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VI. Kapitel.

Güstrow, 24. März.

Meine liebe Nell!

Du hast lange nichts von mir gehört. Dein energischer Brief hatte mich aber so erregt, daß ich ihn erst mal innerlich verarbeiten mußte.

Und das Resultat? Ich gehe gleich nach Ostern zu Erichs Tante, um die Landwirtschaft zu erlernen!

So – Du darfst triumphieren, Du hast wieder mal Deinen Willen durchgesetzt. Über die eine Stelle in Deinem Briefe habe ich viel geweint. Du schreibst: Wenn Du Dir einbildest, Deinen Erich glücklich zu machen, indem Du Dir vornimmst, Dir Dein Leben als Frau so bequem und vergnüglich als möglich einzurichten, so ist das ein großer Irrtum. In jedem Haushalt, in dem die Dienstboten sich selbst überlassen sind, weil die Frau nicht mal versteht, vernünftige Anordnungen zu treffen, wird der Mann sich weder glücklich noch zufrieden fühlen. Erst das Walten der Frau kann ihm sein Haus zu einem wahren Heim machen. Diese Weisheit habe ich durch das Beispiel meiner lieben Mutter, die ihre Pflichten als Frau und Mutter sehr ernst auffaßte. Deine Pflicht ist zunächst, Dich auf Deinen Beruf als Hausfrau vorzubereiten und das kannst Du nur, wenn Du Deines Bräutigams Wunsch erfüllst und die Landwirtschaft erlernst. Tot arbeiten wirst Du Dich nicht bei seinen Verwandten. Überwindest Du Deine Trägheit nicht, so bin ich machtlos und vermag Dir mit meinem Rat nicht vorwärts zu helfen, denn mit einem so schlappen Menschen, der sich nicht einmal zusammennehmen kann, wo es sich um das eigene Glück und um das des ihm Teuersten auf Erden handelt, ist nichts anzufangen.«

Ja, Du böse Nell, das hast Du geschrieben und mir einfach die Freundschaft gekündigt, falls ich nicht nachgegeben hätte, genau wie damals in Gmunden, als ich zwischen Dir und Deinem alten Scheusal von Hut wählen mußte.

Ach, Nell, ich war totunglücklich, und als Erich am nächsten Sonntag kam, habe ich ihm mein ganzes Herz ausgeschüttet. Er war so gut mit mir, Du glaubst es nicht, und schon so glücklich, daß ich seinen Wunsch auch nur in Erwägung zog. Daran sah ich aber, wie viel ihm an der Erfüllung lag. Und von Dir sprach er mit wahrer Begeisterung, nannte Dich sogar den Schutzengel unserer künftigen Ehe! Werd bloß nicht eingebildet, Nell, denn ein bißchen – ich will's aber lieber nicht hinschreiben, um Dich nicht zu erzürnen.

Na, so habe ich mich nach vielem Sinnen und Grübeln zu meinem großen Entschluß durchgerungen und erwarte, daß Du mich wenigstens für sehr heldenhaft hältst.

Großmama ist sehr unglücklich, aber Erich erzählt mir immer so viel von seiner Mutter Tüchtigkeit, daß ich nicht hinter solchem Muster zurückstehen mag, und Papa lobt meinen Entschluß. Du aber kannst stolz sein, Nell, denn Deine Ermahnungen haben mir erst die Augen darüber geöffnet, daß meine Pflichten jetzt schon beginnen. Und ich hatte mir meine Brautzeit als einen einzigen Sonnentag voller Glück und Freude ausgemalt und habe nun die Aussicht, mich halb zu Tode zu arbeiten. Ich fürchte mich sehr vor Bestritz und bin natürlich oft verdrießlich, was aber nur von meinen schwachen Nerven kommt. Mein einziger Trost ist, daß Erich mich auch dort Sonntags besuchen will. Dann darf ich doch wenigstens Drohne sein, Du? Onkel und Tante sind übrigens sehr nett, besonders Onkel, Tante kommt mir sehr energisch vor, und was die Eigenschaft schwachen Menschen für Unbequemlichkeiten bereiten kann, erlebe ich ja immer aufs neue an Dir.

Bisher habe ich immer nur von mir gesprochen, aber wes das Herz voll ist, Du weißt ja. Dein Examen rückt immer näher heran, ich wünsche Dir viel Glück, liebe Nell, es ist ja aber totsicher, daß Du glänzend durchkommst. Für Deine Lore teile ich aber Deine Furcht. Wie gut, daß sie Dich hat, Du darfst sie aber nicht lieber haben, als mich, Nell.

Nun leb wohl für heute, meine liebe, meine geliebte Nell. Wenn ich innerlich auch oft mit Dir zanke, so weiß ich doch, daß Du es unendlich gut mit mir meinst, und dafür bin ich Dir so dankbar. Also lies mir weiter die Leviten. Ich bin neugierig, was Du nun wieder zu tadeln an mir herausfinden wirst, Du strenge, anspruchsvolle Nell, Du. Grüß mir Dein Väterchen recht innig und sei Du herzlichst umarmt von

Deiner
gelehrigen Christa.

P. S. Du wirst in Pädagogik sicher eine Doppeleins bekommen. Meine süße Nell, ich küsse Dich in Liebe und Dankbarkeit.

* * *

Es war Mitte April und ein linder Vorfrühlingstag, als in dem Mädchenseminar von Fräulein Krug in Schwerin das mündliche Examen stattfand. Das schriftliche hatten schon einige Wochen früher alle Schülerinnen bis auf drei bestanden, auch Lore, wenn auch in einigen Fächern nicht gerade besonders gut. Das sollte nun durch das mündliche ausgeglichen werden. Auffallend blaß und ohne jeglichen Mut war sie morgens mit den Genossinnen in das Examenzimmer gegangen.

Und nun war es längst zwölf Uhr und noch immer blieb droben alles unheimlich still. Postdirektor Wartenberg schritt ungeduldig vor dem Hause auf und ab und warf unruhige Blicke zu den betreffenden Fenstern empor. Da – endlich ward es auf der Treppe lebendig. Einige Lehrer traten aus der Haustür und gingen, in lebhafte Unterhaltung vertieft, die Straße hinunter. Ihnen folgten die jungen Examinantinnen, einige blaß, andere glühend rot.

Von Nell nichts zu hören noch zu sehen. Doch jetzt – die Tür ward aufgerissen, sie stürzte die Stufen hinunter, dem Vater entgegen, ohne Hut und Jacke, so wie sie aus dem Examen kam.

»Väterchen, bitte, besorge schnell eine Droschke, Lore liegt in tiefer Ohnmacht, und ein Arzt wird so schnell nicht aufzutreiben sein. Wenn du kannst, benachrichtige Hugo, wir nehmen Lore natürlich mit zu uns,« und ohne eine Antwort abzuwarten, lief sie in das Schulgebäude zurück.

