Raphael Kühner
Paradoxe der Stoiker
Raphael Kühner

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Marcus Tullius Cicero's

Paradoxe der Stoiker.

Vorwort.

1. Oft habe ich bemerkt, mein lieber BrutusMarcus Junius Brutus, Sohn des Marcus Junius Brutus, eines Rechtsgelehrten, und der Servilia, einer Schwester des Cato Uticensis, einer der Mörder Cäsar's. Er beschäftigte sich viel mit Philosophie und gab auch eine Schrift über die Tugend, eine über die Pflichten und eine über die Geduld heraus. Diese Schriften sind alle untergegangen. Er war ein Anhänger der alten Akademie. Ihm hat Cicero außer dieser Schrift auch die fünf Bücher der Tusculanen, die fünf Bücher von dem höchsten Gute und Uebel, die drei Bücher von dem Wesen der Götter und den Redner gewidmet, sowie auch die Schrift von den berühmten Rednern nach ihm Brutus genannt., daß dein Oheim CatoMarcus Porcius Cato, der Jüngere, der später den Beinamen Uticensis erhielt, weil er sich nach der Schlacht bei Pharsalus in Utika, einer Stadt in Afrika, entleibte (46 v. Chr.), um nicht den Verlust der Freiheit seines Vaterlandes zu überleben. Er war der Urenkel des Marcus Porcius Cato Censorius und, wie Anm. 1 erwähnt wurde, der Bruder der Servilia, der Mutter des Brutus., wenn er im Senate seine Meinung aussprach, gewichtige Lehrsätze aus der Philosophie abhandelte, die unserem öffentlichen Gerichtsverfahren fern lagen, und es gleichwol durch seine Beredsamkeit dahin brachte, daß sie auch dem Volke annehmbar erschienen.

2. Und dieses war für ihn um so schwieriger, als es für dich oder mich sein würde, weil wir uns mehr mit derjenigen PhilosophieNämlich der alten Akademiker und Peripatetiker. Eine sehr wichtige Stelle über diese Philosophen und die Stoiker in Beziehung auf die Beredsamkeit findet sich in Cicer. Brut. c. 31: Tum Brutus: Quam hoc idem in nostris contingere intelligo quod in Graecis, ut omnes fere Stoici prudentissimi in disserendo sint et id arte faciant sintque architecti paene verborum, iidem, traducti a disputando ad dicendum, inopes reperiantur. Unum excipio Catonem, in quo perfectissimo Stoico eloquentiam non desiderem... Et ego: Non, inquam, Brute, sine causa, propterea quod istorum in dialecticis omnis cura consumitur, vagum illud orationis et fusum et multiplex non adhibetur genus. Tunc autem avunculus.. habet a Stoicis id, quod ab illis petendum fuit; sed dicere didicit a dicendi magistris eorumque more se exercuit. Quodsi omnia a philosophis essent petenda, Peripateticorum institutis commodius fingeretur oratio. Quo magis tuum, Brute, judicium probo, qui eorum philosophorum sectam secutus es, quorum in doctrina atque praeceptis disserendi ratio conjungitur cum suavitate dicendi et copia, quanquam ea ipsa Peripateticorum Academicorumque consuetudo in ratione dicendi talis est, ut nec perficere oratorem possit ipsa per sese, nec sine ea orator esse perfectus. Nam ut Stoicorum adstrictior est oratio aliquantoque contractior, quam aures populi requirunt; sic illorum liberior et latior, quam patitur consuetudo judiciorum et fori. beschäftigen, welche für den Redner eine Quelle des Reichthums ist, und in welcher Lehrsätze vorgetragen werden, die sich nicht sehr von den Begriffen des Volkes entfernen, Cato hingegen, ein vollkommener Stoiker meines Erachtens, einerseits Grundsätze befolgt, welche bei der großen Menge nicht eben Billigung finden, andererseits ein Anhänger einer SekteIch habe hier absichtlich ein fremdes Wort gebraucht, weil auch Cicero sich des Griechischen Wortes haeresis bedient hat. ist, welche keine Blüten der Beredsamkeit aufsucht und ihre Beweise nicht breit ausspinnt, sondern nur durch kurze Schlußsätze, gleichsam durch einzelne Punkte, das, was sie sich vorgenommen hat, zu beweisen suchtUeber die Stoiker vergleiche außer der eben angeführten Stelle des Brutus Cicer. de Orat. III. 18, 65 sq. de Fin. IV. 3, 7..

