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V. Kapitel.

Der Oktober war ins Land gerückt. Die Bäume standen in ihrem bunten Herbstschmuck und bestreuten den Boden mit Gold und Purpur. Ein heftiger Nordwest tobte über dem Schwerinersee, und der Himmel war dick verhangen.

Grau in Grau, wohin das Auge blickte.

Und trübe wie in der Natur war auch die Stimmung bei Postdirektor Wartenbergs. All das frische, fröhliche Lachen war aus den Räumen gewichen und hatte tiefer Trauer Platz gemacht. Die Mutter war nach kurzer Krankheit gestorben. Gestern war sie zur Ruhe bestattet worden, und nun saß der Postdirektor mit seinen Kindern beisammen und beriet mit ihnen über die Zukunft.

»Es wird nicht anders,« sagte Hugo, der junge Arzt, »Nell muß das Seminar verlassen und dir die Wirtschaft führen, Vater!«

»Selbstverständlich,« pflichtete ihm Werner bei, »es ist der einzige Ausweg. Nell würde, auch wenn sie bereits das Examen hinter sich hätte, doch nicht in die Welt gehen wollen und dich einer Fremden überlassen.«

»Das könnte ich mir auch nicht von unserer Nell denken,« ließ Hugo sich vernehmen, »sie wird sicher ihre nächste Pflicht erkennen.«

So redeten die jungen Männer und ereiferten sich immer mehr, je länger sich die beiden Hauptbeteiligten ausschwiegen. Nell ließ kein Auge von dem Vater. In ängstlicher Spannung sah sie ihn an. Er schaute so ruhig drein, so gelassen wie jemand, der mit seinen Entschlüssen im reinen ist, ja, in seinen Augen glomm sogar ein leichter Schimmer von seinem humorvollen Lächeln auf.

»Ich danke euch, liebe Jungens, daß ihr so besorgt um mein Wohl seid,« begann er bedächtig, »aber ihr denkt nur an mich, nicht an eure Schwester. Ihr wißt, daß ich euch kein Vermögen hinterlassen kann, Nell folglich dereinst auf eigenen Füßen stehen muß.«

»Väterchen, du bist noch so rüstig –«

»Und dann sind wir doch da, wir werden unsere Schwester doch nicht im Stich lassen.«

»Ihr habt die besten Absichten, das weiß ich, ihr werdet aber heiraten, selbst Familie haben, und ich möchte nicht, daß die Nell einmal bei einem von euch einen Unterschlupf suchen müßte. Ich halte es für meine Pflicht, meine Tochter, da ich ihre Zukunft nicht durch irdische Güter sicher stellen kann, so auszurüsten, daß sie genau wie ihr einen Beruf ausüben kann, der sie ernährt und ihr eine ihr zusagende Stellung gibt. Es ist also mein Wunsch und Wille, daß die Nell ruhig auf dem Seminar bleibt, ihr Examen macht und Lehrerin wird.«

»Väterchen!« Nell ergriff seine Hand und drückte sie inbrünstig an die Lippen. »Ich danke dir, Väterchen, von ganzem Herzen danke ich dir. Es würde mir unsagbar schwer werden, mein Studium aufzugeben und mit ihm die Aussicht auf den mir so lieben Beruf. Versteht mich doch – Hugo – Werner. Meint ihr denn, daß ich Väterchen verlassen werde, wenn ich erst Lehrerin bin? Darum kann ich ihm doch gut und gern Haustochter sein. Das läßt sich sicher vereinen. Ich bin ja frisch und gesund und kann mit Sophies Hilfe unseren kleinen Haushalt sehr gut in Ordnung halten. Bin ich Ostern fertig, so melde ich mich sofort beim hiesigen Magistrat. Es wird ja nicht gleich eine Stelle frei sein, ich werde aber sicher für die nächste Vakanz vorgemerkt, und in der Zwischenzeit gebe ich Privatstunden oder, wenn mir das Glück günstig ist, Vertretungsstunden. Auf die Weise kann ich Väterchen alles das sein, wozu mein Herz mich treibt und doch meinem geliebten Berufe nachgehen. Habe ich recht?«

»Vollkommen, Nell, und ich freue mich, daß sich die Frage auf die Art glücklich löst,« entgegnete Werner herzlich, Hugo aber schüttelte den Kopf.

»Du gibst dich einer Täuschung hin, Nell,« sagte er ernst, »einem doppelten Beruf sind deine Kräfte nicht gewachsen. Du hast sicher die besten Absichten, würdest aber bald deine Ohnmacht fühlen und am meisten selbst darunter leiden.«

»Du hast recht, Sohn,« pflichtete der Postdirektor ihm bei, »die Nell käme nicht frisch in ihre Stunden, wollte sie sich erst zu Hause müde arbeiten. Sich nicht zersplittern, Tochter, sich ganz und voll seinem Berufe widmen, ist in meinen Augen das einzig Richtige. Fändest du wirklich Anstellung hier in Schwerin, und ich könnte dich somit bei mir behalten, so wäre ich natürlich seelenfroh. Es wäre das idealste, was ich mir wünschen könnte.«

»Aber Sophie wird nicht allein fertig werden,« gab Nell zu bedenken.

»Soll sie auch nicht. Ich werde Tante Marie bitten, als Hausdame zu uns zu kommen.«

»Väterchen!« Nell sprang erschrocken auf. »Tu mir das nicht an, ich bitte dich von Herzen. Eine Dritte zwischen uns – noch dazu Tante Marie, das ertrüg ich nicht.«

»Ja, Vater, verzeih, aber hast du dir die Sache wohl richtig überlegt?« fragte Hugo. »Die sehr energische, selbstherrliche Dame Turandot und unsere Nell – wäre das wohlgetan, Väterchen? Du weißt, zwei harte Steine mahlen schlecht.«

»Sie schleifen sich auch aneinander ab,« entgegnete Väterchen, »Meine kluge Nell wird Tante Marie nicht in das Hauswesen hineinreden und die wieder wird Nells Beruf respektieren, also liegt kein Grund vor, für den häuslichen Frieden zu fürchten.«

»Ich denke, Tante Marie ist in Stellung,« bemerkte Werner.