Schon nach kurzer Zeit rasselte eine Droschke heran, das bewußtlose Mädchen ward hineingetragen, und Nell setzte sich zu ihr und nahm sie in den Arm. Voller Angst blickte sie in das marmorblasse Gesicht mit den geschlossenen Augen und dem Schmerzenszug um die bleichen Lippen. Es dünkte sie eine Ewigkeit, bis sie vor der väterlichen Wohnung hielten. Nun mußte sie voraus eilen, die Tante zu benachrichtigen.

Mit deren Hilfe brachte sie Lore in ihr Zimmer und ins Bett. Sehr angenehm empfand sie es, daß die Tante keine einzige Frage stellte, sondern in ruhiger Umsicht Mittel anwandte, die noch immer Ohnmächtige ins Leben zurückzurufen. Sie fing an, schwach zu atmen, als der Postdirektor mit Hugo kam.

»Sie lebt, Gott sei gedankt,« rief Nell dem Bruder entgegen, der sich sofort um die Kranke bemühte. Unter der Einwirkung einer scharfen Essenz schlug sie mit zitterndem Atemzuge die dunklen Augen auf und sah verstört um sich.

»Mein Kleines,« sagte Nell in tiefer Zärtlichkeit und beugte sich über sie, »was machst du mir für Geschichten, halbtot habe ich mich um dich geängstigt.«

»Nell –«

»Still, du darfst dich nicht aufregen, du bist hier zu Hause und sollst dich hier zu Hause fühlen, als wärst du auch Väterchens Tochter.«

»Wollen Sie mich dann auch als großen Bruder ansehen, Fräulein Lore?« bat der junge Arzt mit seinem guten Lächeln, das ihm alle Herzen gewann.

»Völliger Zusammenbruch aller Kräfte,« lautete sein Ausspruch, als er nach einer genauen Untersuchung der Patientin zu den Seinen ins Zimmer trat.

»Hab ich mir gedacht,« rief Nell und rannte erregt auf und ab, »sie hat sich ja halb von Sinnen geängstigt und schon monatelang über ihr Vermögen gearbeitet. Die beiden ersten Stunden ging es noch leidlich, da hatte ich noch Hoffnung für sie, je länger es aber dauerte, je verwirrter wurde sie. Die Herren haben sich redlich bemüht, ihr durchzuhelfen, der Schulrat legte ihr sogar ein paarmal die Antwort fast in den Mund, aber alles vergebens. Sie ward schließlich ganz apathisch, und als ihr dann der Schulrat auf das schonendste mitteilte, daß sie nicht bestanden, fiel sie plötzlich lautlos um. Den Schreck vergeß ich in meinem Leben nicht. Ich glaubte, sie sei tot. Fürchtest du für sie, Hugo? Sag es mir ganz offen.«

»Wenn sich kein Fieber einstellt, denke ich, werden sich die Kräfte bei geeigneter Pflege wieder heben.«

»O, daran soll es nicht fehlen, nicht wahr, Väterchen? Du behältst Lore doch hier? Ich habe ihr gesagt, sie solle sich als deine liebe Tochter betrachten.«

Väterchen lachte leise auf. »Da bleibt mir ja nur noch übrig, Ja und Amen zu sagen, Tochter.«

»Bist du nicht einverstanden, Väterchen? Verzeih mein schnelles Handeln.«

»Hast recht getan, Kind, weißt doch, daß wir immer eines Sinnes sind. Es fragt sich nur, ob Tante Marie gewillt ist, die Mehrarbeit auf sich zu nehmen.«

»Lores Pflege übernehme ich, das ist selbstverständlich.«

»Es wird aber noch manches für Tante bleiben, so z. B. das Zubereiten der Krankenkost usw. Jedenfalls mußt du sie bitten, Tochter.«

Nell runzelte die Stirn, da öffnete sich die Tür, und Fräulein Taubert sah herein.

»Ich habe ihr ein paar Löffel Suppe gegeben, sie schläft mir aber unter den Händen ein. Ist es nicht besser, ich lasse sie vorläufig in Ruhe?«

»Ich komme,« entgegnete Hugo, aber Nell kam ihm zuvor und eilte an der Tante vorüber in ihr Zimmer.

Wie ein Kind, die Hände auf der Brust gefaltet, lag die Kranke da. Einer der schweren Zöpfe hatte sich gelöst und fiel in goldigem Glanz über die linke Schulter.

Vorsichtig fühlte der junge Arzt den Puls. »Schwach, aber nicht beängstigend. Der Schlaf ist das beste Heilmittel, lassen wir sie in Ruhe.«

»So kann ich das Essen aufgeben, das ist mir lieb,« entgegnete Fräulein Taubert und begab sich in die Küche, während die Geschwister in das Wohnzimmer zurückkehrten.

»Sag mal, Schwesterlein, darf man dir eigentlich gratulieren?« erkundigte sich Hugo lächelnd.

»Selbstverständlich, alter Junge. Mit Auszeichnung bestanden.«

»Alle Wetter! Ich mache dir mein Kompliment, Thusnelda. Viel Glück, kleine Nell, auch für den nun auszuübenden Beruf.«

»Ja, dazu brauch ich wirklich Glück! Denk dir, Hugo, bis auf Lore und mich hatten alle schon Stellen als Erzieherin in Aussicht. Hoffentlich finde ich bald Privatstunden.«

»Geduld, Tochter.«

»Ja, Väterchen. Augenblicklich denk ich auch mehr an Lore als an mich. Was soll nur aus ihr werden? Daß sie noch mal ins Examen geht, ist ja völlig ausgeschlossen. Und nach Hause? Da ginge sie langsam zugrunde, ein so feines, vornehmes Geschöpf, wie sie ist.« Nachdenklich sah sie vom Vater zum Bruder. »Halt – ich hab's! Großer, du mußt sie heiraten.«

Beide Herren lachten belustigt.

»Die Kleine könnte wirklich keinen besseren Anwalt haben als dich, Nell. Um ihr zu helfen, ist dir sogar der eigene Bruder recht.«

»O – ihr würdet trefflich für einander passen, du solltest dir die Sache überlegen,« beharrte sie.

