte die Papiere auf den Tisch und enthüllte dabei ein teigfarbenes Gesicht von trauriger Häßlichkeit, umgeben von reichen, langen, dunkelgrauen Haaren und nach oben von dicken, buschigen Brauen schwer abgeschlossen. Er setzte einen schwarz geränderten Zwicker auf die ziemlich plumpe Nase und schien von Herrn Verlocs Anwesenheit überrascht; unter den drückenden Brauen zwinkerten seine schwachen Augen feierlich durch die Gläser.

Er machte kein Zeichen eines Grußes, auch Herr Verloc, der seinen Abstand zu wahren wußte, tat dies nicht; doch ein feiner Wechsel in den Umrissen seiner Schultern und seines Rückens ließ unter der weiten Oberfläche seines Überziehers eine leichte Beugung von Herrn Verlocs Rückgrat vermuten. Das ganze wirkte bescheiden und ehrerbietig. »Ich habe hier einige ihrer Meldungen«, sagte der Bureaukrat mit überraschend milder und müder Stimme, während er die Spitze seines Zeigefingers nachdrücklich auf die Papiere legte; er machte eine Pause, und Herr Verloc, der seine eigene Handschrift sehr gut erkannt hatte, wartete in atemlosem Schweigen. »Wir sind nicht sehr zufrieden mit der Haltung der hiesigen Polizei«, fuhr der andere fort, mit allen Anzeichen geistiger Ermüdung.

Herrn Verlocs Schultern deuteten, ohne sich eigentlich zu bewegen, ein Zucken an, und zum erstenmal an diesem Morgen, seitdem er sein Heim verlassen hatte, öffneten sich seine Lippen.

»Jedes Land hat seine Polizei«, bemerkte er nachdenklich, doch da der Beamte der Gesandtschaft ihn unverwandt anblinzelte, fühlte er sich verpflichtet, hinzuzufügen: »Gestatten Sie die Feststellung, daß ich keine Möglichkeit habe, auf die hiesige Polizei einzuwirken.«

»Was gewünscht wird,« sagte der Mann mit den Papieren, »ist irgendein entscheidendes Ereignis, das ihre Wachsamkeit wecken müßte. Das läge wohl in Ihrer Macht, oder nicht?«

Herr Verloc antwortete nur mit einem Seufzer, der ihm unwillkürlich entschlüpfte, und versuchte augenblicklich, seinem Gesicht einen heiteren Ausdruck zu geben. Der Beamte blinkerte stärker, wie angegriffen von dem trüben Licht im Zimmer, und wiederholte tonlos:

»Die Wachsamkeit der Polizei – und die Strenge der Behörden! – Die allgemeine Milde des Gerichtsverfahrens hier und das völlige Fehlen von Unterdrückungsmaßnahmen sind ein europäischer Skandal. Was grade jetzt gewünscht wird, ist die Betonung der Rastlosigkeit – der Gärung, die zweifellos vorhanden ist.«

»Zweifellos, zweifellos«, fiel Herr Verloc ein, in einem tiefen, ehrfürchtigen Volksrednerbaß, so grundverschieden von seinem früheren Sprechton, daß sein Gegenüber lebhaft überrascht schien. »Die Gärung hat einen gefährlichen Grad erreicht, meine Meldungen während der letzten zwölf Jahre beweisen das zur Genüge.«

»Ihre Meldungen während der letzten zwölf Jahre«, begann Staatsrat Wurmt in seinem höflichen und leidenschaftslosen Tone, »sind von mir gelesen worden. Ich konnte nicht entdecken, warum Sie sie überhaupt geschrieben haben.«

Eine Zeit lang herrschte trübes Schweigen. Herr Verloc schien seine Zunge verschluckt zu haben, und der andere starrte auf die Papiere auf dem Tisch. Schließlich gab er ihnen einen leichten Stoß.

»Der Zustand, den Sie hier beschreiben, ist, als Grundbedingung für Ihre Anstellung, als bestehend angenommen; nun ist es nötig, nicht zu schreiben, sondern ein entscheidendes Geschehnis zustande zu bringen – ich möchte fast sagen, ein furchterregendes Geschehnis!«

»Ich brauche wohl nicht zu versichern, daß mein ganzes Bestreben darauf gerichtet sein wird«, sagte Herr Verloc mit bebender Überzeugung, in seinem heiteren Gesprächston. Das Bewußtsein aber, hinter den Blendscheiben der Augengläser auf der anderen Seite des Tisches wachsam angeblinkert zu werden, beunruhigte ihn. Er brach kurz ab, mit einer Gebärde unbedingter Ergebenheit. Das wichtige, hart arbeitende, wenn auch nach außen hin unbekannte Mitglied der Gesandtschaft schien plötzlich einen Einfall zu haben.

»Sie sind sehr wohlbeleibt«, sagte er.

Diese Bemerkung, von feiner Psychologie eingegeben und mit dem bescheidenen Zögern eines Beamten vorgebracht, der mit Tinte und Papier vertrauter ist, als mit den Anforderungen des tätigen Lebens, traf Herrn Verloc wie ein scharfer, persönlicher Vorwurf. Er trat einen Schritt zurück.

»Wie? Was belieben Sie zu sagen?« rief er aus, heiser vor Kränkung.

Der Siegelbewahrer der Gesandtschaft, mit der Führung dieser Unterredung betraut, schien sich der Aufgabe nicht länger gewachsen zu fühlen.

»Ich glaube,« sagte er, »Sie sollten lieber mit Herrn Vladimir sprechen. Ja gewiß, Sie sollten mit Herrn Vladimir sprechen. Wollen Sie bitte hier warten«, sagte er und tänzelte hinaus.

Sofort strich sich Herr Verloc mit der Hand über das Haar. Ein leichter Schweiß war auf seiner Stirne ausgebrochen. Er ließ die Luft aus den geblähten Lippen aus, wie ein Mann, der auf einen Löffel heißer Suppe bläst. Als aber der Lakai in Braun stumm in die Türe trat, hatte Herr Verloc sich keinen Zoll breit von der Stelle gerührt, die er während der ganzen Unterredung eingenommen hatte. Er war reglos stehen geblieben, als fühlte er sich von Fallgruben umgeben.

Nun schritt er durch einen langen, von einer einsamen Gasflamme erleuchteten Gang, dann eine Flucht gewundener Treppen empor, durch einen verglasten, lichten Flur im ersten Stock. Der Lakai stieß eine Tür auf und trat beiseite. Herr Verloc fühlte einen dicken Teppich unter seinen Füßen. Der Raum war groß, mit drei Fenstern; und ein junger Mann mit glatt rasiertem, großem Gesicht, der in einem geräumigen Armstuhl vor einem mächtigen Mahagonischreibtisch saß, sagte auf französisch zu dem Staatsrat, der mit den Papieren in der Hand hinausging:

»Sie haben ganz recht, mein Lieber, er ist fett – der Bursche.«

Herr Vladimir, der erste Sekretär, war in den Salons bekannt als angenehmer und unterhaltender Mann. Er war ein Liebling der Gesellschaft. Sein Witz gipfelte in der Herstellung lächerlicher Beziehungen zwischen durchaus nicht zusammengehörenden Gedanken. Und wenn er dieses Spiel trieb, so saß er weit vorgebeugt, die linke Hand erhoben, als wollte er seine spaßhaften Beweise zwischen Zeigefinger und Daumen hochhalten, während sein rundes, glatt rasiertes Gesicht den Ausdruck komischer Verwunderung trug.