»Seit dem ersten nicht mehr. Sie teilte mir gestern mit, daß die älteste Tochter ihres Prinzipals die Wirtschaft erlernt habe und jetzt nach Hause gekommen sei, ihrem Vater den Haushalt zu führen. Sie selbst weile nur noch als Gast bei den liebenswürdigen Menschen und habe die Absicht gehabt, vor Neujahr nicht wieder in eine neue Stellung zu gehen, sie würde aber sofort zu uns kommen, wenn auch nur auf so lange, bis wir einen Entschluß gefaßt hätten, wie wir uns einrichten wollten.«

»Das ist jedenfalls sehr freundlich,« sagte Hugo, »immerhin aber gut, daß du dich durch ihr Kommen zu nichts verpflichtest, Vater, und erst in aller Ruhe sehen kannst, wie ihr drei euch mit einander einlebt. Will es nicht gehen, so könnt und müßt ihr euch wieder trennen.«

»Das denke ich auch. Eine völlig Fremde an Mutters Stelle zu sehen, würde mir sehr schwer werden, während wir uns bei Tante Marie immer sagen können, daß Mutter viel von ihrer Cousine gehalten hat. Ihr wäre es, das weiß ich, ein lieber Gedanke gewesen, uns und den Haushalt ihr anzuvertrauen. Ich werde ihr also schreiben, ich nehme ihr freundliches Anerbieten gern an. Was meinst du, Nell?«

»Ja, Väterchen.«

»Nicht so verzweifelt, Tochter. Ich möchte doch auch dir das Heim wieder so gemütlich schaffen wie nur möglich, damit du ruhig und ungestört deiner Arbeit nachgehen kannst.«

Mit zuckenden Lippen erhob sich Nell und wünschte Vater und Brüdern gute Nacht. Väterchen hielt ihre Hand einen Augenblick fest.

»Kind, ich will dich doch nicht unglücklich machen durch ein Zusammenleben mit Tante Marie. Sollte sie dir wirklich unsympathisch sein, so schaffe ich selbstverständlich eine Änderung, darauf kannst du dich verlassen.«

Nell wanderte noch lange in ihrem Zimmer auf und ab. So schmerzlich hatte sie den Verlust der Mutter noch kaum empfunden. Nicht genug an dem schweren Kummer, nun sollte noch eine Dritte zwischen sie und Väterchen treten! Wenn diese Dritte nur nicht gerade Tante Marie wäre, die immer alles am besten wissen wollte und alle zu beherrschen strebte. Weil sie ihre Ansicht stets für maßgebend hielt, hatten die Brüder sie Turandot genannt, und Nell konnte sich nicht mehr ärgern, als wenn Hugo oder Werner behauptete, sie bilde sich zu einer zweiten heran. Sie wußte, daß sie dazu Anlage hatte, die Brüder brauchten sie aber nicht damit zu necken. Selbstherrlich – entsetzlicher Gedanke! Dadurch war ihr ja Tante Marie stets so unangenehm gewesen.

Und mit der sollte sie fortan zusammen sein, ein ganzes langes Leben vielleicht! Es war nicht auszudenken! Sie begriff den Vater nicht. Sonst ganz Liebe und Rücksicht, wollte er ihr nun eine Gefährtin aufnötigen, die ihr im höchsten Grade unsympathisch war. Sie hatte die Tante freilich in Jahren nicht gesehen und als unreifer Backfisch vielleicht zu schroff geurteilt, Mutter hatte sie sehr geschätzt und mit großer Hochachtung von ihr gesprochen, immerhin – sie, Nell, mochte Tante Marie nicht und würde sich schwerlich zu einer anderen Ansicht bekehren.

Am nächsten Tage reiste Werner, der in Köln unter einem Baurat arbeitete, wieder ab. Die Trennung fiel Nell sehr schwer, denn von Hugo hatte sie nicht viel. Seine Praxis war bereits ziemlich gewachsen, und da er nicht in unmittelbarer Nähe wohnte, fand er nicht immer Zeit für Vater und Schwester. Er kam aber im Sprunge herauf, als Tante Marie erwartet wurde, und fand die Schwester damit beschäftigt, das Fremdenzimmer herzurichten.

»Nimm es nicht schwerer als es ist, Nell,« bat er herzlich, nach einem Blick in ihr Gesicht.

»Ach Hugo, ich sehe ja, wie Väterchen sich förmlich erleichtert fühlt und sich auf ihr Kommen freut. Und das jetzt, wo ich noch Ferien habe und es ihm gemütlich machen kann. Vom Kochen freilich verstehe ich nicht viel, und es trifft sich sehr unglücklich, daß Sophie erst seit Ostern bei uns ist und auch nicht allzu viel kann. Sie hat aber guten Willen, und wir hätten uns beide eingearbeitet, hätte Väterchen uns nur Zeit gelassen. Die Andere brauchte wirklich nicht zu kommen.«

»Doch, Nell, es ist notwendig, und ich rate dir, Tante Marie nicht gleich mit einem Vorurteil entgegen zu treten, das erschwert unnütz das Zusammenleben. Und nun Mut und Duldsamkeit, kleine Schwester,« setzte er mit seinem guten Lächeln, das Nell so sehr an ihm liebte, hinzu. Er war groß und schlank wie der Vater, hatte aber Mutters feine Züge und ihre ernsten, dunklen Augen.

Duldsamkeit – Nell seufzte tief. Woher die nur nehmen?

Am selben Tage bekam sie einen Brief von Christa. Nachdenklich betrachtete sie die Aufschrift, ehe sie das Schreiben öffnete. Wie anders war doch alles gekommen, als sie es sich in den herrlichen Tagen im Salzkammergut ausgemalt hatte. Statt jetzt in den Herbstferien nach Güstrow zu fahren, hatten sie die gute Mutter zur letzten Ruhe bestattet. Als sei sie eine andere geworden seit jener glücklichen, sorglosen Zeit, so war es der Nell.

Was aber mochte Christa haben, daß sie ihrem lieben, teilnehmenden Brief so schnell einen zweiten folgen ließ? Das Herz begann ihr unruhig zu klopfen. Greifbar deutlich sah sie ein jugendfrisches Männerantlitz vor sich, mit energischen Zügen, frohen blauen Augen und dunklem Haar. Sie meinte seine Stimme zu hören, wie er zu ihr gesagt hatte: »Sie sind ein prächtiger Wandergenosse, Fräulein Nell.«

Ja, um ihn hätte sie ihren Beruf mit Freuden aufgegeben, mit ihm wäre sie Hand in Hand durch das Leben gewandert wie durch einen lachenden Sommertag.

Aber er hatte sie nicht begehrt.

Hastig riß sie das Kuvert auf, faltete die Bogen auseinander und las:

 

Güstrow, 5. Oktober 19..

Meine geliebte Nell!