»Danke. Ein so blasses, schmächtiges Geschöpf werde ich mir nie zur Lebensgefährtin wählen.«

»Lore hat eine eiserne Energie, das hat sie genugsam in diesen drei Jahren bewiesen, nicht wahr, Väterchen?«

»Stimmt. Ich meine aber, wir lassen unsern Jungen sich seine Zukünftige selber erkiesen.«

Hugo nickte dem Vater lächelnd zu. »Die Kleine kommt mir vor wie ein hilfloses, aus dem Neste gefallenes Vögelchen,« sagte er, »ich habe sehr große Teilnahme für sie, aber ein tieferes Gefühl könnte ich nie für das scheue kleine Wesen empfinden.«

»Schade,« sagte Nell bedauernd und stieß im nächsten Augenblick einen Jubelruf aus, denn zur Tür herein trat ihr Bruder Werner, das hübsche Gesicht strahlend in Freude, in den blauen Augen ein sonniges Lachen, Väterchens verjüngtes Ebenbild.

Eine lebhafte Begrüßung fand statt, nur Fräulein Taubert stand still beiseite, ein freundliches Lächeln auf dem immer etwas blassen Gesicht.

»Junge, hätte ich dies geahnt, so hätte ich das Geld für die Depesche gespart,« rief der Postdirektor und schlug seinem Jüngsten auf die Schulter.

»Hättest du nur Tante zu Rat gezogen. Die hat mich ja herbeordert.«

»Tante Marie –«

»Ja – Tante Marie – ich wollte eigentlich später kommen, aber Tante Marie schrieb, an Nells Ehrentage – daß es einer würde, Schwesterlein, dafür bürgte uns dein Fleiß und deine uns hinreichend bekannte Klugheit – gehöre die Familie zusammen, ich möchte mich doch, wenn irgend möglich, schon jetzt einstellen. Einem so energischen Befehl hieß es natürlich Folge leisten, ich bedang mir nur aus, als Überraschung ins Haus zu fallen. Das ist ja glänzend geglückt.«

»Tante Marie, das hast du gut gemacht,« rief Nell und umarmte sie herzlich. »Wo wollen wir den Jungen unterbringen?«

»Darum mache dir keine Sorgen, es ist schon alles fertig.«

»Und ich habe dir meine Lore auch noch gebracht, bist du mir böse?«

»Im Gegenteil, es ist mir lieb. Ich habe viele Teilnahme für das junge Mädchen, wenn ich auch keine Worte darüber verliere. Nun darf ich aber wohl zu Tisch bitten?«

»Nell, deine Hoffnung, das Vögelchen unter die Haube zu bringen, darf die Flügel regen,« flüsterte Hugo der Schwester zu, »du weißt, unser Kleiner schwärmt für schöne dunkle Mädchenaugen.«

»Und daß sie dunkel sind und schön dazu, hast du ja auch schon heraus, Großer, danach scheinen des Vögelchens Aktien im Grunde bei dir nicht allzu niedrig zu stehen,« gab Nell schelmisch zurück. »Aber ich schäme mich, so über meine kleine Lore zu reden; es ist unrecht, auf ihre Kosten zu lachen. Vergiß, bitte, was ich gesagt habe.«

»Du weißt, daß du dich auf mich verlassen kannst, Nell, mit so ernsten Dingen treibe ich keinen Scherz, zumal, wenn es sich um ein so bedauernswertes, vertrauendes Kind handelt.«

Nell drückte ihm verstohlen die Hand. Er war doch ein guter Mensch und hatte Väterchens goldenes Herz. Schade – aber nein, sie wollte nicht mehr daran denken.

Werner war einigermaßen enttäuscht, die Schwester nicht so viel, wie er erwartet hatte, für sich zu haben. Wenn er glaubte, er habe sie glücklich erwischt, lief sie wieder davon in ihr Stübchen. Er kam erst etwas zu seinem Recht, als Hugo energisch darauf bestand, daß Lore im Familienkreise erschien. Das arme Ding schämte sich grenzenlos wegen des so völlig verunglückten Examens und hätte sich am liebsten vor aller Welt verkrochen. Die lieben Menschen begegneten ihr jedoch so zartfühlend, daß sie allmählich ihre Scheu verlor. Sie war so froh und dankbar, bei Freunden zu sein, wenigstens vorläufig. Ihr Vater hatte ihr geschrieben, sie solle, sobald sie sich so weit erholt habe, um reisen zu können, nach Hause kommen. Ihr graute so vor einem Leben daheim, daß sie vor Angst und Aufregung nicht schlafen konnte. Sie wußte, er würde es für selbstverständlich halten, wenn sie mit der sechzehnjährigen Stiefschwester die Gäste bediente. Ihr stockte jedesmal der Herzschlag, wenn sie sich das ausmalte.

Sie ahnte nicht, wie die Freunde sich für sie bemühten. Nell hatte, nach einer Unterredung mit der Schulvorsteherin, eine Annonce aufgesetzt und sie an verschiedene, viel gelesene Zeitungen geschickt, es hatte sich bisher aber noch nichts Passendes gefunden. Was nur sollte aus dem Vögelchen werden? Keiner wußte es.

»Sie müssen mehr hinaus, Fräulein Lore,« sagte Hugo eines Tages bei seinem Besuch sehr energisch. »Ihre Scheu vor Fremden wird sonst krankhaft. Nell, ich mache dich verantwortlich dafür.«

»Ich brächte Lore am liebsten täglich stundenlang unter meine lieben Eichen im Werder. Er liegt uns ja am nächsten, aber leider immer noch zu weit für ihre Kraft.«

»Die Kräfte müssen geübt werden, sonst versagen sie immer mehr. Nimm ein Feldstühlchen mit und ein Körbchen voll Erquickungen und dann täglich ein Stückchen weiter.«

»Das ist geisttötend,« erklärte Werner, als er von dieser Verordnung hörte, »da weiß ich Besseres vorzuschlagen. Wir setzen Fräulein Lore in eine Droschke, fahren an den großen See, nehmen ein Boot und rudern sie eine Stunde.«

Schon am nächsten Morgen ward der Vorschlag ausgeführt. Gleich nach dem Kaffee brachen die drei jungen Menschen auf. Lore, etwas zittrig vor Erregung, ward traumhaft still zu mut, als sie dann, von Kissen gestützt, im Boote saß und die schöne Welt an sich vorüber gleiten sah. Majestätisch erhob sich auf seiner grünen Insel das stolze großherzogliche Schloß mit seinen vielen vergoldeten Türmen und Zinnen aus dem herrlichen, terrassenförmig zum See abfallenden, märchenhaft schönen Burggarten.

Ostern war besonders spät gefallen und das Wetter trocken und schön, nun halfen die warmen Sonnenstrahlen dem frohen Lenzesknaben ein liebliches Frühlingswunder nach dem andern in der erwachenden Natur hervorzaubern, überall neues Sprießen und Blühen. In flimmerndem Glanze breitete sich der meilenweite See aus, von zahllosen Schwänen und leichtbeschwingten Möwen belebt.

Die Geschwister ruderten beide, sie liebten die schnelle Bewegung und hatten nichts Geringeres vor, als Kaninchenwerder, eine Insel und ein beliebter Ausflugsort der Schweriner, zu erreichen.

