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2

Bald darauf wurde unser täglicher Verkehr für ungefähr zwei Wochen unterbrochen. Ich mußte Genf unerwartet verlassen. Nach meiner Rückkehr sprach ich unverweilt am Boulevard des Philosophes vor.

Es erfüllte mich mit einigem Ärger, daß ich durch die offene Tür des Wohnzimmers den gemessenen, salbungsvollen Baß eines Besuchers hörte.

Frau Haldins Stuhl beim Fenster stand leer. Vom Sofa her grüßte mich Natalie Haldin mit einem Blick ihrer wunderbaren grauen Augen und mit der leisen Andeutung eines Willkommlächelns, machte aber keine Bewegung. Ihre kräftigen weißen Hände lagen gefaltet im Schoße ihres Trauerkleides, und sie war einem Manne zugewendet, von dem ich nur den starken Rücken sah, der gut zu der tiefen Stimme paßte. Er wandte den Kopf scharf über die Schulter, doch nur für einen Augenblick.

»Ah, Ihr englischer Freund. Ich weiß, ich weiß; das macht nichts.«

Er trug schwarze Augengläser, und neben seinem Stuhl stand ein Zylinderhut auf dem Boden. Mit einer leichten Bewegung seiner großen weichen Hand fuhr er in seinem Sermon fort, aber etwas rascher.

»Ich bin nie an dem Glauben irre geworden, den ich hatte, während ich noch durch die Wälder und Sümpfe Sibiriens wanderte. Er hat mich damals aufrecht erhalten – und hält mich heute aufrecht. Die Großmächte Europas müssen verschwinden –, und der Grund ihres Zusammenbruches wird sehr einfach sein. Sie werden sich in dem Kampfe gegen ihr Proletariat erschöpfen. In Rußland ist es anders. In Rußland haben wir keine Klassen, die sich untereinander bekämpfen und von denen die eine den materiellen Besitz in der Hand hat, während die andere durch die Masse wirkt. Wir haben nur eine korrupte Bürokratie, die dem Volke gegenübersteht, das groß ist und unverderbbar wie der Ozean. Nein, wir haben keine Klassen, aber wir haben die russische Frau, die wunderbare russische Frau. Ich erhalte ganz bemerkenswerte Briefe von Frauen, so erhaben im Ton, so mutig und von einem so edlen Diensteifer durchglüht. Unsere stärksten Hoffnungen ruhen auf der Frau. Ich erkenne ihren Wissensdurst an; er ist bewundernswert. Sehen Sie selbst, wie sie aufsaugen, wie sie sich alles zu eigen machen. Es ist wunderbar. Doch was ist Wissen? ... Ich denke, daß Sie kein bestimmtes Studium ergriffen haben – Medizin zum Beispiel. Nein? Das ist recht. Hätten Sie mich nach Ihrer Ankunft hier mit einer Bitte um Rat beehrt, so hätte auch ich mich durchaus gegen ein solches Studium ausgesprochen. Jedes Spezialwissen ist nur Schlacke.«

Er hatte eines dieser bärtigen russischen Gesichter, ohne bestimmte Form, ein Durcheinander von Haut und Haaren, ohne einen einzigen, ausgesprochenen Zug. Da seine Augen hinter den dunklen Gläsern verborgen waren, so wirkte seine Miene auffallend ausdruckslos. Ich kannte ihn vom Sehen. Er war ein berühmter russischer Flüchtling. Ganz Genf kannte seine stämmige Gestalt in dem schwarzen Rock. Eine Zeitlang hallte Europa wider von seiner Geschichte, die er selbst geschrieben hatte und die in sieben oder noch mehr Sprachen übersetzt worden war. In seiner Jugend hatte er ein müßiges, zerfahrenes Leben geführt. Dann starb eine junge Dame der Gesellschaft, die er heiraten wollte, ganz plötzlich, und daraufhin kehrte er der eleganten Welt den Rücken, wendete sich aus einer Art Reue heraus der revolutionären Bewegung zu, und nachher sorgte die Autokratie seines Landes schon dafür, daß ihm die übelsten Dinge widerfuhren. Er wurde in Festungen eingekerkert, zu drei Vierteln tot geprügelt und zur Zwangsarbeit in Minen, in Gesellschaft gemeiner Verbrecher, verurteilt. Was seinem Buch aber am allermeisten zu Erfolg verhalf, das war die Kette.

