Gilbert Keith Chesterton
Ein Pfeil vom Himmel
Gilbert Keith Chesterton

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Der geflügelte Dolch

Pater Brown wurde es zu einer bestimmten Zeit seines Lebens recht schwer, seinen Hut an einem Garderobenständer aufzuhängen, ohne einen leichten Schauer zu unterdrücken. Diese Idiosynkrasie entsprang freilich nur einer nebensächlichen Episode in einem Komplex von Ereignissen, aber vielleicht der einzigen, die den Vielbeschäftigten später noch an den Fall erinnerte. Sie hing mit denselben Tatsachen zusammen, die den Polizeiarzt Boyne dazu veranlaßten, an einem frostkalten Dezembermorgen nach dem Priester zu schicken.

Dr. Boyne, ein großer, brünetter Ire, gehörte zu den rätselhaften Söhnen Erins, die man überall auf der Welt findet: sie reden ein Langes und Breites über wissenschaftlichen Skeptizismus, Materialismus und Zynismus; wo aber ein religiöser Ritus ins Spiel kommt, fällt es ihnen nicht im Traume ein, etwas anderes zu Rate zu ziehen als die traditionelle Religion ihres Vaterlandes. Es läßt sich schwer feststellen, ob ihr Glaubensbekenntnis aus einem oberflächlichen Firnis oder einer soliden Grundlage besteht; vermutlich aus beidem und einer Zwischenschicht von Materialismus. Wie dem auch sei, jedenfalls ließ der Arzt den Priester immer dann rufen, wenn es sich um einen ähnlichen Fall zu handeln schien, ohne jedoch viel Wert auf diese besondere Seite der Angelegenheit zu legen.

»Eigentlich weiß ich gar nicht, ob ich Sie brauche«, begrüßte er den Priester. »Ich weiß überhaupt noch herzlich wenig. Hol' mich der Teufel, mir ist doch noch nicht mal klar, ob dieser Fall einen Arzt, einen Polizisten oder einen Priester angeht.«

»Nun,« sagte Pater Brown lächelnd, »da Sie doch sowohl Arzt als Polizist sind, bilde ich jedenfalls eine Minorität.«

»Aber eine unterrichtete Minorität, wie es in der Politik heißt«, erwiderte der Arzt. »Damit meine ich, daß Sie schon in unserem Ressort gearbeitet haben. Aber es ist eben verflucht schwer zu entscheiden, ob der bewußte Fall in Ihr Fach schlägt oder in unseres oder gar ganz einfach in das Ressort eines Irrenarztes gehört. Ein Mann, der hier in der Nähe wohnt – in dem weißen Haus, das Sie da oben auf dem Hügel sehen – hat uns eben einen Boten geschickt: er bittet um Hilfe, weil er in mörderischer Absicht verfolgt wird. Wir haben bereits so gut als möglich recherchiert. Am besten erzähle ich Ihnen von Anfang an, wie nach unserer Annahme der Fall sich bis jetzt entwickelt hat. Wie es scheint, hat ein gewisser Aylmer, ein reicher Gutsbesitzer aus dem Westen Englands, sich spät verheiratet und drei Söhne gehabt: Philipp, Stefan und Arnold. Als er aber noch Junggeselle war und nicht auf einen Erben hoffte, hatte er einen sehr begabten und vielversprechenden Jungen namens John Strake adoptiert. Die Abstammung des Jungen ist dunkel; er gilt für ein Findelkind, andere behaupten sogar, er sei Zigeuner. Wahrscheinlich hängt diese zweite Vermutung mit dem Umstand zusammen, daß der alte Aylmer sich als Greis mit allen möglichen trüben okkultistischen Dingen befaßt hat, wie Chiromantie und Astrologie; seine drei Söhne behaupteten, daß Strake ihn darin bestärkte. Aber sie haben auch sonst noch eine Menge gesagt. Daß Strake ein erstaunlicher Schurke und besonders ein erstaunlicher Lügner war; daß er es auf geniale Weise verstand, aus dem Stegreif Lügen zu erfinden und sie so überzeugend vorzutragen, daß sogar die Polizei ihm darauf hereinfiel. Aber möglicherweise ist das ein natürliches Vorurteil, wenn man bedenkt, was nachher geschah. Der Alte hinterließ nämlich so gut wie alles dem adoptierten Sohn, und nach seinem Tode fochten die drei Söhne das Testament an. Sie führten an, daß ihr Vater solange in Angst versetzt worden sei, bis er nachgab, oder, um es geradeheraus zu sagen, bis er das letzte bißchen Verstand verlor. Sie behaupteten, daß Strake es auf die sonderbarste und gerissenste Weise fertigbrachte, zu ihm vorzudringen, obwohl die Pflegerinnen und die Familie auf der Lauer lagen, und ihn noch auf dem Sterbebett terrorisierte. Jedenfalls ist es ihnen gelungen, etwas über den Geisteszustand des Alten zu beweisen, denn die Gerichte erklärten das Testament für ungültig, und die Söhne erbten das Vermögen. Strake soll einen furchtbaren Wutanfall gehabt und geschworen haben, sie alle drei nacheinander zu ermorden; kein Versteck sollte sie vor seiner Rache schützen. Jetzt hat sich der dritte und letzte der Brüder, Arnold Aylmer, an die Polizei um Schutz gewendet.«

»Der dritte und letzte«, sagte der Priester und sah ihn ernst an.