Ich habe kaum das Herz, Dir jetzt in Deiner Trauer von meinem Glück zu schreiben, eine gedruckte Anzeige kann ich Dir aber nicht schicken.

Nell – ich bin Braut – seine Braut. Aber nicht wahr, Du hast es viel früher gewußt als ich selbst, daß er Deine dumme kleine Christa lieb hatte? O Nell, ich bin unbeschreiblich glücklich! Aber ich schäme mich, Dir in Deinem tiefen Leid davon zu sprechen. Warum nur der liebe Gott das Schreckliche zugelassen und Dir die liebe Mutter genommen hat? Wie schön wäre es, wenn Du gerade hier wärest und mein Glück mit mir teilen könntest! Sonntag soll unsere Verlobung großartig gefeiert werden. Nicht wahr, dazu schickst Du mir ein paar Zeilen? Dich selbst muß ich ja entbehren, aber auf ein liebes Wort darf ich hoffen, ja? Papa und Großmama sind sehr glücklich, und aus dem Hause soll ich vorläufig nicht, Großmama sagt, sie müsse mich ohnehin früh genug hergeben. Sie meint, ich könne auch bei ihr wirtschaften lernen. Meinem lieben Schatz ist das, glaube ich, nicht ganz recht, er sucht mich für den Plan zu gewinnen, für ein Jahr zu seinem Onkel aufs Land zu gehen. Dazu habe ich aber gar keine Lust. Da muß man gewiß furchtbar früh aufstehen und den ganzen Tag schaffen und arbeiten.

Wir können uns ja später Leute halten; ich habe dann die Zinsen von Mamas Vermögen und kann mir das Leben leicht und angenehm machen. Ich wäre töricht, wollte ich mich bei meiner zarten Gesundheit überanstrengen. Findest Du nicht auch? Jetzt will ich erst mal meine Brautzeit genießen. O Nell, wie kann ein Mensch nur so glücklich sein?

Aber verzeih, daß ich Dir so viel von mir vorerzähle, ich kenne jedoch Dein gutes Herz und weiß, daß Du Dich trotz Deines Kummers mit mir freust. Du wärst ja nicht meine große, starke Nell, zu der ich in grenzenloser Liebe und Bewunderung aufsehe.

Hätt ich doch ein bißchen Ähnlichkeit mit Dir, aber, kannst Du Dir denken, meinen Schatz hat mein echt mädchenhaftes Wesen, meine Hilflosigkeit angezogen, er sagt, er möchte die modernen Mädchen, die es womöglich den Männern gleichtun wollen, nicht. Aber Dich schätzt er sehr hoch, und er freut sich über unsere Freundschaft, ja, er gesteht sogar Papa zu, daß ich sehr viel von Dir lernen könne. Wie soll ich das aber, da wir so weit von einander getrennt sind?

Du mußt mir viel schreiben, Nell, und mir offen sagen, wenn ich nicht so bin, wie ich sollte, ja? Für Großmama bin ich vollkommen, und Papa kann mir auch nicht sagen, wie ich anders werden kann, denn, so wie ich bin, das fühle ich, kann ich meinem Erich noch sehr wenig sein, und ich will ihn doch glücklich machen. Hilf mir dazu, ich bitte Dich von Herzen.

Nun aber für heute lebe wohl, liebste Nell. Schreib mir auch ein liebes Wort zum Sonntag, ja? Ich grüße Dich innigst. Behalte immer lieb

Deine kleine Christa.

 

Langsam faltete Nell die Bogen zusammen und schaute ernst ins Weite. Die Verlobung kam ihr nicht überraschend und doch war ihr das Herz so schwer, als habe sie einen zweiten Verlust erlitten. Als könne die Sonne nie wieder für sie scheinen, weder draußen in der Natur noch in ihrem Herzen, so war ihr zu mut. Sie fühlte sich so klein, so schwach und so verzagt, daß sie nicht wußte, wie sie ihren Pflichten gerecht werden, wie dem Vater Trost und Freude sein sollte. Und nun gar noch der andern zum Wachstum verhelfen, damit der Mann, der an ihr vorübergegangen war, glücklich ward?

Sie warf den Brief auf den Tisch und wanderte aufgeregt durch das Zimmer. Ihre Seele war in Aufruhr, und doch fühlte sie auf dem tiefsten Grunde ihres Herzens die leise Befriedigung, daß die Freundin, nur wenig jünger als sie, sich an sie klammerte, in der festen Zuversicht auf ihre Kraft und ihre Bereitwilligkeit zur Hilfe.

Durfte sie da die Hände müßig in den Schoß legen – Christa enttäuschen – sich nicht als die große, starke Nell zeigen, für die sie sich selbst gehalten hatte und die sie immer mehr werden wollte?

Ein tiefer befreiender Atemzug, die Farbe kehrte in ihre Wangen zurück, der Glanz in die braunen Augen. Nell hatte sich selbst wiedergefunden. Und wo sie immer aufs neue Kraft und Hilfe zu suchen hatte, um ihren Vorsatz, der Freundin nach Möglichkeit zu nützen, auszuführen, das wußte sie.

Vollkommen ruhig ging sie bald darauf zu dem Vater, um mit ihm Tante Marie vom Bahnhof abzuholen.

»Kind –« Väterchen kam ihr entgegen – »ich habe eine Anzeige aus Güstrow erhalten –«

»Und ich einen lieben Brief von Christelchen,« fiel sie ihm schnell ins Wort, da sie die Sorge aus seiner Stimme hörte.

»Bist mein tapferes Mädchen,« sagte Väterchen nach einem Blick in ihre Augen und drückte ihr kräftig die Hand. »Und jetzt laß uns den neuen Abschnitt in unserem Leben mutig und mit gutem Willen beginnen. Wir müssen uns unter einander Sonne geben, Nell, damit das Zusammensein ein ersprießliches wird. Willst du auch das deine dazu tun, Tochter?«

»Ja, Vater, du darfst auf mich rechnen. Ich will mich bemühen, Sonne zu geben, damit der Segen auf mich zurückfällt. Ich habe ihn nötig, Vater, den Segen.« – – –

Fräulein Marie Taubert weilte seit vierzehn Tagen bei Wartenbergs. Das Räderwerk des Haushalts lief so regelmäßig und geräuschlos ab, daß selbst Nell nicht umhin konnte, der Tante Tüchtigkeit anzuerkennen. Sie belästigte weder Vater noch Tochter durch Fragen, es war vom ersten Tage an, als sei sie bereits wochenlang im Hause, mit so fester und sicherer Hand hatte sie die Zügel der Wirtschaft ergriffen.

