Gilbert Keith Chesterton
Priester und Detektiv
Gilbert Keith Chesterton

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Das Auge des Apoll

Jener einzigartige rauchige Schimmer, zugleich unklar wie durchsichtig, der das seltsame Geheimnis der Themse bildet, verwandelte sich mehr und mehr aus seinem Grau in sein glitzerndes Extrem, je mehr die Sonne dem Zenith über Westminster zustrebte und zwei Männer die Westminsterbrücke überschritten. Der eine war sehr groß und der andere sehr klein; bei etwas Einbildungskraft hätte man sie sogar mit dem anmaßenden Glockenturm des Parlaments und dem demütigeren krummen Rücken der Abtei vergleichen können, denn der kleinere trug ein geistliches Kleid. Das amtliche Signalement des Großen lautete auf Mr. Herkules Flambeau, Privatgeheimpolizist, der soeben nach seinem neuen Bureau in einem Neubau gegenüber dem Abteieingange ging. Die amtliche Personalangabe des kleinen Mannes lautete auf den hochwürdigen J. Brown, Hilfspriester an der Franziskus-Xaverius-Kirche in Camberwell, der von einem Sterbebette in Camberwell kam und sich das neue Bureau seines Freundes besehen wollte.

Das Gebäude war in seiner wolkenkratzenden Höhe echt amerikanisch und echt amerikanisch war auch die ganze geölte Vollendung seines inneren Getriebes von Fernsprech- und Aufzuganlagen. Aber es war noch nicht ganz vollendet und erst teilweise bezogen. Nur drei Mieter hatten sich schon eingefunden. Die Räume gerade über Flambeau waren bewohnt, wie auch die gerade unter ihm, während die beiden Stockwerke darüber und die drei darunter noch gänzlich leer standen. Doch der erste Blick nach dem neuen Mietsturm wurde von etwas viel fesselnderem befangen. Abgesehen von ein paar Gerüstüberresten bestand der einzige in die Augen springende Gegenstand, gerade über Flambeaus Bureau angebracht, in einer ungeheuren vergoldeten Darstellung eines Menschenauges, umgeben von goldenen Strahlen.

»Was soll denn das zu bedeuten haben?« fragte Father Brown und blieb stehen.

»O, eine neue Religion,« erwiderte Flambeau lachend, »eine von jenen Religionen, welche einem die Sünden vergeben, indem sie sagen, man habe nie solche begangen. So etwas wie Gesundbeterei, glaube ich. Nichts weiter, als daß so ein Kerl, der sich Kalon nennt (wie er heißt, weiß ich nicht, sondern nur, daß er nicht so heißen kann), die Wohnung über mir gemietet hat. Unter mir sind zwei Maschinenschreiberinnen eingenistet und darüber habe ich diesen stark auftragenden, alten Schwindler. Er nennt sich den neuen Priester Apolls und verehrt die Sonne.«

»Er soll sich nur in acht nehmen,« meinte Father Brown. »Die Sonne war der grausamste aller Götter. Aber was soll das Riesenauge dort bedeuten?«

»Soweit ich verstehen kann, gehört das zu ihrer Theorie, daß ein Mensch alles zu ertragen imstande ist, wenn nur sein Gemüt gänzlich unbewegt bleibt. Ihre beiden großen Sinnbilder sind die Sonne und das offene Auge, denn sie sagen, daß, wenn ein Mensch wirklich gesund sei, er in die Sonne starren können müsse.«

»Wenn ein Mensch wirklich gesund ist,« versetzte Father Brown, »würde er sich nicht damit abgeben, sie anzustarren.«

»Kurz, das ist alles, was ich Ihnen über die neue Religion zu sagen weiß,« fuhr Flambeau gleichgültig fort. »Natürlich behauptet sie auch, alle körperlichen Krankheiten heilen zu können.«

»Kann sie auch die eine Geisteskrankheit heilen?« fragte Father Brown in ernster Neugier.

»Und worin besteht die eine Geisteskrankheit?« gab Flambeau lächelnd zurück.

»Zu glauben, daß einem nichts fehlt.« antwortete sein Freund.

Flambeau war mehr von dem ruhigen, kleinen Bureau darunter in Anspruch genommen, als von dem neuartigen Tempel darüber. Er war ein lebensfroher Südländer, unfähig, sich selbst als etwas anderes vorzustellen als einen Katholiken oder einen Atheisten, und neue Religionen von angenehmer und farbloser Sorte entsprachen nicht seinem Geschmacke. Stets aber entsprach seinem Geschmack das Menschliche, insbesondere, wenn es hübsch aussah, und überdies waren die beiden jungen Damen Charaktere von eigener Art. Das Bureau gehörte zwei Schwestern, beide schlank und dunkel, die eine groß und auffallend. Sie hatte ein finsteres, scharfes und adlerartiges Profil und war eine von jenen Frauen, die man sich stets im Profil vorstellt wie den scharfgeschliffenen Rand irgend einer Waffe. Sie schien sich ihren Weg durchs Leben erzwingen zu wollen. Ihre Augen zeigten einen überraschenden Glanz, aber es war eher der Glanz des Stahles, als der des Diamanten, und ihre aufrechte, schlanke Gestalt trug sich ein wenig zu steif für ihre Unmut. Ihre jüngere Schwester war gleichsam ihr verkürzter Schatten, einen Ton mehr ins Graue spielend, bleicher und unscheinbarer. Beide trugen sich in kontorüblichem Schwarz mit schmalen Herrenmanschetten und Krägen. Es gibt deren Tausende von diesen trockenen, emsigen jungen Damen in den Londoner Bureaus, doch der Reiz dieser beiden lag eher in ihrer wirklichen als in ihrer in Erscheinung tretenden Stellung.