»Jawohl«, erwiderte Boyue. »Die beiden anderen sind tot.«

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, dann fuhr er fort: »Hier beginnt die Sache unklar zu werden. Beweise, daß sie ermordet wurden, liegen nicht vor – aber es ist nicht ausgeschlossen. Der Älteste, der sich als Grundbesitzer aufs Land zurückzog, soll in seinem Garten Selbstmord begangen haben. Der zweite, der sich als Fabrikant etablierte, wurde in seiner Fabrik von einer Maschine tödlich verletzt; es ist möglich, daß er gestolpert und gefallen ist. Wenn Strake sie aber wirklich beide umgebracht hat, ist die Art und Weise, wie er es anstellt und sich dann aus dem Staube macht, wirklich außerordentlich geschickt. Andererseits ist es mehr als wahrscheinlich, daß die ganze Sache auf eine Verschwörungsmanie hinausläuft, die nur auf einen Zufall zurückgeht. Passen Sie mal auf, was ich möchte. Ich möchte, daß ein vernünftiger Mensch, aber kein Beamter, hingeht, mit dem Arnold Aylmer redet und sich den Mann anguckt. Sie wissen ja, wie ein Mensch aussieht, der eine fixe Idee hat, und wie sich einer benimmt, der die Wahrheit spricht. Bilden Sie die Vorhut, bevor wir die Sache in die Hand nehmen.«

»Schön«, sagte Pater Brown einfach. »Wenn Sie wollen, besuche ich ihn gleich jetzt.«

Das hügelige Land rings um die kleine Stadt war vom Frost in Fesseln geschlagen, der Himmel so blau und kalt wie Stahl. Nur im Nordosten begannen Wolken mit schwefligem Rand am Himmel hochzusteigen. Gegen diesen Hintergrund von dunklen und drohenden Farben erglänzte das Haus auf dem Hügel mit einer Reihe von blassen Pfeilern, die nach klassischem Muster einen kurzen Säulengang bildeten. Eine Straße führte in Windungen über die Schwellung des Hügels und verschwand in einem dunklen Gebüsch. Kurz bevor er die Büsche erreichte, wurde die Luft kälter und kälter, als nähere der Priester sich einem Eiskeller oder dem Nordpol. Da er aber ein höchst praktisch veranlagter Mensch war, der Phantasien nur als solchen Raum gönnte, schielt er nur einen Augenblick lang nach der großen fahlen Wolke, die über dem Hause heraufkroch, und bemerkte in heiterem Tone:

»Es wird bald schneien.«

Das Haus bestand nur aus einem einzigen Gebäude und war nicht größer als eine Villa, aber von mehreren Seiten zugänglich, wie man das bei alten Landhäusern in England oft sieht. Er konnte sich nicht schlüssig werden, wo der eigentliche Eingang zu finden sei, und trat durch eine geöffnete Glastür in ein Zimmer, das zentral gelegen und auf altmodische Weise mit Polstermöbeln ausgestattet war. Auf einer Seite führte eine Treppe nach oben, auf der andern lag eine zweite Tür, und gerade gegenüber eine dritte, in die eine rote Butzenscheibe von fragwürdigem Geschmack eingelassen war. Auf einem runden Tischchen zur Rechten sah er eine Art Aquarium – ein großes Glasgefäß mit grünlichem Wasser, in dem Fische und ähnliche Geschöpfe sich wie in einer Zisterne bewegten; gerade gegenüber stand eine Pflanze von der Gattung Palme mit sehr großen grünen Blättern. All dies sah staubig und sehr nach der Mitte des vorigen Jahrhunderts aus, und das Telephon, das hinter der Draperie des Alkovens sichtbar wurde, wirkte beinahe überraschend.

»Wer ist das?« rief eine scharfe und mißtrauische Stimme hinter der Glastüre.

»Kann ich Herrn Aylmer sprechen?« erwiderte der Priester in begütigendem Ton.

Die Tür ging auf, und ein Herr in einem pfauenblauen Schlafrock trat mit fragendem Ausdruck herein. Sein Haar war struppig und etwas unordentlich, als sei er eben erst aufgestanden oder gewohnt, sich sehr langsam anzuziehen, aber seine Augen blickten nicht nur wach, sondern gespannt, vielleicht sogar erschreckt. Pater Brown konnte sich vorstellen, daß dieser Widerspruch nichts Unnatürliches hatte bei einem Menschen, der unter der Wolke einer Einbildung oder einer Gefahr seelisch gelitten hatte. Der Mann hatte ein schönes Adlerprofil, aber von vorn gesehen, herrschte der unordentliche, ja wilde Eindruck vor, den sein ungepflegter brauner Bart hervorrief.

»Ich bin Aylmer,« sagte er, »aber ich bin nicht mehr daran gewöhnt, Gäste zu erwarten.«

Irgendein Ausdruck in den unruhigen Augen des Herrn Aylmer bewog den Priester, sofort zur Sache zu kommen. Wenn der Mann wirklich nur an Verfolgungswahn litt, würde er es wohl um so weniger übelnehmen.

»Ist das auch sicher richtig,« sagte er leise, »daß Sie keine Gäste erwarten?«

»Sie haben recht,« erwiderte der andere, »ich erwarte stets einen Gast. Und es kann sein, daß er der letzte ist.«

»Das will ich nicht hoffen«, sagte Pater Brown. »Jedenfalls aber beruhigt mich die Annahme, daß ich ihm nicht sehr ähnlich sehe.«

Herr Aylmer schüttelte sich mit einem etwas grimmigen Lachen. »Ganz gewiß nicht«, sagte er.

»Herr Aylmer,« sagte der Priester offen, »verzeihen Sie die Freiheit, die ich mir herausnehme. Einige Freunde haben mir gesagt, welche Sorgen Sie bedrücken, und mich gebeten, Ihnen, wenn möglich, zu helfen. Um die Wahrheit zu sagen: ich bin in diesen und ähnlichen Dingen nicht ganz unerfahren.«

»Es gibt keine ähnlichen Dinge«, sagte Aylmer.

»Sie meinen,« bemerkte Brown, »daß die Tragödien in ihrer bedauernswerten Familie keine normalen Todesfälle waren.«

»Ich meine, daß es nicht einmal normale Mordtaten waren«, erwiderte der andre. »Der Mann, der uns alle in den Tod hetzt, ist ein Höllenhund, und seine Macht ist vom Teufel.«

»Das Böse hat immer nur einen Ursprung«, erwiderte der Priester ernst. »Aber woher wissen Sie, daß es keine normalen Mordtaten waren?«

Aylmer antwortete mit einer Handbewegung auf einen Sessel hin; dann setzte er sich langsam in einen zweiten und zog die Stirne in Falten, indem er seine Hände aus die Knie stützte. Als er wieder aufsah, war sein Ausdruck milder und nachdenklicher, seine Stimme herzlich und ganz ruhig.

