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Der Garten in der Schlucht war fein säuberlich für die Besichtigung der Eltern in Ordnung gebracht. Frische Farrenkräuter waren um den stillen Teich gepflanzt, in dem Annabels Porzellanbadepuppen zu schwimmen pflegten, und frische Moosbänke waren zum Ausruhen für sie aufgehäuft. Der Bach strömte nicht mehr so lebhaft wie im Frühling, er floß ruhig zwischen den grünen Ufern dahin. Juwel war glücklich, daß ihre Mutter den Platz ebenso bezaubernd fand wie sie selbst, und daß sie mit derselben Andacht dem Gesange der Vögel lauschte, die hoch in den Baumwipfeln saßen und von der Gegenwart der unten Weilenden nicht gestört wurden. Es war ein ideales Fleckchen Erde, auf dem sich in den frühen Stunden dieses sonnigen Nachmittags die drei am Rande des Baches niederließen, um mit der Lektüre des Geschichtenbuches zu beginnen.
»Ich will dir die Titel vorlesen, und du kannst wählen, welche Geschichte wir zuerst nehmen wollen,« sagte Frau Evringham.
Juwel verfolgte die Namen mit derselben ungeteilten Aufmerksamkeit wie Annabel.
»Annabel muß zuerst wählen, weil sie die Jüngste ist. Dann komme ich, und darauf du. Annabel wählt die Weihblume; denn sie hat Blumen so gern, und sie kann sich nicht denken, was das bedeutet.« »Schön,« antwortete Frau Evringham lächelnd und lehnte sich behaglich gegen einen Baumstamm, »das kleine Mädchen in dieser Geschichte liebte sie auch,« und dann begann sie laut zu lesen:
Die Weihblume.
Hazel Wright hatte ihren Onkel Dick Badger sehr liebgewonnen, als er ihre Mutter in Boston besuchte. Sie lernte ihn genau kennen. Er war in seiner stillen Art immer freundlich zu ihr, hatte immer Zeit, sie auf den Schoß zu nehmen und alles anzuhören, was sie von ihrer Schule oder ihren Spielen zu erzählen wußte; selbst für ihre Puppe Ella interessierte er sich. Frau Wright lachte darüber und hieß ihren Bruder einen alten Prachtjunggesellen, der manchem Ehemann und Vater zum Beispiel dienen könne; worauf Onkel Dick erwiderte, es hätte ihm immer Spaß gemacht, mit Tugenden zu prahlen, die er nicht besäße, und Hazel hatte sich gewundert, was das heißen sollte. Auf alle Fälle hatte sie Onkel Dick lieb und wünschte, sie könnte immer mit ihm zusammen bleiben; man kann sich also denken, daß die plötzlich getroffene Abmachung, Hazel solle auf einige Wochen mit ihm in die Stadt ziehen, in der er lebte, sehr erfreulich für sie war.
»Vater und ich müssen in Geschäften verreisen, Hazel,« sagte die Mutter eines Tages zu ihr, »und wir wissen nicht recht, was wir mit dir machen sollen. Onkel Dick sagt, er wolle dich mitnehmen, wenn du wolltest.«
»Ach ja, das möchte ich gern,« antwortete die Kleine; sie hatte gerade Ferien und liebte die Abwechslung, »Onkel Dick hat einen großen Hof, wo Ella und ich uns amüsieren können.«
»Das wird euch sicherlich erlaubt werden, und Onkel Dicks Haushälterin Hanna ist eine gute Seele; die kannte mich schon, als ich noch so klein war, wie du jetzt bist, sie wird gut für dich sorgen,« sagte die Mutter.
Am Abend, ehe Hazel mit ihrem Onkel abreisen sollte, hatte Frau Wright ein kleines Privatgespräch mit ihrem Bruder.