Denn Pauline Stacey, die ältere, war tatsächlich die Inhaberin eines Wappens und einer halben Grafschaft, wie auch großen Reichtums; sie war in Schlössern und Gärten aufgewachsen, ehe ein frostiger Stolz (eine Eigenheit der modernen Frau) sie zu einer nach ihrer Auffassung strengeren und höheren Existenz angetrieben hatte. Dabei hatte sie jedoch nicht Verzicht auf ihr Geld geleistet, denn das wäre ein ihren herrischen Nützlichkeitsgrundsätzen ganz fremdes romantisches und mönchisches Entsagen gewesen. Sie hielt ihren Reichtum fest, pflegte sie zu sagen, um ihn auf praktische, soziale Zwecke zu verwenden. Einen Teil davon hatte sie in ihr Geschäft gesteckt, ein Anfang eines Muster-Maschinenschreibbureaus; ein weiterer Teil war unter verschiedene Vereinigungen und für Zwecke zur Förderung solcher Tätigkeit unter den Frauen verteilt. Wie weit ihre Schwester und Teilhaberin Johanna diesen etwas prosaischen Idealismus teilte, darüber wußte niemand sicheres. Doch folgte sie mit der Anhänglichkeit eines Hundes ihrer Leiterin, was ihr mit seinem Hauche des Tragischen etwas Anziehenderes verlieh als der harte hohe Sinn der Älteren. Denn Pauline Stacey hatte nichts übrig für das Tragische, sie schien seine Existenz zu verneinen.

Ihr unermüdliches Ungestüm und ihre eisige Ungeduld hatten Flambeau, als er das erstemal das Haus betrat, sehr belustigt. Er war in der Vorhalle umhergeschlendert, den Fahrstuhljungen zu erwarten, der gewöhnlich Nichteinwohner nach den verschiedenen Stockwerken beförderte. Aber dieser glanzäugige Falke von Mädchen hatte es rundweg abgelehnt, sich einer solchen, aufgezwungenen Verzögerung zu fügen. Sie meinte schnippisch, sie verstehe sich vollkommen auf den Fahrstuhl und hänge nicht von Jungen ab, ebensowenig von Männern. Wenngleich ihre Räume nur im dritten Stocke lagen, brachte sie es dennoch in den paar Sekunden Fahrt fertig, Flambeau aus dem Stegreif ein gutes Stück ihrer Grundanschauungen vorzutragen; sie liefen im allgemeinen darauf hinaus, daß sie eine moderne, arbeitende Frau sei und moderne Arbeitsmaschinen liebte. Ihre glänzenden schwarzen Augen leuchteten in angenommenem Zorne gegen jene auf, welche von Mechanik nichts wissen wollen und sich nach der Wiederkehr der Romantik sehnen. Jedermann, äußerte sie, sollte mit Maschinen umzugehen zu wissen, gerade wie sie mit dem Fahrstuhl. Sie schien es fast übelzunehmen, daß Flambeau für sie die Fahrstuhltüre öffnete und so ging dieser Herr mit etwas gemischten Gefühlen nach seinen eigenen Räumen hinauf, indem er dieses Sprühfeuer von Selbständigkeit überdachte.

Sie besaß zweifellos ein Temperament von einer schnippischen, praktischen Art, die Bewegungen ihrer schmalen, feinen Hände waren kurz und hatten etwas Zerstörendes an sich. Einmal trat Flambeau wegen einer Maschinenschreibarbeit in ihr Bureau und fand sie, wie sie eben eine ihrer Schwester gehörende Brille mitten auf den Boden warf und darauf herumtrat. Sie war ganz im Flusse einer ethischen Scheltrede über »angekränkelte medizinische Ansichten« und ungesundes Eingeständnis von Schwäche, das sich in einem solchen Apparate ausdrücke. Sie verbot ihrer Schwester strengstens, je wieder solch künstliches, ungesundes Zeug mitzubringen. Ob man etwa von ihr annehmen würde, hölzerne Beine oder falsches Haar oder Glasaugen zu tragen, und dabei funkelten ihre Augen wie verhängnisvoller Kristall.

Flambeau, ganz verwirrt ob solchen Übereifers, konnte sich nicht enthalten, Fräulein Pauline zu fragen, weshalb eine Brille ein krankhafteres Anzeichen von Schwäche sei als ein Fahrstuhl und weshalb die Wissenschaft, wenn sie in einem Falle gut genug war, im anderen Falle unzulässig sein sollte.

»Das ist doch so grundverschieden!« antwortete Pauline Stacey von oben herab. »Batterien und Motore und all diese Dinge sind Beweise menschlicher Kraft, jawohl, Mr. Flambeau, und auch der der Frauen. Wir werden uns unseren Anteil an diesen großen Maschinen, welche Entfernungen verschlingen und der Zeit Trotz bieten, schon nehmen! Das ist erhaben und herrlich – das ist wirkliche Wissenschaft! Aber dieses garstige Krücken- und Pflasterwerk, welches die Doktoren verschleißen, das sind nur die Kennzeichen der Feigheit, der Erbärmlichkeit. Die Doktoren stückeln Arme und Beine an als wären wir als Krüppel und sieche Sklaven geboren. Aber ich bin frei geboren, Mr. Flambeau! Die Leute glauben nur, sie bedürfen dieser Dinge, weil sie zur Furcht erzogen sind, anstatt zur Macht und zum Mut, gerade wie einfältige Kindermädchen, die den Kindern sagen, nicht in die Sonne zu starren, und so können sie es nicht ohne zu blinzeln. Aber weshalb sollte unter all den Sternen einer sein, den ich nicht ansehen dürfte? Die Sonne ist nicht Herr über mich und ich will meine Augen aufmachen und sie anschauen, wenn es mir paßt.«

»Ihre Augen werden die Sonne blenden,« sagte Flambeau mit einer den Ausländer kennzeichnenden Verbeugung. Es machte ihm Spaß, dieser seltsamen, steifen Schönheit eine Schmeichelei zu sagen, zum Teil auch, weil sie dies ein wenig aus dem Gleichgewichte brachte. Doch als er die Treppe nach seiner Wohnung hinaufstieg, atmete er tief auf und pfiff vor sich hin, indem er zu sich selbst sagte: So ist sie also dem Beschwörer droben mit seinem goldenen Auge in die Hände geraten. Denn so wenig er auch wußte und sich um die neue Religion kümmerte, so hatte er doch von ihrem besonderen Merkmal des Sonnenstarrens gehört.