3. Doch Nichts ist so unglaublich, daß es nicht der Vortrag annehmlich machen, Nichts so rauh, so ungebildet, daß es nicht durch ihn Glanz erhalten und ausgebildet werden könnte. Durch diese Vorstellung bewogen, habe ich noch mehr gewagt als jener selbst, von dem ich rede. Denn Cato pflegt nur von Seelengröße, von Enthaltsamkeit, vom Tode, von jeder Vortrefflichkeit der Tugend, von den unsterblichen Göttern, von Vaterlandsliebe nach Stoischen Grundsätzen mit Anwendung rednerischen Schmuckes zu reden. Ich aber habe selbst solche Lehrsätze, deren Beweise die Stoiker kaum in den GymnasienD. h. in den Schulen der Philosophen. oder in müßigen Stunden untersuchen, zum Zeitvertreib unter Gemeinsätze zusammengefaßt. 4. Und an diesen Lehrsätzen, welche, weil sie auffallend sind und gegen die gewöhnliche Meinung der Menschen streiten, auch von ihnen selbst παράδοξαD. h. Sätze, die da sind παρὰ δόξαν, gegen die Meinung, nämlich der großen Menge. genannt werden, wünschte ich einen Versuch zu machen, ob man sie nicht an's Tageslicht, das heißt auf das Forum hervorziehen und so vortragen könne, daß sie annehmbar befunden würden, oder ob etwas Anderes die Gelehrtensprache, etwas Anderes die Volkssprache sei.

Und mit um so größerem Vergnügen habe ich diese Schrift abgefaßt, weil mir jene sogenannten παράδοξα ächt SokratischEbenso Cicer. Academ. II. 44, 138: sunt enim Socratica pleraque mirabilia stoicorum, quae παράδοξα nominantur. und im höchsten Grade wahr zu sein scheinen.

5. Du wirst also dieses kleine Werkchen als eine Frucht meiner Arbeiten in diesen schon kürzeren Nächten annehmen, da ja jenes GeschenkNämlich die Schrift de claris Oratoribus (von den berühmten Rednern), die Cicero, wie wirMarcus Junius Brutus, Sohn des Marcus Junius Brutus, eines Rechtsgelehrten, und der Servilia, einer Schwester des Cato Uticensis, einer der Mörder Cäsar's. Er beschäftigte sich viel mit Philosophie und gab auch eine Schrift über die Tugend, eine über die Pflichten und eine über die Geduld heraus. Diese Schriften sind alle untergegangen. Er war ein Anhänger der alten Akademie. Ihm hat Cicero außer dieser Schrift auch die fünf Bücher der Tusculanen, die fünf Bücher von dem höchsten Gute und Uebel, die drei Bücher von dem Wesen der Götter und den Redner gewidmet, sowie auch die Schrift von den berühmten Rednern nach ihm Brutus genannt. gesehen haben, Brutus genannt hatte. meiner größeren Nachtwachen unter deinem Namen bereits erschienen ist, und diese Art der Uebungen kosten, deren ich mich zu bedienen pflege, wenn ich das, was man in den Schulen der Philosophen θετικὰθετικά, d. h. eigentlich: was sich zum Setzen, Aufstellen (nämlich von Sätzen) schickt. Wie in den Schulen der Philosophen, so wurden nach deren Vorgange auch in den Schulen der Rhetoren zur Einübung der gegebenen Lehren Vorträge (μελέται, declamationes) gehalten. Zu diesen Vorträgen wählte man theils die Behandlung der sogenannten unbestimmten Fragen (θέσεις, quaestiones infinitae) über einen Gegenstand im Allgemeinen ohne Rücksicht auf bestimmte Personen und Zeiten, z. B. »Genügt die Tugend allein zur Glückseligkeit«, theils die Behandlung der sogenannten bestimmten Fragen (ηποθέσεις, quaestiones finitae) über einen bestimmten Gegenstand mit Rücksicht auf bestimmte Personen und Zeiten, z. B. »Soll man beschließen, daß wir von den Karthagern unsere Gefangenen gegen Rückgabe der ihrigen annehmen.« S. unsere Einleitung zu Cicero's drei Büchern von dem Redner S. 6. nennt, auf das Gebiet dieser unserer rednerischen Ausdrucksweise übertrage.

Doch daß du mir dieses Werk in dein Einnahmebuch eintragest, verlange ich durchaus nicht. Es ist ja keine Minerva des PhidiasPhidias aus Athen, der berühmteste Bildhauer des Alterthums, lebte zur Zeit des Perikles (um 430 v. Chr.). Für sein Meisterwerk wurde die hier erwähnte Bildsäule der Minerva gehalten; sie war aus Elfenbein und in der Burg von Athen ausgestellt. S. Plinius 36, 5., die auf der Burg aufgestellt zu werden verdiente, indeß doch von der Art, daß man deutlich erkennt, es sei aus derselben Werkstatt hervorgegangen.


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