G. K. Chesterton
Der Mann, der Donnerstag war
G. K. Chesterton

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Das zehnte Kapitel

Das Duell

Syme nahm an einem Kaffeetisch mit seinen Gefährten Platz. Seine blauen Augen funkelten wie die lichte See da unten. Und er bestellte eine Flasche Saumur mit einer frohen Ungeduld. Er befand sich mit einigem Grund in einer solchen seltsam heiteren Gemütsverfassung. Sein Genius schwebte schon unnatürlich hoch, und stieg immer noch höher – genau in dem Maße, in dem der Saumur in der Flasche sank; und binnen einer halben Stunde war seine Rede ein reißender Strom des Unsinns. Er erklärte, er arbeite soeben einen vollständigen Plan aus von der Unterhaltung, die zwischen ihm und dem fürchterlichen Marquis vor sich gehen sollte. Und er brachte sie hastend mit einem Bleistift zu Papier. Und sie war arrangiert – wie ein gedruckter Katechismus, mit Frage und Antwort; und da haspelte er sie auch schon laut herunter.

»Ich komme also auf ihn zu. Eh er noch seinen Hut zieht, hab ich schon den meinigen gezogen. Ich sage: ›Herr Marquis de Saint Eustache, wenn ich mich nicht irre.‹ Er antwortet: ›Der berühmte Mr. Syme, so ich recht sehe.‹ Dann erkundigt er sich in exquisitestem Französisch: ›Wie gehts, wie stehts?‹ Und ich versetzte im reinen Londoner Dialekt: ›Nicht mehr so oft wie früher –‹«

»Aufhören! Maul halten!« sprach der Mann mit den Brillen. »Nehmen Sie sich doch zusammen – schmeißen Sie den Wisch weg! Und sagen Sie nu mal ernsthaft, was Sie tun werden?«

»Aber das war doch ein wunderschöner Katechismus!« sprach Syme pathetisch. »Lassen Sie mich ihn vorlesen. Er hat doch nur dreiundvierzig Fragen und Antworten, und einige von den Antworten des Marquis sind wahnsinnig witzig. Ich bin meinem Feind gegenüber stets gerecht.«

»Aber wozu soll denn das taugen?« fragte Dr. Bull verzweifelt.

»Zu meiner Herausforderung doch! Verstehen Sie denn nicht?« sprach Syme – und strahlte vor Freude. »Wenn der Marquis die neununddreißigste Antwort gegeben hat, die folgendermaßen lautet –«

»Ist Ihnen bei alledem niemals – aus purem Zufall etwa – irgendwie der Gedanke gekommen«, fragte der Professor da mit einer erdrückenden Selbstverständlichkeit, »daß der Marquis von den dreiundvierzig Dingern, die Sie ihm zugeschrieben haben, das eine oder andere, sagen wir, nicht mehr wissen, mithin also vergessen haben könnte? In diesem Falle, denke ich, möchten Ihre eigenen Epigramme sich denn doch ein wenig allzu gekünstelt anhören.«

Syme schlug auf den Tisch und strahlte fast ein wenig zu viel vor Freude. »Wie wahr – ach wie so wahr, so wahr das ist! Und ich hab nicht einen einzigen Augenblick daran gedacht! Mein Herr, Ihr Verstand erhebt sich über das Durchschnittsmaß . . . Sie werden sich noch einen Namen machen.«

»Oh – Sie sind besoffen wie 'n Nachtwächter!« sprach der Doktor.

»Da bleibt mir nichts anderes übrig«, fuhr Syme unbeirrt fort, »hm – da muß ich nun also eine andere Methode finden, wie das Eis (wenn ich mich so ausdrücken darf) zwischen mir und dem Mann, den ich töten will, zu brechen sein wird. Und da ja der Gang einer Unterhaltung nicht von einer der beiden Parteien allein vorausgesagt werden kann (wie Sie mir ebenso scharfsinnig wie tief gerade dargelegt haben), ist (so vermute ich wenigstens) die einzige Möglichkeit für die eine der beiden Parteien diese: in ihrem vorgefaßten Dialog ihrerseits wenigstens so weit wie möglich zu gehen. Na – und das will ich, beim Heiligen Georg! das will ich –« Und er stand jählings auf, und sein gelbes Haar wehte in der schwachen Brise.

Eine Künstlerbande spielte in einem Café chantant verborgen irgendwo unter den Bäumen; und ein Frauenzimmer hatte just mit Singen aufgehört. In Symes überheiztem Schädel war das Schmettern der Blechinstrumente ganz wie der Singsang der Leierkasten von Leicester Square, zu dessen Lied er einst aufstand und sterben wollte. Er sah nach dem kleinen Tisch hinüber, an dem der Marquis saß. Dem leisteten eben zwei Herren Gesellschaft, zwei Ehrfurcht erweckende Franzmänner in langen Gehröcken und mit Seidenhüten, der eine der beiden mit der roten Rosette der Ehrenlegion – zwei Leute von solider gesellschaftlicher Position augenscheinlich. Neben diesen schwarzen, noch obendrein bezylinderten Erscheinungen nahm sich der Marquis mit seinem leichten Strohhut und seinen lichten Sommerkleidern wie ein Bohème – ja geradezu barbarisch aus. Und sah sich doch wie ein Marquis an! Wirklich, wie leicht hätte ihn wer gar für einen König gehalten, mit dieser sinnlichen Eleganz, den spöttisch-höhnischen Augen, dem stolzen Haupt gegen die veilchenfarbene See. Nur daß er kein christlicher König war, um keinen Preis. Ein schwarz-brauner Despot vielmehr, ein Grieche halb, halb Asiate, der in den Tagen, da die Sklaverei etwas Selbstverständliches war, auf das Mittelländische Meer herniedersah, auf seine Galeere und auf seine stöhnenden Sklaven. Gerade so, dachte Syme, müssen die braungoldenen Gesichter solcher Tyrannen sich von den dunkelgrünen Olivenwäldern und dem glühenden Blau des Himmels und des Meeres abgehoben haben.