In dem Blick, den er jetzt auf Herrn Verloc richtete, lag aber weder Heiterkeit noch Verwunderung. Zurückgelehnt in seinem tiefen Armstuhl, die Ellbogen gespreizt und ein Bein über ein dickes Knie gelegt, sah er mit seinem glatten, rosigen Gesicht wie ein übernatürlich rasch gewachsener Säugling aus, der sich von niemand etwas gefallen lassen will.

»Ich nehme an, Sie verstehen Französisch«, sagte er.

Herr Verloc bejahte heiser. Sein ganzer, großer Körper zeigte eine Neigung nach vorne. Er stand auf dem Teppich mitten im Zimmer, Hut und Stock in eine Hand geklemmt; die andere hing leblos an seiner Seite. Er murmelte bescheiden in tiefem Kehltone einiges, wie, daß er bei der französischen Artillerie gedient habe. Sofort wechselte Herr Vladimir mit launischer Nichtachtung die Sprache und fuhr in englischer Mundart fort, ohne den leisesten Anklang fremder Aussprache:

»O ja, natürlich; – sagen Sie nur, wieviel bekamen Sie für die Beschaffung der Zeichnungen zu den verbesserten Verschlußstücken der neuen Feldgeschütze?«

»Fünf Jahre schweren Kerker in einer Festung«, gab Herr Verloc unerwartet zurück, doch ohne jedes betonte Gefühl.

»Da sind Sie billig davongekommen«, war Herrn Vladimirs Antwort. »Und jedenfalls ist Ihnen recht geschehen, weil Sie sich erwischen ließen. Wie sind Sie dazu gekommen?«

Man hörte Herrn Verlocs heisere Gesprächsstimme von Jugend reden, von einer unglücklichen Neigung zu einer unwürdigen – –

»Aha, cherchez la femme«, geruhte Herr Vladimir zu unterbrechen, nachlässig, doch ohne Freundlichkeit. Es lag sogar eine Spur von Grimm in seiner Herablassung. »Wie lange werden Sie schon von unserer Gesandtschaft verwendet?« fragte er.

»Seit den Tagen des verstorbenen Barons Stott-Wartenheim«, antwortete Herr Verloc unterwürfig und schob betrübt die Lippe vor, als Zeichen des Kummers um den verblichenen Diplomaten. Der erste Sekretär beobachtete schweigend dieses Mienenspiel.

»Ah, seit damals . . . nun gut, was haben Sie für sich vorzubringen?« fragte er dann scharf.

Herr Verloc gab einigermaßen überrascht zurück, daß er nichts Besonderes zu sagen wisse, er sei brieflich bestellt worden – und dabei griff er geschäftig in die Seitentasche seines Überziehers, ließ aber unter dem spöttischen Späherblick Herrn Vladimirs seine Hand darin stecken. »Bah,« sagte der, »was soll es denn heißen, daß Sie so ganz außer Form kommen? Sie erfüllen ja nicht einmal die körperlichen Bedingungen für Ihren Beruf? Sie – ein Mitglied des hungernden Proletariats – niemals! Sie – ein verzweifelter Sozialist oder Anarchist – was sind Sie?«

»Anarchist«, bestätigte Herr Verloc dumpf. »Unsinn,« fuhr Herr Vladimir fort, ohne die Stimme zu heben, »Sie haben sogar den alten Wurmt überrascht. Sie könnten keinen Trottel täuschen; das sind sie zwar alle, am Rande bemerkt, – Sie aber scheinen mir einfach unmöglich. Sie haben also Ihre Verbindung mit uns damit begonnen, daß Sie die französischen Geschützzeichnungen stahlen. Und dabei wurden Sie selbst erwischt. Das muß für unsere Regierung recht unangenehm gewesen sein. Sie scheinen mir nicht sonderlich geschickt.«

Herr Verloc versuchte einige heisere Entschuldigungen.

»Wie ich Gelegenheit hatte, vorher zu bemerken, war es die unglückliche Neigung zu einer unwürdigen – –«

Herr Vladimir hob eine große, weiße, plumpe Hand: »O ja, eine verfehlte Verbindung Ihrer Jugendjahre. Sie nahm das Geld und verkaufte Sie dann der Polizei, wie?«

Der schmerzliche Wechsel in Herrn Verlocs Zügen, das plötzliche Zusammensinken seiner ganzen Persönlichkeit bildeten das Eingeständnis, daß der bedauerliche Fall tatsächlich so lag. Herrn Vladimirs Hand umspannte den Knöchel, der auf seinem Knie lag. Die Socken waren von dunkelblauer Seide. »Das war nun nicht übermäßig schlau. Sie sind vielleicht allzu leicht erregbar.«

Herr Verloc wandte in gedämpftem Kehllaut ein, daß er nicht mehr jung sei.

»Oh, das ist ein Fehler, der mit dem Alter nicht besser wird«, bemerkte Herr Vladimir mit unangenehmer Leutseligkeit. »Aber nein, Sie sind eigentlich zu fett dazu, Sie hätten es nie zu diesem Aussehen bringen können, wenn Sie überhaupt erregbar wären. Ich will Ihnen meine Meinung sagen: Sie sind ein Faulpelz! – Wie lange beziehen Sie schon Gehalt von dieser Gesandtschaft?«

»Elf Jahre«, war die Antwort, nach einem Augenblick störrischen Zögerns. »Ich war mit mehreren Sendungen nach London betraut, während seine Exzellenz Baron Stott-Wartenheim noch Gesandter in Paris war; dann übersiedelte ich auf Weisung Seiner Exzellenz nach London. Ich bin Engländer.«

»Oh! sind Sie das, so?«

»Ein geborener englischer Untertan,« sagte Herr Verloc, nicht ohne Festigkeit, »doch mein Vater war Franzose und so –«

»Schenken Sie sich die Erklärung,« unterbrach der andere, »Sie könnten Marschall von Frankreich und Parlamentsmitglied von England sein – und dann vielleicht von einigem Nutzen für unsere Gesandtschaft.«

Dieser Scherz rief den Schatten eines Lächelns auf Herrn Verlocs Gesicht hervor. Herr Vladimir bewahrte unerschütterlichen Ernst.