»Es ist zu dumm, daß ich Tante Hazel nicht schreiben kann, daß ihre kleine Namensschwester kommt,« sagte sie, »ist sie noch immer so verbittert wie früher?«
»O ja, ebenso.«
»Wie kann sie nur so ganz in deiner Nähe leben und trotzdem so viele Jahre unversöhnlich bleiben. Laß sehen, – acht Jahre sind es, denn Hazel ist zehn Jahre alt, und ich weiß, sie war zwei, als der Erbschaftsstreit begann; aber du warst im Recht, Dick, und eines Tages wird Tante Hazel das einsehen.«
»Ich glaube fest, sie hat schon jetzt klare Momente, in denen sie es weiß,« entgegnete Herr Badger, »aber ihr Stolz verbietet ihr, es einzugestehen. Wenn es ihr Spaß macht, so tut es mir nicht weh, daß sie auf der Straße ohne Gruß und Blick an mir vorübergeht. Wenn so etwas erst jahrelang bestanden hat, ist es nicht leicht zu ändern.«
»Ach, aber es ist so unchristlich, so unrecht,« antwortete seine Schwester. »Mir scheint, Dick, wenn du nur etwas Liebe für sie empfändest, könntest du sie im Sturm erobern.«
Herr Badger entsann sich einer Begegnung und sagte lächelnd: »Einmal habe ich es versucht. Das Stürmen besorgte sie.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich bin ein friedliebender Mensch und habe beschlossen, auch sie in Frieden zu lassen.«
Frau Wright schüttelte den Kopf. »Nun gut, ich habe Hazel nichts davon erzählt. Sie weiß, daß sie nach meiner Tante benannt ist, ahnt aber nicht, wo Tante Hazel lebt, und ich bitte dich, Hanna davor zu warnen, daß sie dem Kinde von ihr und der ganzen Angelegenheit erzählt. Du weißt, wir legen Gewicht darauf, über keinerlei Mißklang zu reden.«
»Ja, ich weiß,« entgegnete Herr Badger lächelnd und nickte. »Aus dem Kinde scheint, dank deiner Methode, ein prächtiges, kleines Mädchen geworden zu sein, und es hat mich gewundert, was für ein ganz anderes Geschöpf auch du jetzt bist.«
»Jawohl, ich bin gesund und glücklich,« erwiderte Frau Wright, »und ich sehne mich danach, diesen Unfrieden zwischen dir und Tante Hazel beendigt zu sehen. Ich vermute, Hazel wird gar nicht mit ihr in Berührung kommen.«
»Nein, gewiß nicht. So wenig, als lebte Tante Hazel in Kamtschatka. Das tut sie eigentlich, denn kalt genug ist es um sie herum.«
»Arme Tante! Meine beiden letzten Briefe hat sie unbeantwortet gelassen, wahrscheinlich, weil ich auf deiner Seite stand.«
»O gewiß, das ist eine unverzeihliche Beleidigung. Hanna sagte mir, sie hätte jetzt ein verkrüppeltes Kind bei sich zum Besuch, die Tochter irgendeiner Freundin. Hanna bleibt dabei, Tante Hazels Angelegenheiten im Auge zu behalten und mir davon zu berichten; sie wird sich übrigens freuen, Klein-Hazel für einige Wochen verziehen zu können.«
Das traf zu, die Haushälterin war höchst erfreut. Sie tat alles, damit Hazel sich bei ihrem Onkel ganz zu Hause fühlen sollte, und als sie die große Vorliebe der Kleinen für Blumen entdeckte, erlaubte sie ihr, sich ein eigenes Beet anzulegen. Hazel kaufte Pflanzen mit ihr ein, und es machte ihr viel Spaß, die Geranien und Stiefmütterchen aus den Töpfen zu nehmen und in die weiche, braune Erde zu setzen. Täglich saß die blauäugige Ella, ihre Puppe, daneben und sah zu, wie Hazel jedes kleine grüne Unkraut auszog, das des Nachts den Kopf herausgesteckt hatte.
»Du bist nur Gras,« sagte sie zu dem kleinen Grashalm, als sie ihn herauszog, »und Gras kann wohl überall wachsen; aber dies ist ein Blumenbeet, also mach', daß du fortkommst.«
Weiter hinunter an der Straße lag ein wirklicher Garten, in den Hazel so gern hineinsah, daß sie Ella jeden Tag dorthin trug, wenn es nicht regnete, und sie wäre auch hingegangen, wenn es regnete, aber Hanna wollte es nicht erlauben.
Die Besitzerin des Gartens, Fräulein Fletcher, bemerkte schließlich die kleine Fremde von dem Fenster aus, an dem sie mit ihrem Nähzeug saß, denn die Kleine stand mit ihrer Puppe draußen vor dem Zaun und schaute und schaute jedesmal so lange hinüber, daß die Dame schließlich anfing, sie mit Argwohn zu betrachten.