Bald entdeckte er, daß die geistigen Bande zwischen dem Stockwerke oben und dem unten recht enge waren und sich immer enger knüpften. Der Mann, der sich Kalon nannte, war ein herrliches Geschöpf, physisch genommen würdig, ein Hohenpriester Apolls zu sein. Er besaß fast die gewaltige Statur Flambeaus, doch ein vorteilhafteres Äußere, dazu einen goldenen Vollbart, mächtige blaue Augen und eine nach rückwärts flatternde Mähne wie ein Löwe. Von Gestalt war er die blonde Bestie Nietzsches, doch all seine tierische Schönheit war gehoben, verschönt und gemildert durch echten Verstand und Geist. Sah er schon wie einer der großen Sachsenkönige aus, so glich er einem von jenen, die zugleich Heilige waren. Und bei all dem dieses waschecht londonsche Nichtzusammenstimmen mit seiner Umgebung, die Tatsache, daß er Bureauinhaber in einem mittleren Stockwerke eines Hauses der Viktoriastraße war, daß sein Schreibgehilfe, ein gewöhnlicher junger Mann in Kragen und Manschetten, im Vorzimmer zwischen ihm und dem Gange saß, daß sein Name auf einem Messingschild prangte und das vergoldete Emblem seines Glaubens auf die Straße hinaushing wie die Ankündigung eines Optikers. All diese Gewöhnlichkeiten vermochten nicht, den lebhaften Eindruck und das Überwältigende auszulöschen, das von seiner Seele und von seinem Körper ausging; man fühlte sich gegenüber diesem Marktschreier in Gegenwart eines großen Mannes. Selbst in dem leichten, leinenen Jackenanzuge, den er als Arbeitsgewand in seinem Bureau trug, war er eine fesselnde und gewaltige Erscheinung, und angetan mit seinen weißen Gewändern und gekrönt mit dem Goldreife, wie er täglich die Sonne begrüßte, sah er wirklich so herrlich aus, daß den Leuten auf der Straße manchmal plötzlich das Lachen auf den Lippen erstarb. Denn dreimal des Tages trat der neumodische Sonnenanbeter auf seinen kleinen Balkon hinaus, um dort im Angesichte von ganz Westminster seinem strahlenden Herrn eine Litanei aufzusagen; einmal bei Tagesanbruch, einmal bei Sonnenuntergang und einmal Punkt Mittag. Und eben als es von den Türmen des Parlamentsgebäudes und der Pfarrkirche Mittag schlug, war es, daß Father Brown nach oben blickend den weißen Priester Apolls sah.

Flambeau hatte diese täglichen Begrüßungen des Gottes Phöbus oft genug gesehen und betrat die Vorhalle des großen Hauses ohne sich auch nur umzusehen, ob ihm sein geistlicher Freund folgte. Doch Father Brown, sei es nun aus beruflichem Interesse am Rituellen oder aus einem starken persönlichen Interesse an Narreteien, blieb stehen und starrte nach dem Balkon des Sonnenanbeters empor, gerade wie er es vor einem Kasperltheater getan hätte. Kalon, der Prophet, stand bereits in silberweißen Gewändern und mit erhobenen Händen aufrecht und der Klang seiner eigenartig durchdringenden Stimme ließ sich bis herab auf die geräuschvolle Straße vernehmen, ihre Sonnenlitanei hersagend. Er war bereits mitten darinnen, die Augen auf die flammende Scheibe geheftet. Es ist zweifelhaft, ob er irgend etwas oder irgend jemand auf Erden sah, wesentlich gewiß ist aber, daß er einen verkümmerten Priester mit einem roten Gesichte nicht sah, der blinzelnden Auges unter der Menge dort unten nach ihm heraufblickte. Darin bestand vielleicht der am meisten auffallende Unterschied zwischen diesen beiden so sehr voneinander entfernten Männern. Father Brown konnte nichts ansehen, ohne zu blinzeln, wogegen der Priester Apolls sogar in die Mittagssonnenglut zu blicken vermochte, ohne mit der Augenwimper zu zucken.

»O Sonne!« rief der Prophet. »O Stern, zu groß, um unter die Sterne zugelassen zu sein! O Quelle, die du ruhig in jenes geheimnisvolle Etwas hinfließest, das man Raum nennt! O weißer Erzeuger aller weißen, ungeschwächten Dinge, der weißen Flammen, der weißen Blumen und der weißen Gipfel! Vater du, der du unschuldiger bist als deine unschuldigsten und friedlichsten Kinder, Urreinheit, in deren Frieden –«

Ein Donnern und ein Krachen wie von einer abstürzenden Rakete wurde von einem langgezogenen, schrillen Schreie durchschnitten. Fünf Männer stürzten das Haustor hinein, während drei Männer herausstürzten und einen Augenblick gegen einander rangen und drängten. Das Gefühl eines ganz unvermittelt hereingebrochenen Schrecknisses schien einen Augenblick die halbe Straße mit Unheilsgerüchten zu erfüllen und mit um so schlimmeren, als niemand wußte, was geschehen war. Zwei Gestalten aber blieben auch nach dem Ausbruche der Aufregung noch an ihrem Platze, der schöne Priester Apolls auf dem Balkone oben und der unschöne Priester Christi unter ihm.

Schließlich erschien die hohe Figur und titanische Tatkraft Flambeaus unter dem Haustore und beherrschte sofort den kleinen, angesammelten Menschenkneuel. Im höchsten Tone seiner Stimme, die wie ein Nebelhorn klang, gebot er etwas oder jemandem, um einen Chirurgen zu laufen, und als er sich wieder nach dem dunkeln und gedrängt vollen Eingange zurückwandte, schlüpfte Father Brown gänzlich unbeachtet ihm nach hinein. Und noch während dieser durch die Menge tauchte und sich durchdrängte, konnte er die erhabene Melodie und Monotonie des Sonnenpriesters vernehmen, der immer noch den glücklichen Gott anrief, den Freund von Quellen und Blumen. Father Brown fand Flambeau und weitere sechs Leute den umschlossenen Raum umstehend, in den der Fahrstuhl sachte niederzugleiten pflegte. Doch er war es nicht, der herabgekommen war, sondern etwas anderes, etwas was mit dem Fahrstuhle hätte herabkommen sollen.