Ich erinnere mich jetzt nicht mehr genau an das Gewicht und die Länge der Fesseln, die ihm auf Regierungsbefehl angeschmiedet wurden. – Die Zahl der Pfunde und die Stärke der Kettenglieder bildeten aber ein furchtbares Zeugnis für die göttliche Berechtigung der Selbstherrschaft. Furchtbar und doch auch lächerlich, denn dieser große Mann brachte es fertig, das einfache Regierungswerkzeug mit sich durch die Wälder zu schleppen. Das aufreizende Klirren dieser Fesseln tönt durch alle die Kapitel, die seine Flucht beschreiben, und war ein Gegenstand der Verwunderung für zwei Erdteile. Es hatte damit begonnen, daß er sich mit Erfolg vor seiner Wache in einer Uferhöhle verbarg. Es war Abend; mit unsäglicher Mühe gelang es ihm, einen Fuß frei zu machen. Darüber brach die Nacht herein. Er war eben dabei, den anderen Fuß freizubekommen, als ihm ein furchtbares Unglück zustieß: seine Feile fiel ihm aus der Hand.

Ein mystischer Schimmer liegt über diesen genauen Daten, und die Feile hatte ihre pathetische Geschichte. Sie wurde ihm ganz unerwartet eines Abends von einem stillen, bleichen Mädchen gegeben. Das arme Geschöpf war in die Minen herausgekommen, um einem seiner Mitgefangenen Gesellschaft zu leisten, einem zarten jungen Menschen, mit breiten Backenknochen und großen starren Augen, gewesenem Mechaniker und Sozialdemokraten. Sie hatte sich mühselig durch halb Rußland und fast ganz Sibirien durchgekämpft, um ihm nahe zu sein und, wie es scheint, in der Hoffnung, ihm zur Flucht zu verhelfen. Doch sie kam zu spät. Ihr Geliebter war eine Woche vorher gestorben. Durch diese, wie er es nennt, »dunkle Episode in der Geschichte der ideellen Entwicklung Rußlands« kam die Feile in seine Hände und erweckte in ihm den brennenden Entschluß, seine Freiheit wiederzugewinnen. Als ihm das Werkzeug aus den Fingern gefallen war, schien es, als habe die Erde es verschluckt. Es wollte und wollte ihm nicht gelingen, es im Dunkeln mit der Hand wieder zu fassen. Er suchte systematisch danach, in dem losen Erdreich, im Schlamm, im Wasser; inzwischen verging die Nacht, die kostbare Nacht, auf die er gerechnet hatte, um in die Wälder entkommen zu können, was die einzige Möglichkeit einer Flucht war. Einen Augenblick lang war er aus Verzweiflung versucht, alles aufzugeben. Doch dann rief er sich das ruhige, traurige Gesicht des heldenhaften Mädchens zurück und fühlte sich tief beschämt über seine Schwäche. Sie hatte ihn für die Gabe der Freiheit ausersehen, und er mußte sich der Gunst würdig erweisen, die ihre weibliche, unbezwingbare Seele ihm zugewendet hatte. Ihre Zuversicht mußte ihm heilig sein. Versagte er, so wäre das eine Art Verrat an der Weihe der Selbstaufopferung und der Liebe des Weibes gewesen.