»Glauben Sie nicht,« sagte er, »daß ich ein Mensch bin, dem es an klarem Verstand fehlt. Ich habe diese Schlüsse verstandesmäßig gezogen, denn leider führt der Verstand wirklich dorthin. Ich habe sehr viel darüber gelesen, denn ich habe als einziger die Begabung meines Vaters für etwas dunkle Materien geerbt, so wie ich später seine Bibliothek erbte. Trotzdem beruht das, was ich Ihnen erzählen will, nicht auf dem, was ich gelesen, sondern auf dem, was ich gesehen habe.«

Pater Brown nickte, und der andre fuhr fort, als suche er seine Worte zusammen:

»Im Falle meines älteren Bruders war ich zuerst nicht ganz sicher. Es gab dort, wo er erschossen aufgefunden wurde, keine Zeichen oder Fußtapfen, und die Pistole lag neben ihm. Aber er hatte eben einen Drohbrief erhalten; jedenfalls von unserem Feinde, denn er war mit einem geflügelten Dolch gezeichnet, wieder eins seiner verdammten kabbalistischen Mätzchen. Auch hat eines der Dienstmädchen etwas gesehen, das sich in der Dämmerung auf der Gartenmauer fortbewegte und viel zu groß für eine Katze war. Ich will nichts weiter sagen, jedenfalls steht fest, daß der Mörder, wenn er da war, keine Spuren hinterließ. Als aber mein Bruder Stephan starb, lag die Sache anders; und seit damals weiß ich. Eine Maschine war auf einem offenen Gerüst unter dem Fabrikschlot in Arbeit; ich erreichte die Plattform einen Augenblick, nachdem der eiserne Hammer ihn zu Tode getroffen hatte. Ich sah nicht, daß etwas anderes ihn getroffen hätte, aber ich sah das Folgende:

Zwischen mir und dem Schlot trieb eine Wolke von Fabriksrauch, aber durch einen Riß sah ich oben darauf eine dunkle menschliche Gestalt, in etwas gewickelt, das wie ein schwarzer Mantel aussah. Dann kam der schwefelhaltige Dampf wieder dazwischen, und als er vorübergezogen war, sah ich wieder zu dem entfernten Kamin empor. Da war niemand. Ich bin ein Mensch mit gesundem Menschenverstand, und möchte gerne alle Leute mit gesundem Menschenverstand fragen, wie er auf den schwindlig hohen, unzugänglichen Turm gelangt und wieder heruntergekommen ist.«

Er starrte den Priester mit rätselhaft herausforderndem Blick an und sagte nach einer Pause unvermittelt:

»Meinem Bruder war der Kopf zerschmettert worden, aber sein Körper hatte nicht sehr gelitten. In einer Tasche fanden wir wieder eine warnende Botschaft, die vom Tag vorher datiert und mit dem fliegenden Dolch gestempelt war.«

»Haben Sie vielleicht bemerkt, auf was für Papier sie stand?« fragte Pater Brown. »War es gewöhnliches Papier?«

Das sphinxähnliche Gesicht ließ plötzlich ein heiseres Lachen ertönen.

»Sie können sich die Dinger mal selber ansehen,« sagte Aylmer grimmig, »denn ich habe heute morgen auch eines bekommen.« Er lag in den Sessel zurückgelehnt, seine langen Beine staken aus dem blauen Schlafrock, der ihm etwas zu kurz war, sein bärtiges Kinn ruhte auf der Brust. Ohne weitere Bewegung steckte er die Hand tief in die Tasche des Schlafrocks und hielt mit starr ausgestrecktem Arm dem Priester einen Fetzen Papier hin. Seine ganze Haltung drückte, ähnlich wie bei Paralyse, Starrheit und Zusammenbruch zugleich aus. Doch schon die nächste Bemerkung Pater Browns übte eine merkwürdige belebende Wirkung auf ihn aus. Pater Brown blinzelte auf seine kurzsichtige Art nach dem Zettel, den der andre ihm zeigte. Es war ein merkwürdiges Papier, rauh, aber nicht billig, wie aus dem Skizzenbuch eines Künstlers; darauf war in kühnen Umrissen mit roter Tinte ein Dolch mit Hermesflügeln gezeichnet, darunter die Worte: »Am nächsten Tage kommt der Tod zu Dir wie zu Deinen Brüdern.«

Pater Brown warf das Papier zu Boden und setzte sich kerzengerade auf.

»Lassen Sie sich durch dieses Zeug nicht bange machen«, sagte er streng. »Diese Teufel versuchen immer, uns hilflos zu machen, indem sie uns die Hoffnung rauben.«

Zu seinem Erstaunen regte sich die liegende Gestalt in einer plötzlichen Bewegung. Aylmer sprang vom Sessel auf, als sei er aus einem Traum erwacht.

»Sie haben recht, ja, Sie haben recht,« rief er mit unheimlicher Lebhaftigkeit, »und die Teufel werden sehen, daß ich gar nicht so hilflos und hoffnungslos bin. Vielleicht habe ich mehr Hoffnung und bessere Hilfe als Sie glauben.«

Er stand da, die Hände in den Taschen, und starrte mit gerunzelten Brauen den Priester an, der einen Augenblick lang während dieses gespannten Schweigens der Ansicht war, die andauernde Gefahr sei nicht ohne Wirkung auf den Verstand des andern geblieben. Aber als jener sprach, geschah es auf ernste ruhige Weise.