»Aber, wie gesagt, Sie sind ein Faulpelz, Sie nützen Ihre Fähigkeiten nicht aus. Zu den Zeiten des Barons Stott-Wartenheim liefen eine Menge Schwachköpfe hier bei uns herum. Die brachten dann Burschen Ihrer Art zu einer ganz falschen Auffassung von dem Wesen eines Geheimfonds. Ich habe nun die Pflicht, dieses Mißverständnis aufzuklären, durch die Feststellung, was der Geheimdienst nicht ist. Er ist keine Wohltätigkeitsanstalt. Ich habe Sie eigens kommen lassen, um Ihnen das zu sagen.«

Herr Vladimir bemerkte den Ausdruck peinlicher Verwunderung auf Herrn Verlocs Gesicht und lächelte höhnisch.

»Ich sehe, daß Sie mich vollkommen verstehen. Ich glaube, daß Sie für Ihren Beruf doch klug genug sind. Was wir nun wünschen, ist Tätigkeit – Tätigkeit.« Während er diese letzten Worte wiederholte, legte Herr Vladimir einen langen weißen Zeigefinger auf die Ecke des Tisches. Aus Verlocs Stimme schwand jede Spur von Heiserkeit. Der fette Wulst in seinem Nacken leuchtete scharlachrot über dem Samtkragen des Überziehers. Seine Lippen zitterten, bevor sie sich weit öffneten.

»Wenn Sie nur die Freundlichkeit haben würden, meine Meldungen anzusehen,« dröhnte er in seinem mächtigen, klaren Rednerbaß, »so würden Sie bemerken, daß ich erst vor einigen Monaten eine Warnung einschickte, bei Gelegenheit des Besuches des Großherzogs Romuald in Paris; diese Warnung wurde von hier an die französische Polizei telegraphiert und . . .«

»Pst, Pst«, unterbrach Herr Vladimir stirnrunzelnd. »Die französische Polizei hatte keine Verwendung für Ihre Warnung. Brüllen Sie nicht so! Was zum Teufel denken Sie sich?«

Mit einem Untertone bescheidenen Selbstbewußtseins entschuldigte sich Herr Verloc, daß er sich vergessen habe. Seine Stimme, sagte er, seit Jahren berühmt in Arbeiterversammlungen unter freiem Himmel und in großen Sälen, habe mitgeholfen, seinen Ruf als guter und vertrauenswürdiger Genosse zu begründen. Sie bildete demnach einen Teil seiner Brauchbarkeit. Sie hatte Vertrauen zu seinen Grundsätzen erweckt. »Ich wurde in kritischen Momenten immer von den Führern aufgefordert, zu sprechen«, erklärte Herr Verloc mit offenbarer Genugtuung. Es gebe keinen Lärm, so fügte er hinzu, den er nicht übertönen könne; und plötzlich entschloß er sich zu einem Beweis.

»Sie erlauben«, sagte er mit gesenkter Stimme, ohne aufzusehen; rasch und gewichtig durchquerte er das Zimmer, bis zu einem der französischen Fenster. Wie unter einem unerklärlichen Zwang öffnete er es ein wenig. Herr Vladimir sprang verblüfft aus dem tiefen Armstuhl auf und sah ihm über die Schulter. Tief unten, jenseits des Hofes der Gesandtschaft, noch weit außerhalb des offenen Tores, war der breite Rücken eines Schutzmannes zu sehen, der in guter Ruhe dem überlebensgroßen Kinderwagen eines reichen Säuglings zusah, wie er prunkhaft über den Platz gerollt wurde.

»Schutzmann«, sagte Herr Verloc, ohne mehr Anstrengung, als wenn er geflüstert hätte, und Herr Vladimir lachte auf, als er sah, daß der Schutzmann wie gestochen herumfuhr. Herr Verloc schloß ruhig das Fenster und kehrte in die Mitte des Zimmers zurück.

»Mit einer solchen Stimme«, sagte er und setzte den heiseren Gesprächsdämpfer auf, »fand ich natürlich Vertrauen. Auch wußte ich, was ich zu sagen hatte.«

Herr Vladimir richtete an seinem Selbstbinder und beobachtete ihn in dem Spiegel über dem Kamin.

»Ich kann wohl sagen, daß Sie den revolutionären Sprachschatz hinlänglich im Kopf haben«, meinte er verächtlich. »Vox et . . . Sie haben nie Latein studiert, oder?«

»Nein,« grunzte Herr Verloc, »das konnten Sie wohl auch nicht von mir erwarten! Ich gehöre zu der Million. Wer versteht Latein? Nur ein paar Hundert Trottel, die sich selbst nicht zu helfen wissen.«

Herr Vladimir studierte noch dreißig Sekunden länger im Spiegel das fleischige Profil und den mächtigen Leib des Mannes hinter ihm. Zur selben Zeit hatte er den Vorzug, seine eigenen Züge zu betrachten, glatt rasiert und rund, mit rosigem Doppelkinn und mit den dünnen, sinnlichen Lippen, eigens geschaffen für die geistreichen Witzworte, die den Diplomaten zum erklärten Liebling der höchsten Kreise gemacht hatten. Dann wandte er sich und schritt ins Zimmer hinein, mit solcher Entschlossenheit, daß die Enden seines gesucht altmodischen Maschenbinders voll unaussprechlicher Drohungen zu zittern schienen. Die Bewegung war so schnell und grimmig, daß Herr Verloc, der sie aus den Augenwinkeln beobachtete, zu innerst erbebte.

»Aha! Sie wagen es, frech zu werden«, begann Herr Vladimir in erstaunlich singendem Kehltone, der sich nicht nur ganz unenglisch, sondern ganz uneuropäisch anhörte und sogar Herrn Verloc, trotz seiner Kenntnis der Winkelkneipen in aller Welt, überraschte. »Sie wagen es! Nun gut, ich will auch gut englisch mit Ihnen reden! – Die Stimme macht's nicht, wir brauchen Ihre Stimme nicht, wir brauchen keine Stimme. Wir wollen Taten, die Aufsehen machen, – verflucht!« fügte er hinzu, mit wütender Höflichkeit, grade in Herrn Verlocs Gesicht.

»Kommen Sie mir nicht mit Ihren hyperboreischen Umgangsformen«, wehrte Herr Verloc heiser ab, den Blick auf den Teppich gesenkt. Daraufhin schaltete sein Gegenüber, spöttisch über den breiten Maschenbinder weglächelnd, ins Französische um.