»Gehen Sie nun, den Zweikampf ausmachen?« fragte der Professor ungeduldig werdend und empfindlich, wie Syme immer noch dastand und gar keine Miene machte, endlich zu gehen.

Da stürzte Syme den Rest des funkelnden Weines hinab.

»Den Zweikampf ausmachen?« sprach er, und deutete auf den Marquis und seine Gesellschaft hinüber. »Die drei da drüben gefallen mir nicht. Ich will der großen scheußlichen mahagonifarbenen Nase da drüben den Garaus machen.«

Und er beeilte sich da hinüberzukommen, wenn er auch nicht gerad auf dem geradesten Weg hinüberkam. Der Marquis, sowie der ihn sah, kniff seine schwarzen assyrischen Augenbrauen vor Erstaunen zusammen. Und lächelte aber höflich. »Da ist ja Mr. Syme, wenn ich recht sehe«, sprach er.

Syme verneigte sich –

»Und Sie sind der Marquis de Saint Eustache?« sprach er mit Grazie. »Gestatten Sie, daß ich Sie ein bißchen an der Nase ziepe?«

Und beugte sich auch schon vor, nach seinen Worten zu tun. Aber der Marquis wich zurück, daß sein Stuhl dabei umfiel, und die zwei Herren mit den Angströhren hielten Syme bei den Schultern gepackt.

»Der Herr hat mich insultiert!« wollte sich Syme mit vielen Gesten verständigen.

»Sie insultiert?« rief der Gentleman mit der roten Rosette. »Wann denn?«

»Oh – eben jetzt«, sprach Syme unverfroren. »Er hat meine Mutter insultiert.«

»Ihre Mutter insultiert!« rief der Gentleman skeptisch.

»Nun – eh – auf jeden Fall, – eh –« sprach Syme, der mit sich handeln ließ, »meine Tante!«

»Aber wie kann der Marquis jetzt eben Ihre Tante beleidigt haben?« fragte der andere Gentleman mit nur allzu berechtigtem Staunen. »Er saß doch die ganze Zeit hier!«

»Ah – ah – er hat gesagt, was er sagte«, drückte sich Syme ziemlich dunkel aus.

»Aber ich habe nichts – nichts gesagt«, sagte der Marquis. »Außer etwas über die Künstlerbande. Ich sagte nur: daß ich Wagner gut gespielt gerne höre.«

»Dann war das eine deutliche Anspielung auf meine Familie«, sprach Syme unentwegt, »meine Tante spielte Wagner miserabel. War eine peinliche Sache. Hat uns Insult genug eingetragen.«

»Das scheint etwas ganz außergewöhnliches«, sprach der Gentleman décoré und sah den Marquis bedenklich an.

»Oh, ich versichere Sie«, behauptete Syme in vollem Ernste, »Ihre ganze Unterhaltung strotzte geradezu von versteckten Anspielungen auf die Geistesschwäche meiner Tante.«

»Aber das ist ja Unsinn!« sprach der andere Gentleman. »Ich zum Beispiel hab seit einer ganzen halben Stunde nichts gesagt, als daß mir der Gesang des schwarzhaarigen Mädchens gefällt.«

»Aber da haben wir Sie ja!« rief Syme aufgebracht. »Meine Tante war fuchsrot!«

»Mir scheint«, sprach der andere wieder, »Sie suchen nichts als einen Vorwand, um den Herrn Marquis zu brüskieren.«

»Beim Heiligen Georg!« sprach Syme, drehte sich um und sah ihn an, »was Sie doch ein gescheiter Kerl sind!«

Der Marquis sprang auf. Mit glühenden Augen – wie Tieraugen.

»Sie wollen Händel mit mir!« schrie er. »Sie wollen einen Kampf mit mir! Bei Gott! da hat nie noch einer lang suchen müssen. Die Herren werden so liebenswürdig sein und Zeugen sein. Wir haben noch vier Stunden bis zum Abend. Wir werden heute Abend die Sache austragen.«

Syme verneigte sich mit wunderbarem Anstand. »Herr Marquis«, sprach er, »Sie handeln nach Ihrem hohen Ruf und Ihrer hohen Abstammung. Erlauben Sie, daß ich mich einen Augenblick mit jenen Gentlemen in Verbindung setze, die meine Vertreter sein sollen.«

Und mit drei langen Schritten war er wieder bei seinen Kollegen. Und diese, die seine vom Sekt eingegebene Attacke mitangesehen und seine idiotischen Erklärungen mitangehört hatten, waren durchaus überrascht von seinem jetzigen Gehaben. Denn jetzund, wie er zu ihnen zurückkam, war er absolut nüchtern, ein wenig blaß – ja, – aber er sprach ganz leise und durch und durch vernünftig . . .

»Es ist gemacht«, sagte er, ein wenig heiser. »Ich hab einen Kampf mit dem Kerl ausgemacht. Aber nun kommen Sie, bitte, dichter ran und hören Sie recht, recht aufmerksam zu. Wir haben nicht viel Zeit zu reden. Sie sind meine Sekundanten, und alles hängt nun von Ihnen ab.