Während der letzten vier Minuten stand Flambeau alles vor Augen, hatte er die blutende Gestalt mit dem zerschellten Schädel jener schönen Frau vor sich gesehen, die das Tragische verneint hatte. Keinen Augenblick war ihm auch nur der leiseste Zweifel aufgestiegen, daß es Pauline Stacey war und ob er schon nach dem Doktor geschickt hatte, hegte er doch die volle Gewißheit ihres Todes.

Er konnte sich nicht für gewiß erinnern, ob er an ihr wirklich Gefallen gefunden hatte oder nicht, es gab soviel was gefallen oder auch mißfallen mochte. Aber sie war ihm durchaus persönlich gegenübergetreten und das unerträgliche Pathos von Nebensächlichkeiten und Lebensweise drang mit all den winzigen Dolchen des Bewußtseins schmerzlichen Verlustes auf ihn ein. Er gedachte ihres hübschen Gesichtes und ihrer urteilsfertigen Augen mit einer unvermittelten geheimen Lebendigkeit, in der eben all die Bitternis des Todes liegt. In einem Augenblicke, wie ein Blitz aus blauem Himmel, wie ein Donnerschlag von nirgendsher, war dieser schöne und stolze Körper den offenen Aufzugschacht hinab dem Tode unten in die Arme gestürzt. War es Selbstmord? Bei einer so selbstbewußten Optimistin schien das ausgeschlossen, war es Mord? Aber wer sollte dort in dem noch fast unbewohnten Räumen gewesen sein, um jemanden zu ermorden? In einem Schwall heiserer Worte, die er für kraftvoll hielt und die ihm dennoch sofort schwächlich vorkamen, fragte er, wo jener Kerl, Kalon, steckte. Eine Stimme, gewöhnlich schwerfällig, ruhig und volltönend, versicherte ihm, daß Kalon während der letzten fünfzehn Minuten auf seinem Balkon draußen gestanden hatte, seinen Gott zu verehren. Als Flambeau diese Stimme hörte, und Father Browns Hand fühlte, wandte er sein dunkles Gesicht zur Seite und fragte schroff:

»Aber wenn er die ganze Zeit dort draußen war, wer soll es dann getan haben?«

»Wir können vielleicht hinauf gehen und herausfinden,« meinte der andere. »Wir haben noch eine halbe Stunde vor uns, bis die Polizei sich meldet.«

Die Leiche der schlanken Erbin in der Obhut des Chirurgen lassend, raste Flambeau die Treppe hinauf nach dem Maschinenschreibebureau, fand es ganz leer und stürzte dann nach seinem eigenen weiter. Kaum eingetreten, kehrte er unvermittelt und mit weißem Gesichte nochmals zu seinem Freunde zurück.

»Ihre Schwester!« rief er in peinvollem Ernste, »sie scheint ausgegangen zu sein.«

Father Brown nickte. »Vielleicht auch ist sie nach oben zu dem Sonnenmanne gegangen,« sagte er. »Wenn ich Sie wäre, würde ich das sofort feststellen und dann wollen wir in Ihrem Bureau die Geschichte besprechen. Nein,« fügte er rasch hinzu, wie wenn er sich etwas erinnerte, »wann werde ich je meine Dummheit ablegen? Natürlich, unten, in ihrem Bureau!«

Flambeau starrte verständnislos, doch folgte er dem kleinen Priester in die leeren Räume der Staceys hinab, wo der undurchdringliche Geistliche mitten im Vorzimmer sich in einem großen rotledernen Armstuhle niederließ und bequem die Treppe und die Treppenabsätze überblicken konnte.

Nicht sehr lange wartete er, denn in etwa vier Minuten stiegen drei Gestalten die Treppe hinab, die nur das Gemeinsame ihres feierlichen Ernstes an sich hatten. Die erste war Johanna Stacey, die Schwester der Toten; sichtlich war sie oben im Nottempel des Apollopriesters gewesen. Die zweite war der Apollopriester selbst, der, nachdem er seine Litanei beendet, voll Großartigkeit die leere Treppe herabschwebte, in seinem weißen Gewande, seinem Barte und seinem gescheitelten Haare an Dorés Christus beim Verlassen des Prätoriums erinnernd. Die dritte war Flambeau mit finsteren Brauen und etwas verstört.

Miß Johanna Stacey, von dunklem Teint, erschlafften Zügen und vorzeitig ergrauendem Haare schritt gerade auf ihr Pult zu und mit geübtem Schlage legte sie ihre Papiere zurecht. Die Bewegung allein schon mußte jeden von ihrer vollen Zurechnungsfähigkeit überzeugen. War Johanna Stacey eine Verbrecherin, so war sie jedenfalls eine sehr kaltblütige. Father Brown betrachtete sie eine Zeitlang mit eigenem, leichtem Lächeln und dann, ohne die Augen von ihr zu wenden, kehrte er sich jemand anderem zu.

»Prophet,« sagte er, sich erkühnend, Kalon anzusprechen, »ich wollte, Sie würden mir einiges von Ihrer Religion mitteilen.«

»Ich werde stolz darauf sein,« erwiderte Kalon, sein noch gekröntes Haupt neigend, »aber ich weiß nicht, ob ich recht verstehe.«

»Sehen Sie, es ist dies,« begann Father Brown in seiner offenen, zögernden Art. »Nach unserer Lehre muß es, wenn ein Mensch wirklich schlechte Grundsätze hat, zum Teil seine eigene Schuld sein. Aber bei all dem können wir doch einigermaßen einen Unterschied gelten lassen zwischen einem Menschen, der gegen sein völlig klares Gewissen fehlt, und einem Menschen mit einem mehr oder weniger von Sophistereien umnebelten Gewissen. Also glauben Sie tatsächlich, daß Mord etwas überhaupt Böses ist?«

»Soll das eine Anklage sein?« fragte Kalon sehr ruhig.