»Sie geben sich als Agent provocateur aus; der wahre Zweck eines Agent provocateur ist: zu provozieren. Soweit ich aus Ihren hier aufbewahrten Meldungen ersehen kann, haben Sie während der letzten drei Jahre nichts getan, um Ihr Geld zu verdienen.«

»Nichts!« rief Verloc aus, ohne ein Glied zu rühren oder die Augen zu heben, doch mit dem Zittern echten Gefühls in der Stimme. »Ich habe mehrmals zu verhindern gewußt, was vielleicht – –«

»Es gibt ein Sprichwort hierzulande, das sagt, Vorbeugen sei besser als Heilen«, unterbrach Herr Vladimir und warf sich in den Armstuhl. »Das ist durchaus töricht. Das Vorbeugen nimmt kein Ende. Aber es ist kennzeichnend. Man liebt hierzulande das Endgültige nicht. Seien Sie mir nicht zu englisch, und, in unserem besonderen Fall: machen Sie sich nicht lächerlich! Das Übel ist schon da, wir wollen nicht vorbeugen – wir wollen heilen!« Er unterbrach sich, wandte sich zum Tisch und fuhr, während er einige herumliegende Papiere durchstöberte, in verändertem, rein geschäftlichem Ton fort, ohne Herrn Verloc anzusehen:

»Sie wissen natürlich von der internationalen Konferenz, die in Mailand tagt.«

Herr Verloc gab krächzend zu verstehen, daß er gewöhnt sei, die Tageszeitungen zu lesen. Seine Antwort auf eine weitere Frage ging dahin, daß er das Gelesene auch begreife. Daraufhin murmelte Herr Vladimir und lächelte schwach in die Papiere hinein, die er immer noch durchstöberte: »Solange es nicht lateinisch geschrieben ist, vermute ich!«

»Oder chinesisch«, fügte Herr Verloc bockig hinzu.

»Hm, manche Auslassungen Ihrer revolutionären Freunde sind in einem Kauderwelsch geschrieben, das mindestens so unverständlich ist wie Chinesisch –« Herr Vladimir ließ verächtlich einen grau bedruckten Aktenbogen fallen. »Was sollen alle die Flugzettel, die am Kopfe Z. P. tragen und einen Hammer, eine Feder und eine Fackel, durchkreuzt. Was heißt dieses Z. P.?« Herr Verloc näherte sich dem gewaltigen Schreibtisch.

»Die Zukunft des Proletariats. Das ist eine Gesellschaft«, erklärte er und blieb wuchtig neben dem Armstuhl stehen. »Nicht grundsätzlich anarchistisch, aber für alle revolutionären Abstufungen geöffnet!«

»Sind Sie dabei?«

»Einer der Vizepräsidenten«, flüsterte Herr Verloc mit Nachdruck, und der Erste Sekretär der Gesandtschaft hob den Kopf, um ihn anzusehen.

»Dann sollten Sie sich vor sich selbst schämen!« sagte er scharf. »Bringt Ihre Gesellschaft nichts weiter fertig, als diesen prophetischen Unsinn in schlechten Lettern auf schmieriges Papier zu drucken? Warum tun Sie nichts? Sehen Sie, ich habe diese Sache jetzt in der Hand und sage Ihnen offen, daß Sie Ihr Geld zu verdienen haben werden! Die Zeiten des guten alten Stott-Wartenheim sind vorüber! Keine Arbeit, kein Geld!«

Herr Verloc hatte ein merkwürdiges Gefühl von Schwäche in seinen dicken Beinen. Er trat einen Schritt zurück und schnaubte laut durch die Nase.

Er war tatsächlich peinlich überrascht. Der rostige Londoner Sonnenschein arbeitete sich durch den Londoner Nebel und warf gedämpftes Licht in das Bureau des Ersten Sekretärs; und durch die Stille hörte Herr Verloc eine Fliege leise gegen eine Scheibe summen, – seine erste Fliege in diesem Jahre, – die besser als alle Schwalben das Nahen des Frühlings verkündete. Die nutzlose Rührigkeit dieses winzigen, kraftbewußten Lebewesens weckte in dem großen Mann, der sich in seiner Untätigkeit bedroht sah, peinliche Gedanken. In der Pause machte Herr Vladimir ganz für sich eine Reihe häßlicher Bemerkungen über Herrn Verlocs Gesicht und Figur. Der Bursche war über jedes Maß gewöhnlich, schwer, und schamlos dumm. Er sah ganz lächerlich einem Spenglermeister gleich, der seine Rechnung einkassieren kommt. Der Erste Sekretär der Gesandtschaft hatte von gelegentlichen Ausflügen in das Reich amerikanischen Humors eine besondere Art von Vorstellung von jener Art von Handwerkern mitgebracht, die ihm als das Sinnbild betrügerischer Faulheit und Nichtigkeit erschienen.

Das also war der berühmte und vertrauenswürdige Geheimagent, so geheim, daß er niemals anders als mit dem Buchstaben A in dem amtlichen, halbamtlichen und vertraulichen Briefwechsel des seligen Barons Stott-Wartenheim bezeichnet worden war. Der gefeierte Agent A, dessen Warnungen die Reisepläne königlicher, kaiserlicher und großfürstlicher Herrschaften ändern und manchmal ganz zunichte machen konnten. Dieser Bursche! Und Herr Vladimir gab sich innerlich einer ungeheuren, spöttischen Heiterkeit hin, teils über sein eigenes Erstaunen, das ihm kindlich vorkam, hauptsächlich aber auf Kosten des allgemein betrauerten Barons Stott-Wartenheim. Der verblichene Exzellenzherr, den die erhabene Gunst seines kaiserlichen Herrn als Gesandten über mehrere widerstrebende Außenminister gestellt hatte, war zu Lebzeiten bekannt gewesen für seine eulenhafte, leichtgläubige Schwarzseherei. Für Seine Exzellenz war die soziale Revolution zur fixen Idee geworden. Er hielt sich selbst für einen Diplomaten, der aus besonderer Gnade ausersehen war, das Ende der Diplomatie und fast auch das Ende der Welt in einem schauerlichen Volksaufruhr mit anzusehen. Über seine prophetischen und schmerzgebeugten Depeschen hatte man in mehr als einem auswärtigen Amt jahrelang gelacht. Man erzählte sich, daß er auf seinem Totenbette (wo er von seinem kaiserlichen Freund und Meister besucht worden war), ausgerufen hatte: »Unseliges Europa! Du sollst untergehn an dem Wahnwitz deiner Kinder!« Es war sein Schicksal, das Opfer des ersten besten hergelaufenen, aufschneiderischen Schurken zu werden, dachte Herr Vladimir, mit einem verlorenen Lächeln zu Herrn Verloc hin.

»Sie haben allen Grund, das Andenken des Barons Stott-Wartenheim in Ehren zu halten«, rief er plötzlich aus.

Herrn Verlocs schlaffe Züge trugen das Gepräge eines düsteren, müden Kummers.

»Gestatten Sie die Bemerkung,« sagte er, »daß ich hierher kam, weil ich durch brieflichen Befehl dazu aufgefordert war. Ich bin während der letzten elf Jahre nur zweimal sonst hier gewesen, und sicher nie um elf Uhr morgens. Es scheint mir nicht sehr weise, mich so herkommen zu lassen. Wie leicht könnte ich gesehen werden, und das wäre kein Spaß für mich.«

Herr Vladimir zuckte die Schultern.

»Es würde meine Brauchbarkeit zerstören«, fuhr der andere hitzig fort.