Sie müssen nun darauf bestehen – und müssen hartnäckig und um jeden Preis darauf bestehen – daß der Kampf erst nach morgen früh 7 Uhr vor sich geht, so daß wir verhindern können, daß er den Zug 7,45 nach Paris erwischt. Daß, wenn er den Zug verpaßt, er damit den verbrecherischen Anschlag verpaßt. So viel, d. h. so wenig dazwischenliegende Zeit kann er nicht weigern. Aber das ist, was er tun wird. Er wird den Kampfplatz irgendwie recht dicht bei einer Zwischenstation wählen, so daß er den Zug dann knapp noch erwischen kann. Er ist ein ausgezeichneter Fechter und er traut sich zu, mich so schnell kampfunfähig machen zu können, daß er noch zur Bahn kommt. Aber ich kann brillant parieren und denke, daß ich ihn so lange aufhalte, bis der Zug futsch ist. Dann meintswegen mag er mich töten und sich auf diese Weise schadlos halten wollen. Verstehen Sie? Ja? Nun also . . . dann kommen Sie, bitte, daß ich Sie einigen reizenden Freunden von mir vorstelle«, und er schritt eilends voraus und stellte sie den zwei Sekundanten des Marquis vor – unter sehr aristokratischen Namen, von denen ihre vermeintlichen Träger natürlich bis dato selber noch keine Ahnung gehabt hatten . . .

Syme litt an Krämpfen des einfachen gesunden Menschenverstandes. Das war nun mal so. Es waren (wie er sich anläßlich seines Impulses in jener Brillenszene ausdrückte) poetische Intuitionen, die sich oftmals zu exaltierten Prophetien auswuchsen.

Und so hatte er auch diesmal die Politik seines Gegners sehr richtig kalkuliert . . . Als der Marquis durch seine Sekundanten erfuhr, Syme würde erst am nächsten Morgen fechten, da sah er absolut ein, daß sich ein jähes Hindernis aufgetan hätte zwischen ihm und seinem Bombengeschäft in der Hauptstadt. Indem er aber von solcher Angelegenheit seinen Freunden natürlich nichts verraten konnte, so wählte er den Ausweg, den Syme prophezeit hatte. Er überredete seine Sekundanten, als Kampfplatz eine kleine Wiese nah der Eisenbahn zu bestimmen – und verließ sich im übrigen ganz auf den ersten Waffengang.

Wie er, kühl bis ans Herz hinan, das Feld der Ehre betrat, hätte keiner vermutet, daß er etwa voll von Reisefieber wäre. Hände in den Taschen, Strohhut im Nacken, das feine Gesicht bronzen in der Sonne. Aber dieses wäre dem fremdesten Fremden höchlichst aufgefallen, daß ihm nicht nur seine Sekundanten mit dem Waffenzeug folgten, sondern auch zwei seiner Diener mit einem Handkoffer und einem Eßkorb.

So früh es am Tage war, durchheizte die Sonne doch schon jedes Ding. Und Syme war etwas betroffen, so viele Sommerblumen in brennenden Gold- und Silberfarben waren rings im hohen Gras, darin die ganze Gesellschaft schier knietief watete und stand.

Ausgenommen der Marquis, waren alle Herren in dunklen, feierlichen Gesellschaftsanzügen und schwarzen Angströhren. Der kleine Doktor insonders sah, mit seinen schwarzen Brillen obendrein, wie ein Leichenbestatter in einem Schwank aus. Syme konnte sich nicht helfen, es war ein zu komischer Kontrast: diese Leichenbegängnismonturen einerseits – und andererseits die üppige glitzernde Wiese mit den wildblühenden Blumen allenthalben. Aber dieser komische Kontrast zwischen dem gelben Blust und den schwarzen Hüten war eben ein Symbol für den tragischen Kontrast zwischen dem gelben Blust und dem schwarzen Handwerk . . . Zu seiner Rechten, da war ein kleiner Wald. Weit links hinüber aber bog sich die große Kurve der Eisenbahn, die er sozusagen gegen den Marquis zu verteidigen hatte, dessen Ziel und Entkommen sie war. Voraus, über die schwarze Gruppe seiner Gegner hinaus, konnte er, wie eine abgetönte Wolke, einen kleinen blühenden Mandelbaumbusch sehen, der gegen die matten Farben eines Streifens von der See stand.

Das Mitglied von der Ehrenlegion, mit Namen Colonel Ducroix, wie es schien, trat auf den Professor und Dr. Bull zu und regte in verbindlichster Form an, daß die Angelegenheit mit der ersten nennenswerten Verwundung zu Ende sein solle.

Dr. Bull indes, dem Syme gerade diesen kitzligsten Punkt nach allen Regeln eingepaukt hatte, bestand mit großer Würde und in miserablem Französisch darauf, der Kampf müsse fortdauern, bis einer der Kombattanten vollständig kampfunfähig wäre. Syme war entschlossen, eine Kampfunfähigkeit des Marquis zu vermeiden und zu gleicher Zeit zu verhindern, daß ihn der Marquis wenigstens nicht vor zwanzig Minuten abführen würde. In zwanzig Minuten nämlich würde der Pariser Zug gut vorüber sein.

»Einem Mann von so weltbekannter Fertigkeit und Tapferkeit wie Monsieur de St. Eustache«, sprach der Professor feierlich, »muß es höchst gleichgültig sein, welche Methode Gültigkeit haben soll, und unser Duellant hat schwerwiegende Gründe, um die längere Gefechtsart zu bitten, . . Gründe übrigens, deren Delikatesse mir verbietet, sie hier Ihnen auseinanderzusetzen, aber deren wohlbegründete und durch und durch ehrenhafte Natur ich Ihnen . . .«

»Peste!« fuhrs dem Marquis heraus, und sein Gesicht ward jäh um noch vieles dunkler, »hören wir lieber mit Reden auf und fangen mal an . . .« und er köpfte eine hohe schlanke Blume mit seinem Stock.

Syme wußte gar wohl, woher solch rauhe Ungeduld käme. Und blickte widerwillens über die Schulter weg, um zu sehen, ob der Zug denn schon in Sicht käme. Aber nicht ein Wölkchen Rauches noch am Horizont . . .