Was das äußere Wohl anbetraf, entbehrten beide nichts, die neue Hausgenossin sorgte aufs beste für sie, und Nell hätte sich behaglich fühlen müssen – wenn – ja, wenn sie die Behaglichkeit nicht der Tante zu danken gehabt hätte. Sie beobachtete zwar alle nötige Höflichkeit gegen Fräulein Taubert, es war ihr aber unmöglich, ihr innerlich näher zu kommen. Die Tante war ihr auch viel zu pedantisch. Das sah man schon an ihrem Äußern. Da durfte keins ihrer blonden Haare anders liegen als die übrigen. Sie trug es stets so glatt gescheitelt und so fest im Nacken aufgesteckt, daß es auch dem widerspenstigsten Härchen nicht gelungen wäre, sich zu lockern. Bei ihr gab es sicher keine krausen Gedanken, die ihr Not machten, die lagen in ihrem Gehirn ebenso glatt und korrekt wie das Haar auf dem Kopfe. Eine langweilige, nüchterne Person, der jeder höhere Schwung fehlte.

Es konnte nicht ausbleiben, daß die Nell mit solcher Anschauung etwas geringschätzend auf die ältere Verwandte herabsah. Fräulein Taubert schien das aber nicht zu bemerken, das leise Lächeln, das zuweilen um ihre Lippen zuckte, ärgerte die Nell nur, ohne ihr etwas zu verraten.

Eines Mittags kam sie müde und sichtlich erregt aus dem Seminar nach Hause.

»Wo ist Väterchen?« fragte sie, ins Wohnzimmer tretend.

»Noch unten im Büro,« entgegnete Fräulein Taubert und nähte emsig weiter.

Schweigend, mit krauser Stirn, lief Nell umher, ohne die forschenden Blicke der Tante zu beachten.

»Fehlt dir etwas?« fragte diese endlich.

»Ach, der Alte hat mich runtergemacht, vor dem halben Kollegium noch dazu. Ich hatte eine Probelektion in Geographie in der vierten Klasse und Griechenland durchzunehmen. Da ließ ich mich hinreißen, den Kindern von den alten Dichtern und Helden zu erzählen und ward selbst warm dabei. Natürlich riß ich die Kleinen mit hin, sie und ich vergaßen den gestrengen Herrn Direktor völlig, die Kleinen stellten Fragen, die teilweise sehr komisch waren und zu frohem Gelächter Anlaß gaben. Zu herzig waren sie, die süßen Schelme. Und so voller Interesse und Begeisterung, wirklich zu niedlich. Und nachher wie ein kalter Wasserstrahl stürzte die Kritik des Herrn Direktors über mich her. Ich müßte mich mehr an den Lehrplan halten, nicht Dinge hineinflechten, die nicht unbedingt zur Sache gehörten, den Kindern auch nicht zu viele Freiheiten gestatten, das untergrabe die Disziplin. »Mehr Pädagogik, Fräulein Wartenberg, mehr Pädagogik,« rief er aufgeregt. Und das mir, von der alle behaupten, ich sei besonders befähigt für den Klassenunterricht. Pädagogik – als ob nicht ein warmes Herz und Begeisterung mehr wert wären als alle Pädagogik der Welt.«

Fräulein Taubert hielt das Taschentuch, das sie stopfte, prüfend gegen das Licht.

»Der Herr Direktor,« entgegnete sie gelassen, »wird schon recht haben, mein liebes Kind, der hat die Erfahrung –«

Nell hörte nicht weiter, die Tür flog mit einem Krach hinter ihr zu und sie stand draußen, hochrot, mit blitzenden Augen. Sie war nicht der ihr liebes Kind! Wie kam die nur dazu, sie so zu nennen? Und daß die kein Verständnis für sie haben würde, hätte sie wissen können. Die begeisterte sich nur für große Wäschen, stopfen und sticken und derlei prosaische Dinge. Nie wieder wollte sie sich gegen die aussprechen, nie!

Verstimmt, mit finsterem Gesicht kam sie zu Tisch und vermied es, Väterchens Blick zu begegnen.

»Na, Tochter, was hat's gegeben?« fragte er, sobald Tante Marie das Zimmer verlassen hatte.

Kurz berichtete sie.

»Dumme, kleine Nell,« Väterchen strich ihr leicht über das krause Braunhaar, »begreifst du nicht, daß du dich jetzt streng an den Lehrplan binden mußt? Keine Seitensprünge, Nell, oder du rasselst in Pädagogik glänzend durch.«

»Ich kann doch aber meine Individualität dem Lehrplan nicht unterordnen?«

»Wirst du doch vorläufig müssen, Kind, um zu lernen und zwar von der Erfahrung der Herren, die sicher mehr von der Sache verstehen als du Kiek in die Welt.«

»Zugegeben, Vater, aber meine Eigenart werde ich mir nicht nehmen lassen, dazu bin ich viel zu sehr Persönlichkeit.«

Er sah ihr lächelnd in die blitzenden Augen. »Kleines Kind du, frage dich nach fünfzehn oder zwanzig Jahren, ob du auf dem Wege bist, es zu werden. Soll ich dir sagen, was du jetzt bist? Ein unfertiger Mensch, der zunächst reifen muß zur Selbsterkenntnis und zur Demut, um später zu wachsen zur Klarheit und Festigkeit, gegründet auf Gott, ohne besten Segen es kein ersprießliches Wachsen gibt.«

»Väterchen – wenn ich dich nicht hätte. Es klang wohl sehr anmaßend und eingebildet, was ich sagte?«

»So etwas, Tochter.«

»Das darf nicht wieder vorkommen, ich werde mehr auf mich achten. Du siehst, Selbsterkenntnis ist vorhanden.«

»Und die Demut, Nell, die da spricht: ich bin nichts, Herr, hilf mir, daß ich werde?«

Sie zog die Stirn kraus. »Ich weiß, mir fehlt noch viel, um ein tüchtiger, ein großer Mensch zu werden, aber ganz ohne Selbstbewußtsein darf man auch nicht sein, will man im Leben Anerkennung finden.«

Ein Lächeln flog dem Vater um die Lippen. »Also Anerkennung verlangt man schon. Sieh mal an. Wie früh ihr Jungen doch mit euch zufrieden seid. Aber ich darf dich doch ab und zu mal erinnern, daß dir hier und da noch ein bissel fehlt, wie, Tochter?«

»Ach, Väterchen,« sie umschlang ihn und lachte ihn strahlend an. »Ich sag's ja: wenn ich dich nicht hätte! Von dir nehme ich alles an, alles, und ich danke dir von Herzen, wenn du mir vorwärts hilfst. Jedem gesteh ich dies Recht allerdings nicht zu.«

»Und was hast du aus dieser Stunde gelernt, Nell?«

Ein Schelmenlachen in dem lebendigen Antlitz, legte sie Väterchen ihre beiden Hände auf die Schultern. »Daß ich die Verweise des Herrn Direktors in Demut hinzunehmen und mir die darin enthaltenen Weisheiten hinter die Ohren zu schreiben habe. Ist's richtig so, Väterchen?«

»Ungefähr, Schlingel du. Für den Anfang genügt es.«

»Und ich kann wieder leichten Herzens an die Arbeit gehen, das danke ich dir,« sagte Nell inbrünstig.