»Das ist Ihre Sache«, murmelte Herr Vladimir mit gedämpfter Roheit. »Sobald Sie aufhören, brauchbar zu sein, wird man aufhören, Sie zu verwenden. Jawohl. Ab! Schluß! Sie werden – –« Herr Vladimir unterbrach sich, schien mit gerunzelten Brauen nach einem genügend mundartlichen Ausdruck zu suchen und entblößte dann in plötzlichem Grinsen ein blendend weißes Gebiß. »Sie werden gespritzt«, stieß er hervor.

Wiederum hatte Herr Verloc mit aller Willenskraft gegen ein Schwächegefühl zu kämpfen, das ihm die Beine hinunterlief und das seinerzeit einmal einen armen Teufel zu dem Wortbild begeistert hatte: »Mein Herz fiel mir in die Schuhe!« Herr Verloc überwand das Gefühl und hob tapfer den Kopf.

Herr Vladimir hielt den eindringlich prüfenden Blick mit größter Gemütsruhe aus.

»Wir wollen der Konferenz in Mailand ein kleines Stimulans eingeben«, sagte er leichthin. »Ihre Erwägungen über internationale Maßnahmen zur Unterdrückung politischer Verbrechen scheinen zu keinem Ende zu führen; England läßt aus. Dieses Land ist ganz lächerlich, mit seiner gefühlsduseligen Rücksichtnahme auf persönliche Freiheit. Der Gedanke ist unerträglich, daß alle Ihre Freunde nur herüber zu kommen brauchen, um – –«

»So habe ich sie alle unter Augen«, fiel Herr Verloc heiser ein.

»Es wäre weit richtiger, sie alle unter Schloß und Riegel zu haben! England muß aufgerüttelt werden! Die verdammte Bourgeoisie dieses Landes macht sich zum Mitschuldigen eben der Leute, deren Ziel es ist, die Bourgeoisie aus ihren Häusern zu treiben und in der Gosse verhungern zu lassen. Und dabei hätten sie die politischen Machtmittel noch, wenn sie nur die Einsicht hätten, zu ihrer eigenen Erhaltung davon Gebrauch zu machen. Ich hoffe, Sie geben zu, daß die Mittelschichten verdummt sind?«

Herr Verloc bejahte krächzend:

»Sie sind es!«

»Sie haben keine Vorstellungskraft. Sie sind von törichter Eitelkeit verblendet. Jetzt brauchen sie einmal einen tüchtigen Schrecken; das ist der richtige Augenblick, Ihre Freunde ans Werk zu setzen! Ich habe Sie herrufen lassen, um Ihnen meine Ansicht darzulegen.«

Und Herr Vladimir entwickelte seine Ansicht ganz von oben herab, mit verächtlicher Leutseligkeit, und zeigte dabei zugleich eine derartige Unwissenheit über die wahren Ziele, Gedanken und Wege der Revolutionswelt, daß er den schweigsamen Verloc zu innerst verblüffte. Er verwechselte Ursachen und Wirkungen in nicht mehr entschuldbarem Maße, die ausgezeichnetsten Propagandaredner mit einfachen Bombenwerfern, nahm eine Organisation an, wo sie nach Lage der Dinge unmöglich bestehen konnte, sprach von der sozialrevolutionären Partei in einem Augenblick als von einer ganz durchgebildeten Armee, wo das Wort des Führers letztes Gesetz war, und im nächsten wieder wie von einer losen Zusammenrottung verzweifelter Räuber, wie sie nur je in einer Bergschlucht hauste. Einmal hatte Herr Verloc den Mund geöffnet, doch eine Bewegung einer weißen, wohlgeformten Hand hatte ihm Schweigen geboten. Bald war er auch zu verblüfft, um an Widerspruch denken zu können. Er lauschte in starrem Entsetzen, das nach außen hin wie reglose Aufmerksamkeit wirkte.

»Eine Reihe von Anschlägen«, fuhr Herr Vladimir ruhig fort, »hier in diesem Lande; aber nicht nur hier geplant – das genügt nicht – sie würden es nicht achten. Ihre Freunde könnten das halbe Festland in Brand setzen, ohne die öffentliche Meinung hierzulande zugunsten eines allgemeinen Unterdrückungsgesetzes beeinflußen zu können. Die Leute hierzulande sehen über ihre Gärtchen nicht hinaus.«

Herr Verloc räusperte sich, fand aber nicht den Mut und sagte nichts.

»Diese Anschläge brauchen nicht sonderlich blutig zu sein,« erläuterte Herr Vladimir, als hielte er eine wissenschaftliche Vorlesung, »aber sie müssen erschreckend, genügend wirksam sein. Lassen Sie sie zum Beispiel gegen Gebäude gerichtet sein! Was ist denn heutzutage der Fetisch, vor dem sich die ganze Bourgeoisie beugt – nun, Herr Verloc?«

Herr Verloc öffnete seine Hände und zuckte leicht die Schultern.

»Sie sind zu faul zum Nachdenken«, bemerkte Herr Vladimir zu dieser Gebärde. »Achten Sie darauf, was ich sage: heutzutage ist der Fetisch weder das Herrschertum, noch die Religion. Darum müssen der Palast und die Kirche in Ruhe gelassen werden. Sie verstehen, was ich meine, Herr Verloc?«

Der Kummer und die Spottsucht Verlocs machten sich in dem Versuch eines Scherzes Luft.

»Gewiß; aber wie ist's mit den Gesandtschaften? Mehrere Anschläge auf die Gesandtschaften«, begann er, konnte aber dem kalten, scharfen Blick des Ersten Sekretärs nicht standhalten.

»Sie können auch witzig sein, wie ich sehe«, warf dieser hin. »Das ist ganz recht. Das wird vielleicht Ihre Rede in sozialistischen Versammlungen würzen. Hier aber ist nicht der Ort dafür. Es wäre Ihnen unendlich viel zuträglicher, aufmerksam dem zu folgen, was ich Ihnen sage. Da es Ihre Aufgabe sein wird, Taten zu liefern anstatt Ammenmärchen, so sollten Sie lieber Vorteil aus dem zu ziehen trachten, was ich mir die Mühe nehme, Ihnen auseinanderzusetzen. Der allerheiligste Fetisch dieser Zeit ist die Wissenschaft. Warum bringen Sie nicht einige Ihrer Freunde dazu, diesem hölzernen Götzenbild zu Leibe zu gehen? Wie? Muß nicht ein gut Teil dieser Einrichtungen weggefegt werden, bevor das Reich der Z. P. anhebt?«

Herr Verloc sagte nichts. Er fürchtete sich, die Lippen aufzutun, um nicht stöhnen zu müssen.