Ganze Seiten seines Buches sind mit einer Selbstanalyse angefüllt, aus der, wie eine weiße Erscheinung auf dunkler aufgeregter See, die Überzeugung von der geistigen Überlegenheit der Frau hervorging – sein neuer Glaube, den er seither in vielen Bänden bekannte. Die ersten Anfänge und der große Akt der Bekehrung selbst fallen in die Zeit, in der er in den endlosen Wäldern der Ochotskprovinz ein wildes Leben führte, das lose Ende der Kette um die Hüften geschlungen und mit einem von seinem Sträflingsgewand losgerissenen Streifen festgebunden; andere Streifen hielten die Kette an seinem linken Bein fest, um das Klirren zu dämpfen und das Hängenbleiben der Glieder im Buschwerk zu verhüten. Er verwilderte vollständig und entwickelte ungeahnte Instinkte für die tausend Kniffe eines vogelfreien Daseins. Er lernte es, in Dörfer zu kriechen, ohne seine Anwesenheit durch mehr als höchstens ein schwaches Klirren zu verraten. Er brach in Nebengebäude ein, mit einer Axt, die er in einem Holzmacherlager entlehnt hatte. In den wüsten Landstrichen lebte er von wilden Beeren und suchte nach Honig. Nach und nach fielen ihm die Kleider vom Leibe. Da und dort tauchte seine nackte, lohfarbene Gestalt in den Büschen auf; Wolken von Moskitos umschwärmten den zottigen Kopf, und die Schauermär davon verbreitete sich über ganze Distrikte. Im Laufe der Tage kam die richtige Raubtiernatur in ihm zum Durchbruch, und er freute sich darüber, denn nur davon konnte er Rettung erhoffen. Es war, als stünden bei dem ganzen Unternehmen zwei menschliche Wesen unlösbar verbunden nebeneinander: der zivilisierte Mensch, der enthusiastische Vorkämpfer hoher menschlicher Ideale, mit dem unstillbaren Verlangen nach dem Triumph der Nächstenliebe und der politischen Freiheit, und der verschlagene, urzeitliche Wilde, der erbarmungslos und mit allen Mitteln von Tag zu Tag für seine Freiheit kämpfte wie ein gehetztes Raubtier.

Dieses Raubtier schlug aus Instinkt den Weg nach Westen, zur Küste des Stillen Ozeans ein, und das zivilisierte Wesen in ihm verfolgte in ehrfürchtiger und ängstlicher Abhängigkeit die gemachten Fortschritte. In allen diesen Wochen konnte er sich nie entschließen, das Mitleid der Menschen anzurufen. Bei dem stets kampfbereiten, urzeitlichen Wilden mochte diese Scheu natürlich sein, doch auch in dem anderen, zivilisierten Geschöpf, dem Denker, dem entsprungenen »Politischen«, hatte sich eine absurde Form von krankhaftem Pessimismus ausgebildet, eine Art vorübergehenden Irrsinns, die vielleicht in den körperlichen Beschwerden ihren Grund haben mochte, die ihm die Kette verursachte. Diese Fesseln, glaubte er, mußten ihn dem Rest der Menschheit widerwärtig machen. Ihr Träger mußte gebrandmarkt erscheinen. Niemand konnte auch nur die Spur von Mitleid empfinden bei dem abstoßenden Anblick eines Menschen, der eine zerbrochene Kette auf seiner Flucht mitschleppte. Diese Fesseln beeinflußten seine Einbildungskraft in einer ganz bestimmten, eindeutigen Richtung. Es schien ihm unmöglich, daß irgend jemand sollte der Versuchung widerstehen können, das lose Ende an einen Ring in der Mauer anzuschließen und zur nächsten Polizeistation zu laufen. Während er in Erdlöchern herumkroch oder sich im Dickicht verbarg, versuchte er in den Gesichtern ahnungsloser, freier Ansiedler zu lesen, die an den Lichtungen arbeiteten oder auf den Wegen wenige Handbreit vor ihm vorbeigingen. Er hatte das Gefühl, daß er keinen Menschen auf der Welt vor die Versuchung stellen dürfe, die die Kette bedeutet hätte.