»Ist's schön, Fräulein Lore?« fragte Werner, als er einen leichten Freudenschimmer in ihren Augen aufleuchten sah.

»Wunderschön! Ich bedaure nur, Ihnen so viele Mühe und Kosten zu verursachen.«

Werner lachte. »Meinen Sie, wir säßen zu Hause, die Nell und ich, wenn Sie nicht hier wären? Wir pflegen den ganzen Tag auf dem See zu liegen, wenn Ferien sind. Rudern ist ja unser Hauptvergnügen.«

»Aber der Wagen,« beharrte Lore errötend.

»Glauben Sie, daß ein preußischer Regierungsbeamter sich solche kleine Ausgabe nicht leisten kann?«

»Schäme dich, Lore, dir die Freude durch so kleinliche Bedenken zu schmälern,« schalt Nell, »schau um dich und genieße den himmlischen Morgen. Da – gleich hat sie Tränen in den Augen und die Lippen zucken. Vögelchen – Kleines! Ich hab es doch nicht böse gemeint.«

»Tröste dich, Nell,« rief Werner heiter, »dies Zeichen noch großer körperlicher Schwäche wollen wir – Egoisten wie wir nun mal sind – mit Freude begrüßen, denn sie garantiert uns, Fräulein Lore noch recht lange zu behalten.«

Nell nickte der Freundin zärtlich zu. »Was sagst du zu der Auffassung, Kleines?«

»Daß es besser um die Welt stünde, wenn es mehr solcher Egoisten gäbe,« entgegnete Lore mit feuchten Augen.

»Vorwärts, Nell, tüchtig in die Riemen gelegt,« kommandierte Werner.

Wie ein Vogel flog das Boot dahin. Die Geschwister waren glühend rot, als sie in Kaninchenwerder anlegten, aber froh ihrer jungen, frischen Kraft. Langsam schlenderten sie ein Stückchen in das Gehölz, lagerten sich an einem geschützten Platz und sprachen mit bestem Appetit den mitgenommenen Vorräten zu, selbst Lore schien es ein bißchen zu schmecken.

»Das sag ich ja,« frohlockte Werner, »folgen Sie nur immer meinen Verordnungen, Fräulein Lore, ich kuriere Sie schneller als mein gelehrter Doktorbruder.«

Das junge Mädchen lächelte nur, und eine feine Röte überflog ihr kleines, mageres Gesicht. Während der Rückfahrt ward sie aber erschreckend blaß, und als sie in Schwerin beim Bootshause anlegten, konnte sie vor Schwindelgefühl nicht aufstehen. Erschrocken umfaßte Nell sie, aber als sie fast zusammenbrach, trug Werner sie über den Steg und hob sie in die schnell von Nell herbeigewinkte Droschke.

Zu Hause angelangt, ward sie schleunigst zu Bett gebracht, und Werner holte den Bruder. So böse hatte Nell ihn noch nie gesehen.

»Einen größeren Wahnsinn als diese Ruderfahrt konntet ihr nicht an den Tag bringen,« schalt er die Geschwister, nachdem er von seiner Patientin kam, »hätte ich Seeluft für gut gehalten, würde ich es schon gesagt haben. Wer bringt einen so schwachen Menschen gleich stundenlang aufs Wasser! Um Tage hat sie das wieder zurückgebracht. Ich bitte mir aus, daß meine Vorschriften strenge befolgt werden und nichts mit dem Mädchen vorgenommen wird, was ich nicht gutgeheißen habe.« Damit ließ er die verblüfften Zwei stehen, nahm seinen Hut und stieg die Treppe hinab.

»O Werni, was haben wir angerichtet!« rief Nell reuevoll, aber Werner lachte leise auf, steckte die Hände in die Taschen und pfiff ein lustiges Lied.

Das empörte die Nell. »Du bist das reine Ungeheuer, daß du noch lachen kannst,« schalt sie und lief ärgerlich aus dem Zimmer.

Lore war mehrere Tage sehr matt und lag viel, dann begann sie in Nells Begleitung kleine Spaziergänge, die täglich etwas weiter ausgedehnt wurden. Bis zum Gehölz blieb die Entfernung indessen immer noch zu groß.

Da bestellte der Postdirektor an einem besonders schönen Nachmittag einen Wagen und forderte auch Fräulein Taubert zur Mitfahrt auf.

»Danke, Karl, ich habe keine Zeit,« entgegnete sie, »ich will Betten sonnen, es paßt mir gerade, wenn ihr alle stundenlang fort seid.«

»Dabei könnte ich doch helfen,« erbot Nell sich, »weshalb willst du gerade heute nachmittag damit anfangen.«

»Die Nell hat recht, Marie, du solltest dir auch mal ein kleines Vergnügen gönnen und uns die Freude deiner Gegenwart schenken.«

»Es ist sehr freundlich von dir, Karl, ich möchte aber lieber ausführen, was ich mir vorgenommen habe.«

»Laß sie, Väterchen,« sagte Nell unmutig, nachdem Fräulein Taubert gegangen war, »sie ist eine echte Philisterseele, ihr ist nicht wohl, wenn sie nicht im Alltag stecken bleibt. Ich kann die Menschen nicht leiden, bei denen sich das vorgenommene Tagesprogramm bis auf den I-Punkt abspielen muß, selbst wenn es sich um ganz nebensächliche Dinge handelt.«

»Der Wagen kommt,« rief Werner zur Tür herein.

Sie gingen hinab und stiegen ein. Im letzten Augenblick kam Fräulein Taubert.

»Hier, Nell, eine kleine Stärkung für euch alle.«

Nell errötete, konnte sich aber nicht überwinden, mehr als ein kurzes: »Danke,« zu sagen. Aufsehend begegnete sie Väterchens lächelndem Blick.

»Ich weiß, Väterchen, ich bin ein unliebenswürdiges Geschöpf,« rief sie aus.

»Habe ja kein Wort gesagt, Tochter.«

»Könnte ich doch mein Temperament zügeln!«

»Das möchte ich mir sehr verbitten,« rief Werner, der neben dem Kutscher saß, »wärst ja gar nicht mehr Nell Wartenberg, wenn du das fertig brächtest. Fräulein Lore, ist dies schöner als auf dem See?«

»Ich fahre auch sehr gern im Wagen, und ich freue mich so auf den Wald.«

Ja, der Wald hatte sich geschmückt wie eine jungfräuliche Braut mit seinem zartesten Maienschmuck. Sie ließen die kleine Restauration liegen und fuhren tief hinein, bis sie einen Komplex alter Eichen, Nells Lieblingsplatz, erreichten. Mit Decken und Kissen ward ein Lager für Lore bereitet, Väterchen setzte sich zu ihr mit einem Buche, die Geschwister schweiften ins Weite.