Ja, Väterchen war ihr unendlich viel, jetzt, da die Mutter tot war, noch viel mehr als früher. Immer enger schloß sie sich an ihn an und ließ ihn an ihrem reichen Innenleben teilnehmen, bis auf das eine, das sie tief im Herzen verschlossen hielt. Wenn sie nur noch mehr Zeit für den Vater gehabt hätte, es blieb ihr ein steter Kummer, daß er so viel auf Tante Maries Gesellschaft angewiesen war. Der gönnte sie Väterchen nicht. Immer von neuem flammte ihre Eifersucht auf, wenn sie abends ins Zimmer trat, und die beiden so gemütlich nebeneinander saßen, die Tante mit einer Handarbeit, der Vater mit seiner Zeitung, aus der er ihr häufig vorlas.

Es konnte geschehen, daß sie sich unbemerkt von beiden wieder zurückziehen und auf ihr Zimmer laufen konnte. Freundlich hätte sie in solchen Augenblicken gegen die Tante nicht sein können, so viel sie sich auch sagte, daß sie ihr nur zu Dank verpflichtet sei, wenn sie Väterchen das Heim so angenehm wie möglich machte. Sie konnte aber nicht gegen ihr Gefühl. Es ärgerte sie auch die ruhige Sicherheit, mit der sie ihre Stellung eingenommen hatte und auch behauptete, ganz als sei sie die maßgebende Persönlichkeit, der alle sich unterzuordnen hätten. Das fiel ihr, der Nell, schon gar nicht ein. – – –

Im Januar sollte große Wäsche stattfinden. Nell kam tags zuvor in die Waschküche, wo das Mädchen beschäftigt war, das Zeug einzuweichen.

»Ich wollte nur den Schlüssel abgeben, Tante Marie,« sagte sie zu Fräulein Taubert, die Sophie half, »ich gehe zu Lore. Das hat Mutter übrigens ganz anders gemacht.«

»Wieso denn?« erkundigte sich die Tante.

Nell geriet in Verlegenheit. »Das wird Sophie dir besser sagen können, als ich,« entgegnete sie kurz.

»Bei Frau Direktor mußte ich jedes Stück vorwaschen,« gab das Mädchen zögernd zu.

»Man tat es früher vielfach, und es ist gewiß recht zweckmäßig, ich habe es jedoch nie getan und möchte nicht von meiner Gewohnheit abgehen,« entgegnete Fräulein Taubert in ihrer ruhigen, bestimmten Art.

»Vater wünscht aber, daß alles beim alten bleibt, so wie wir es von Mutter her gewohnt sind,« beharrte Nell.

»Das ist auch mein Bestreben, mein liebes Kind, und ich bin dir dankbar für jeden kleinen Wink, aber« – sie lächelte – »ich bin fest überzeugt, es wird deinem Vater völlig gleich sein, wie ich die Wäsche behandle, wenn ich dazu nicht mehr an Seife und Arbeitshilfe verbrauche und sie gut und sauber in den Schrank kommt. Daß das geschieht, davon solltest auch du dich schon überzeugt haben.«

Mit hochrotem Gesicht verließ Nell die Waschküche und begab sich über den Hof auf die Straße. Hier traf sie mit dem Bruder zusammen.

»Sieh da, Schwesterlein, grüß dich Gott! Ich wollte gerade hinauf und dir sagen, daß ich dir Sonntag Nachmittag, falls ich nicht verhindert werde, zum Schlittschuhlaufen zur Verfügung stehe. Es ist ja solche Bärenkälte, daß das Eis sicher ist.«

»Sehr nett von dir, Hugo, und äußerst verlockend, aber du weißt –«

»Daß du auch deine Sonntage zur Arbeit ausnutzest, ja, das weiß ich, aber, Kind, du mußt dir wirklich einmal eine Ausspannung und eine Auffrischung gönnen; du wirst, hast du Leib und Seele erfrischt, den Anforderungen der Woche besser genügen.«

»Ja – du magst recht haben –« die braunen Augen begannen heller zu glänzen – »soll ich wirklich so leichtsinnig sein, Großer?«

»Ich rate dir als Arzt dazu, Nell.«

»Wie reizend von dir, Hugo, es kann doch sehr angenehm sein, einen Doktorbruder zu haben, wenn der so nette Verordnungen erteilt.«

»Das wollte ich meinen. Ich muß ja auch mein möglichstes tun, mich beliebt zu machen. Wohin willst du?«

»Zu Lore Behm, ihr ein bißchen Sonne bringen. Sie hatte heute keinen glänzenden Erfolg in einer Probelektion. Das arme Ding ist überhaupt völlig mutlos und wird es immer mehr, je näher das Examen heranrückt. Wenn einer so gar kein Selbstvertrauen hat, das ist schrecklich. Ich tue mein bestes, es zu wecken und sie ein bißchen froh zu stimmen, aber alle Mühe ist vergebens.«

»Bring sie Sonntag mit, Nell, mit vereinten Kräften sollte es uns doch wohl gelingen, sie aufzuheitern. Bring ihr meinen Gruß und meine ärztliche Verordnung. Adieu, Nell, mein Weg führt mich hier herum.«

Er nickte der Schwester herzlich zu und bog um die Ecke, Nell schritt noch ein Stückchen weiter und ging dann in das Haus, in dem Lore Behm bei einem kleinen Beamten in Pension war. Das junge Mädchen stammte aus einem kleinen Städtchen. Mecklenburgs und besuchte hier seit drei Jahren das Seminar. Die Kosten wurden von ihrem mütterlichen Erbteil bestritten. Sie hatte die Mutter schon sehr früh verloren, der Vater, Besitzer eines einfachen Gasthauses, hatte sich schnell wieder verheiratet und machte sich nicht sonderlich viel aus seiner ältesten Tochter, die so gar nicht in sein Haus und seine Familie paßte. Da hatte er ihrer Bitte, Lehrerin werden zu dürfen, gerne nachgegeben, ihr aber erklärt, sie müsse unbedingt das Examen bestehen, für länger würde ihr Erbteil nicht ausreichen.