Eines Tages aber kam er in die Nähe einer einsamen Frau. Es war auf einer offenen, mit rauhem Gras bestandenen Halde vor dem Wald. Sie saß am Ufer eines schmalen Flusses, hatte ein rotes Taschentuch um den Kopf gebunden, und ein kleines Körbchen lag neben ihr auf dem Boden. Ein wenig weiter weg sah man ein paar Blockhäuser und ein Wasserrad unter dem Stauweiher, der von schattigen Birken umstanden war und im Dämmerlicht wie ein Spiegel glänzte. Er schlich sich lautlos näher, einen dicken Knüppel in der Hand, die Axt in seinen eisernen Gürtel gesteckt. Laub und Zweige hingen in seinem verwirrten Haar und seinem Bart. Um die Lenden flatterten zerlumpte Fetzen, die er um die Kette gewickelt hatte. Ein leichtes Klirren der Fesseln ließ die Frau umschauen. Die wilde Erscheinung erschreckte sie zu sehr, als daß sie hätte aufspringen oder auch nur schreien können, doch war sie auch zu starkherzig, um einfach in Ohnmacht zu fallen ... Da sie nicht anders dachte, als er würde sie auf dem Fleck umbringen, so bedeckte sie die Augen mit den Händen, um die niedersausende Axt nicht sehen zu müssen. Als sie endlich den Mut fand, wieder aufzublicken, sah sie den zottigen wilden Mann zwei Schritte von ihr weg am Ufer sitzen. Seine dünnen sehnigen Arme hielten die nackten Beine umklammert. Der lange Bart bedeckte die Knie, auf die er sein Kinn stützte. Diese ganz zusammengekrümmten Glieder, die bloßen Schultern, der wilde Kopf mit den roten stieren Augen zitterten und bebten heftig, während das vertierte Geschöpf sich anstrengte, zu sprechen. Es war sechs Wochen her, seit er den Klang seiner eigenen Stimme gehört hatte. Es schien, als habe er die Sprache verloren. Er war zum stumpfen, verzweifelten Tier geworden, bis die Frau plötzlich und ganz unerwartet einen Schrei tiefsten Mitleids ausstieß. Mit dem Scharfblick weiblichen Mitgefühls hatte sie das namenlose Elend des Mannes unter der entsetzlichen Maske des Ungeheuers erkannt; das gab ihn der Menschheit wieder. Mit unwiderstehlicher Beredsamkeit hat er diesen einen Punkt in seinem Buch herausgearbeitet. Schließlich weinte sie über ihn heilige, erlösende Tränen, während auch er weinte, doch aus Freude, wie ein bekehrter Sünder. Sie wies ihn an, sich in den Büschen zu verbergen und geduldig zu warten (eine Polizeipatrouille wurde in der Ansiedlung erwartet). Dann ging sie den Häusern zu und versprach, nachts wiederzukommen.

Die Vorsehung schien es so eingerichtet zu haben, daß sie das jung verheiratete Weib des Dorfschmiedes war; also überredete die Frau ihren Mann, mit ihr hinauszugehen und ein paar seiner Werkzeuge, einen Hammer, einen Meißel und einen kleinen Amboß mitzunehmen ...

»Meine Fesseln«, sagt das Buch, »wurden an den Ufern des Stromes gesprengt, im Sternenlicht einer klaren Nacht, von einem riesenhaften, schweigsamen jungen Mann aus dem Volke, der zu meinen Füßen kniete, während die Frau, wie ein befreiender Genius, mit gefalteten Händen dabeistand.« Ganz offensichtlich eine symbolische Gruppe. Zugleich halfen sie seiner wiedergewonnenen Menschlichkeit mit ein paar anständigen Kleidungsstücken auf und gaben ihm neuen Mut mit der Eröffnung, daß die Küste des Stillen Ozeans nur ganz wenige Meilen entfernt sei. Man konnte sie tatsächlich von der Spitze des nächsten Hügels aus sehen ...