»Ich glaube, daß meine unglücklichen Brüder keinen Erfolg hatten, weil sie nicht die richtigen Waffen benutzten. Philipp trug einen Revolver bei sich, deshalb nahm man bei ihm Selbstmord an. Stefan stand unter polizeilichem Schutz, aber er hatte einen feinen Sinn für das Lächerliche und konnte sich nicht von einem Polizisten auf ein Gerüst begleiten lassen, wo er sich nur einen Augenblick aufhielt. Sie waren beide Spötter und verfielen nach dem sonderbaren Mystizismus, der während seiner letzten Tage um meinen Vater herrschte, in eine skeptische Reaktion. Ich aber wußte immer, daß sie vieles an meinem Vater gar nicht begreifen konnten. Es ist wahr, daß er durch das Studium der Zauberei zuletzt unter den Bann der schwarzen Magie geriet, unter die schwarze Magie dieses Schurken Strake. Aber meine Brüder irrten sich, was das Gegengift angeht. Das Gegengift zu schwarzer Magie ist nicht krasser Materialismus oder weltliche Klugheit. Das Gegengift zu schwarzer Magie ist weiße Magie.«

»Dabei kommt es doch wohl darauf an, was Sie unter weißer Magie verstehen«, sagte Pater Brown.

»Ich meine silberne Magie«, antwortete der andre mit leiser Stimme, als spräche er von einer geheimen Offenbarung. Nach einer Pause fügte er hinzu: »Wissen Sie, was ich unter silberner Magie verstehe? Kommen Sie einen Augenblick mit.«

Er wandte sich um, öffnete die mittlere Tür mit dem roten Glasfenster und ging hinaus. Das Gebäude war weniger tief, als Brown angenommen hatte. Die Tür führte nicht zu Zimmern im Innern des Hauses, sondern auf einen Korridor, an dessen anderm Ende eine Tür sich in den Garten öffnete. An einer Seite des Ganges lag noch eine Tür, zweifellos zum Schlafzimmer des Besitzers, aus dem er in seinem Schlafrock hervorgestürzt war. Auf dieser Seite befand sich nichts weiter als ein gewöhnlicher Kleiderständer mit dem gewöhnlichen Durcheinander von staubigen Überziehern und Hüten; aber auf der anderen gab es Interessanteres zu sehen, nämlich ein sehr dunkles, altes Eichenbüfett, auf dem altes Silber stand, und über dem ein Ornament oder eine Trophäe von alten Waffen aufgehängt war. Dort blieb Arnold Aylmer stehen und blickte zu einer langen, altmodischen Pistole mit glockenförmiger Öffnung empor.

Die Tür am anderen Ende des Korridors war nur angelehnt; durch die Ritze schien ein Streifen weißes Tageslicht. Der Priester hatte in bezug auf Naturerscheinungen einen schnellen Instinkt. Die unnatürliche Weiße dieser schmalen Linie führte ihn darauf, was draußen geschehen war; eben das, was er prophezeit hatte, als er sich dem Hause näherte. Er lief an dem erschreckten Aylmer vorbei und öffnete die Türe; was er sah, war ein glänzendes Nichts. Durch die Türspalte hatte nicht nur das weiße Tageslicht geschienen, sondern die deutlichere Weiße des Schnees. Ringsum war das hügelige Gelände mit der schimmernden Blässe bedeckt, die zugleich ehrwürdig und unschuldig aussieht.

»Da haben wir sie ja, die weiße Magie«, sagte Pater Brown mit seiner heiteren Stimme. Er ging in die Halle zurück und setzte leise hinzu: »Und silberne auch, wie es scheint.« Der weiße Schimmer übergoß das alte Silber auf dem Büfett mit Glanz und ließ den Stahl auf den dunklen Waffen hin und wieder aufleuchten. Der zottige Kopf des grübelnden Aylmer schien von einem feurig-silbrigen Strahlenkranz umgeben, wie er sich so im Dunkeln umwandte – sein Gesicht war im Schatten, in der Hand hielt er die fremdartige Pistole.

»Wissen Sie, warum ich mir gerade diese alte Donnerbüchse ausgesucht habe?« fragte er. »Weil ich sie mit diesen Kugeln laden kann.« Er nahm einen alten silbernen Löffel vom Büfett und brach die Verzierung mit schierer Gewalt ab. »Wir wollen wieder ins andere Zimmer gehen«, sagte er.

»Haben Sie je vom Tode Dundees gehört?« fragte er, als sie wieder saßen. Er hatte sich nach seinem momentanen Ärger über die Unruhe des Priesters wieder besänftigt. »Ich meine den berühmten Graham von Claverhouse, der die Presbyterianer in Schottland verfolgte und ein schwarzes Pferd besaß, das geradeswegs an einem Abgrund hinaufreiten konnte. Er hatte seine Seele dem Teufel verschrieben und konnte nur mit einer silbernen Kugel erschossen werden. Mit Ihnen kann man doch wenigstens reden; Sie wissen genug, um an den Teufel zu glauben.«

»O ja,« erwiderte Pater Brown, »ich glaube an den Teufel. Ich glaube aber nicht an Dundee, das heißt an den Dundee der alten Legenden, mit seinem märchenhaften Pferd. John Graham war nur ein Berufssoldat des siebzehnten Jahrhunderts, vielleicht etwas besser als der Durchschnitt. Die Sorte Prahlhänse verschreibt sich nicht dem Teufel. Die Teufelanbeter, die ich kenne, sehen anders aus. Ich möchte keinen heutigen Namen nennen, um nicht Anstoß zu erregen – nehmen wir einen Zeitgenossen Dundees. Haben Sie je von Dalrymple von Stair gehört?«

»Nein«, erwiderte der andre unfreundlich.

»Aber Sie wissen sicher, was er getan hat«, sagte der Pater; »und das war schlimmer als jedes Verbrechen, das der Dundee begangen haben kann. Trotzdem ist er der Schande entgangen, weil man ihn vergaß. Er war der Mann, der Schuld trug am Massaker von Glencoe. Ein gelehrter Herr und tüchtiger Jurist, ein Staatsmann mit ernsten und weitblickenden Begriffen von Politik, ein ruhiger Mensch mit einem feinen, intelligenten Gesicht. So sehen die Leute aus, die sich dem Teufel verschreiben.«

Aylmer sprang mit allen Anzeichen feuriger Zustimmung halb vom Sessel auf.