»Nein,« antwortete Brown ebenso gelassen, »es ist die Verteidigungsrede.«

In der langen, verblüfften Stille des Raumes erhob sich langsam der Prophet Apolls und es war wirklich, wie wenn die Sonne aufging. Er füllte diesen Raum mit seinem Lichte und Leben in solchem Masse, daß man das Gefühl hatte, er würde ebensowohl ganz Salisbury Plain erfüllt haben. Seine verhüllte Gestalt schien den ganzen Raum mit klassischem Faltenwerk zu schmücken, seine epischen Bewegungen schienen ihnen größere Ausdehnung zu verleihen, bis die kleine schwarze Figur des modernen Geistlichen wie eine Verirrung und ein Eindringen, wie ein runder schwarzer Fleck auf hellenischer Pracht erschien.

»Endlich treffen wir uns, Kaiphas,« begann der Prophet. »Ihre Kirche und die meine sind die beiden einzigen Wirklichkeiten auf dieser Erde. Ich bete die Sonne an und Sie ihre Verfinsterung. Sie sind der Priester des sterbenden und ich der des lebendigen Gottes. Ihre gegenwärtige Handlungsweise des Verdächtigens und der Verleumderei ist Ihres Kleides und Ihres Glaubens würdig. Ihre ganze Kirche ist weiter nichts als eine schwarze Polizeianstalt, ihr seid alle nur Spione und Geheimagenten, darauf aus, den Menschen Schuldbekenntnisse abzuringen. Ihr trachtet, die Menschen ihrer Verbrechen, ich sie ihrer Unschuld zu überführen. Ihr wollt sie von ihren Sünden, ich sie von ihrer Unschuld überzeugen.

»Leser des Buches des Unheils, ein Wort noch, bevor ich deine haltlosen Spukgestalten für immer hinwegblase. Nicht einmal von ferne könntest du verstehen, wie wenig mir daranliegt, ob du mich überführen kannst oder nicht. Die Dinge, welche du Schimpf und gräßliches Henkerswerk nennst, sind für mich nichts als was der Menschenfresser in einem Märchenbuche für einen erwachsenen Mann bedeutet. Sie wollten die Verteidigungsrede halten. Mir liegt so wenig an dem Nebellande dieses Lebens, daß ich Ihnen selbst die Anklagerede abnehme. Es gibt nur ein Ding, das in dieser Sache gegen mich vorgebracht werden kann, und das will ich selbst angeben. Die Frau, welche tot ist, liebte ich, sie war meine Braut, nicht in dem Sinne, was ihr Hohlköpfe ›rechtmäßig‹ nennt, sondern nach einem reineren und strengeren Gesetze, als ihr es je erfassen könnt. Sie und ich, wir wandelten in einer anderen Welt als ihr, wir schritten einher in Palästen aus Kristall, während ihr euch mühsam durch dunkle Backsteingänge arbeitet. Wohl weiß ich, daß Polizeidiener, theologische und andere, stets sich einbilden, daß, wo Liebe ist, da auch bald der Haß sich einstelle; das ist der erste Punkt zu Ihrer Anklage. Der zweite ist zwar stärker, aber ich will ihn Ihnen nicht vorenthalten. Nicht nur ist es wahr, daß Pauline mich liebte, sondern es ist auch wahr, daß sie gerade diesen Morgen, ehe sie starb, an jenem Tische ein Testament schrieb, worin sie mir und meiner Kirche eine halbe Million vermachte. Her da! Wo sind die Handschellen? Glauben Sie, ich schere mich darum, was Sie Törichtes mit mir vorhaben? Zuchthausstrafe bedeutet mir nur, auf sie an einer Zwischenstation zu warten. Der Galgen ist für mich nur ein durchgehender Wagen, um zu ihr zu gelangen.«

Er sprach mit der ergreifenden Überlegenheit eines Redners und Flambeau und Johanna Stacey starrten ihn in sprachloser Bewunderung an, während Father Browns Gesicht nichts als äußerste Verlegenheit auszudrücken schien. Mit einer schmerzlichen Falte hielt er den Blick zu Boden geheftet. Der Sonnenprophet lehnte leicht gegen den Kaminsims und fuhr fort.

»In wenigen Worten habe ich Ihnen die ganze Anklage gegen mich dargelegt – die einzig mögliche Anklage gegen mich! Aber mit noch weniger Worten will ich sie in Stücke blasen, so daß keine Spur von ihr zurückbleibt. Was die Frage betrifft, ob ich es war, der das Verbrechen beging, so besteht die ganze Wahrheit in dem einzigen Satze: ich konnte dieses Verbrechen nicht begangen haben. Pauline Stacey fiel von ihrem Stockwerke in den Schacht hinab um fünf Minuten nach zwölf. Hunderte von Leuten werden mir bezeugen können und aussagen, daß ich zu jener Zeit draußen auf dem Balkon meiner eigenen darüberliegenden Wohnung stand – von kurz vor Schlag zwölf bis fünfzehn Minuten darnach, die übliche Zeit meines öffentlichen Gebetes. Mein Bursche (ein anständiger junger Mann aus Clapham und ohne jede nähere Beziehung zu mir) kann beschwören, daß er den ganzen Morgen in meinem Vorzimmer saß und keinerlei Verkehr stattfand. Er kann beschwören, daß ich volle zehn Minuten vor zwölf, fünfzehn Minuten vor jedem leisesten Anzeichen des Unfalles, ankam, und daß ich die ganze Zeit mein Bureau oder meinen Balkon nicht verließ. Niemals besaß jemand ein so vollständiges Alibi; halb Westminster könnte ich als Zeugen vorladen. Ich glaube, Sie steckten die Handschellen besser wieder ein. Die Anklage ist hinfällig.