Das Ende seiner Flucht bietet keine Anhaltspunkte mehr für mystische Ausschmückungen oder symbolische Deutungen. Er kam schließlich nach dem Westen zurück, auf dem ganz gewöhnlichen Wege durch den Suezkanal. Als er die Küste von Südeuropa erreicht hatte, setzte er sich nieder und schrieb seine Autobiographie. Es war der große literarische Erfolg des Jahres. Diesem Buch folgten andere, die alle in der ausdrücklichen Absicht geschrieben waren, die Menschheit zu erziehen. In diesen Werken predigte er ganz allgemein den Kult der Frau. Er für seine Person übte ihn in Form einer ganz besonderen Verehrung für die transzendentalen Verdienste einer gewissen Madame de S. Diese Dame war im Denken, doch leider auch in gleicher Weise an Jahren fortgeschritten und war seinerzeit einmal die intrigante Gattin eines nun toten und vergessenen Diplomaten gewesen. Sie hatte (wie Voltaire und Madame de Staël) sich in den Schutz des republikanischen Genf begeben und erhob von da aus laut den Anspruch, für eine der Führerinnen der modernen Ideen- und Gefühlsrichtungen genommen zu werden. Wenn sie in ihrem großen Landauer durch die Straßen fuhr, so bot sie den gleichgültigen Eingeborenen und den gaffenden Touristen den Anblick einer langleibigen, jugendlichen Gestalt von priesterlicher Steifheit. Ein paar große, überglänzende Augen rollten ruhelos hinter dem kurzen schwarzen Spitzenschleier, der nur bis zu den lebhaft roten Lippen reichte und an eine Maske erinnerte. Gewöhnlich begleitete sie der »heldenhafte Flüchtling«. Dieser Beiname war ihm in einer Besprechung der englischen Ausgabe seines Buches verliehen worden. Der »heldenhafte Flüchtling« also, mit dem mächtigen Bart und den dunklen Augengläsern, saß nicht neben ihr, sondern ihr gegenüber auf dem Rücksitz, und wenn sie einander so ansahen, ganz allein in dem geräumigen Gefährt, hatte man den Eindruck einer bewußten, öffentlichen Schaustellung. Vielleicht war sie auch unbewußt. Die russische Einfalt reicht oft aus irgendeinem erhabenen Beweggrund bis hart an die Grenze des Zynismus. Es ist ja auch ein müßiges Beginnen, dem sophistisch verseuchten Europa das Verständnis für diese Handlungsweise erschließen zu wollen. Wenn man nur den tiefen Ernst betrachtete, der sich sogar bis auf das Gesicht des Kutschers und die Gangart der Galapferde erstreckte, so hätte man dem ganzen wunderlichen Aufzug eine gewisse mystische Bedeutung zuerkennen mögen. Für die korrupte Frivolität eines westeuropäischen Verstandes wie des meinen schien er aber kaum noch anständig.

Wie immer dem auch sei, es steht einem namenlosen Sprachlehrer nicht zu, an einem heldenhaften Flüchtling von nationaler Berühmtheit Kritik zu üben. Ich wußte vom Hörensagen, daß er so recht das war, was man einen »G'schaftelhuber« nennt; er suchte seine Landsleute in Hotels und Privatwohnungen auf und beehrte sie zeitweilig auch, wie man mir sagte, in den öffentlichen Gärten mit seiner auszeichnenden Gesellschaft, wenn sich eine passende Gelegenheit dazu bot.