Träumend blickte Lore durch die noch schwach belaubten Kronen der breitästigen alten Riesen zum blauen Himmel auf. Tiefe Ruhe umgab sie, nur das Zwitschern und Singen der Vögel drang zu ihnen. Ein wohliges Gefühl der Ruhe überkam sie, zum ersten Male schlug ihr Herz leicht und froh. Ein Lächeln flog ihr um die Lippen.

»Wie ist es schön,« sagte sie leise, »mir ist, als fielen alle Sorgen von mir ab, als müsse noch alles gut werden.«

»Ja, die Natur übt einen wunderbaren Einfluß auf uns Menschen aus,« entgegnete Väterchen, »das macht Gottes Allgegenwart, die wir unbewußt in seiner Schöpfung spüren. Vertrauen Sie nur Gottes Vatergüte, Kind, der wird auch für Sie alles zu einem guten Ende führen.«

»Heute kann ich es. Mir ist so friedevoll und froh, wie ich nicht glaubte, je wieder zu werden.«

»Recht so, Kind. Mutig die Wege gehen, die Gott uns führt, das bringt Frieden und Heiterkeit.«

Lore antwortete nicht, in Gedanken verloren lauschte sie zu den leise säuselnden Bäumen empor, und dann mußte sie geschlafen haben, denn durch ein Geräusch gestört, richtete sie sich hastig auf. Ein Radler fuhr gerade unter die Eichen, sprang ab und lüftete den Hut.

»Doktorsohn, wohin führt dich hier dein Weg?«

»Euch nach, Väterchen. Ich hörte von Tante Marie, daß ihr hierher gefahren seid und da ich gerade mal Zeit hatte, holte ich schnell mein Rad. Daß ich euch hier unter Nells Eichen finden würde, konnte ich mir ja denken. Wie geht's, Fräulein Lore?«

»Gut, Herr Doktor, danke.«

»Sie haben wirklich Farbe.« Er ließ sich neben ihr nieder, bat sie, sich wieder zu legen und unterhielt sich mit dem Vater.

Bald darauf kamen die Geschwister zurück, Nell mit einem großen Strauß Anemonen, Werner mit langen Zweigen verschiedener Sträucher.

»Ich erlaube mir, Fräulein Lore, sie Ihnen untertänigst zu Füßen zu legen,« sagte er und erzählte ihr lebhaft und humorvoll von ihrem Streifzug. Nell hatte sich zu Hugo gesetzt, sich mit ihm zu unterhalten, fand aber, daß er nur halb hinhörte und mehr Werners Worten lauschte. Da wandte sie sich Väterchen zu.

Später schlenderten sie zu der Stelle zurück, wo der Wagen sie erwartete. Hugo begleitete sie auf seinem Rad.

Zu Hause angekommen, stellte Nell ihre Anemonen in eine Schale und trug sie in Tante Maries Zimmer, in der Hoffnung, ihr damit eine kleine Freude zu bereiten. Sie gestand sich ein, daß es doch sehr angenehm sei, nichts von allen häuslichen Unruhen zu merken und bei der Heimkehr einen gedeckten Tisch zu finden und die Tante, bereit, in ihrer ruhigen Freundlichkeit für alle zu sorgen.

Lores Genesung schritt langsam vorwärts. Allmählich konnte sie weitere Wege unternehmen, und endlich verordnete Hugo ihr Seeluft.

»Natürlich erst einen Tag vor meiner Abreise,« sagte Werner ärgerlich, als er sie mit Nell zusammen ruderte.

So oft es dem Postdirektor seine Zeit erlaubte, begleitete er die Mädchen, oder sie streiften allein umher. Aber Lore ward mit der zunehmenden Kraft nicht heiterer, im Gegenteil, die dunklen Augen blickten immer trübe. Denn nun hieß es bald scheiden. Wartenbergs hätten sie gern behalten, wenn sie es noch einmal mit dem Examen hätte versuchen wollen, doch Hugo erklärte dies für ausgeschlossen, da eine nochmalige Überanstrengung verhängnisvoll für sie werden könne.

Nell war ebenso verzweifelt wie Lore. Heimlich suchte sie den Bruder zu bereden, sie nicht fortzulassen, als abermals eine energische Aufforderung der Eltern kam, sofort nach Hause zu kommen.

»Bitte doch wenigstens noch um einen Aufschub von acht Tagen, oder noch besser, biete deine ärztliche Autorität auf und erkläre, daß sie überhaupt nicht kräftig genug sei, die halben Nächte Bier zu verschenken.«

»Kind, das würde mir wenig helfen, die Eltern haben schließlich doch das Recht, ihre Tochter von uns zurückzufordern.«

»Aber nicht das Recht, sie zugrunde zu richten.«

»Rege dich doch nicht so auf, Nell.«

»Ach was, es empört mich, daß du so wenig Interesse für deine Patientin zeigst. Ich hatte geglaubt, du würdest deinen Beruf von der idealen Seite auffassen und sehe mich bitter getäuscht.«

Der junge Arzt lächelte leicht. Gegen das Fenster gelehnt beobachtete er belustigt das heftige Auf- und Niederschreiten der Schwester. Da öffnete sich die Tür. Lore trat ein. Heiß errötend wollte sie sich zurückziehen, Hugo schritt jedoch auf sie zu und ergriff ihre Hand.

»Guten Tag, Fräulein Lore. Wie geht es heute? Halten Sie mich auch für einen kaltherzigen Egoisten?«

»Nein – o nein – wer könnte das!«

»Meine eigene Schwester.«

Nell zuckte die Achseln und lief an beiden vorüber aus dem Zimmer.

»Was hat sie nur?« fragte Lore verwundert.

»Sie zürnt mir, daß ich Sie als Ihr Arzt fortlasse.«

»O –« eine rührende Traurigkeit lag plötzlich auf dem schmalen Gesichtchen. »Was sollten Sie wohl tun, mich zu halten? Ich bin ja wieder gesund und muß nach Hause gehen.«

»Zuweilen geschieht ja ein Wunder, Fräulein Lore. Sie dürfen daran glauben,« sagte er herzlich und verabschiedete sich.

Ein Wunder – und sie dürfe daran glauben? Ein Wunder, das ihre Heimkehr vereiteln sollte? Was konnte das sein? Ihre dunklen Augen strahlten freudig auf, ein leises, hoffnungsfrohes Lächeln stahl sich um ihre Lippen. Versonnen stand sie am Fenster und sah ihm nach.