»Und zum Schlusse und damit auch nicht ein Hauch dieses blöden Verdachtes die Luft verpestet, will ich Ihnen alles sagen, was Sie zu wissen wünschen. Ich glaube, ich weiß, wie meine unglückliche Freundin ums Leben kam. Sie mögen dafür, wenn Sie wollen, mich oder meinen Glauben und meine Philosophie tadeln, aber jedenfalls können Sie mich dafür nicht einsperren lassen. Jedem, der sich mit dem Studium der höheren Wahrheiten abgibt, ist es wohlbekannt, daß gewisse Adepten und Illuminati in der Geschichte die Gabe des Schwebens, also sich selbst frei in der Luft zu halten, empfangen haben. Es ist nur ein Teil jener umfassenden Eroberungen der Materie, worin das Hauptelement unserer Geheimwissenschaft besteht. Die arme Pauline war von leidenschaftlichem und ehrgeizigem Temperament. Ich glaube wirklich, sie hielt sich für etwas tiefer in die Geheimnisse eingedrungen, als sie es wirklich war, und sie hat mir oft gesagt, wenn wir mitsammen im Fahrstuhle hinabfuhren, daß, wenn man nur genügende Willensstärke besässe, man so unversehrt hinabschweben können müßte wie eine Feder. Ich glaube in allem Ernste, daß in einer Verzückung hehren Denkens sie das Wunder versuchte. Ihr Wille oder ihr Glaube muß sie im entscheidenden Augenblicke verlassen haben, und das niedrigere Gesetz der Materie verübte seine entsetzliche Rache. Das ist die ganze Geschichte, meine Herren, eine sehr traurige und Ihrer Ansicht nach wohl sehr verwegene und böse Geschichte, aber sicherlich nicht die eines Verbrechens oder irgendwie in Verbindung mit mir. Nach dem Polizeisprachgebrauche würden Sie es wohl Selbstmord nennen. Ich werde es stets heldenhaften Mißerfolg im Interesse wissenschaftlichen Fortschrittes und langsamen Aufstieges zum Himmel nennen.«

Es war das erstemal, daß Flambeau Father Brown unterlegen sah. Dieser saß noch gesenkten Blickes mit schmerzlich gerunzelten Brauen, ja geradezu beschämt. Es war unmöglich, sich dem Gefühle zu entziehen, das des Propheten beschwingte Worte entfacht hatten, daß man hier einen tückischen, berufsmäßigen Verdächtiger seiner Mitmenschen, überwältigt durch einen stolzeren und reineren Geist natürlicher Freiheit und Gesundheit vor sich habe. Endlich raffte er, blinzelnd wie in körperlicher Pein sich zu den Worten auf: »Nun, wenn dem so ist, dann brauchen Sie ja nichts weiter tun, als das Papier mit dem Vermächtnis nehmen, von dem Sie sprachen, und damit abziehen. Ich möchte wissen, wo die Arme es gelassen hat.«

»Es wird drüben auf ihrem Tische an der Türe liegen, denke ich,« erwiderte Kalon mit jener massiven Unschuld in seinem Benehmen, die ihm so ganz angemessen erschien. »Sie hat mir noch besonders gesagt, sie würde es diesen Morgen ausfertigen, und ich sah sie eben schreiben, als ich im Fahrstuhle nach meinem Bureau hinauf fuhr.«

»Stand da die Türe offen?« fragte der Priester, den Blick auf eine Ecke der Binsenmatte niedergeschlagen.

»Ja,« versetzte Kalon ruhig.

»Ah, sie stand also seitdem offen,« bemerkte der andere und fuhr fort, die Mattenecke zu studieren.

»Es liegt ein Papierblatt dort drüben,« warf Johanna Stacey mit etwas merkwürdiger Stimme ein. Sie durchschritt die Türe, ging nach dem Pulte ihrer Schwester hinüber und hielt ein Blatt bläulichen Propatriapapieres in der Hand. Auf ihrem Gesichte lag ein saures Lächeln, das für einen solchen Fall wenig passend erschien, und Flambeau blickte mit gerunzelten Brauen nach ihr.

Kalon, der Prophet, stand mit jener königlichen Unbewußtheit dem Papiere fern, die er bisher zur Schau getragen hatte. Flambeau nahm es ihr aus der Hand und las mit zunehmender Verwirrung. Es begann in der Tat in der üblichen Form eines Testamentes, doch nach den Worten »ich schenke und vermache alles, was ich besitze« brach die Schrift plötzlich mit einer Reihe von Kritzern ab und jede Spur eines Namens oder Erben fehlte. Verwundert reichte Flambeau dieses verstümmelte Testament seinem geistlichen Freunde hin, der einen Blick darauf warf und es schweigend dem Sonnenpriester übergab.

Nur einen Augenblick, dann hatte dieser Hohenpriester in seinen glänzenden, wallenden Gewändern mit zwei großen Schritten den Raum durchmessen und sich vor Johanna hinpflanzend schienen seine blauen Augen aus dem Kopfe treten zu wollen.

»Welchen Schurkenstreich haben Sie da vollführt?« schrie er sie an. »Das ist nicht alles, was Pauline schrieb!«

Zum Erstaunen der anderen war es eine ganz neue Stimme, die da auf einmal in schrillem Yankee-Englisch sprach; wie ein Mantel war all sein Großtun und seine gewählte Aussprache von ihm gefallen.

»Das ist alles, was auf ihrem Pulte lag,« versetzte Johanna, die ihm immer noch mit demselben sauren Lächeln auf den Lippen gegenüberstand.

Plötzlich brach der Mann in die greulichsten Flüche und Gotteslästerungen und in einen Schwall von Verwünschungen aus. Es lag etwas Erschütterndes in diesem plötzlichen Abfallen der Maske, es sah aus, wie wenn jemands wahres Gesicht plötzlich von ihm fiele.