»Das sollten Sie versuchen; ein Anschlag gegen ein gekröntes Haupt oder einen Präsidenten macht ja ein gewisses Aufsehen, aber doch nicht mehr so wie einst. Das gehört heute schon zum Begriff eines Staatsoberhauptes. Es ist fast herkömmlich, besonders seitdem so viele Präsidenten umgebracht worden sind. Nun nehmen wir einmal einen Anschlag, sagen wir, auf eine Kirche! Schrecklich genug im ersten Augenblick, gewiß, und doch nicht so, wie ein Durchschnittsmensch glauben möchte. Sei er noch so revolutionär und anarchistisch gemeint, so wird es doch mehr als einen Narren geben, der in dieser Tat eine religiöse Kundgebung sehen wird, und das würde dem Anschlag die besonders aufrüttelnde Wirkung nehmen, die wir wünschen. Ein Mordüberfall auf ein Restaurant oder Theater wäre in gleicher Weise der Mißdeutung ins Unpolitische ausgesetzt; die Verzweiflung eines Hungernden, eine Tat sozialer Rachsucht, – all dies ist verbraucht. Als Lehrbeispiel für revolutionären Anarchismus kommt es nicht mehr in Betracht. Jede Tageszeitung hat fertig geprägte Phrasen, um solche Kundgebungen zu verreden. Ich entwickle Ihnen hier eine Philosophie des Bombenwerfens von meinem Gesichtspunkt aus, von dem Gesichtspunkt also, dem Sie während der letzten elf Jahre gedient zu haben behaupten. Ich will versuchen, nicht über Ihren Kopf weg zu reden. Die Empfindlichkeit der Klasse, die Sie angreifen, stumpft sich rasch ab. Eigentum scheint ihnen unzerstörbar; Sie können bei ihnen weder auf Mitleid noch auf Furcht recht lange rechnen. Ein Bombenanschlag, der heutzutage auf die öffentliche Meinung richtig wirken soll, muß über den Begriff Rache oder Terrorismus hinausgehen. Er muß einfach zerstörend sein. Das und nur das muß er sein, ohne den leisesten Einschlag irgend eines anderen Beweggrundes. Ihr Anarchisten dürftet keinen Zweifel daran lassen, daß ihr fest entschlossen seid, den ganzen gesellschaftlichen Aufbau glatt wegzufegen. Wie aber könnte man diese ungewöhnlich widersinnige Absicht den Köpfen der Mittelschicht begreiflich machen, sodaß kein Zweifel mehr möglich ist? Das ist die Frage. – Die Antwort: indem ihr den Stoß gegen etwas richtet, was außerhalb der alltäglichen Leidenschaften der Menschheit liegt. Natürlich gibt es auch noch die Kunst. Eine Bombe in der Nationalgalerie würde einigen Lärm machen. Es wäre aber nicht ernst genug. Kunst war nie ihr Fetisch. Es ist, wie wenn man einem Mann in seinem Hause ein paar Hinterfenster einschlagen wollte. Um ihn aber wirklich zum Aufstehn zu bringen, müßte man ihm doch mindestens das Dach abdecken. Natürlich gäbe es ein wenig Geschrei, aber von wem? Von Künstlern, Kunstkritikern und dergleichen, von Leuten ohne Bedeutung. Niemand achtet darauf, was sie sagen. Aber da ist nun die Bildung, die Wissenschaft. Jeder Dummkopf, der es zu einem Einkommen gebracht hat, glaubt daran, er weiß nicht warum, aber er glaubt an ihre Bedeutung. Das ist der allerheiligste Fetisch. Alle die verdammten Professoren sind im Herzen unnachgiebig; machen Sie ihnen zu wissen, daß ihr großer Götze auch weg muß, um der Zukunft des Proletariats Platz zu machen. Ein Geheul aller dieser Idioten wird fraglos die Arbeiten der Mailänder Konferenz fördern. Sie werden in die Zeitungen schreiben, ihre Entrüstung wird über jeden Verdacht erhaben sein, da keine materiellen Interessen im Spiele sind, und die ganze Selbstsucht der Klasse, auf die es ankommt, wird wachgerufen werden. Sie glauben daran, daß in irgendeiner geheimnisvollen Weise die Wissenschaft die Quelle ihres Wohlstandes ist. Das tun sie. Und die hirnverbrannte Grausamkeit eines solchen Anschlags wird sie tiefer packen, als die Niederlegung einer ganzen Straße oder eines Theaters voll von ihresgleichen. Zu einem Ereignis der letzten Art werden sie immer sagen können: ›Oh, es ist ein blanker Klassenhaß!‹ Was aber sollte man zu einem Ausbruch von Zerstörungswut sagen, der unverständlich, unerklärlich, undenkbar, tatsächlich verrückt ist? Irrsinn allein ist wahrhaft erschreckend, da er sich weder durch Drohung, Überredung, noch Bestechung besänftigen läßt. Überdies bin ich ja ein gesitteter Mensch, es könnte mir nie einfallen, Ihnen zu der Veranstaltung einer Metzelei zuzureden, auch wenn ich die besten Ergebnisse davon erwarten könnte. Von einer Metzelei könnte ich aber gar nicht das erwarten, was ich brauche. Mord ist uns vertraut, er ist sozusagen eine feststehende Einrichtung. Die Kundgebung muß sich gegen die Bildung, gegen die Wissenschaft richten, aber auch nicht gegen jede beliebige Wissenschaft. Der Angriff muß all die empörende Sinnlosigkeit einer willkürlichen Gotteslästerung haben. Da Bomben zu Ihren Ausdrucksmitteln gehören, so wäre es tatsächlich vielsagend, wenn einer eine Bombe in reine Mathematik werfen könnte. Aber das ist ja unmöglich. – Ich habe versucht, Sie zu erziehen, ich habe Ihnen Ihre Verwendungsmöglichkeiten von höherer Warte klar gemacht und einige neue Gesichtspunkte eröffnet. Es ist nun Ihre Sache, meine Lehren in die Tat umzusetzen. Als ich es aber unternahm, mit Ihnen zu verhandeln, habe ich zugleich auch der praktischen Seite der Frage einige Aufmerksamkeit zugewendet. Was denken Sie davon, die Astronomie anzupacken?«

Herrn Verlocs Unbeweglichkeit neben dem Lehnstuhle ähnelte schon eine ganze Weile dem Zustande eines Schlafkranken – völlige Gefühllosigkeit, von leichtem Aufschrecken unterbrochen, wie man es bei Haushunden beobachten mag, die neben der Feuerstelle schwer träumen. Und es klang auch wie das Knurren eines Hundes, als er dumpf wiederholte:

»Astronomie.«

Er hatte sich noch nicht wieder erholt von der Verwirrung, in die ihn die Anstrengung, Herrn Vladimirs raschen und schneidigen Schlüssen zu folgen, gestürzt hatte. Sein Anpassungsvermögen war erschöpft. Er war zornig, und sein Zorn war mit Ungläubigkeit gemengt. Plötzlich dämmerte es ihm auf, daß all dies ein verdächtiger Spaß sei. Herr Vladimir zeigte in einem Lächeln seine weißen Zähne und Grübchen in seinem runden, vollen Gesicht, das sich gefällig über die flatternden Enden seines Maschenbinders beugte. Der Liebling der Damen besserer Kreise war in die Stellung verfallen, in der er in den Salons seine geistreichen Witzworte vorzubringen liebte. Er saß vornübergebeugt, die weiße Hand erhoben, und schien mit Zeigefinger und Daumen seine feine Beweisführung zu stützen.