»Diese Kleine scheint es auf meine Blumen abgesehen zu haben, Flossie,« sagte sie eines Tages zu dem bleichen kleinen Mädchen im Rollstuhl am anderen Fenster.
»Ich habe sie schon öfter beobachtet,« antwortete Flossie teilnahmslos, »sie kommt erst seit dieser Woche und immer allein.«
»Sie soll aber nicht auf meinen Zaun klettern!« rief Fräulein Fletcher, ließ ihre Arbeit sinken und spähte durch ihre Brille scharf nach Hazels Bewegungen. »Da, jetzt stützt sie sich schon auf den Zaun!« rief sie plötzlich. »Ich will ihr das aber schnell verbieten.«
Sie sprang auf und eilte aus dem Zimmer; Flossies müde Blicke folgten der hageren Gestalt, die den Gartenweg hinunterschritt. Der Kranken war es gleichgültig, ob Fräulein Fletcher das fremde Kind fortwies oder nicht. Was konnte das einem Kinde ausmachen, das in der ganzen weiten Welt spazierengehen, seine Puppe nehmen und mit ihr an einem andern schönen Platz spielen konnte?
Als Hazel Fräulein Fletcher kommen sah, richtete sie ihren Blick auf das strenge Gesicht, das noch schärfer erschien durch das straff zurückgekämmte dunkle Haar, und sie begrüßte sie mit einem so gewinnenden Lächeln, daß der bereitgehaltene Tadel der Dame sehr abgeschwächt zum Ausdruck kam.
»Geh' von dem Zaun hinunter, kleines Mädchen,« sagte sie. »Du darfst dich nicht, an die Pfähle hängen, sonst brechen sie ab.«
»O ja,« antwortete Hazel und sprang rasch hinunter, »daran habe ich nicht gedacht. Ich wollte so gern sehen, ob die Lilienknospe geöffnet wäre, die gestern so aussah, als ob sie heute blühen würde; und sie ist richtig offen.«
»Welche denn?« fragte Fräulein Fletcher und sah sich um.
»Gerade da hinter dem zweiten Rosenbusch,« entgegnete Hazel und hielt Ella mit einer Hand fest, während sie mit der andern auf die Lilie hinwies.
»Richtig,« sagte Fräulein Fletcher und ging zu der Pflanze hinüber.
»Das ist die Schönste von allen, glaube ich,« fuhr die Kleine fort. »Sie erinnert mich an die Weihblume.«
»Woran?« Fräulein Fletcher betrachtete das fremde Kind voll Neugier. »Davon habe ich nie gehört.«
»Das ist die vollkommene Blume.«
»Wo hast du sie gesehen?«
»Gesehen habe ich sie nie, aber davon gelesen.«
»Wo kann man die kaufen?« Augenblicklich war Fräulein Fletcher bei der Sache, denn Blumen waren ihr Steckenpferd.
»In der Geschichte heißt es: im Volksgarten; ich bin in Boston im Volksgarten gewesen, aber ich habe dort keine so schöne gesehen wie Ihre.«
Hazel hatte nicht die Absicht, Fräulein Fletchers Herz zu gewinnen, aber den richtigen Weg dazu hatte sie unwillkürlich eingeschlagen.
Die alte Dame wandte das sorgendurchfurchte Gesicht der Kleinen zu und betrachtete sie noch schärfer als zuvor; dann sagte sie: »Ich kann dich nicht unterbringen. Ich dachte, mir wären alle Kinder in der Umgegend bekannt.«
»Ich bin zum Besuch hier; ich wohne in Boston auf einer Etage, und wir haben natürlich keinen Spielplatz; deshalb finde ich Ihren Garten herrlicher als alles andere. Ich komme jeden Tag, um hineinzusehen, und es macht mir Spaß, hier zu stehen und herauszufinden, was hier alles duftet.«
Über Fräulein Fletchers Miene zuckte ein Lächeln, das etwas Gewaltsames an sich hatte, weil ihre Lippen so fest aufeinandergepreßt waren.