»Weiß Gott,« rief er, »Sie haben recht! Ein feines, intelligentes Gesicht – so sieht John Strake aus!«

*

Er erhob sich und sagte mit einem merkwürdig konzentrierten Blick auf den Priester: »Warten Sie einen Augenblick. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«

Er verließ das Zimmer durch die mittlere Tür, die er hinter sich schloß; er wollte zum Büfett, wie der Priester annahm, oder in sein Schlafzimmer. Pater Brown blieb sitzen und starrte zerstreut auf den Teppich, auf den durch das Glasfenster in der Tür ein schwacher rötlicher Schimmer fiel. Einmal erhellte sich der rote Schein wie Rubin, dann wurde er wieder dunkel, als sei die Sonne dieses stürmischen Tages von einer Wolke zur andern gewandert. Nichts rührte sich als die Wassertiere, die in dem grünen Glase hin und her schwammen. Pater Brown dachte angestrengt nach.

Nach ein oder zwei Minuten stand er auf und ging geräuschlos zum Telephon im Alkoven, wo er seinen Freund, den Polizeiarzt, im Hauptbureau der Polizei anrief. »Es handelt sich um Aylmer und seine Angelegenheiten«, sagte er ruhig. »Es ist eine sonderbare Geschichte, aber etwas steckt doch dahinter. An Ihrer Stelle würde ich sofort ein paar Leute heraufschicken, vier oder fünf am besten, und das Haus umstellen lassen. Wenn wirklich etwas passiert, wird der Mörder eine sensationelle Flucht versuchen.«

Dann ging er an seinen Platz zurück und starrte wieder auf den roten Teppich, der nochmals im Lichte der Glasfenster blutrot aufleuchtete. In dem Licht, das da durchs Fenster sickerte, war etwas, das seine Gedanken zu gewissen Grenzen des Denkens trieb, dem weißen Dämmern, bevor die Farben des Tages erstrahlen und den Mysterien, die in den Symbolen der Fenster und Türen abwechselnd erhellt und verdunkelt werden.

Ein unmenschliches Geheul aus einer menschlichen Kehle ertönte hinter der geschlossenen Türe, fast gleichzeitig mit einem Schuß. Bevor der Widerhall erstorben war, wurde die Türe heftig aufgerissen. Aylmer wankte ins Zimmer; sein Schlafrock war halb zerfetzt, die lange Pistole in seiner Hand rauchte noch. Er zitterte am ganzen Körper, aber nicht zum wenigsten vor unnatürlichem Gelächter.

»Gepriesen sei die weiße Magie!« rief er, »gepriesen die silberne Kugel! Der Höllenhund hat einmal zu oft gejagt, meine Brüder sind endlich gerächt.«

Er sank in den Sessel, die Pistole fiel aus seiner Hand auf den Boden. Pater Brown lief an ihm vorüber durch die Glastür und ging den Gang hinunter. Dabei legte er seine Hand an die Tür, die ins Schlafzimmer führte, als wollte er eintreten, bückte sich einen Augenblick lang, um etwas zu untersuchen und lief dann zur äußeren Tür, die er öffnete.

Auf der schneeigen Fläche, die vor kurzem noch so leer war, lag ein einziger schwarzer Gegenstand. Beim ersten Blick sah er aus wie eine ungeheure Fledermaus. Beim zweiten jedoch sah man, daß es eine menschliche Gestalt war, die auf dem Gesicht lag, der ganze Kopf mit einem großen schwarzen Filzhut bedeckt, wie ihn die Südamerikaner tragen; der Eindruck von schwarzen Flügeln wurde durch zwei Falten oder lose Ärmel eines riesigen schwarzen Mantels hervorgerufen, die vielleicht durch Zufall auf beiden Seiten in ihrer ganzen Länge ausgebreitet lagen. Beide Hände waren versteckt. Aber Pater Brown glaubte zu sehen, wo die eine lag; daneben glänzte unter dem Saum des Mantels das Metall einer Waffe. Das Ganze sah aus wie ein heraldisches Wappen – ein schwarzer Adler auf weißem Felde. Der Priester ging um die Gestalt herum und erblickte das Gesicht, das wirklich der Beschreibung des andern entsprach; es war fein und intelligent, sogar skeptisch und streng; das Gesicht John Strakes.

*

»Da hört sich doch alles auf«, murmelte Pater Brown. »Es sieht aus wie ein ungeheurer Vampir, der wie ein Raubvogel heruntergestoßen ist.«

»Wie hätte er auch sonst herkommen sollen?« fragte hinter ihm – Pater Brown drehte sich um und sah Aylmer, der in der Türe stand.

»Hätte er nicht zu Fuß kommen können?« erwiderte Brown ausweichend.

Aylmer streckte den Arm aus und beschrieb einen Kreis um die weiße Landschaft.

»Betrachten Sie den Schnee«, sagte er mit tiefer Stimme, die sonderbar vibrierte. »Ist der Schnee nicht unbefleckt – so rein wie die weiße Magie, mit der Sie ihn verglichen haben? Sehen Sie irgendwo einen Flecken außer dem einen scheußlichen schwarzen Klecks, der dort liegt? Keine Fußspuren, außer Ihren und meinen – auch zum Hause führen keine.«

Er sah den kleinen Priester einen Augenblick lang mit einem sonderbar konzentrierten Ausdruck an und sagte:

»Ich werde Ihnen noch etwas sagen. Der Mantel, mit dem er fliegt, ist zum Gehen zu lang. Er war nicht sehr groß – der Mantel hätte hinter ihm hergeschleift wie die Schleppe eines Königs. Wenn Sie wollen, breiten Sie ihn über seinen Körper aus, dann werden Sie es schon sehen.«

»Wie ging die Sache vor sich?« unterbrach Pater Brown.