»Hören Sie,« schrie er, fast atemlos vom Fluchen in breitestem Amerikanisch, »und wenn ich auch tausendmal ein Abenteurer bin, Sie sind eine Mörderin! Ja, Gentlemen, da haben wir die Erklärung des Todes in Ihrem Sinne und ohne jede Verzückung. Das arme Ding schreibt sein Testament zu meinen Gunsten, da kommt ihre verfluchte Schwester dazu, ringt mit ihr um die Feder, zerrt sie nach dem Schachte und stößt sie hinab, ehe sie zu Ende schreiben kann. Verdammt! Wir werden die Handschellen doch noch brauchen!«

»Wie Sie ganz richtig bemerkt haben,« antwortete Johanna mit widerlicher Ruhe, »ist Ihr Bursche ein durchaus anständiger junger Mann, welcher weiß, was ein Eid ist. Und er kann vor jedem Gerichtshofe beschwören, daß ich mit einer Schreibarbeit in Ihrem Bureau oben war, und zwar fünf Minuten, ehe meine Schwester herabstürzte. Mr. Flambeau wird Ihnen bestätigen, daß er mich dort gefunden hat.«

Alles schwieg.

»Demnach,« rief Flambeau, »war Pauline allein, als sie abstürzte und es war Selbstmord!«

»Sie war allein, als sie abstürzte,« erwiderte Father Brown, »aber es war nicht Selbstmord.«

»Aber wie ist sie dann umgekommen?« fragte Flambeau ungeduldig.

»Sie wurde ermordet.«

»Aber sie war doch ganz allein!«

»Sie wurde ermordet, während sie ganz allein war,« versetzte der Priester.

Alle starrten ihn an, doch er verharrte in der gleichen bisherigen Stellung, die runde Stirne von einer Falte durchfurcht und unpersönliche Scham und Sorge im Ausdruck, während die Stimme farblos und gedrückt klang.

»Was ich wissen möchte,« schrie Kalon, »ist, wann die Polizei kommt, diese blutbefleckte, verruchte Schwester zu holen. Sie hat ihr Fleisch und Blut getötet, sie hat mir eine halbe Million geraubt, die ebenso rechtmäßig mir gehörte, wie –«

»Komm, komm, Prophet,« unterbrach Flambeau nicht ohne einen gewissen Hohn, »denk' daran, daß diese ganze Welt ja doch nur ein Nebelland ist.«

Der Hierophant des Sonnengottes nahm einen Anlauf, seine Pose wieder aufzunehmen. »Es ist nicht allein des Geldes wegen,« schrie er, »obwohl damit unsere Sache in der ganzen Welt auf eine sichere Grundlage gestellt gewesen wäre. Es handelt sich auch um die Wünsche meiner Geliebten. Für Pauline war all dies heilig. In Paulinens Augen –«

Father Brown sprang plötzlich auf, so plötzlich, daß sein Stuhl sich rückwärts überschlug. Er war totenblaß, und dennoch schien er von einer Hoffnung entflammt, und sein Auge funkelte.

»Das ist es,« rief er mit klarer Stimme. »Das ist der Weg, von dem man ausgehen muß. In Paulinens Augen –«

Der große Prophet wich vor dem unscheinbaren Priester in fast wahnsinniger Verwirrung zurück. »Was meinen Sie? Wie können Sie es wagen?« rief er immer wieder von neuem.

»In Paulinens Augen,« nahm der Priester unbeirrt den Gedanken wieder auf, während seine Augen an Glanz zunahmen. »Fahren Sie fort – in Gottes Namen, fahren Sie fort! Das gemeinste Verbrechen, das der Teufel eingab, wird durch ein Geständnis leichter, und ich flehe Sie an, bekennen Sie! Fahren Sie fort! Fahren Sie fort! – in Paulinens Augen –«

»Laß mich, du Teufel,« donnerte Kalon, sich windend wie ein gefesselter Riese. »Wer bist du, du verdammter Spion, daß du deine Spinnennetze um mich ziehst und mir auflauerst. Laß mich, laß mich!«

»Soll ich ihn halten?« fragte Flambeau, indem er den Ausgang verlegte, denn Kalon hatte bereits die Türe weit aufgerissen.

»Nein, lassen Sie ihn laufen,« sagte Father Brown mit einem seltsamen tiefen Seufzer, der aus den Tiefen des Weltalls zu kommen schien. »Lassen Sie Kain laufen, denn er gehört Gott.«

Schweigen herrschte im Zimmer, als er gegangen war, ein Schweigen, das für Flambeaus ungestüme Natur zu einer schier endlosen Pein der Neugier wurde. Johanna Stacey schob inzwischen kühl die Papiere auf ihrem Platze zusammen.

»Father,« begann Flambeau endlich, »meine Pflicht, nicht allein meine Neugier treibt mich, wenn möglich herauszubekommen, wer das Verbrechen begangen hat.«

»Welches Verbrechen?« fragte dieser.

»Das, mit dem wir es hier zu tun haben, natürlich,« erwiderte der ungeduldige Freund.

»Wir haben es mit zwei Verbrechen zu tun,« erklärte Brown, »Verbrechen von sehr verschiedenem Gewichte – und mit sehr verschiedenen Verbrechern.«

Johanna Stacey machte sich, nachdem sie ihre Papiere beisammen und weggeräumt hatte, daran, den Aktenschrank zu schließen, während Father Brown fortfuhr, sie so wenig zu beachten, wie sie ihn.

»Die beiden Verbrechen,« fuhr er fort, »richteten sich beide gegen dieselbe Schwäche und gegen dieselbe Person im Kampfe um ihr Geld. Wer das größere Verbrechen beging, fand seinen Plan durch das kleinere Verbrechen durchkreuzt, und der das kleinere Verbrechen beging, bekam das Geld.«

»O, hören Sie doch einmal auf mit Ihrem Vorleserton,« wehrte Flambeau. »Sagen Sie doch alles mit ein Paar Worten rund heraus!«

»Es läßt sich in ein einziges Wort fassen,« antwortete sein Freund.