Colonel Ducroix kniete nieder und schloß den Waffenkasten auf. Nahm ein Paar Zwillingsdegen heraus, – und die Sonne fiel gleich darüber her und verwandelte sie in zwei Streifen weißen Feuers –. Und bot den einen dem Marquis an, der ihn ohne weiteres und schnell ergriff, und den andern – Syme, der ihn nahm und ihn bog und dann wog, mit soviel Umständen und soviel Aufschiebens, als sich gerade noch mit aller sonstigen Würde vertrug. Dann nahm der Colonel noch ein anderes Degenpaar heraus, und während er einen für sich selber behielt und den andern an Dr. Bull gab, bestimmte er den Platz.

Beide Kombattanten hatten ihre Röcke und Westen abgelegt und standen, mit den Waffen in der Hand, da. Die Sekundanten standen jeder auf einer Seite der Gefechtslinie ebenfalls mit gezogenen Waffen, aber gleichwohl noch in ihren schwarzen Gehröcken und Zylindern. Die Duellanten salutierten. Der Colonel sprach ruhig sein »Los!« und die beiden Klingen sprangen aufeinander los und sangen.

Wie der Gesang des Eisens kribbelnd Symes Arm hinauflief, fielen alle phantastischen Aengste, die das Wesen dieser Geschichte ausmachten, von ihm ab wie Träume von einem Menschen, der in seinem Bett erwacht. Er konnte sich an alles ganz klar und ganz in der richtigen Reihenfolge erinnern, aber so, als obs bloßer Betrug der Nerven gewesen wäre: – die Angst vor dem Professor war die Angst vor den tyrannischen Willkürlichkeiten aller Nachtmahr gewesen und die Angst vor dem Doktor dagegen die Angst vor dem luftlosen Vakuum aller Wissenschaft. Die erste war die alte Angst, daß Zeichen und Wunder geschehen, die andere die viel hoffnungslosere moderne, daß es Zeichen und Wunder nicht gibt. Aber nun sah er, daß die beiden Aengste sehr törichte gewesen waren, denn nun befand er sich ja unmittelbar vor der ungeheuren Tatsache der Todesangst, dem grausamsten und unerbittlichsten aller Gefühle. Ihm war zumute wie einem, der all die Nacht durch träumte, lauter Abgründe hinabzustürzen – und der nun zu einem Morgen erwachte, an dem er gehängt werden sollte. Denn sobald er im glühenden Sonnenlicht den Speer seines Feindes erglühen sah und fühlte, wie die beiden stählernen Zungen einander leckten, kitzelten und küßten, wußte er, daß sein Gegner ein gewaltiger Fechter war und sein letztes Stündlein nun wohl gekommen sei . . .

Seltsam lebhaft, wertvoll und wert wurde ihm in diesem Augenblick alle Erde ringsum; köstlich wurde ihm das Gras unter den Füßen. Er fühlte die Liebe zum Leben in allen lebendigen Dingen. Es war ihm gerade, als ob er das Gras wachsen hörte; es war ihm schier, als schössen gerad während er dastand, neue Blumen auf und brächen in Blust aus auf dieser Wiese – blutrote und gold- und blauglühende Blumen, und vollendeten so erst die ganze Pracht alles Blühns. Und so oft seine Augen für die Dauer eines Blitzes von den kalten, starrenden, hypnotischen Augen des Marquis fortsahen, ersah er den kleinen Busch des Mandelbaums gegen den Himmel und die See. Und er wußte es irgendwie bestimmt, daß – wenn er durch irgendein Wunder aus diesem Kampfe noch lebend hervorginge – würde er willens sein, für immer und immer vor jenem Mandelbaum zu sitzen, und sonst nichts und nichts und nichts mehr auf dieser Welt sich wünschen . . . Aber während sich ihm Erde und Himmel und ein jedes Ding in jener Lebensschönheit präsentierten, wie sie nur ihm verlorene Dinge haben konnten, war die andere Hälfte seines Kopfes so klar wie Glas. Und er parierte alle Hiebe seines Gegners mit der Präzision eines Uhrwerks – mit einer Geschicklichkeit, die er sich selber nie zugetraut hätte. Einmal ritzte die feindliche Spitze sein Handgelenk, so daß ein schwacher Blutstreifen erschien; aber entweder wurde das gar nicht bemerkt oder stillschweigend übergangen. Ab und zu auch führte er einen Gegenstoß aus, und ein oder zweimal war ihm fast, als ob er einen Stoß heimgebracht hätte – aber da er weder an der Klinge noch am Hemd des andern Blut sehen konnte, dachte er, er hätte sich getäuscht . . . Dann trat eine Unterbrechung ein und ein Wechsel . . .

Auf die Gefahr hin, alles zu verlieren, gab der Marquis plötzlich seinen starren Blick auf und sah blitzschnell über die Schulter weg nach der Eisenbahn rechts. Wie er sich Syme dann wieder zuwandte, hatte er mit einemmal das Gesicht eines Teufels und focht – als wie mit zwanzig Schwertern zugleich. Die Attacke war nun so heftig und wütend, daß der eine blitzende Speer ein Hagel blitzender Pfeile zu sein schien. Syme blieb keine Muße, nun etwa seinerseits nach der Eisenbahn auszuschauen. Aber er hätte es auch gar nicht nötig gehabt. Er konnte wohl erraten, warum der Marquis plötzlich so wahnsinnig dreinhieb – der Pariser Zug war in Sicht.