Seltsamerweise hatte sich Nell sehr schnell von dem stillen Mädchen angezogen gefühlt und Freundschaft mit ihr geschlossen. Hier konnte sie nach Herzenslust geben, Licht, Sonne, Liebe, und niemals war sie glücklicher, als wenn sie ein Wesen gefunden hatte, das all das entbehrte und sich von ihr bereitwillig damit überschütten ließ.

Wie ein verkörperter Sonnenstrahl, trotz ihrer Trauerkleidung, so trat sie in das kleine, schmale Zimmerchen der Freundin. Wie ein Widerschein ihres von der Kälte frischen Antlitzes und ihres strahlenden Lächelns flog es Lore über das blasse Gesicht.

»Nell – wie lieb von dir, daß du kommst. Hast du geahnt, daß ich deiner bedurfte?«

»Du warst so besonders bleich und hattest so schwarze Schatten unter den Augen, daß mir's keine Ruhe ließ. Ist etwas besonderes los, Kleines?«

Lore, fast ebenso groß wie Nell, aber viel schmächtiger, zog die Freundin neben sich auf einen Stuhl. »Ach Nell, ich fühle mein Unvermögen heute mehr denn je. Ich ängstige mich halbtot, wenn ich vor der vollen Klasse stehe und die vielen Kinderaugen auf mich gerichtet sind. Dann weiß ich nichts mit ihnen anzufangen und bin kaum imstande, eine einzige Frage zu stellen. Es ist, als ob ich nichts wüßte, rein gar nichts.«

»Du mußt nicht so ängstlich sein, der Klassenunterricht wird einem gewiß schnell zur Gewohnheit, du wirst später über deine Furcht lachen.«

»Daran gewöhne ich mich nie. Ich werde immer nur zwei bis drei Kinder unterrichten können, die ich genau kenne und von Herzen lieb habe.«

»So gehst du anfangs als Erzieherin in die Welt und meldest dich erst später, wenn du deine Schüchternheit mehr überwunden hast, für eine Schulstelle. Nein, Lore, du hast wirklich keinen Grund, den Kopf hängen zu lassen. Du bist eine gute Schülerin und hast die beste Aussicht, gut durchs Examen zu kommen.«

»Ach Nell, wenn ich deinen frischen, fröhlichen Mut hätte! Nur ein bißchen davon. Bei mir trifft aber so vieles zusammen, was mich ängstigt und niederdrückt. Mutter hat geschrieben –«

»Aha, nun kommen wir zu dem eigentlichen Grund deiner Niedergeschlagenheit! Was hat's wieder gegeben?«

»Mutter ermahnt mich, ja tüchtig zu lernen, denn Vater würde mich nicht länger hier lassen, wenn ich Unglück im Examen hätte, sie müßten auch an die sechs Geschwister denken, ich könne nicht verlangen, bevorzugt zu werden. Wenn ich nicht durchkäme, so müßte ich nach Hause kommen und in der Wirtschaft helfen. Nell, das wäre mein Tod!«

»Laß dir doch nicht bange machen, Lore. Dir so etwas zu schreiben – es ist unerhört! Ich kann mich wütend ärgern –«

»Nell –«

»Ja, ja, ich bin schon still, sag kein Wort mehr, aber dich sollen sie in Ruhe lassen! Ich gerate jedesmal in Harnisch, wenn sie dich so unnötig in Aufregung bringen. Die wissen ja recht gut, daß sie dich zu Hause gar nicht gebrauchen können. Mein Kleines du!«

In Lores dunklen Augen, das schönste in dem schmalen, unregelmäßigen Gesichtchen, leuchtete es warm auf. »Weißt du wohl, was alles du mir bist, Nell? Trost und Hilfe, Freude und Sonne. Was habe ich dir in diesen drei Jahren zu verdanken, dir und deinem Väterchen. Was für herrliche Sonntage durfte ich bei euch verleben, bei euch ist meine eigentliche Heimat.«

»Und soll es bleiben, Lore, wie es auch kommen mag. Und nun frischen Mut, bist du glücklich durch, so meldest du dich auch gleich für Schwerin, dann sind wir später wieder zusammen. Ist das nicht eine herrliche Aussicht, Kleines?«

»Eine köstliche, Nell.«

»Und um deine Lebensgeister etwas aufzumuntern, soll ich dich von Hugo für Sonntagnachmittag zum Schlittschuhlaufen einladen.«

Helle Röte stieg Lore in die Wangen. »Das geht ja nicht – ich muß doch arbeiten,« wehrte sie ab.

»Hab ich auch gesagt, mein Herr Bruder sprach aber als Arzt und verlangt unweigerlich Gehorsam.«

»O –« ein tiefer Atemzug, die dunklen Augen lachten glücklich, »da müssen wir gehorchen, Nell.«

»Versteht sich, Lore. Sollst mal sehen, wie schön es wird. Aber ich kann nicht länger bleiben, ich muß fort.«

Sie ging mit dem schönen Bewußtsein, der Freundin Sonne gebracht zu haben. Wie froh und glücklich das machte! Wie reich sie sich fühlte, ihr war, als wüchse ihr Schatz an Liebe, als müsse sie allen Menschen davon abgeben. Nur bei einer empfand sie das Bedürfnis nie! Und die stand doch auch allein auf der Welt? Aber wozu auch? Tante Marie machte wahrlich nicht den Eindruck, als bedürfe sie ihrer Liebe und aufdrängen – nein – die Nell drängte sich niemandem auf. Sie hatte ja auch ihr Väterchen und den liebte sie seit der Mutter Tod doppelt. Unwillkürlich beschleunigte sie die Schritte, um schneller nach Hause zu kommen. Gewiß hatte er sie schon entbehrt.

Wie erstarrt blieb sie aber auf der Schwelle stehen, als sie die Tür zum Wohnzimmer öffnete. Nein, sie war nicht entbehrt worden! Da saß Väterchen auf dem Sofa, ihm gegenüber Tante Marie, und zwischen beiden auf dem Tischchen stand das Schachbrett, das seit der Mutter Tod geruht hatte.

Wie ein Stich ging es der Nell durch das Herz. Als würde die Verstorbene nach und nach aus jedem Fleckchen verdrängt.