Johanna Stacey spießte sich ihren schwarzen Geschäftshut mit geschäftlichem Stirnrunzeln vor einem kleinen Spiegel auf den Kopf, nahm, während die Unterhaltung ruhig weiterging, ohne jede Übereilung Schirm und Handtasche und verließ den Raum.

»Die Wahrheit liegt in einem einzigen Worte und ist sehr kurz,« sagte Father Brown. »Pauline Stacey war blind.«

»Blind!« schrie Flambeau und erhob sich langsam zu voller Höhe.

»Es lag in ihrem Blute. Ihre Schwester wollte eine Brille tragen, wenn Pauline es ihr erlaubt hätte, aber sie hatte nun einmal ihre besondere Philosophie oder Liebhaberei, man müsse solche Schwächen nicht ermutigen, indem man ihnen nachgebe. Sie wollte die Wolke nicht zugeben oder versuchte, sie durch ihren Willen zu zerstreuen. Somit wurden ihre Augen schlimmer und schlimmer von der Anstrengung, aber die schlimmste sollte erst kommen. Und sie kam mit diesem kostbaren Propheten oder was er sich nennt, der mit nacktem Auge in die Sonne zu starren lehrt. Das hieß »Apoll empfangen«. O, wären doch diese Neuheiden wenigstens Altheiden, sie wären dann doch ein wenig weiser! Die alten Heiden wußten, daß reine nackte Naturverehrung ihre grausame Seite haben muß. Sie wußten, daß das Auge Apollos versengen und blenden kann!«

Nach einer kurzen Pause fuhr der Priester in mildem und fast gebrochenem Tone fort. »Ob nun jener Teufel sie vorsätzlich zur Blinden machte oder nicht, daran ist kein Zweifel, daß er sie vorsätzlich durch ihre Blindheit tötete. Die Einfachheit des Verbrechens allein schon ist entsetzlich. Sie wissen, er und sie gingen in diesen selbsttätigen Fahrstühlen auf und nieder; Sie wissen auch, wie sanft und lautlos diese Aufzüge dahingleiten. Kalon brachte den Fahrstuhl bis dorthin, wo sie ausstieg und sah sie durch die offene Türe in ihrer bedächtigen Blindenart das Vermächtnis schreiben, das sie ihm versprochen hatte. Unbefangen rief er ihr zu, er habe den Fahrstuhl für sie bereitgestellt, sie sollte herauskommen, wenn sie fertig wäre. Dann drückte er auf den Knopf und glitt lautlos nach seinem Stockwerke hinauf und betete in Sicherheit vor der belebten Straße, als das arme Ding, nachdem es fertig war, froh hinauseilte, wo der Fahrstuhl und ihr Geliebter sie aufnehmen sollten, und trat –«

»Genug!« schrie Flambeau.

»Eine halbe Million sollte es ihm eingebracht haben, auf jenen Knopf zu drücken,« erklärte der kleine Geistliche in jener farblosen Stimme, mit der er von solchen Schrecknissen sprach, »Aber es ging fehl. Es mißlang, weil zufällig eine andere Person da war, welche gleichfalls das Geld für sich haben wollte und gleichfalls das Geheimnis von Paulinens Blindheit kannte. Es ist etwas an jenem Testament, was, glaube ich, niemand beachtet hat. Obschon es unvollendet und ohne Unterschrift war, hatten dennoch die andere Miß Stacey und irgend ein Dienstbote vor ihr als Zeugen unterfertigt. Johanna hatte zuerst unterfertigt und mit typisch weiblichem Sichhinwegsetzen über gesetzliche Formalitäten zu Pauline geäußert, sie könne es ja nachher vollenden. Weshalb wollte Johanna, daß ihre Schwester das Testament ohne wirkliche Zeugen unterschreibe? Ich dachte an die Blindheit und hatte das ganz sichere Gefühl, sie wollte, daß Pauline es in niemands Beisein unterzeichne, denn ihr lag daran, daß es überhaupt nicht unterzeichnet werde.«

»Leute wie die Staceys gebrauchen immer Füllfedern; das war aber bei Pauline ganz besonders natürlich. Durch Gewohnheit und ihren starken Willen und ihr Gedächtnis konnte sie beinahe noch ebensogut schreiben wie vorher, als sie noch ihr Augenlicht besaß, aber sie konnte nicht sehen, wann ihre Feder ausgelaufen war. Daher waren ihre Füllfedern von ihrer Schwestern stets sorgfältig gefüllt mit Ausnahme jener einen; diese eine war von ihrer Schwester sorgfältig nicht gefüllt. Der Tintenrest reichte für ein paar Zeilen und versagte dann ganz. Und der Prophet verlor dadurch fünfmalhunderttausend Pfund und beging einen der brutalsten und genialsten Morde in der menschlichen Geschichte – um nichts.«

Flambeau trat an die offene Türe und hörte die Polizeibeamten die Treppe heraufkommen. »Sie müssen alles verdammt genau verfolgt haben,« wandte er sich an Father Brown, »um in zehn Minuten Kalons Verbrechen auf die Spur zu kommen.«

Der Angeredete blickte ihn erstaunt an.

»O, Kalon!« sagte er. »Nein, ich mußte ziemlich scharf der anderen Spur folgen, Fräulein Johanna und der Füllfeder. Aber ich wußte, daß Kalon der Verbrecher war, noch ehe ich die Haustüre betrat.«

»Sie scherzen wohl!« rief Flambeau.

»Ganz mein Ernst! Ich sage Ihnen, ich wußte, er hat es getan, noch ehe ich wußte, was es war.«

»Aber wieso denn?«

»Diese heidnischen Stoiker,« erklärte Brown nachdenklich, »fehlen immer durch ihre Übertreibung. Es erhob sich ein Lärm und ein Menschenauflauf auf der Straße unten und der Priester Apolls blickte nicht im mindesten darnach hin. Was es war, wußte ich noch nicht, aber ich wußte, daß er darauf gewartet hatte.«


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