»Es gibt nichts besseres, ein solcher Frevel verbindet die weitestgehende Rücksicht auf Menschenleben mit der schrecklichsten Entfaltung blinder Zerstörungswut. Ich möchte wohl sehen, ob es der Erfindungsgabe der Journalisten gelingen könnte, ihren Lesern begreiflich zu machen, daß irgendein Mitglied des Proletariats einen persönlichen Haß gegen die Astronomie haben könnte. Auch der Hunger könnte dabei nicht ins Spiel gebracht werden. Und es gibt noch andere Vorteile. Die ganze zivilisierte Welt hat von Greenwich gehört, noch die Schuhputzer an der Untergrundbahnstation in Charing Cross wissen etwas davon, wie?«

Herrn Vladimirs Züge, in der besten Gesellschaft durch ihre heitere Gesittung so wohl bekannt, strahlten nun zynische Selbstzufriedenheit aus, was die gebildeten Damen, die seinen Witz so gerne belachten, zweifellos wundergenommen hätte. »Ja,« fuhr er mit einem verächtlichen Lächeln fort, »die Sprengung des ersten Meridians wird fraglos eine Flut von Verwünschungen erregen.«

»Eine schwierige Sache«, murmelte Herr Verloc in dem Gefühl, daß sonst nichts zu sagen war.

»Was ist dabei? Halten Sie nicht die ganze Bande in der Hand? Den Topf am Henkel, sozusagen? Der alte Terrorist Yundt ist hier. Ich sehe ihn fast täglich in seinem grünen Havelock in Piccadilly herumgehen. Und Michaelis, der Bewährungsfristapostel – wollen Sie mir etwa sagen, daß Sie nicht wissen, wo er ist? Wenn Sie es nämlich nicht wissen, so kann ich es Ihnen sagen«, fügte er drohend hinzu. »Wenn Sie glauben, daß Sie der einzige auf der Geheimliste sind, so sind Sie im Irrtum!« Diese völlig grundlose Andeutung veranlaßte Herrn Verloc, mit dem Fuße zu scharren.

»Und die ganze Lausanner Bande, he? Hat die sich nicht bei der ersten Andeutung der Mailänder Konferenz scharenweise hier herumgetrieben? Dies ist ein blödsinniges Land.«

»Es wird Geld kosten«, sagte Herr Verloc, von einer Art Instinkt getrieben.

»Das zieht nicht mehr«, gab Herr Vladimir mit verblüffend echtem englischem Tonfall zurück. »Sie bekommen Ihr Monatsgehalt und keinen Pfennig mehr, bevor nicht etwas geschieht, und geschieht nicht bald etwas, so bekommen Sie nicht einmal das. Was ist nach außen hin Ihre Beschäftigung? Wovon leben Sie angeblich?«

»Ich habe einen Laden«, sagte Herr Verloc.

»Einen Laden? Was für einen Laden?«

»Schreibwaren, Zeitungen. Meine Frau – –«

»Ihre – was?« unterbrach Herr Vladimir, in seinem innerasiatischen Kehlton.

»Meine Frau.« Herr Verloc hob seine Stimme ein wenig. »Ich bin verheiratet.«

»Verdammt nochmal«, rief der andere in echter Verwunderung. »Verheiratet? Und Sie wollen geschworener Anarchist sein? Was ist das für ein verwünschter Unsinn? Oder ist es nur eine Redensart? Anarchisten heiraten nicht, das weiß jeder; sie können es nicht; es wäre Fahnenflucht.«

»Meine Frau ist keine Anarchistin«, bockte Herr Verloc. »Überdies geht Sie das nichts an.«

»O doch, o doch!« bellte Herr Vladimir. »Ich komme allmählich zu der Überzeugung, daß Sie durchaus nicht der rechte Mann für die Tätigkeit sind, für die Sie hier bezahlt werden. Wie denn – Sie müssen sich ja in Ihrer eigenen Welt durch Ihre Heirat um alles Vertrauen gebracht haben? Wäre es denn ohne das gar nicht gegangen? Dies also ist Ihre tugendhafte Neigung, wie? Und mit Neigung und Neigung hören Sie auf, brauchbar zu sein.«

Herr Verloc blies die Backen auf und stieß heftig die Luft aus; sonst nichts. Er hatte sich mit Geduld gewappnet. Aber recht lange durfte es nicht mehr so fortgehn. Der Erste Sekretär wurde plötzlich ganz kurz und schneidig.

»Sie können jetzt gehen«, sagte er. »Ein Dynamitanschlag muß geschehen. Ich gebe Ihnen einen Monat Zeit. Die Sitzungen der Konferenz sind unterbrochen; bevor sie wieder aufgenommen werden, muß hier etwas geschehen sein, sonst hört unsere Verbindung mit Ihnen auf.«

Er wechselte nochmals mit absichtsloser Leichtigkeit den Ton.

»Denken Sie über meine Worte nach, Herr – Herr Verloc«, sagte er mit spöttischer Vertraulichkeit und winkte mit der Hand gegen die Tür. »Packen Sie den ersten Meridian! Sie kennen die Mittelklasse nicht so gut wie ich. Ihre Empfindlichkeit ist erschöpft. Den ersten Meridian. Nichts besser und nichts leichter, scheint mir.«

Er war aufgestanden und sah, mit einem lustigen Zucken um seine dünnen, sinnlichen Lippen, im Spiegel über dem Kamin zu, wie Herr Verloc sich schwerfällig und rücklings hinausschob, Hut und Stock in einer Hand. Die Tür schloß sich.