Ich hatte den Eindruck, daß er mehrere Monate zuvor nach einem oder zwei Besuchen die Damen Haldin aufgegeben hatte – zweifellos mit Widerstreben, denn er war ganz gewiß kein Mann von raschen Entschlüssen. Vielleicht war es ja zu erwarten, daß er nun bei diesem furchtbaren Anlaß wieder auftauchte, als Russe und als Revolutionär, um das rechte Wort zu sprechen, um den wahren, vielleicht tröstlichen Ton zu finden. Es gefiel mir aber doch nicht, daß ich ihn da sitzen fand. Ich bin der festen Überzeugung, daß dabei keinerlei unangebrachte Eifersucht meiner Sonderstellung wegen im Spiel war. Ich leitete aus meiner stummen Freundschaft keinerlei Vorrechte ab. Der Unterschied im Alter und in der Nationalität entrückte mich gleichsam in eine andere Sphäre, und ich selbst sogar konnte mich des Eindruckes nicht erwehren, daß ich ein stummes, hilfloses Gespenst sei, ein angsterfülltes und körperloses Wesen, das nur herumspuken konnte, ohne die Macht zu haben, auch nur mit einem Flüstern eine Warnung oder einen Rat zu erteilen. Da Fräulein Haldin mit ihrem sicheren Instinkt es unterlassen hatte, mich der stämmigen Berühmtheit vorzustellen, so hätte ich mich ruhig zurückgezogen und wäre später wieder zurückgekehrt, hätte ich nicht den merkwürdigen Ausdruck in ihren Augen wahrgenommen, den ich als eine Aufforderung zum Bleiben auffaßte, in der Absicht vielleicht, einen unwillkommenen Besuch abzukürzen.

Er nahm seinen Hut auf, doch nur, um ihm auf die Knie zu setzen.

»Wir werden uns wiedertreffen, Natalia Viktorowna. Heute habe ich Sie nur besucht, um Ihnen und Ihrer verehrten Mutter gegenüber Gefühlen Ausdruck zu geben, über deren Natur Sie nicht im Zweifel sein können. Es bedurfte keines Anspornes für mich, doch Eleanor – Madame de S. – selbst hat mich sozusagen hergeschickt. Sie bietet Ihnen die Hand fraulicher Freundschaft. Ganz unbedingt gibt es in der reichen Abstufung menschlicher Gefühle keine Freude und keinen Kummer, den diese Frau nicht verstehen könnte, läutern und vergeistigen durch ihre Teilnahme. Der junge Mann, der da kürzlich von St. Petersburg angekommen ist und den ich schon erwähnte, steht bereits unter dem Bann ihrer Persönlichkeit.«

In diesem Augenblick stand Fräulein Haldin unvermittelt auf. Ich war froh. Er hatte augenscheinlich keine derartige Entschiedenheit erwartet, warf in der ersten Überraschung den Kopf zurück und schob in blanker Neugier die dunklen Augengläser hoch. Bald aber hatte er sich gefaßt und stand hastig auf.

»Wie kommt es nur, Natalia Viktorowna, daß Sie sich so lange von einem Kreis ferngehalten haben, in dem sich schließlich doch – mögen die bösen Zungen sagen, was sie wollen – die geistige Freiheit sammelt und der Ihnen die Möglichkeit bietet, sich neue Ideen für Ihre Zukunft zu formen? Im Falle Ihrer verehrten Mutter verstehe ich es ja einigermaßen. In ihrem Alter sind neue Ideen, neue Gesichter, vielleicht nicht ... Aber Sie: War es Mißtrauen – oder Gleichgültigkeit? Sie müssen aus Ihrer Zurückhaltung heraustreten. Wir Russen haben kein Recht, gegeneinander zurückhaltend zu sein. In unseren Verhältnissen ist das fast ein Verbrechen gegen die Menschheit. Wir dürfen uns den Luxus geheimen Schmerzes nicht erlauben. In unseren Tagen bekämpft man den Teufel nicht mit Beten und Fasten. Und was ist Fasten denn schließlich anderes als Verhungern? Sie dürfen sich nicht aushungern, Natalia Viktorowna. Was wir brauchen, ist Stärke. Geistige Stärke, meine ich. Denn die andere Stärke haben wir ja, und wer könnte uns widerstehen, wenn wir Russen uns entschließen wollten, sie auszunützen? Der Begriff der Sünde hat sich in unseren Tagen verschoben und damit auch der Weg zum Heil für die reinen Seelen. Er führt nicht mehr durch Klöster, sondern durch die Welt ... «

Unterirdische Klänge schienen unter dem Boden hervorzudringen, und man fühlte sich davon bis zu den Lippen umspült. Die Bemerkung, die Fräulein Haldin einwarf, schien die letzte Anstrengung eines Ertrinkenden, sich über Wasser zu halten. Sie sagte mit leichter Ungeduld im Ton:

»Aber Peter Iwanowitsch, ich denke nicht daran, mich in ein Kloster zurückzuziehen. Wer würde das Heil dort suchen?«

»Ich sprach bildlich«, säuselte er.