Aber des Marquis krankhafte Energie übervorteilte sich selber. Zweimal schlug Syme, indem er parierte, seines Gegners Spitze weit aus dem Gefechtsfeld; und das dritte Mal war sein Gegenstoß ein so rapider, daß kein Zweifel mehr darüber war – diesmal saß er! Symes Klinge bog sich augenblicks unter der Wucht des Körpers vom Marquis, in den sie tief eingedrungen war. Syme war des so gewiß, daß er seinen Stahl in seinen Feind hineingestochen hatte, so wie ein Gärtner des gewiß ist, daß er seinen Spaten in die Erde gestochen hat. Und doch sprang der Marquis von dem Stoß ohne einen Taumel zurück – daß Syme wie gebannt stehen blieb und seine Degenspitze wie ein Idiot anstarrte. Es war – trotz allem . . . kein Blut daran . . .

Das war ein Moment, in dem alles zu erstarren schien . . . Dann aber fiel Syme seinerseits den andern furioso an, von etwas wie einer tödlichen Wißbegierde erfüllt. Der Marquis war wahrscheinlich, ganz im allgemeinen, ein ungleich besserer Fechter als er – das war ihm von vornherein klar gewesen – aber jetzund schien der Marquis verstört und das höchst zu seinem Nachteil natürlich. Er focht verwirrt, ja sogar schlapp – und schielte dabei fortwährend nach der Eisenbahn hinüber – fast als ob er den Zug mehr als die Degenspitze zu fürchten hätte. Syme hingegen, der focht leidenschaftlich . . . aber jederzeit achtsam und bedachtsam, in einer geistigen Wut nur brennend, das Rätsel seiner unblutigen Klinge zu lösen. In dieser Absicht zielte er weniger auf den Körper des Marquis und mehr gegen seinen Hals und Schädel. Anderthalb Minuten später – fuhr seine Spitze dem andern in den Hals unter der Kinnlade. Und . . . kam ohne einen Tropfen Blut heraus. Halb verrückt stieß er noch einmal zu und erzielte etwas, das eine große blutige Schramme auf der Wange des Marquis machen sollte. Und dann war . . . absolut nichts von einer großen blutigen Schramme.

Für einen Augenblick wurde der Himmel für Syme wieder einmal schwarz von außernatürlichen Schrecken. Dieses Menschen Leben war behext – behext! Aber dieser neue Geisterschreck war ein viel scheußlicherer als jene kleine Geisterkasperliade vom Paralytiker als Polizeihund. Der Professor war bloß ein Kobold gewesen, dieser Mann aber war ein Teufel – und am Ende gar der Teufel in Person! Auf jeden Fall stand dieses fest, daß dreimal eine menschliche Klinge ihn tief durchbohrte und dennoch kein einziges Mal ein Zeichen hinterließ. Wie Syme sich das so dachte, stand etwas auf in ihm und reckte ihn hoch, und alles Gute in ihm, das sang hell auf, so wie ein Wind hell im Baume singt. Und er dachte fest an alle natürlichen Dinge in diesem seinem Abenteuer – an die chinesischen Laternen in Saffron Park, an das rote Haar der Schwester im Garten, an die ollen ehrlichen biertrinkenden Seeleute unten bei den Docks und an seine treuen Kameraden, die ihm zur Seite standen. Vielleicht war er von all jenen frischen und kindlichen Dingen zum Kämpen auserwählt – nun eine Klinge zu kreuzen mit dem Feind aller Schöpfung. »Schließlich und endlich«, sprach er bei sich selber, »bin ich mehr als ein Teufel; denn ich bin ein Mensch. Und kann ein Ding tun, das Satan selber nie zu tun vermöchte – kann sterben« – und wie ihm diese Worte durch den Kopf sangen, hörte er mit einemmal ein schwaches fernes Geheul . . . der Pariser Zug!

Und er fiel neu aus und focht mit einer übernatürlichen Leichtigkeit – gleichwie ein Mohammedaner, der nach dem Paradiese lechzt. Und wie der Zug jetzt nah und näher und immer näher kam, bildete er sich ein, er sähe, wie man zu Paris Blumenpforten aufbaue . . . und das Näherbrausen wurde ihm zur Glorie der großen Republik, deren Eingang er (mit flammendem Schwert) gegen die Hölle verwahrte. Und der vielträchtige Bauch seiner Phantasie schwoll und schwoll just in dem Maße, in dem der Zug donnernd und donnernder anfuhr – und all das endigte und krönte sich so herrlich in einem langen durchdringenden Pfiff . . . der Zug hielt.

Und plötzlich – zum hellsten Entsetzen jedermanns – sprang der Marquis weit aus allem Gefechtsfeld und schmiß seinen Degen weg. Und der Sprung, der war ein wundervoller, und nicht zum wenigsten wundervoll, indem Syme einen Moment vorher seine Klinge in des Mannes Oberschenkel versenkt hatte.

»Halt!« rief der Marquis mit einer Stimme, daraus eine augenblickliche Unterwerfung flehte. »Ich möchte etwas sagen.«

»Was ist los?« fragte Colonel Ducroix und starrte ihn an. »War da ein regelwidriger Stoß?«

»Ja, da war irgend etwas wider die Regel«, sprach Dr. Bull – und war ein wenig blaß. »Unser Duellant hat den Marquis wenigstens viermal verwundet, und es ist gerad als wär gar nichts gewesen.«

Der Marquis hob die Hand auf – mit einer plötzlichen grausigen Duldermiene.

»Bitte, ich will sprechen«, sprach er. »Und zwar etwas einigermaßen Bedeutsames. Mr. Syme«, fuhr er fort und wandte sich an seinen Gegner, »wir kämpfen heute, weil Sie (wenn ich mich recht erinnere) einen Wunsch ausdrückten (den ich für albern hielt), nämlich diesen: mich an der Nase zu ziepen . . . Sie würden mich sehr verbinden, wenn Sie mich jetzt so schnell wie möglich an der Nase ziepen wollten. Ich muß nämlich . . . noch einen Zug erreichen.«

»Ich protestiere. Das ist sehr wider die Regel«, sprach Dr. Bull entrüstet.