»So schnell, daß es sich nicht schildern läßt«, antwortete Aylmer. »Ich hatte einen Blick zur Türe hinausgeworfen und wandte mich wieder ins Haus zurück, als plötzlich ein starker Wind um mich zu kreisen begann – als würde ich hoch in der Luft durch ein Rad herumgetrieben. Irgendwie gelang es mir, mich umzudrehen und aufs Geratewohl einen Schuß abzugeben; nachher sah ich nichts, als was Sie jetzt sehen. Aber ich bin überzeugt davon, daß Sie es nicht gesehen hätten, wäre nicht eine Silberladung in meiner Pistole gewesen. Dort im Schnee hätte ein anderer Körper gelegen.«

»Ja,« bemerkte Pater Brown, »wollen wir ihn denn übrigens dort im Schnee liegen lassen? Oder soll man ihn in Ihr Zimmer bringen. – Das ist doch Ihr Schlafzimmer dort im Gang?«

»Nein, nein,« erwiderte Aylmer hastig, »wir müssen ihn dort liegen lassen, bis die Polizei ihn gesehen hat. Außerdem kann ich wirklich im Moment nichts mehr vertragen. Komme was da wolle, ich muß einen Schluck Kognak trinken. Nachher kann man mich meinetwegen aufknüpfen.«

Im Zimmer fiel Aylmer zwischen Palme und Aquarium in einen Sessel. Als er ins Zimmer torkelte, hätte er beinahe das Glas mit den Fischen umgestoßen. Den Kognak fand er endlich, nachdem er mit der Hand vergeblich in mehrere Fächer und Winkel gefahren war. Sehr pedantisch hatte er schon früher nicht ausgesehen; aber in diesem Augenblick mußte er wohl furchtbar zerstreut sein. Er trank einen langen Schluck und fing an, fieberhaft zu reden, als wollte er eine Pause ausfüllen.

»Ich merke, daß Sie noch immer zweifeln,« sagte er, »obwohl Sie es mit Ihren eigenen Augen gesehen haben. Glauben Sie mir, hinter dem Kampf, der zwischen dem Geiste Strakes und dem Geiste der Familie Aylmer ausgefochten wurde, steckte noch mehr. Aber Sie dürften doch nicht ungläubig sein! Sie müßten für all das eintreten, was dumme Leute Aberglauben nennen. Sagen Sie, glauben Sie nicht, daß in diesen Altweibergeschichten von Glück und Amuletten und so weiter, Silberkugeln eingeschlossen, viel Wahrheit verborgen ist? Was sagen Sie dazu, als Katholik?«

»Ich sage, daß ich ungläubig bin«, erwiderte der Pater lächelnd.

»Unsinn«, sagte Aylmer ungeduldig. »Es gehört doch zu Ihrem Beruf, an solche Sachen zu glauben.«

»Na ja,« gab Pater Brown zu, »ich glaube natürlich an manches, und deshalb glaube ich wieder an anderes nicht.«

Aylmer beugte sich nach vorn; er sah den Priester mit einer seltsamen Intensität an, die fast an einen Hypnotiseur erinnerte.

»Sie glauben doch daran«, sagte er. »Sie glauben an alles. Wir alle glauben alles, auch wenn wir alles leugnen. Die Leugner glauben an alles. Wir alle glauben alles, Sie nicht zutiefst, daß all diese Widersprüche sich nicht widersprechen? Daß es einen Kosmos gibt, in dem sie alle Platz finden? Die Erde dreht sich auf einem Sternenrade. Alles kehrt wieder, vielleicht haben Strake und ich schon in vielen Verkörperungen gekämpft, Tier gegen Tier, Vogel gegen Vogel, und werden so weiter kämpfen in alle Ewigkeit. Doch da wir einander suchen und brauchen, ist selbst dieser ewige Haß nur die ewige Liebe. Das Gute und das Böse drehen sich in einem Rade, das nur Eins ist und nicht Vieles. Erkennen Sie nicht in Ihrem Innern, glauben Sie nicht hinter all Ihrem Glauben, daß es nur eine Wirklichkeit gibt, von der wir bloß Schatten sind? Daß alle Dinge nur verschiedene Ansichten von einem einzigen sind: einem Zentrum, das Gott mit den Menschen verschmilzt und die Menschen mit Gott?«

»Nein«, sagte Pater Brown.

Draußen fing es an zu dämmern; es war um die Zeit, wo an einem schneebeladenen Abend die Erde heller aussieht als der Himmel. Unter dem Dach des Haupteingangs, durch ein halbverhangenes Fenster, sah Pater Brown eine vierschrötige Gestalt. Er blickte unauffällig durch die Glastüre, bei der er zuerst hereingekommen war, und sah, daß auch sie durch zwei genau so bewegungslose Gestalten verdunkelt wurde. Die innere Tür mit den Butzenscheiben war nur angelehnt, und im Gang dahinter konnte er zwei lange Schatten bemerken, die vom gleichmäßigen Abendlicht vergrößert und verzerrt waren, aber doch wie zwei graue Karikaturen von Männern aussahen. Dr. Boyne hatte dem Telephonanruf bereits Folge gegeben. Das Haus war umstellt.

»Weshalb sagen Sie nein?« fuhr der andre fort. Er starrte den Priester weiter hypnotisch an. »Einen Teil des ewigen Dramas haben Sie mit eignen Augen gesehen. Sie haben die Drohung John Strakes gehört, Arnold Aylmer durch schwarze Magie zu töten. Sie haben gesehen, wie Arnold Aylmer durch Weiße Magie John Strake tötete. Sie sehen, daß Arnold Aylmer lebt und zu Ihnen redet. Und Sie glauben noch immer nicht?«

»Nein, ich glaube nicht daran«, sagte Pater Brown und stand auf wie jemand, der einen Besuch beendet.

»Warum nicht?« fragte der andre.

Der Priester hob nur wenig die Stimme, aber sie klang bis in die letzte Ecke des Zimmers wie eine Glocke.