»Na, Tochter,« der Postdirektor hob flüchtig den Kopf, »ich hatte solch Verlangen nach einer Partie und überlegte, ob ich zu Uhle gehen sollte – dort finde ich ja immer einen Partner – es war mir aber zu kalt, und ich konnte mich nicht recht von meiner warmen Stube trennen. Da verriet mir Tante Marie, daß sie Schach zu spielen verstände. Und wie versteht sie's, Nell, wie! Ich bin doch kein schlechter Spieler, aber ihr gegenüber muß ich mächtig auf der Hut sein. Ist eine famose Spielerin, die Tante, zu all ihren vielen anderen Tugenden. Wir lassen sie auch nicht fort, wir halten sie fest, was, Nell?«

Das Mädchen war langsam an den Tisch getreten, das frische Antlitz erblaßt, die braunen Augen fast schwarz vor Erregung. Ehe sie jedoch zu einer Antwort kam, stand Fräulein Taubert auf.

»Unsere Partie ist gerade beendet und meine Zeit abgelaufen, Karl,« sagte sie freundlich. »Nell, du hilfst mir wohl, damit das Abendbrot schnell auf den Tisch kommt? Sophie ist nicht da, die holt für morgen alles ein.«

Schweigend ging Nell ihr nach in die Küche.

»Mein liebes Kind,« begann Fräulein Taubert sehr bestimmt, »daß ich deine Hilfe nicht brauche, weißt du, ich wollte dich nur an einem vorschnellen Wort hindern, das Väterchen weh getan und dir später leid gewesen wäre. Bei dieser Gelegenheit möchte ich mich gern einmal aussprechen. Sieh, Nell, ich besitze von meinen Eltern her ein kleines Vermögen, das mit meinen dazu gekommenen Ersparnissen mir ermöglicht, allein für mich zu leben, natürlich bei einiger Einschränkung. Ich sage dir dies, damit du weißt, daß ich nicht gezwungen bin, wieder in Stellung zu gehen. Ich hatte nun freilich die Absicht, falls sich etwas Passendes fände, es anzunehmen, da ich mich noch zu frisch und kräftig fühle, um nur für mich zu sorgen. Zu euch bin ich einzig und allein gekommen, euch in der ersten Not beizustehen. Daß dein lieber Vater mich gern behalten würde, habe ich längst gemerkt, ebenso aber auch, welche Erleichterung dir mein Scheiden wäre. Ich kenne auch deine Beweggründe und begreife sie. Ich weiß, daß ich Väterchen – er ist ja so viel älter als ich und mir im Herzen längst wie ein Vater – etwas sein könnte und ich würde nicht zögern, seine Bitte zu erfüllen, wüßte ich nicht, wie wenig gedient dir damit wäre. So habe ich mich in aller Stille nach einem neuen Wirkungskreis umgesehen und etwas Passendes zum ersten April in Aussicht. Ich gedenke anzunehmen und werde deinem Vater sagen, daß ich hier nicht genügend Arbeit für meine Tatkraft fände. Du kannst also das Ende unseres Zusammenlebens absehen und wirst es, denke ich, so lange ertragen können.«

»Aber« – Nell fühlte sich tief beschämt – »Väterchen wird außer sich sein – er fing erst an, sich wieder gemütlich zu fühlen, als du zu uns kamst. Tante, bitte, tue ihm das nicht an.«

»Ich kann nicht anders. Glaubst du, daß mein Stolz mir zu bleiben erlaubt, da ich doch täglich merke, wie ungern du mich siehst? Ich bin verwöhnt, mir ist man überall mit Achtung und Liebe begegnet, du bist die erste, die mir beides versagt. Meinst du, ich hätte das nicht schmerzlich empfunden?«

»Tante – verzeih – ich weiß, ich war nicht, wie ich hätte sein sollen, aber –« ihr zuckten die Lippen, »Väterchen darf nicht unter meiner Rücksichtslosigkeit leiden, lieber gehe ich und suche mir zu Ostern eine Stelle als Erzieherin.«

Ein Lächeln flog Fräulein Taubert um die Lippen. »Kind, du glaubst doch selbst nicht, daß ich dich aus dem Vaterhause treiben würde.«

Stumm standen sich beide einen Augenblick gegenüber. Zum ersten Male imponierte die Tante der Nell in ihrer immer gleichmäßigen Ruhe und Freundlichkeit, trotz der Auseinandersetzung. Viel kleiner als die große Nell, wirkte sie eher zart als kräftig, in ihrer ganzen Erscheinung aber sprach sich eine ungeheure Willenskraft aus, die wohl imstande war, über den Körper zu triumphieren.

»Tante – ich schäme mich grenzenlos! Bitte –«

»Halt, Nell, keine Übereilung.«

»Aber ich lasse dich nicht fort, du mußt einfach bleiben, du kannst mich so tief nicht demütigen wollen. Bitte, Tante Marie –«

»Vor allen Dingen Ruhe, Nell, Väterchen braucht nicht vor der Zeit beunruhigt zu werden.«

»Tante, bis wann mußt du dich entscheiden?«

»Bis zum ersten Februar.«

»O, das sind ja noch einige Tage, mir fällt ein Stein vom Herzen. Nicht wahr, Tante, wenn du siehst, wie leid mir mein Betragen ist, dann bleibst du, wenn ich dich bitte?«

»Nur, wenn du es nach reiflicher Überlegung kannst und ohne deinem Vater ein Opfer zu bringen. Ich weiß, daß du zu aufrichtig bist, um mich zu täuschen. Hast du bis Sonntag Abend nicht gesprochen, so schreibe ich nach Stettin zu und Nell – ich werde dir deshalb nicht zürnen. Dann ist eben deine Abneigung stärker als dein guter Wille, und bis zu einer gewissen Grenze kann man nur über sich herrschen, namentlich bei so großer Jugend. So, da ist Sophie, Kind, jetzt kann sie mir helfen.«

Wie betäubt ging Nell auf ihr Zimmer. Das also war Tante Marie! Und der hatte sie nichts anderes zugetraut, als Gedanken für die Wirtschaft und mußte sich nun so völlig von ihr durchschaut sehen, als wäre sie von Glas. Wahrlich, tief beschämend und doch – sie verstand sich selbst nicht – es freute sie, Tante Marie unterschätzt zu haben. Sie mochte charaktervolle Menschen, und es gefiel ihr, daß sie sich in aller Stille nach einer Stelle umgesehen hatte und lieber gehen wollte, als sich von ihr unwürdig behandeln lassen. Sie hätte es gerade so gemacht.