»Gut also, dann spreche ich auch bildlich. Aber Schmerz ist Schmerz, und Kummer ist Kummer, wie es immer war. Sie stellen ihre Ansprüche an die Menschen. Man muß ihnen so gut man kann entgegentreten. Ich weiß wohl, daß der Schlag, der uns so unerwartet getroffen hat, nur eine Episode ist in dem Geschick eines Volkes. Sie können versichert sein, daß ich das nicht vergesse. Doch gerade jetzt habe ich an meine Mutter zu denken. Wie können Sie glauben, daß ich sie sich selbst überlasse ...?«

»Sie drücken sich etwas zu hart aus«, sagte er mit seiner mächtigen Stimme.

Fräulein Haldin wartete nicht, bis die Schwingungen erstorben waren:

» ... und herumlaufe, um einer Reihe von fremden Leuten Besuche zu machen. Der Gedanke ist mir widerwärtig. Und ich kann mir nicht vorstellen, was Sie sonst meinen könnten.«

Er türmte sich vor ihr auf, ungeheuer und doch demütig, mit dem nach Sträflingsart kurzgeschnittenen Haar; und sein großer roter Kopf erweckte in mir die Vorstellung eines wüsten Schädels mit wirren Haarsträhnen, der durch geteilte Büsche spähte, die Vorstellung von nackten, lederfarbenen Gliedern, die sich hinter dem Laubdickicht unter Schwärmen von Fliegen und Moskitos regten. Es war ein unwillkürlicher Tribut an die Wucht seiner Schreibweise. Niemand konnte daran zweifeln, daß er die sibirischen Wälder durchwandert hatte, nackt und mit einer Kette gegürtet. Der Rock aus feinem schwarzem Tuch gab seiner Persönlichkeit etwas Würdiges und Ergebenes, das an einen Missionar erinnerte.

»Wissen Sie, was ich will, Natalia Viktorowna?« sprach er feierlich. »Ich will, daß Sie eine Fanatikerin werden.«

»Eine Fanatikerin?«

Seine Stimme wurde noch um einen Ton tiefer. Einen Augenblick lang erhob er einen dicken Arm, der andere hing schlaff an der Seite herab, mit dem gebrechlichen Glanzhut am Ende.

»Ich will Ihnen nun etwas sagen, was ich Sie ernsthaft zu überlegen bitte. Hören Sie: wir brauchen eine Macht, die Himmel und Erde in Bewegung setzt – nichts weniger als das.«

Der tiefe unterirdische Klang dieses »nichts weniger als das« durchzitterte die Luft, als ob der Wind in den Pfeifen einer Orgel heulte.

»Und werden wir diese Macht im Salon von Madame de S. finden? Verzeihen Sie, Peter Iwanowitsch, wenn ich mir erlaube, daran zu zweifeln. Kommt diese Dame nicht aus der Großen Welt? Ist sie nicht eine Aristokratin?«

»Vorurteil«, schrie er. »Sie setzen mich in Erstaunen. Und gesetzt den Fall, sie wäre alles das – sie ist auch ein Weib von Fleisch und Blut. In jedem von uns gibt es ein Gegengewicht gegen das Geistige. Daraus aber einen Vorwurf zu schmieden, ist etwas, was ich von Ihnen nicht erwartet hätte. Nein! Das hätte ich nicht erwartet. Man möchte glauben, daß Sie irgendeinem böswilligen Geschwätz Ihr Ohr geschenkt haben.«