»Weil Sie nicht Arnold Aylmer sind«, sagte er. »Ich weiß, wer Sie sind. Sie heißen John Strake, und Sie haben den letzten der Brüder ermordet, der jetzt draußen im Schnee liegt.

Um die Iris im Auge des andern erschien ein weißer Streifen. Er schien mit hervortretenden Augäpfeln einen letzten Versuch zu machen, den Priester zu hypnotisieren und zu besiegen. Dann machte er eine schnelle Bewegung zur Seite; aber im gleichen Augenblick öffnete sich die Tür hinter ihm, und ein großgewachsener Polizist in Zivil legte ihm ruhig die Hand auf die Schulter. Die andre Hand hing herab, aber sie umschloß eine Pistole. Der Mann sah sich wild um; Polizisten in Zivil füllten alle Ecken des stillen Zimmers.

Am gleichen Abend hatte Pater Brown mit Dr. Boyne eine zweite und längere Unterredung über die Tragödie im Hause Aylmer. Zu der Zeit standen die wichtigen Tatsachen des Falls bereits außer Zweifel, denn John Strake hatte sich zu seinem Namen bekannt, ja sogar zu seinen Verbrechen: eigentlich wäre es richtiger zu sagen, daß er sich seiner Siege rühmte. Verglichen mit der Tatsache, daß er sein Lebenswerk abgeschlossen hatte und Arnold Aylmer eine Leiche war, war alles andre, sogar das Leben selbst, ihm scheinbar gleichgültig.

»Der Mann leidet an einer Monomanie«, sagte Pater Brown. »Ihn interessiert nichts anderes, nicht einmal ein andrer Mord. Dafür bin ich ihm eigentlich verpflichtet; denn mit diesem Gedanken habe ich mich heute nachmittag des öfteren trösten müssen. Wie Sie sich jedenfalls selbst gesagt haben, hätte er, anstatt die wilde aber geistreiche Erzählung über geflügelte Vampire und Silberkugeln auszuspinnen, mir einfach mit einer gewöhnlichen Bleikugel den Garaus machen und gemütlich das Haus verlassen können. Ich versichere Sie, daß mir der Gedanke öfters gekommen ist.«

»Ich verstehe noch nicht, warum er es nicht getan hat«, bemerkte Boyne. »Aber ich verstehe überhaupt noch nichts. Wie in aller Welt haben Sie es entdeckt, und was haben Sie entdeckt?«

»Ach, Sie hatten mir sehr wertvolle Auskünfte gegeben«, erwiderte Brown bescheiden, »besonders die eine Auskunft, die wirklich wichtig war. Ich meine damit die Bemerkung, daß Strake ein sehr erfindungsreicher und phantasievoller Lügner war, der seine Lügen mit großer Geistesgegenwart vorzubringen pflegte. Heute nachmittag hatte er diese Gabe bitter nötig; aber er hat auch nicht versagt. Sein einziger Fehler war vielleicht, daß er sich zu einer übernatürlichen Geschichte entschloß – er dachte, ich würde alles glauben, weil ich ein Geistlicher bin. Viele Leute bilden sich solche Dinge ein.«

»Aber ich kenne mich absolut nicht aus«, sagte der Arzt. »Fangen Sie doch, bitte, mit dem Anfang an.«

»Der Anfang war ein Schlafrock«, erwiderte Pater Brown einfach. »Die einzige gute Verkleidung, die mir je untergekommen ist. Wenn man in einem Hause einen Mann im Schlafrock antrifft, nimmt man ganz automatisch an, daß er sich in seinem eignen Hause befindet. Auch ich dachte das; aber in Kürze passierten einige merkwürdige Dinge. Als er die Pistole herunternahm, drückte er mit ausgestrecktem Arm den Hahn, wie man das zu machen pflegt, um sich zu vergewissern, daß eine fremde Waffe nicht geladen ist; aber natürlich hätte er wissen müssen, ob die Pistolen in seinem eignen Korridor geladen waren oder nicht. Dann gefiel mir auch nicht, wie er nach dem Kognak suchte, und wie er beinahe das Aquarium umstieß. Wenn jemand einen so zerbrechlichen Gegenstand im Zimmer hat, gewöhnt er sich ganz mechanisch daran, nicht anzustoßen. Aber das konnten alles nur Einbildungen sein; der erste wichtige Punkt war folgender: Er kam aus dem kleinen Korridor zwischen den zwei Türen, wo sich nur eine einzige Tür in ein andres Zimmer befindet. Deshalb nahm ich an, daß es sein Schlafzimmer war, das er eben verlassen hatte. Ich probierte die Klinke; die Tür war verschlossen. Das schien mir sehr sonderbar, und ich blickte durchs Schlüsselloch. Es war ein völlig leeres Zimmer, das offenbar nicht gebraucht wurde; kein Bett drin oder sonst was. Er war also nicht aus dem Zimmer gekommen, sondern von draußen. Und sobald ich das sah, da stieg, glaube ich, das ganze Bild vor mir auf.

Der arme Arnold Aymler schlief und lebte jedenfalls oben. Er kam im Schlafrock herunter und ging durch die rote Glastür. Am Ende des Korridors, schwarz gegen das Licht des Wintertages, sah er den Feind des Hauses stehen. Er sah einen großen Mann mit einem Bart, in einem breitkrämpigen Hut und einem weiten, wehenden schwarzen Mantel. Viel mehr hat er auf dieser Erde nicht gesehen. Strake stürzte sich auf ihn, um ihn zu erdrosseln oder zu erstechen; das werden wir bei der Leichenschau erfahren. Dann hörte Strake, während er in dem engen Gange zwischen dem Kleiderständer und dem alten Büfett stand und triumphierend auf seinen letzten Feind herabsah, ein Geräusch, auf das er nicht vorbereitet war. Er hörte Schritte im Zimmer hinter der Glastür. Das war ich, der eben durch die andre Glastür vom Garten her das Zimmer betrat.

