Raphael Kühner
Paradoxe der Stoiker
Raphael Kühner

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Paradoxon.

‘Ότι μόνος ο σοφὸς πλούσιος.

Der Weise allein ist reich.

I. 42. Was ist das für eine unverschämte Prahlerei mit Erwähnung deines Geldes? Bist du allein reich? Bei den unsterblichen Göttern, ich soll mich nicht freuen Etwas gehört und gelernt zu haben? Bist du allein reich? Wie, wenn du nicht einmal reich? wie, wenn du sogar arm wärest? Denn was verstehen wir unter einem Reichen, oder von welchem Menschen gebrauchen wir diese Benennung? Ich meine von dem, der so Viel besitzt, als zu einem anständigen Leben leicht genügen mag, der weiter Nichts sucht, Nichts verlangt, Nichts wünscht. 43. Dein eigenes Herz muß dich für reich erklären, nicht der Menschen Gerede noch deine Besitzungen. – »Nun es glaubt, daß ihm Nichts fehle; es kümmert sich um Nichts weiter; es ist gesättigt oder auch zufriedengestellt durch Geld«Die Worte: »Nun es glaubt – durch Geld« muß man als Einwurf des Reichen auf die vorhergehenden Worte auffassen.. – Ich gebe zu, es ist reich. Wenn du aber aus Geldgier keine Art des Gewerbes für schimpflich hältst, obwol für deinen StandCicero denkt sich einen Senator oder hochgestellten Staatsmann, für deren Stand es nach der Römischen Denkungsweise für schimpflich galt irgend ein Gewerbe zu treiben. keine irgendwie ehrenvoll sein kann; wenn du täglich betrügst, hintergehst, Forderungen machst, VergleicheNämlich ungerechte. schließest, wegnimmst, entwendest; wenn du Bundesgenossen beraubst, den Staatsschatz ausplünderst; wenn du Vermächtnisse deiner Freunde nicht einmal erwartestNach Halm's Muthmaßung: si testamenta amicorum ne exspectas quidem; das ne konnte zwischen den Buchstaben m und e leicht ausfallen. Die Lesart der Ausgaben: si t. a. exspectas aut ne exspectas quidem beruht auf keiner handschriftlichen Autorität., sondern selbst unterschiebst: sind das Zeichen eines in Ueberfluß oder in Dürftigkeit lebenden Menschen?

44. Der Geist des Menschen pflegt reich genannt zu werden, nicht sein Kasten. Mag dieser noch so voll sein; so lange ich dich selbst leer sehe, werde ich dich nicht für reich halten. Denn nach dem, was Jedem genügt, bestimmen die Menschen das Maß des Reichthums. Es hat Jemand Eine Tochter, nun so braucht er Geld; hat er zwei, so braucht er mehr; hat er mehrere, so braucht er noch mehr. Sollte Einer, wie man von DanausDanaus, der aus Aegypten nach dem Peloponnes gewandert war und daselbst Argos gründete, hatte funfzig Töchter, die die funfzig Söhne ihres Oheims Aegyptus, Königs von Aegypten, heiratheten, auf Befehl ihres Vaters aber, mit Ausnahme der Hypermnestra, die ihren Gemahl Lynceus rettete, ihre Männer in der Hochzeitsnacht ermordeten. Für diese Frevelthat wurden sie in der Unterwelt verurtheilt ein durchlöchertes Faß mit Wasser zu füllen. sagt, funfzig Töchter haben, so erheischen so viele Aussteuern eine große Summe Geldes. Denn nach eines Jeden Bedürfniß richtet sich, wie ich zuvor bemerkte, das Maß des Reichthums. Wer also nicht viele Töchter, wol aber unzählige Begierden hat, die in kurzer Zeit die größten Schätze erschöpfen können; wie soll ich den reich nennen, da er seine eigene Dürftigkeit empfindet?