»Ich habe keinen Klatsch gehört, versichere ich Ihnen. Wie wäre das auch möglich gewesen, in unserer Provinz. Doch die Welt spricht von ihr. Was kann es Gemeinsames geben zwischen einer Frau dieser Art und einem unbedeutenden Landmädchen wie mir?«

»In ihr betätigt sich unablässig ein edler und einziger Geist«, fiel er ein. »Ihr Charme – nein – ich will nicht von ihrem Charme sprechen, genug, daß jeder, der ihr in die Nähe kommt, unter ihren Bann gerät ... Widersprüche verschwinden, jeder Druck läßt nach ... Wenn ich mich nicht irre – aber ich irre mich nie in geistigen Fragen –, so haben Sie einen seelischen Druck, Natalia Viktorowna.«

Fräulein Haldins klare graue Augen blickten fest in sein weiches großes Gesicht. Ich hatte plötzlich den Eindruck, daß er hinter seinen dunklen Augengläsern so unverschämt sein konnte, wie er nur wollte.

»Neulich abends erst, als ich mit unserem letzten interessanten Ankömmling aus St. Petersburg vom Château Borel nach der Stadt zurückging, konnte ich den stark beruhigenden – ich möchte sagen, versöhnenden Einfluß beobachten … Den ganzen weiten Weg am See entlang schwieg er, wie ein Mann, dem man den Weg zum Frieden gewiesen hat. Ich konnte fühlen, wie es in seiner Seele gärte. Sie verstehen mich. Er hörte mich geduldig an. Ich war an jenem Abend begeistert von dem starken Genius Eleanors – von Madame de S., meine ich. Es war Vollmond, und ich konnte sein Gesicht beobachten. Ich bin nicht zu täuschen.«

Fräulein Haldin sah zu Boden und schien zu zögern.

»Nun gut, ich werde daran denken, was Sie gesagt haben, Peter Iwanowitsch, und will versuchen, bei Ihnen vorzusprechen, sobald ich mit gutem Gewissen Mutter auf eine oder zwei Stunden allein lassen kann.«

So kalt diese Worte auch gesagt wurden, so war ich durch das Zugeständnis doch überrascht. Er ergriff ihre rechte Hand mit solchem Eifer, daß ich nicht anders dachte, als er würde sie an seine Lippen oder an seine Brust drücken. Doch er hielt sie nur bei den Fingerspitzen in seiner großen Pranke und schüttelte sie leise, während er die letzte Breitseite von Worten von sich gab.

»Das ist recht, das ist recht. Noch habe ich nicht Ihr volles Vertrauen errungen, Natalia Viktorowna, doch das wird kommen. Alles zu seiner Zeit. Die Schwester von Viktor Haldin kann nicht ohne Bedeutung sein ... das ist einfach unmöglich. Und keine Frau kann auf der Galerie sitzen bleiben. Blumen, Tränen, Applaus – die haben ihre Zeit gehabt; es waren mittelalterliche Begriffe. Die Arena selbst ist der Platz für die Frauen.«

Er gab mit einem leichten Schwung ihre Hand frei, als wollte er sie ihr zum Geschenk machen, und blieb dann still stehen, das Haupt leicht gebeugt, in würdiger Unterwerfung unter ihre Weiblichkeit.

»Die Arena! ... Sie müssen in die Arena hinabsteigen, Natalia.«

Er trat einen Schritt zurück, neigte seinen mächtigen Körper und ging schnell hinaus. Die Tür schloß sich hinter ihm. Doch unmittelbar darauf hörte man den mächtigen Widerhall seiner Stimme, während er im Vorzimmer mit dem ältlichen Dienstmädchen sprach, das ihn hinausbegleitete. Ob er auch sie ermahnte, in die Arena hinabzusteigen, kann ich nicht sagen. Es hörte sich an wie eine Predigt, und das leichte Zuklappen der Außentür schnitt sie plötzlich ab.


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