Nell wunderte sich über die Freundin. Statt still und bedrückt zu sein, war sie plötzlich froh und heiter und genoß jedes kleine Vergnügen von Herzen, so als wolle sie die wenigen Tage, die ihr noch bei den Freunden vergönnt waren, recht auskosten. Und noch eine zweite Entdeckung machte Nell, die sie stark beunruhigte: jedesmal, wenn Hugo kam, leuchteten des Vögelchens Augen auf, und eine heiße Röte flog bis unter das blonde Haar. Wenn das Mädchen gar noch eine unglückliche Neigung zu Hugo faßte, der sie so seelenruhig ins Verderben rennen ließ? Nicht auszudenken wäre dies. Sie hatte ohne Lores Wissen noch einmal an deren Vater geschrieben und um einen weiteren Aufschub gebeten, damit seine Tochter sich noch mehr kräftige, aber kurzen Abschlag erhalten. So war sie machtlos, der Freundin zu helfen.

Jetzt fehlten nur noch zwei Tage bis zur Abreise. Es war bereits Abend, als Hugo, der sich sonst morgens einzustellen pflegte, Zeit fand zu kommen. In ängstlicher Spannung hatte Lore ihn erwartet.

»Haben Sie Lust aufs Land zu gehen, Fräulein Lore?« fragte er.

»Ich – aufs Land?« Ihr Herz begann zu klopfen. Ob es jetzt kam – das Wunder?

»Was soll solche müßige Frage? Damit regst du Lore höchstens auf,« rief Nell ungeduldig.

»Hast du die Absicht, das Kind aufs Land zu senden, Sohn?«

»Allerdings, Väterchen. Es ist alles klipp und klar, sobald Fräulein Lore Ja und Amen sagt. Vor einigen Tagen war ich nämlich nach Urlitz am Pinnower See zu dem dortigen Pastor gerufen. Sein zwölfjähriges Töchterchen war erkrankt und Dr. Peters, ihr Hausarzt, verreist. Das Mädchen war seit Ostern hier in Pension, um die Töchterschule zu besuchen. Es ist ein zartes Ding, und sie ist einfach nach Hause gelaufen, als das Heimweh übermächtig ward. Erschöpft und erhitzt ist sie angekommen und liegt nun mit leichter Lungenentzündung und der geheimen Angst, wieder fort zu müssen.

»Nun,« er warf einen schalkhaften Blick zu der atemlos lauschenden Lore hinüber, »ich begriff sofort, daß sich hier die Gelegenheit bot, für Sie zu wirken. Mit gutem Gewissen konnte ich den Eltern raten, ihr Kind noch zu Hause zu behalten. Der Pastor war anfangs sehr dagegen und erklärte, seine Töchter müßten ebenso gut mal auf eigenen Füßen stehen wie seine Jungens, und es würde Zeit, daß Gretchen in den vollen Klassenunterricht käme. Seine Frau war mehr auf meiner Seite, das merkte ich gleich.

Bei meinem nächsten Besuch hatte das Ehepaar sich entschlossen, die Kleine zu Hause zu behalten. Die brennende Frage war nun, woher mitten im Quartal eine gute Erzieherin nehmen. Völlig unbefangen sagte ich, daß ich ihnen zu einer ganz ausgezeichneten und noch dazu sehr liebenswürdigen jungen Dame verhelfen könne und erzählte den Leuten von Ihnen, Fräulein Lore, gleichzeitig riet ich ihnen, sich um nähere Auskunft direkt an den Schulrat zu wenden.«

»Und hast uns kein Wort davon verraten?« Nell war aufgesprungen und hielt dem Bruder beide Hände hin. »Wie bitter unrecht hab ich dir getan, Hugo, vergib! Und du glaubst, daß sie Lore engagieren werden?«

»Das ist schon beschlossene Sache. Besonders die Schulvorsteherin hat sich so lobend geäußert, daß ich ermächtigt bin, Sie, Fräulein Lore, zu fragen, ob Sie geneigt sind, die kleine Grete als Schülerin zu übernehmen?«

»Ob ich will?! O – es ist ja das Wunder, auf das ich gehofft habe! Wie soll ich Ihnen nur danken, Herr Doktor?«

»Daß Sie frisch und gesund werden und sich dort wohl fühlen.«

»Und meine Eltern?« Ängstlich blickte sie von einem zum andern, »wenn sie es bloß erlauben.«

»Schreiben Sie sofort, wenn ich den Brief zur Bahn bringe, geht er noch mit dem nächsten Zug.«

Das geschah, und mit wendender Post kam die Einwilligung des Vaters. Lore war überglücklich. Als sei sie plötzlich ein anderer Mensch, so frisch und froh, so heiter und voller Schelmerei war sie. Noch ein paar herrliche Wochen verlebten die Freundinnen mit einander, nur etwas getrübt durch Nells Kummer, noch völlig ohne Tätigkeit zu sein. Und dann kam der Tag, an dem Väterchen und Nell ihr Pflegekind auf dem Wege in ihr neues Heim begleiteten. Das bescheidene Köfferchen war als Frachtgut voraus gesandt, Pastor Felseck und seine Frau wollten Lore an der Fähre erwarten. Dorthin fuhren die Drei mit der Post.

An dem Fährhaus angekommen, fanden sie niemand.

»Wir gehen ihnen entgegen,« schlug der Postdirektor vor, »sie werden sich verspätet haben.«

Plaudernd schritten sie durch den prachtvollen Buchenwald. Pastors wollten ihre neue Hausgenossin mit dem Boot abholen, so stiegen die Drei den ziemlich steilen Weg hinan. Da lag der See im Sonnenglanze tief unter ihnen, in der Ferne tauchte ein Dorf mit hochragendem spitzen Kirchturm auf, Urlitz, Lores künftige Heimat. Über den See glitt ein Boot, von kräftigen Ruderstößen getrieben.

»Laßt uns hinuntergehen,« sagte der Postdirektor, »es wird Ihnen gelten. Nun Mut, Kind, und Gott mit Ihnen.«

Langsam stiegen sie hinab und warteten am Ufer. Die beiden Herren im Boot ließen es jetzt langsam herantreiben. Der eine hatte sich erhoben und stand aufrecht, leicht auf seine Ruderstange gestützt. Er war groß, schlank und doch kraftvoll gebaut. Auf dem unbedeckten Haupte flimmerte hell das volle Blondhaar, und die Sonne beschien ein scharf geschnittenes, bartloses Antlitz mit energischen Zügen.

»Eine prachtvolle Erscheinung,« bemerkte Väterchen.

»Der reine Lohengrin,« setzte Nell hinzu, »sicher ein Künstler.«

Lore sagte nichts, sie sah dem Boot mit Herzklopfen entgegen.

Knirschend fuhr es auf den Sand. Der Postdirektor trat heran, den Hut in der Hand.

»Herr Pastor Felseck?« fragte er liebenswürdig.