45. Viele haben von dir die Aeußerung gehörtAus diesen Worten ersieht man deutlich, daß Cicero in diesem Paradoxon vorzüglich den Marcus Licinius Crassus im Sinne gehabt hat. Im J. 60 v. Chr. schloß er mit Cäsar und Pompejus das Triumvirat, und im J. 54 kam er in einem Kriege gegen die Parther um. Er war unermeßlich reich, weßhalb er auch den Beinamen »der Reiche« erhielt, und höchst habsüchtig. Ueber den hier erwähnten Ausspruch vgl. Plutarch. Cicer. 25. Crass. 2. Cicer. Offic I. 8, 25. Plinius N. H. XXXIII. 10, 47., Niemand sei reich, der nicht ein Heer von seinen Einkünften unterhalten könne. Und dieses vermag das Römische Volk bei so großen Staatseinkünften schon lange nur mit Mühe. Also dieses vorausgesetzt, wirst du niemals reich sein, bevor dir von deinen Besitzungen nicht so viel einkommen wird, daß du davon sechs LegionenDie Stärke der Legionen war zu verschiedenen Zeiten verschieden. In damaliger Zeit bestand eine Legion etwa aus 4200 Mann Fußvolk und 300 Reitern außer den Hülfstruppen der Bundesgenossen. und viele Hülfstruppen an Reiterei und Fußvolk fortwährend unterhalten kannst. Nun gestehst du also, daß du nicht reich bist, da dir zur Befriedigung deiner Wünsche so Viel mangelt. Und so hast du denn auch diese deine Armut oder vielmehr Dürftigkeit und Bettelhaftigkeit nicht undeutlich zu erkennen gegeben.

II. 46. Denn sowie wir einsehen, daß diejenigen, welche auf anständige Weise durch Handel, durch Verdingung von Arbeitern, durch Uebernahme von Staatspachtungen Gewinn suchen, des Erwerbes bedürfen; so muß, wer sieht, wie in deinem Hause Scharen ebenso von Angeklagten wie von Angebernindicum; andere Handschriften haben judicum, alsdann muß accusatorum von accusator abgeleitet werden. vereinigt sind, wie schuldige, aber reiche Angeklagte unter deinem Beistande die Bestechung des Gerichtes versuchen, wie du dir Lohn für Anwaltsdienste ausbedingstNach dem Cincischen Gesetze, das von dem Volkstribun Marcus Cincius Alimentus im J. 205 v. Chr. gegeben war, war es den Anwälten verboten für Rechtsvertheidigungen Geld oder Geschenke anzunehmen (ne quis ob causam orandam pecuniam donumve acciperet). S. Orelli Index Leg. p. 151. Freilich wurde dieses Gesetz oft überschritten., wie du dich in Zusammenkünften von Bewerbern um Staatsämter mit Geldsummen verbürgstNach Lang's Muthmaßung: intercessiones statt der handschriftlichen offenbar verderbten Lesart intercidas, die Halm beibehalten, aber mit dem Zeichen der Verderbniß versehen hat. Plutarch im Leben Cäsar's Kap. 11 erzählt, Crassus habe sich für Cäsar mit 830 Talenten verbürgt, als dieser als Prätor nach Spanien gehen wollte und von seinen Gläubigern zurückgehalten wurde. Auf ähnliche Weise mag dieß von Crassus auch bei Bewerbern um Staatsämter gethan worden sein., wie du Freigelassene aussendest, um Provinzen durch Wucher auszusaugen und zu plündern; wer die Vertreibung der NachbarnAus ihrem Landbesitze. Vgl. Flor. 3, 14: depulsam agris suis plebem miseratus est (Gracchus) u. Cicer. pro Milon. 27, 74., die Räubereien auf dem Lande, die Verbindungen mit Sklaven, mit Freigelassenen und Schutzbefohlenen, die leerstehenden Besitzungen, die Achtserklärung der Begüterten, die Verwüstungen von Municipien, jene Aernte der Sullanischen ZeitNachdem Lucius Cornelius Sulla seinen Gegner Marius bekämpft hatte, übte er gegen Alle, die der Partei des Marius angehört hatten, die abscheulichsten Grausamkeiten aus, und zwar nicht allein in Rom, sondern in allen Städten Italiens, wo sich Marianer aufhielten. Zu vielen Tausenden wurden sie ermordet oder geächtet und ihre Güter eingezogen. S. Plutarch. Sulla c. 30–33. Crassus, der ein thätiger Anhänger des Sulla war, benutzte diese Zeit, um sich zu bereichern, indem er große Güter der Geächteten und Ermordeten wohlfeil kaufte oder sich schenken ließ. S. Plutarch. Crass. c. 6., die unterschobenen Vermächtnisse, die Ermordung so vieler Menschen sich vergegenwärtigt; wer endlich weiß, wie Alles käuflich war, Wahlendilectum (oder nach anderen Handschriften delectum) erklären die meisten Herausgeber von der Aushebung der Soldaten, die jedoch hier, wo nur von gerichtlichen Dingen die Rede ist, ganz unpassend sein würde. Richtig bezieht es Borgers auf die Zahl der Richter; denn die Macht des Geldes bei Bestechung der Gerichte soll erwähnt werden. Er vergleicht Cicer. Phil. 5, 5: dilectus autem et notatio judicum etiam in nostris civibus haberi solet. Halm billigt in den Anmerkungen die Muthmaßung von P. Manutius und Madvig: edictum, dergleichen plötzliche edicta in dem I. Buche der Verrinen Kap.40 ff. erwähnt würden., Beschlüsse, die Stimme Anderer und die eigene, der Gerichtsplatz, das Haus, das Reden und Schweigen: wer sollte da nicht der Ansicht sein, daß dieser eingestehe, er bedürfe des Erwerbes? Wer aber eines Erwerbes bedarf, wie dürfte ich den je in Wahrheit reich nennen?