Väterchen hatte an diesem Abend seine geheime Freude daran, wie aufmerksam seine Nell gegen die Tante war, wie sie sich bemühte, sich lebhaft mit ihr zu unterhalten. Fräulein Taubert ging jedoch wenig aus ihrer Zurückhaltung heraus und überließ wie gewöhnlich Vater und Tochter mehr sich selbst.

An den beiden folgenden Tagen nahm die große Wäsche Fräulein Taubert völlig in Anspruch, so daß sie nur zu den Mahlzeiten erschien. So ward es Sonntag, ohne daß zwischen ihr und Nell die für beide so wichtige Angelegenheit wieder berührt ward.

Der Postdirektor ging mit seinen Damen zur Kirche. Nach dem Gottesdienst ließ Nell Vater und Tante allein zurückkehren, da sie noch eine kleine Besorgung zu erledigen hatte. Im Eilschritt kam sie bald nach beiden zu Hause an.

»Tante Marie, im Salon wartet eine Dame auf dich,« rief sie zur Küchentür hinein, »willst du, bitte, kommen?«

»Muß es sein, Nell? Ich habe es sehr eilig.«

»Es geht nicht anders, Tante.«

Seufzend band Fräulein Taubert die Küchenschürze ab, traf noch geschwind einige Anordnungen und ging in den Salon.

Da stand die Nell, hochrot vor Verlegenheit und Erregung, in der Rechten eine kleine feingliederige Palme.

»Aber Mädchen, was soll das? Zu solchem Unsinn habe ich wirklich keine Zeit,« sagte Fräulein Taubert unwillig und wollte kehrt machen, da fühlte sie sich von Nells freiem Arm kräftig umschlungen.

»Jetzt mußt du mir standhalten, gestern und vorgestern war es ja ganz unmöglich, dich auch nur für einen Augenblick zu erwischen. Hier, Tante Marie, du sagtest neulich, du möchtest gerne Palmen, bitte, nimm diese als Zeichen meiner Reue. Tante, willst du nicht bei uns bleiben?«

»Wird dir mein Hierbleiben auf die Dauer nicht zu schwer werden, Nell?«

»Nein, Tante, ich habe nun den redlichen Willen, mich mit dir einzuleben und nicht wieder eifersüchtig zu werden. Ich habe ja alle Ursache, dir dankbar zu sein für das, was Väterchen durch dich hat.«

»Gut. An mir soll es nicht liegen, wenn wir uns auch ferner nicht verstehen sollten. Und nun kann ich wohl gehen?«

»Ja, Tante, und verzeihe die Überrumpelung, ich hätte es aber nicht bis zum Abend ausgehalten. Magst du die Palme von mir annehmen?«

»Danke, sie ist sehr niedlich. Du hättest aber nicht so viel Geld für mich ausgeben sollen, liebes Kind.«

»Ich tat es so gern, Tante Marie,« versicherte Nell strahlend, glücklich in ihrer Selbstüberwindung. Sie wollte fortan auch der Tante, die keine näheren Angehörigen besaß, Sonne in ihr Leben bringen. Zu Fremden gehen? Zu Tode hätte sie sich geschämt, wenn es um ihretwillen geschehen wäre! Was mochte die Ärmste gelitten haben und war doch immer gleichmäßig freundlich geblieben.

Am Nachmittag herrschte auf dem Pfaffenteich, mitten in der Stadt gelegen und von einem Kranz hübscher Anlagen und Häuser umgeben, ein fröhliches Leben. Unter den heiteren Klängen einer Militärkapelle vergnügte sich die junge Welt im Schlittschuhsport. Die Fläche war umfangreich genug, um vielen Raum zu bieten, so konnte es kommen, daß auf dem einen Ende eine Quadrille getanzt wurde, während auf dem entgegengesetzten die Paare munter durcheinander liefen.

Dr. Wartenberg widmete sich völlig seinen Damen. Hand in Hand glitten die drei jungen Menschen auf dem spiegelglatten Eise dahin.

»Wie das blühende Leben schaust du aus, Nell,« lobte der Doktor, »aber Sie, Fräulein Behm, wollen mir gar nicht gefallen, Sie haben trotz der Kälte und der raschen Bewegung noch immer keine Spur von Farbe.«

»Das brauchtest du nur zu sagen, Hugo, gleich blüht sie wie ein Röslein,« rief Nell neckend. »Bist du nun zufrieden?«

»Aber, Nell,« bat Lore verwirrt.

»Die Rosen sind nicht echt,« scherzte Hugo. »Wie wäre es, wenn wir in dem Kaffeezelt eine kleine Stärkung einnehmen? Ich glaube, nach dieser ungewohnten Anstrengung ruht es sich ganz gut ein Weilchen.«

»Wir sind nicht abgeneigt, nicht wahr, Lore? Da du es sagst, Hugo, merke ich erst, daß ich hungrig und durstig bin,« gab Nell fröhlich zu.

Sie fanden in dem auf dem Teiche aufgeschlagenen Zelt ein paar freie Stühle und ließen es sich trefflich schmecken, nur daß der junge Arzt zufriedener mit dem Appetit seiner Schwester als mit dem Lores war. Dann liefen sie noch ein Weilchen Schlittschuh, bis die matte Wintersonne schwand, und rings um den Teich die elektrischen Lampen aufflammten.

»Was war dies für ein schöner Tag,« bemerkte Lore, als die Geschwister sie nach Hause begleiteten.

»Nächsten Sonntag laufen wir wieder zusammen, Fräulein Lore,« verhieß Hugo.

»Ja, und du kommst wieder zu Tisch zu uns,« setzte Nell schnell hinzu. »Schade, daß du jetzt keine Zeit mehr hast.«

»Ich muß noch arbeiten, Nell.«

»Aber nicht länger als bis um zehn. Versprechen Sie mir das, Fräulein Behm.«

»Das kann ich wirklich nicht, Herr Doktor, ich würde vor Angst nicht schlafen können.«

»Sie werden es nach der ungewohnten Bewegung, versprechen Sie es mir.«

Da gab Lore ihr Wort, und am nächsten Morgen erzählte sie Nell, wie wunderschön sie geschlafen habe, viel ruhiger als seit Wochen. Dabei glänzten die dunklen Augen, und um die blassen Lippen zitterte ein süßes, hoffnungsfrohes Lächeln. Sie schien sich frischer zu fühlen und ein klein wenig mehr Mut und Zuversicht auf ein glückliches Examen zu haben.

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