Seine Verkleidung war ein Meisterstück an Geschwindigkeit. Er mußte sich nicht nur umziehen, sondern eine Mär erfinden und aus dem Stegreif dazu! Er legte seinen schwarzen Mantel und Hut ab und zog den Schlafrock des Toten an. Dann machte er etwas ziemlich Grausiges – jedenfalls berührt es meine Einbildungskraft noch grausiger als alles andre. Er hing die Leiche wie einen Überzieher an einen Kleiderhaken. Darüber drapierte er seinen eignen langen Mantel, der noch ein Stück über die Füße reichte; den Kopf bedeckte er völlig mit seinem großen schwarzen Hut. Es war die einzige Möglichkeit, die Leiche in dem kleinen Korridor mit der verschlossenen Türe zu verbergen; aber es war außerordentlich geschickt. Ich bin selbst einmal an dem Kleiderständer vorbeigegangen, ohne zu ahnen, daß er noch etwas andres war, als ein Kleiderständer. Ich glaube, daß diese Ahnungslosigkeit mir auf ewig einen Schauder über den Rücken jagen wird.

Dabei hätte er es belassen können; aber es war jeden Augenblick möglich, daß ich die Leiche entdeckte; und an dem Orte, wo sie hing, machte sie sozusagen eine Erklärung nötig. Er ergriff den kühneren Ausweg, sie selbst zu entdecken und selbst zu erklären. Er vollendete den Wechsel und Austausch der Rollen, indem er die Leiche als Leiche Strakes auf den Schnee hinauswarf. Er tat sein Möglichstes, um Strake als eine Art Harpye zu schildern, die irgendwo in der Luft mit geschwinden Flügeln und tödlichen Krallen lauert; er mußte ja das Fehlen der Fußspuren und noch einiges andre erklären. Einen frechen Zug bewundre ich ganz außerordentlich. Er brachte es doch fertig, einen der Widersprüche in seiner Sache zu einem Beweis zu verkehren! Den Umstand, daß der Mantel zu lang war, erklärte er für einen Beweis, daß der Mann nie wie ein gewöhnlicher Sterblicher auf Erden gehen könne. Aber während er das sagte, sah er mich durchdringend an, und irgendeine innre Stimme warnte mich, daß er einen kolossalen Bluff versuchte.«

Dr. Boyne grübelte. »Hatten Sie damals schon die Wahrheit entdeckt?« fragte er. »Es ist merkwürdig, wie aufregend plötzliche Einfälle wirken, die sich auf die Identität eines Menschen beziehen. Ich weiß nicht, ob es unheimlicher ist, eine solche Eingebung schnell oder langsam zu haben. Ich möchte wissen, wann Sie ihn noch im Verdacht hatten, und wann Sie ihrer Sache sicher waren.«

»Im Verdacht hatte ich ihn, glaube ich, als ich Ihnen telefonierte«, erwiderte der Freund. »Und das kam von nichts anderm, als von dem Licht, das durch die Glastür auf den Teppich fiel und bald heller, bald dunkler wurde. Es sah aus wie eine Blutlache, die deutlich wurde, während sie nach Rache schrie. Warum veränderte das Licht sich auf diese Weise? Die Sonne war nicht herausgekommen, das wußte ich; es konnte nur daher stammen, daß die zweite Tür dahinter, die in den Garten führte, geöffnet und geschlossen wurde. Wäre er aber schon damals hinausgegangen, und hätte seinen Feind erblickt, so hätte er sofort Lärm geschlagen; doch das geschah erst viel später. Ich bekam den Eindruck, daß er hinausgegangen war, um etwas zu tun – oder vorzubereiten. – Sicher dagegen war ich meiner Sache da noch nicht. Ich weiß, daß er bis zuletzt versuchte, mich zu hypnotisieren, meinen Willen durch die schwarze Kunst der unheimlichen Augen und singenden Stimme zu lähmen. So hat er es jedenfalls mit dem alten Aylmer angefangen. Aber es war nicht seine Art, zu sprechen – was er sagte, war einleuchtender – ich meine die Philosophie und Religion, die es enthielt.«

»Leider bin ich nur ein alter Praktikus,« sagte der Arzt mit derbem Humor, »um Religion und Philosophie kümmere ich mich nicht viel.«

»Das müssen Sie aber, wenn Sie ein alter Praktikus sein wollen«, sagte Pater Brown. »Sagen Sie mal, Doktor – Sie kennen mich doch recht gut; ich glaube, Sie wissen, daß ich nicht bigott bin. Sie wissen, daß ich davon überzeugt bin, wie verschiedene Menschen es in allen Religionen gibt – gute Menschen mit schlechten und schlechte mit guten. Aber es gibt eine kleine Tatsache, die ich im praktischen Leben gelernt habe, einen ganz alltäglichen Umstand, den ich mir durch die Erfahrung angeeignet habe, wie die Kenntnis der guten Weinmarken. Ich habe noch nie einen Verbrecher getroffen, der – wenn er überhaupt philosophierte – nicht in dieser Richtung sprach: von orientalischen Kulten wie Wiederkehr und Wiederverkörperung, dem Rad des Schicksals und der Schlange, die sich in den Schwanz beißt. Durch die Erfahrung habe ich gelernt, daß auf diesen Dienern der Schlange wirklich ein Fluch ruht; auf ihrem Bauche sollen sie kriechen und Staub fressen; es hat noch nie einen Schuft oder Verbrecher gegeben, der nicht mit dieser Art Geistigkeit aufwarten konnte. Vielleicht ist der wirkliche religiöse Ursprung anders, aber hier, wo die Menschen arbeiten, ist es die Religion der Schurken; und ich wußte im gleichen Augenblick, daß ich einen Schurken vor mir hatte.«

Der Priester nahm seinen flachen Hut und trabte durch den Schnee nach Hause. Dabei murmelte er: »Und doch hat er Recht – es gibt eine weiße Magie – er wußte nur nicht, wo er sie zu suchen hatte.«

 


 


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