47. Nun liegt ferner der vom Reichthume gewährte Genuß in seiner Fülle; die Fülle zeigt sich aber in Hinlänglichkeit und Ueberfluß der Dinge. Weil du nun aber dieses nie erreichst, so besitzest du nie die Fähigkeit reich zu werden. Weil du aber mein Vermögen gering achtest, und mit Recht; – es ist ja nach der Meinung der großen Menge nur mittelmäßig, nach der deinigen gar keines, nach der meinigen das rechte Maß haltend; – so will ich über mich schweigen und nur von der Sache selbst reden.

48. Wenn wir den Werth einer Handlung abwägen und abschätzen sollten, würden wir wol das Gold des Pyrrhus höher schätzen, das er dem FabriciusS. zu Cato Kap. 6, §. 15. anbot, oder die Enthaltsamkeit des Fabricius, der dieses Gold zurückwies? das Gold der Samniten oder die Antwort des Manius CuriusS. Cato Kap. 16, §§. 55 u. 56. u. die Anm. zu Cato Kap. 6, §. 15.? die Hinterlassenschaft des Lucius Paullus oder die Freigebigkeit des AfricanusS. zu Lälius Kap. 3, §. 11., der von dieser Hinterlassenschaft seinem Bruder Quintus Maximus seinen Antheil überließ?

Wahrlich diese Handlungen, welche aus den höchsten Tugenden entsprangen, muß man höher schätzen als die Vortheile, die das Geld gewährt. Wer also – wenn anders Einer in dem Grade für reicher zu halten ist, als er das besitzt, was den höchsten Werth hat, – dürfte zweifeln, daß in der Tugend der Reichthum bestehe, weil kein Besitz, keine Menge Goldes und Silbers höher als die Tugend zu schätzen ist?

III. 49. O ihr unsterblichen Götter! die Menschen begreifen nicht, welch großes Einkommen die Sparsamkeit sei. Ich komme nämlich jetzt auf die großen Aufwand Machenden und verlasse diesen Gewinnsüchtigen. JenerCicero geht von dem Plurale sumptuosos (die Aufwand Machenden) zu dem Singulare ille (jener) über. gewinnt von seinen Landgütern sechsmalhunderttausend SestertienZu Cicero's Zeit galt der Sestertius etwa 15 Pfennige; also machen 600,000 Sestertien nach unserem Gelde etwa 30,000 Thaler, und 100,000 Sestertien 5000 Thaler., ich nur hunderttausend von den meinigen; für jenen, der sich vergoldete Zimmerdecken in seinen Landhäusern und marmorne Fußböden machen läßt und Bildsäulen und Gemälde, Hausgeräthe und Kleidungsstücke ohne Maß begehrt, ist jener Ertrag nicht nur zu seinem AufwandeHalm liest mit den meisten alten Ausgaben: non modo ad sumptum ille est fructus; die meisten Handschriften haben: non modo ad fructum ille est sumptus; der cod. Vossianus nr. 10: non modo fructus ille ad sumptus; hierauf gestützt liest Moser (s. dessen XII Excurs. p. 365 sqq.): non modo fructus ille est ad sumptus, sed etiam ad fenus exiguus; aber in dieser Lesart ist die Wortstellung höchst störend, nach welcher fructus einen Gegensatz verlangen würde., sondern auch zu den zu zahlenden Zinsen ein geringer; von meinem unbeträchtlichen Einkommen wird nach Abzug des Aufwandes für mein Vergnügen sich auch noch ein Ueberschuß finden. Wer ist also reicher? der, welchem fehlt, oder der, welcher überhat? welcher Mangel leidet, oder welcher Ueberfluß hat? der, dessen Besitzthum, je größer es ist, desto mehr Kosten zu seiner Unterhaltung erfordert, oder der, dessen Besitzthum sich durch seine eigenen Mittel erhält?