»So was ist gewiß noch nicht dagewesen«, sprach Colonel Ducroix und sah gedankenvoll auf seinen Duellanten. »Es ist ja wohl, denk ich, ein Fall (Kapitän Bellegard und Baron Zumpt) denkwürdig, bei dem die Waffen mitten im Zweikampf auf Verlangen des einen der Kombattanten gewechselt wurden. Aber eine Nase kann man schwerlich eine Waffe nennen.«

»Wollen Sie mich nun an der Nase ziepen oder nicht?« sprach der Marquis in höchster Erbitterung. »Kommen Sie, kommen Sie doch, kommen Sie, Mr. Syme! Sie wollten es tun – also tun Sie es jetzt! Sie haben keine Ahnung, wie wichtig das für mich ist! Seien Sie doch nicht so egoistisch! So ziepen Sie mich doch endlich an der Nase, wenn ich Sie darum bitte!« Und er beugte sich leicht vorwärts – und lächelte dazu ein faszinierendes Lächeln. Der Pariser Zug aber, der stöhnte und heulte herzzerreißend derweil auf der kleinen Station hinter dem Nachbarhügel.

Syme hatte, wie schon oft unter all diesen Abenteuern, das Gefühl: eine fürchterliche, ungeheuere himmelanstürmende Woge ginge über ihn hin. Und so tat er denn in eine Welt hinein, die er nur zur Hälfte begriff, zwei Schritt und faßte diese römische Nase dieses ehrenwerten Edelmanns an. Zog fest daran . . . und sie ging ab und blieb in seiner Hand – – –

Und so stand er da. Augenblicke lang. Närrisch, steif, zum Totlachen feierlich. Die Nase aus Pappendeckel immer noch in der Hand. Und starrte sie an. Und die Sonne, und die Wolken, und die bewaldeten Hügel – alle sie sahen diesem blödsinnigen Schauspiel zu.

Dann rief der Marquis voller Lustigkeit in diese Stille:

»Falls irgendwer für meine linke Augenbraue Verwendung hätte«, sprach er, »bitte, der mag sie haben. Colonel Ducroix, würden Sie meine linke Augenbraue von mir annehmen? Sie könnten sie eines schönen Tages wirklich nötig haben –« und er riß sich würdevoll eine seiner schwarzbraunen assyrischen Brauen aus – nur daß dabei die Hälfte wohl von seiner braunen Stirn mitging – und bot sie höflich dem Colonel an, der hochrot und sprachlos vor Wut dastand. »Wenn ich gewußt hätte«, blubberte der, »daß ich einer Memme Zeuge sein würde, die sich zum Fechten ausstopft . . .«

»Ich kann mirs denken, ich kann mirs wohl denken – oh!« sprach der Marquis, und warf rücksichtslos das und das und das von sich selber – ganz unterschiedliches rechts und links weit in die Wiese, »aber Sie sind im Irrtum, oh – Sie irren sich sehr! Ich kanns Ihnen jetzt nur nicht erklären . . . und kann Ihnen nur sagen, daß der Zug in der Station steht!«

»O ja«, sprach Dr. Bull grimmig, »und der Zug – der Zug soll nur aus der Station wieder hinausfahren! Der soll nur hübsch machen, daß er weiter kommt! Aber ohne Sie – verstanden! Sie kommen uns da nicht mit! Nee, mein Junge! Das wolln mir mal sehen! Wir wissen genau, zu welchem Teufelswerk . . .«

Der mysteriöse Marquis hob – beschwörend – seine Hände. Und war eine richtige Vogelscheuche, wie er stand, sein altes Gesicht halb abgepellt und darunter schon halb ein neues hervorstarrend und grinsend.

»Wollen Sie mich wahnsinnig machen?« schrie er. »Der Zug . . .«

»Der Zug geht ohne Sie! Sie kommen um keinen Preis mit!« behauptete Syme und unterstützte die Behauptung, indem er seinen Degen schwang. Das halbirre Gesicht fuhr zu Syme herum, und darin werkte und werkte es, sekundenlang, auf das Verzweifeltste, eh es zu sprechen imstande war – »Sie großer, dicker, abscheulicher, triefäugiger, blödsinniger, entsetzlicher, von Gott verlassener, flachshaariger, verfluchter Narr Sie!« sprach er, ohne ein einziges Mal Atem zu holen. »Sie Riesentrottel, Sie Blinzelidiot, Sie Wergschöpfiger, Sie weiße Rübe Sie! Sie . . .«

»Sie kommen doch nicht mit dem Zug mit!« wiederholte Syme.

»Und warum bei allen rotglühenden Teufeln«, brüllte der andere, »soll ich wollen, daß ich mit dem Zug mitkomme?«

»Wir alle wissen«, sprach der Professor finster, »daß Sie nach Paris wollen – eine Bombe werfen!«

»Jabbern Sie doch nicht!« schrie der andere und raufte sich die Haare, die ihm leichtlich und büschelweise ausgingen. »Habt ihr denn alle miteinander Gehirnerweichung, daß ihr euch so gar nicht vorstellen könnt, wer ich etwa sein möchte? Denkt ihr wirklich immer noch, daß ich den Zug erreichen will? Meintswegen mögen fuffzig Pariser Züge vorbeigehn! Scheißpariser Züge!!«

»Aber was wollen Sie denn dann?« fing der Professor wieder an.