Der kleinere Herr stieg aus, bejahte die Frage und stellte dann den andern Herrn als seinen Bruder, auch Pastor, vor.

Eine so sichtliche Enttäuschung, ein so ehrliches Staunen sprach aus beiden Mädchengesichtern, daß ein belustigtes Lachen über die geistvollen Züge flog. Hochaufgerichtet stand er in seinem dunkelblauen Jacketanzug vor ihnen, eine solche Fülle von Leben sprühte ihnen aus seinen blauen Augen entgegen, daß die schüchterne Lore die ihren errötend senkte.

»Die Damen scheinen überrascht,« sagte er mit einer tiefen, klangvollen Stimme.

»Ja, Herr Pastor,« entgegnete Nell heiter, »offen gestanden, wir hielten Sie für einen Sänger.«

»Da hast du's wieder mal, Siegfried,« scherzte der ältere Bruder, »jeder wittert in dir den Wagner-Sänger.«

»Und ich will doch nur ein echter deutscher Siegfried sein,« entgegnet er und senkte den Blick seiner strahlenden Augen tief in Nells braune.

»Ein Drachentöter?« fragte sie schelmisch.

»Ja, Fräulein Wartenberg, ich bereite mich in Leipzig darauf vor, in zwei bis drei Jahren als Missionar nach Indien zu gehen. Dort will ich gegen den Drachen des finstern Aberglaubens zu Felde ziehen.«

»O – welch herrlicher Beruf! Wie werden Sie dort wirken!« Nell rief es in ehrlicher Bewunderung.

»Ich hoffe es. Jedenfalls bringe ich ein Herz voll Liebe und einen urgesunden Körper mit.«

»Und jetzt lernen Sie die Sprache?« fragte sie voller Interesse.

»Ja, tamulisch. Um dort wirken zu können, muß ich die Sprache vollkommen beherrschen.«

»Ich glaube, Tochter, wir dürfen die Herren nicht länger aufhalten,« erinnerte der Postdirektor.

»Nein, gewiß nicht. Lore – leb wohl.« Sie zog die Freundin in die Arme. »Sei nicht bange, mein Kleines, es muß dir gut gehen. Schreib bald und ausführlich.«

»Nell –« Lore zuckten die Lippen.

»Still, Vögelchen, ich weiß alles, was du sagen willst.« Sie drängte die Freundin zum Boot.

»Ich bitte Sie, Herr Postdirektor und auch Sie, Fräulein Wartenberg, uns bald einmal zu besuchen, um sich zu überzeugen, ob es Fräulein Behm gut geht,« lud der Pastor Vater und Tochter ein.

»O, vielen Dank, Herr Pastor. Wir kommen schrecklich gern, nicht wahr, Väterchen?« versicherte Nell lebhaft.

»So darf ich sagen auf Wiedersehen?« fragte der junge Missionar und wechselte einen kräftigen Händedruck mit ihr.

Vater und Tochter blieben am Ufer stehen und sahen dem sich entfernenden Kahne nach.

»Möchte das Kind es gut treffen.«

»Es sind gute Menschen, das ist die Hauptsache,« entgegnete Nell und winkte der Freundin einen Gruß nach. Bald entschwand das Boot hinter einem Vorsprung ihren Blicken, sie gingen langsam durch den Wald zurück bis zur Fähre, von wo aus sie mit einem Dampfer nach Schwerin fuhren.

Auf dem Wege nach Hause begegnete ihnen Hugo. Angeregt erzählte die Nell.

»Ich freue mich für das Vögelchen, daß es so liebe Menschen sind,« setzte sie hinzu, »freilich –« ein schelmischer Seitenblick traf den Bruder, »vor dem deutschen Siegfried schien sie Angst zu haben, sie steckte sich unter den Blicken seiner Strahlenaugen – er ist wirklich ein auffallend schöner Mann – jedesmal rot an. Er ging übrigens sehr zart und ritterlich mit ihr um, als er ihr ins Boot half.«

»Was hat der jetzt in Urlitz zu schaffen? Es sind doch keine Ferien?«

»Mußt ihn bei deinem nächsten Besuch fragen, Brüderlein, mir hat der geistliche Herr den Grund nicht verraten.«

»Ich habe nichts mehr in der Pfarre zu tun, die Kleine ist gesund.«

»Schade, ich hätte so gern bald über Lores Ankunft gewußt.«

Hugo zuckte die Achseln und begleitete Vater und Schwester, schweigsamer als sonst seine Art war, in die Wohnung.

»Es sind zwei Briefe für dich da, Nell,« rief Tante Marie ihr entgegen.

»Gleich zwei? Das ist ja fein.« Sie lief in ihr Stübchen, und die Herren gingen ins Wohnzimmer. Sie hatten es sich kaum bequem gemacht, als Nell, ein großes Schreiben in der Hand, ihnen nachkam.

»Väterchen – Hugo – denkt euch nur, mir wird eine Stelle an der hiesigen Mädchen-Bürgerschule angeboten! Als ob ich deshalb mein Examen für höhere Schulen gemacht hätte! Es fällt mir doch im Traum nicht ein, eine solche Stelle anzunehmen.«

»Das würde ich mir doch überlegen,« redete Hugo ihr zu, »die städtischen Schulen geben ein viel höheres Gehalt als die höheren Privatschulen, die natürlich nicht über so große Mittel verfügen. Außerdem wärst du da pensionsberechtigt.«

»Hugo hat recht, Tochter,« pflichtete Väterchen ihm bei, »jedenfalls wollen wir die Sache in Erwägung ziehen.«

»Aber Vater, was soll ich an einer Schule, an der ich meine Sprachkenntnisse gar nicht verwerten kann? Meine besondere Begabung dafür ist stets anerkannt und nun Elementarunterricht zu erteilen – nein, auf keinen Fall. Dazu gebe ich mich nicht her.«

»Gut, Tochter, so lehne ab. Ich muß noch hinunter ins Büro. Adieu, Hugo.«

»Adieu, Vater. Und das Gehalt, Nell?«

»Zwölfhundert Mark für den Anfang.«

»So – nun, du mußt ja wissen, was du zu tun hast, Schwesterlein. Ich empfehle mich.«

Er ging, und an diesem Abend war keine Rede mehr von der Angelegenheit.

Als Nell auf ihr Zimmer kam, fiel ihr der zweite Brief wieder ein. Er war von Christa und lautete:

 

Bestritz, 15. Juni 19 …

Meine liebste Nell!

Es ist schon ziemlich spät, am Tage läßt man mir aber keine Ruhe für meine Korrespondenz, und länger sollst Du nicht warten. O Nell, das Landleben ist entsetzlich! Vom frühen Morgen bis in die Nacht hinein – nichts als Arbeit. Und statt sich Sonntags auszuruhen, muß erst recht angerichtet werden, weil dann meist Gäste kommen, und die Kirche darf auch nicht versäumt werden. Der Gottesdienst gebe Kraft für die ganze Woche, sagt Tante.