50. Doch was rede ich von mir, der ich in Folge der Verdorbenheit der Sitten und der Zeiten vielleicht selbst auch an den Irrthümern unseres Jahrhunderts nicht geringen Theil nehme? Manius ManiliusUeber Manius Manilius s. zu Lälius 4, 14., der zu unserer Väter Zeit lebte, um nicht immer die Curier und LuscinierUeber Manius Curius Dentatus und über Gajus Luscinus Fabricius s. zu Cato 6, 15. im Munde zu führen, war er um's Himmels willen armOhne Zweifel muß man diese Stelle wegen des Wortes tandem als Frage nehmen: M. Manilius... pauper tandem fuit? Halm und die übrigen Herausgeber lassen das Fragzeichen weg; wie will man aber alsdann tandem erklären? Wyttenbach hat zuerst darauf aufmerksam gemacht, ist aber von den Herausgebern nicht beachtet worden, auch von Moser nicht, der doch an tandem mit Recht Anstoß genommen hat.? Freilich besaß er nur ein kleines Häuschen in der CarinenstraßeDie Carinenstraße (carinae) lag an dem Esquilinischen Berge. S. Georges Lat. Wörterb. unter carina. und ein Grundstück im Labicenischen GebieteLabicum war eine kleine Stadt, nicht weit von Rom.. Sind wir etwa reicher, die wir mehr haben? O wäre es doch so! Aber nicht nach der Schätzungsliste, sondern nach der Lebensart und häuslichen Einrichtung wird das Maß des Vermögens bestimmt. 51. Keine Begierden haben ist so gut als Vermögen; nicht kaufsüchtig sein so gut als Einkünfte; mit dem aber, was man hat, zufrieden sein ist der größte und sicherste Reichthum.

Denn wenn jene klugen Abschätzer der Güter gewisse Wiesen und Grundflächen hoch abschätzen, weil dieser Art von Besitzungen am Wenigsten, so zu sagenminime quasi noceri potest. An dem Worte quasi, das ich durch »so zu sagen« übersetzt habe, haben die Herausgeber großen Anstoß genommen, und mehrere von ihnen halten dasselbe für verderbt. Das Wort quasi ist aber von Cicero mit seinem Gefühle zu dem Verb nocere hinzugesetzt, da nocere im strengen und eigentlichen Sinne des Wortes nur von Personen, nicht aber von Sachen gebraucht werden kann. , geschadet werden kann; wie hoch muß die Tugend geschätzt werden, die nicht entrissen oder heimlich entwendet werden kann, nicht durch Schiffbruch oder Feuersbrunst verloren geht, nicht durch stürmische Witterung oder durch Wirren der Zeitverhältnisse verändert wird! Diejenigen also, welche sie besitzen, sind allein reich. 52. Denn sie allein besitzen sowol gewinnreiche als ewig dauernde Güter, und sie allein sind – und dies ist das wesentliche Merkmal des Reichthums – mit dem Ihrigen zufrieden; sie begnügen sich mit dem, was sie haben, sie trachten nach Nichts, sie entbehren Nichts, sie empfinden keinen Mangel, sie vermissen Nichts. Schlechte und habsüchtige Menschen hingegen, weil sie ungewisse und vom Zufall abhängige Besitzungen haben und immer nach Mehr trachten, und sich unter ihnen noch Keiner gefunden hat, der sich mit dem begnügt, was er hat, sind nicht für begütert und reich, sondern sogar für unbemittelt und arm zu halten.


 << zurück