»Was ich wollte? Ich wollte den Zug gar nicht erwischen – sondern ich wollte, daß der Zug mich nicht erwischt! Und jetzt – bei Gott – hat er mich erwischt!«

»Ich bedauere, Ihnen die Mitteilung machen zu müssen«, sprach Syme mit Zurückhaltung, »daß Ihre Worte keinerlei Eindruck auf mich machen. Vielleicht ja, wenn Sie die Ueberreste Ihrer einstigen Stirn beseitigen würden und einen Teil dessen, das Sie dereinst Ihr Kinn nannten, dann möchten Ihre Ansichten etwas klarere werden. Klarheit des Denkens kommt: wenn man einen klaren Kopf hat . . . Was meinten Sie also damit – daß der Zug Sie erwischt hat? Literarisch genommen, ist das eine Groteske; aber mir ist, als ob das etwas besagen müßte.«

»Etwas nur? Alles und jedes«, sprach der andere. »Und das – Ende von allem und jedem! Sonntag hat uns nun absolut in der Hand –«

»Uns!« plapperte der Professor nach, der ganz und gar baff war. »Wie heißt Uns?«

»Die Polizei natürlich!« sprach der Marquis, und riß seinen Skalp und die übrige Hälfte seines falschen Gesichts herunter.

Und der Kopf, der nun zum Vorschein kam, das war der blonde, gutgebürstete und glattgestrichene Durchschnittskopf des englischen Konstablers – nur daß das Gesicht erschrecklich blaß war.

»Ich bin der Inspektor Ratcliffe«, sagte er mit einer Hast, die schon mehr etwas von Barschheit hatte. »Mein Name ist der Polizei leidlich gut bekannt. Und ich sehe hinreichend, daß Sie zur Polizei gehören. Aber wenn Sie noch irgendeinen Zweifel über mich hegen sollten – da ist meine Karte –« und er zog die gewisse blaue Karte aus der Tasche.

Der Professor winkte ermüdet ab. (Er war dergleichen schon herzlich satt.)

»Zeigen Sie es nur nicht lange her«, sprach er, »wir haben schon so viel davon, daß wir bequem eine Schnitzeljagd arrangieren könnten.«

Der kleine Mann namens Bull hatte, wie so viele Menschen, die nur aus lauter Lebhaftigkeit und Pöbelhaftigkeit zusammengesetzt scheinen, plötzlich Anfälle des guten Geschmacks. Er rettete diesmal die Situation. Mitten unter diesem sehr bedenklichen Transformationsakt schritt er mit all dem Ernst und dem Verantwortlichkeitsgefühl eines Sekundanten auf die beiden Sekundanten das Marquis zu und sprach:

»Meine Herren, wir schulden eine ernsthafte Abbitte. Aber ich versichere Sie, daß Sie absolut nicht bloß – die Opfer eines faulen Witzes geworden sind, wie Sie glauben, oder sonst irgendeines Jokus, der eines Ehrenmannes unwürdig wäre. Sie haben Ihre Zeit nicht ganz unnütz vergeudet. Im Gegenteil – Sie haben dazu beigetragen, die Welt zu erretten. Wir sind keine Possenreißer und Hanswürste, sondern wir sind Verzweifelte im Kampf gegen eine ungeheure Verschwörung. Eine geheime Anarchistengesellschaft macht Jagd auf uns als wie auf Hasen. Nicht etwa unglückliche Blödsinnige, die ab und zu vor Hungertod oder aus lauter germanischer Tiefgründigkeit mal eine Bombe schmeißen, o nein . . . sondern eine reiche, allgewaltige, fanatische Kirche, eine Kirche von orientalischem Pessimismus, deren Heiligstes es ist, die ganze Menschheit gerad wie ein Ungeziefer auszutilgen. Wie sehr sie uns aber auf den Fersen sind, mögen Sie aus der Tatsache ersehen, daß wir zu Verkleidungen und Maskierungen gezwungen sind wie diese, für die ich Sie nun um Entschuldigung bitten möchte, und zu Schelmenkunststückchen wie dieses, darunter Sie selber soeben zu leiden hatten.«

Der jüngere von den zwei Sekundanten des Marquis, eine gedrungene Gestalt mit schwarzem Schnurrbart, verbeugte sich höflich und sprach: »Aber natürlich – selbstverständlich lasse ich die Entschuldigung gelten. Nur . . . wollen Sie mir Ihrerseits nun verzeihen, wenn ich nicht sehr dazu inkliniere, Ihnen noch tiefer hinein in Ihre Fährlichkeiten zu folgen und mir statt dessen erlaube, Ihnen guten Morgen zu sagen! Das Schauspiel, einen angesehenen, distinguierten Kameraden in freier Luft plötzlich total in die Binsen gehen zu sehen, ist etwas ungewöhnlich und schließlich und endlich genügend für einen Tag. Colonel Ducroix, ich möchte Ihre Entschlüsse in keiner Weise beeinflussen, aber falls Sie mit mir empfinden, daß unsere momentane Anwesenheit ein wenig abnormal ist – ich geh jetzt zur Stadt zurück.«

Colonel Ducroix wollte ganz mechanisch mitgehen – aber mit einemmal fuhr er sich wild durch den weißen Schnurrbart und rief:

»Nein, bei Sankt Georg! Das geht nicht an bei mir! Wenn diese Gentlemen tatsächlich in einer Patsche sind, und das durch eine Kompagnie ganz gemeiner Banditen und Seeräuber, dann möchte ich sie gerne wieder heraußen sehn! Ich hab für Frankreich gefochten – wär schön, wenn ich nicht auch für die Zivilisation fechten könnt!« Dr. Bull riß seinen Hut herunter und schwenkte ihn und stimmte ein Beifallsgeheul an wie bei einer Volksversammlung.

»Machen Sie doch keinen solchen Spektakel«, sprach Inspektor Ratcliffe. »Sonst hört Sie Sonntag.«

»Sonntag!« schrie Bull – und da fiel ihm der Hut aus der Hand.

»Jawohl«, versetzte Ratcliffe, »wie leicht – und er ist unter ihnen.«

»Unter wem?« fragte Syme.