Anfangs wollte ich mich drücken, an dem Tage auch nichts tun, aber Tante fragte so erstaunt, ob ich denn auch nicht essen wolle, daß ich stillschweigend zugriff. Geärgert habe ich mich aber wütend. Überhaupt, hätte ich geahnt, daß ich meine ganze schöne Jugend auf dem Lande vertrauern müsse, ich hätte mich am Ende doch besonnen, ob ich Erich – aber ich bin todmüde und unglücklich, ich will lieber zu Bett gehen.

Montag, d. 7. Juli. Wie gut, daß der schreckliche Satz nicht ausgeschrieben dasteht! Mit meinem lieben Schatz ginge ich ja nach Kamtschatka. Ob es da wohl sehr greulich ist, Nell? Am Ende ist es doch besser, ich gehe mit ihm in irgend einen Mecklenburger Wald. Wenn's da nur nicht gar zu einsam ist.

Gestern hab ich einen reizenden Sonntag verlebt. Es war kein anderer Besuch gekommen als Erich, da haben wir einen himmlischen Spaziergang gemacht. So schön war der Wald noch nie, oder ob ich ihn mit meines Schatzes Augen sah? Du weißt, welch großer Naturfreund er ist, und ich will deinen Rat befolgen und seine Interessen auch zu den meinen zu machen suchen. Dies kann sich aber nur auf seine Liebe für den Wald beschränken, denn seine Schießerei auf so ein unschuldiges Häschen oder süßes kleines Reh werde ich immer scheußlich finden.

Gestern habe ich übrigens meinen ersten selbständig zubereiteten Braten auf den Tisch gebracht. Erich war fast noch stolzer als ich und hat, um mich zu ehren, furchtbar viel gegessen. Du, das hab ich schon heraus, die Männer sind sehr empfänglich für einen guten Tisch, Erich nicht ausgenommen. Anfangs war ich völlig niedergeschmettert über solchen materiellen Zug, aber gestern hat es mir riesigen Spaß gemacht, wie es meinem Schatz schmeckte. Ich will jetzt tüchtig aufpassen, um eine ebenso gute Hausfrau zu werden wie Tante.

Nächstens wollen Papa und Erich mit mir zu seinen Eltern reisen, wie schön, daß ich dann doch schon etwas kann. Erich freut sich mit mir darüber, er hat mir gestern so viel Liebes über meinen Fleiß gesagt – er entdeckt überhaupt so viele gute Eigenschaften an mir, daß ich oft ganz baff bin und mich tot schämen müßte, wenn ich nicht so sehr, sehr glücklich wäre. Und ich konnte in meinem Unmut damals solchen Satz beginnen! Wäre der Brief nicht an Dich, ich würde ihn zerreißen. Du sollst aber alles wissen, was in mir vorgeht, Nell, ich will mich auch bemühen, nicht jeder schlechten Laune nachzugeben. Erich sagte neulich, er würde nie ein launenhaftes Mädchen zur Lebensgefährtin erwählt haben, denn eine launenhafte Frau könne den Mann zum Hause hinaustreiben. Wenn er wüßte! Hätte ich ihm wohl sagen müssen, wie leicht verstimmt ich bin? Bin ich unwahr, weil ich geschwiegen habe? Und das, nachdem wir uns gelobt haben, immer – unter allen Umständen – offen gegen einander zu sein! Nell, ich sag es ihm nächsten Sonntag. Er muß wissen, daß er keinen Engel heiratet, sondern ein sehr, sehr fehlerhaftes Geschöpf.

O Nell, ich fange jetzt an, den Brautstand ganz anders aufzufassen als bei meiner Verlobung. Damals dachte ich nur an Äußerlichkeiten, jetzt weiß ich, daß es für jeden von uns eine Vorbereitungsschule ist, um zu lernen, den andern glücklich zu machen. Hier im stillen Walde muß man nachdenken, ob man will oder nicht, und an Onkel und Tante sehe ich, wie köstlich es ist, wenn völlige Harmonie zwischen einem Ehepaare herrscht. So soll's dereinst auch bei uns sein – mit Gottes Hilfe, Nell. Daß Gott der dritte im Bunde sein muß, lerne ich hier auch. Onkel und Tante sind sehr fromm, dabei immer heiter und zufrieden. Sie leben auch im Sonnenschein, der von innen heraus kommt und lassen ihn weiter leuchten, so wie Du, Nell und Dein Väterchen.

Tausend herzliche Grüße Euch beiden. Es umarmt Dich innigst

Deine glückliche
Christa.

 

»Väterchen,« sagte Nell am nächsten Morgen, »ich werde mit dem Brief zu Fräulein Krug gehen. Sie kann mir am besten sagen, ob ich Aussicht habe, Michaelis an einer der höheren Töchterschulen anzukommen.«

»Tu das, Tochter. Es ist immer gut, in allen Dingen klar zu sehen.«

Mittags ging Nell zu der ihr sehr gewogenen Vorsteherin und kehrte kurz vor Tisch zurück. Väterchen sah ihren klaren Augen sofort an, daß sie mit sich im reinen war und freute sich darüber.

»Es ist nichts,« sagte sie, »es sind mir noch zehn Schwerinerinnen vorgemerkt und voraussichtlich wird sobald keine Stelle frei. Fräulein Krug riet mir dringend, die Stelle an der Bürgerschule anzunehmen oder als Erzieherin fortzugehen.«

»Und was wirst du tun, Nell?«

»Annehmen, Vater.«

»Doch nicht aus Rücksicht auf mich, Kind?«

»Natürlich will ich am liebsten bei dir bleiben, ich habe aber noch andere zwingende Gründe. Erstens eigne ich mich besonders für den Klassenunterricht, zweitens weiß ich, daß meine Versorgung als städtisch angestellte Lehrerin dir eine große Beruhigung sein wird.«

»Freilich, Kind. War der Entschluß ein schwerer Kampf?«

»So etwas, Väterchen. Aber für meinen Ehrgeiz ist es gewiß dienlich, wenn ich klein anfange.«

»Recht so, Tochter, nun ist mir nicht mehr bange um dich. Und wer weiß, ob du nicht gerade den Kindern aus kleineren Bürgerfamilien besonders viel sein kannst.«

»Ich will jedenfalls mit meinem ganzen Herzen zu ihnen kommen, Väterchen, und ihnen Liebe und Sonne geben, soviel ich vermag.«

Und nun war es beschlossene Sache, daß die Nell ihre Laufbahn als Lehrerin der Bürgerschule begann.

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