Der Lakai in Kniehosen tauchte plötzlich im Korridor auf, führte Herrn Verloc einen anderen Weg hinaus und ließ ihn durch eine schmale Tür in der Ecke des Hofes ins Freie. Der Pförtner im Torweg beachtete seinen Abgang überhaupt nicht, und Herr Verloc schritt seinen Pilgerweg vom Morgen wieder zurück wie in einem Traume – einem bösen Traume. Seine Ablösung von der dinglichen Welt war so völlig, daß, obwohl seine sterbliche Hülle durchaus nicht übermäßig durch die Straßen gehastet war, doch der Teil von ihm, dem füglich die Unsterblichkeit nicht abzusprechen war, sich plötzlich vor der Ladentür wiederfand, als wäre er von West nach Ost auf den Schwingen des Sturmes gereist. Er ging sofort hinter den Ladentisch und setzte sich auf einen Holzstuhl, der dort stand. Niemand störte seine Einsamkeit. Stevie, mit einem grünen Schurz angetan, kehrte und staubte im ersten Stock ab, eifrig und gewissenhaft, als wäre es ein Spiel; und Frau Verloc, die in der Küche den Klang der heiseren Glocke vernommen hatte, war nur bis zu der Glaswand des Wohnzimmers gekommen, hatte den Vorhang beiseite geschoben und in den halbdunklen Laden hineingespäht. Sobald sie die wuchtigen Umrisse ihres Mannes erkannt hatte, war sie an ihren Herd zurückgekehrt. Etwa eine Stunde später nahm sie ihrem Bruder Stevie den grünen Tuchschurz ab und befahl ihm, sich Gesicht und Hände zu waschen, in dem gebieterischen Ton, den sie sich für solche Fälle seit fünfzehn Jahren zugelegt hatte – seit damals, als sie aufgehört hatte, ihn selbst zu waschen. Während des Tischdeckens nahm sie sich jetzt die Zeit, einen Blick auf das Gesicht und die Hände zu tun, die Stevie ihrer Prüfung mit einem Ausdruck von Selbstvertrauen darbot, das nicht ganz frei von Angst war: früher einmal war der Zorn des Vaters das Druckmittel für diese Reinlichkeitsbestrebungen gewesen, aber Herrn Verlocs häusliche Sanftmut würde jede Androhung von Zornesausbrüchen selbst für den Schwachsinn des armen Stevie unglaublich gemacht haben. Nun wurde vorgegeben, daß Herr Verloc durch jeden Mangel an Reinlichkeit bei den Mahlzeiten unsäglich traurig und bekümmert würde. Winnie hatte nach dem Tode ihres Vaters einen erheblichen Trost in dem Gedanken gefunden, daß sie nicht länger mehr um den armen Stevie zu zittern brauchte. Sie konnte es nicht vertragen, den Knaben geschlagen zu sehen, das machte sie verrückt. Als kleines Mädchen war sie oft mit blitzenden Augen dem jähzornigen konzessionierten Schankwirt zur Verteidigung ihres Bruders entgegengetreten. Jetzt allerdings ließ nichts in Frau Verlocs Erscheinung vermuten, daß sie eines leidenschaftlichen Ausbruchs fähig war.

Der Tisch im Wohnzimmer war gedeckt. Sie ging an den Fuß der Treppe und schrie hinauf: »Mutter«; dann öffnete sie die Glastüre zum Laden und sagte ruhig: »Adolf«. Herr Verloc hatte seine Stellung nicht verändert. Er hatte anscheinend während anderthalb Stunden kein Glied gerührt. Er stand schwerfällig auf und kam zum Abendessen, im Überzieher, mit dem Hut auf dem Kopf und ohne ein Wort zu sagen. Sein Schweigen allein hatte nichts Verwunderliches, in diesem Haushalte, der tief in dem Schatten der schmutzigen Gasse, wohin kaum je die Sonne drang, verborgen war, hinter dem Laden mit seinem zweifelhaften Kram. Nur war Herrn Verlocs Schweigsamkeit an diesem Tage so auffallend nachdenklich, daß sich die beiden Frauen darüber Gedanken machten. Sie saßen selbst schweigend da und hatten ein wachsames Auge auf den armen Stevie, damit er nicht etwa in einen seiner Anfälle von Gesprächigkeit ausbreche. Er sah Herrn Verloc über den Tisch weg an und saß still und brav mit leerem Blick. Das ständige Bestreben, ihn davon abzuhalten, daß er sich dem Herrn des Hauses lästig bemerkbar machte, brachte in das Leben der beiden Frauen eine beträchtliche Sorge. »Der Junge«, wie sie ihn untereinander milde nannten, war fast vom Tage seiner Geburt an eine Quelle solcher Sorgen gewesen. Die Demütigung, die der selige konzessionierte Gastwirt bei dem Gedanken empfand, ein so ganz eigenartiges Geschöpf zum Sohn zu haben, hatte sich in eine Neigung zu übertriebener Strenge umgesetzt, denn er war feinfühlend in seiner Art, und sein Schmerz als Vater und Mann war durchaus echt. Späterhin mußte Stevie davon abgehalten werden, die Junggesellen, die zur Miete wohnten, zu behelligen, denn diese sind, wie man weiß, ein wenig querköpfig und leicht verärgert, und überdies blieb noch der ständige Kummer um sein nacktes Dasein. Der Gedanke, ihr Kind in einem Krüppelheim in Zwangserziehung zu haben, hatte die alte Frau in dem Frühstückszimmer des ehemaligen Hauses am Belgravia-Platz oft und oft schwer bedrückt. »Wenn du nicht einen so guten Mann gefunden hättest, meine Liebe,« pflegte sie zu ihrer Tochter zu sagen, »dann weiß ich nicht, was aus dem armen Jungen geworden wäre.«

Herr Verloc zeigte für Stevie einen Grad von Aufmerksamkeit, wie ihn etwa ein Mann, der Tiere nicht besonders mag, für die Lieblingskatze seiner Frau übrig haben könnte. Seine Aufmerksamkeit, wohlwollend und oberflächlich, war tatsächlich genau dieser Art. Beide Frauen gaben innerlich zu, daß man von Rechts wegen nicht viel mehr erwarten konnte. Es genügte auch, um Herrn Verloc die ehrerbietige Dankbarkeit der alten Frau zu sichern. In der ersten Zeit, mißtrauisch gemacht durch die Härte der freudlosen Jahre, fragte sie manchmal ängstlich: »Du glaubst nicht, mein Kind, daß Herr Verloc es satt bekommt, den kleinen Stevie unter Augen zu haben?« Darauf pflegte Winnie immer nur mit einem leichten Kopfschütteln zu antworten. Nur einmal gab sie mit fast ingrimmiger Entschlossenheit zurück: »Dann müßte er mich zuerst satt bekommen.« Ein langes Schweigen war gefolgt. Die Mutter hatte die Beine auf einem Stuhl gelagert und schien zu versuchen, diese Antwort zu ergründen, deren weibliche Tiefe ihr ans Herz gegriffen hatte. Sie hatte es niemals wirklich verstanden, warum Winnie Herrn Verloc geheiratet hatte. Es war sehr vernünftig gewesen und war auch zum besten ausgeschlagen, doch ihre Tochter hätte doch wohl Aussicht gehabt, einen Mann in jüngeren Jahren zu finden. Ein gesetzter junger Mann war dagewesen, der einzige Sohn eines Fleischers in der Nachbarstraße, der seinem Vater im Geschäft half und mit dem Winnie augenscheinlich gerne ausgegangen war. Allerdings war er von seinem Vater abhängig, aber das Geschäft war gut und seine Aussichten glänzend. Er hatte ihre Tochter mehrmals ins Theater geführt; als sie aber grade zu fürchten begonnen hatte, von der Verlobung der beiden zu hören (denn was hätte sie mit dem großen Haus anfangen sollen, allein und noch mit Stevie auf dem Hals), da fand die Idylle ein jähes Ende, und Winnie ging ganz verstört herum. Zugleich tauchte Herr Verloc auf, wie von der Vorsehung geschickt, mietete das Vorderzimmer im ersten Stock, und von dem jungen Fleischer war nicht mehr die Rede. Es war ganz offenbar eine Fügung.

 


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