»Unter jenen Leuten aus dem Zug«, sprach der andere.

»Was Sie da sagen, scheint außerordentlich – außerordentlich«, fing Syme wieder an. »In der Tat – äh – in der Tat . . . Aber Herr, du mein Gott!« schrie er plötzlich auf, wie einer, der eine Explosion von weitem miterlebt, »Herr, du mein Gott! Wenn das alles wahr ist, dann waren ja die ganze schwere Menge Mitglieder des Anarchistenrats gegen den Anarchismus! Ein jeder einzelne ein Detektiv – ausgenommen der Präsident und sein Geheimsekretär! Was kann das bloß heißen?«

»Heißen?« sprach der neue Policeman mit unglaublicher Heftigkeit. »Das heißt, daß wir allzusammen Kandidaten des Todes sind! Ja, sagen Sie mal, kennen – kennen Sie denn Sonntag nicht? Wissen Sie denn nicht, daß all seine Witze so plump und dumm sind, nur damit sich ja keiner Gedanken darüber macht? Bedenken Sie nur einmal für eine Sekunde lang dieses – und Sie werden lange nichts anderes mehr denken: Sonntag bugsierte seine mächtigsten Feinde in den Allerhöchsten Rat und sorgte dann dafür, daß der Rat hübsch klein blieb! Ich sage Ihnen nur das eine: Sonntag hat jede Treue bestochen, hat jedes noch so dicke Tau und Kabel gekappt – Sonntag beherrscht jede Eisenbahnlinie – und wie besonders erst jenen Schienenstrang!« und er deutete mit zitterndem Finger hinüber nach der kleinen Eisenbahnstation. »Er war allbereits der Zentraldruckknopf der ganzen Maschinerie, die halbe Welt wartete nur darauf, sich für ihn zu erheben. Aber da waren gerade noch fünf Köpfe etwa, die ihm zuwider gewesen wären . . . und da steckte sie und da hexte sie der alte Teufel in den Allerhöchsten Rat, damit sie ihre Zeit hübsch verbringen konnten – rein mit Einanderauflauern und Einanderbeluchsen. Idioten wie wir waren – baute er alles auf unseren Idiotismen auf! Sonntag wußte, daß der Professor Syme durch ganz London hetzen und daß Syme hinwiederum sich mit mir in Frankreich duellieren würde. Und er vereinigte ungeheure Summen Kapitals und er konfiszierte eine gewaltige Menge Telegraphenlinien, dieweil wir fünf Idioten einer dem andern nachsetzten und wie richtige blöde Jungens ein Blindekuhspiel ausführten.«

»Gewiß?« fragte Syme – mit einer gewissen Festigkeit.

»Gewiß!!« versetzte der andere mit einer plötzlichen Ausgelassenheit, »er fand uns heute und gerad eben Blindekuh spielen auf einer Wiese von seltener ländlicher Schönheit und von außerordentlicher Abgeschiedenheit. Er hat wahrscheinlich die ganze Welt erobert; und nun bleibt ihm nichts mehr als diese kleine Wiese einzunehmen und die paar Narren auf dieser Wiese zu verhaften. Und da Sie ja zu wissen wünschten, welches Bedenken ich gegen die Ankunft dieses Zuges hegte, so will ich es Ihnen jetzt sagen. Ich hatte dieses Bedenken, daß just den jetzigen Augenblick Sonntag oder sein Sekretär aus ihm ausgestiegen sind.«

Syme stieß widerwillens einen Schrei aus, und sie alle sahen wie auf Kommando nach der entfernten Station hinüber. Es war nur allzu wahr: eine beträchtliche Menge Leute schien auf dem kürzesten Weg zu ihnen her. Nur waren sie noch zu weit weg, als daß man irgend etwas hätte unterscheiden können.

»Es war eine Gewohnheit des verflossenen Marquis de St. Eustache«, sprach der neu ausgeschlüpfte Policeman und zog ein ledernes Etui heraus, »stets einen Operngucker mit sich zu führen. Entweder der Präsident oder der Sekretär – kommt mitten unter jenem Gesindel auf uns zu. Sie haben uns an einem hübsch verschwiegenen Plätzchen erwischt, von wo aus wir nicht im geringsten in die Versuchung geraten könnten, unsere Schwüre zu brechen und nach der Polizei zu rufen. Dr. Bull, ich habe Sie unter dem schweren Verdacht, daß Sie durch diesen Gucker besser sehen werden als durch Ihre höchst dekorativen Brillengläser.«

Und er händigte den Krimstecher dem Doktor ein, der unverzüglich seine Brillen abnahm und durch den Apparat hindurchäugte.

»Es braucht so schlimm gar nicht sein, als Sie sagen«, sprach der Professor, und er fröstelte einigermaßen. »Das ist ja ne ganz prächtige Anzahl Leute – gewiß – aber es können ebenso leicht allzusammen lauter gewöhnliche Touristen sein.«

»Haben gewöhnliche Touristen für gewöhnlich«, fragte Bull mit dem Feldstecher auf der Nase, »schwarze Halbmasken vorm Gesicht?«

Syme riß dem Sprecher schier das Glas aus der Hand und sah nun selber durch. Die meisten des anrückenden Haufens schauten in der Tat ordinär genug aus. Aber das war richtig: zwei oder drei der Führer in der Front trugen schwarze Halbmasken – bis fast auf den Mund herab. Eine solche Vermummung ist eine sehr komplette, besonders auf eine solche Entfernung. Und Syme fand, daß es unmöglich war, aus den glattrasierten Kinnladen allein der Herren, die da voran sich unterhielten, irgendwie Vermutungen zu holen. Aber jetzt – jetzt wie sie sprachen, lächelten sie allzusammen . . . und einer von ihnen lächelte ganz und gar einseitig . . .


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