»Das kommt nicht oft vor, daß Kinder Blumen gern haben, außer wenn sie sie pflücken können,« antwortete sie. »Ich kann nachts oft nicht schlafen bei dem Gedanken, daß mein Garten so nah an der Straße liegt.«
Die Kleine wies lächelnd auf eine Ranke der Kletterrose, die von dem Stock heruntergeglitten war, und auf eine rosa Blüte, die ihr süßes kleines Gesicht durch den Zaun steckte. »Sehen Sie diese, die wollte gern die Straße auf und ab sehen, meinen Sie nicht auch?«
»Und du hast sie nicht gepflückt!« Fräulein Fletcher sah Hazel beifällig an. »Wirklich, für jemand, der Blumen so gern hat wie du, war das heroisch.«
Sie muß netter Leute Kind sein, dachte sie.
»O, das ist ja eine Gartenblume,« entgegnete das Kind, »das wäre Irrtum gewesen; eine Feldblume hätte ich gepflückt.«
»Irrtum, so?« sagte Fräulein Fletcher und wieder teilte ein Lächeln die schmalen Lippen. »Ich wollte, das wäre eine allgemeine Ansicht.«
»Onkel Dick erlaubte mir, ein Beet zu machen,« sagte Hazel. »Ich durfte mir Geranien und Stiefmütterchen und süßduftende Verbenen kaufen – die habe ich zu gern, Sie nicht auch?«
»Ja, hier hinten habe ich eine besonders große Pflanze davon. Möchtest du nicht hereinkommen und sie ansehen?«
»Danke schön,« entgegnete Hazel mit leuchtenden Augen, und Fräulein Fletcher war ganz beglückt über die Freude, die ihre Einladung hervorrief. Die meisten ihrer Freunde beachteten ihren Garten gar nicht weiter und lächelten nachsichtig über ihre Liebhaberei.
Im Augenblick war die Kleine an die weiße Gitterpforte gelaufen und trat auf die Besitzerin des Hauses zu, die neben den üppigen, in voller Sommerpracht blühenden Pflanzen stand.
Die nächste Viertelstunde verging ihnen im Fluge. Sie schwatzten, verglichen diese und jene Blüte und freuten sich ihres Duftes; in dem gemeinsamen Interesse wurden sie blitzschnell miteinander bekannt. Fräulein Fletcher war so erfreut, wie lange nicht. Hazels Interesse erreichte den Höhepunkt, als ihre Gastgeberin sich neben einem Verbenenbeet auf die Knie niederließ und aus ihrem festaufgesteckten Haar stählerne Nadeln herausnahm, um die üppigen Pflanzenzweige niederzulegen, damit sie weiterwurzeln und sich ausbreiten könnten.
»Ich will Onkel Dick bitten,« sagte sie voll Bewunderung, »ob ich nicht auch ein paar Verbenen und ein kleines Paket Haarnadeln haben darf.«
»Ich wollte, Flossie hätte ebenso großes Interesse an dem Garten wie du,« sagte Fräulein Fletcher.
»Flossie klingt nach einer kleinen Katze,« bemerkte Hazel.
»Sie ist ein menschliches Kätzchen, ein armes, elendes, kleines Mädchen, das zum Besuch bei mir ist. Du kannst sie da im Hause am Fenster sitzen sehen.«
Hazel hob den Kopf und erblickte ein blasses Gesichtchen. Verwunderung malte sich in ihren Augen. »Wer machte sie elend?« fragte sie sanft.
»Ihr himmlischer Vater, aus weisem Vorsatz,« lautete die Antwort.
»O, das kann nicht sein!« rief das Kind. »Sie wissen doch, Gott ist die Liebe.«
»Ja, ich weiß,« entgegnete Fräulein Fletcher, überrascht über eine so bestimmte Antwort aus dem Kindermund, »aber wir dürfen nicht fragen, worin seine Liebe besteht. Sie ist so ganz anders, als unsere sterblichen Begriffe von Liebe sind. Mit Flossies Rücken ist etwas nicht in Ordnung, sie kann nicht gehen. Die Ärzte sagen, es sei nervös, und es würde sich vielleicht auswachsen; aber mir scheint, es wird immer schlimmer.«
Hazel beobachtete die Sprechende voll Sorge und Beklommenheit. »Ach,« sagte sie, »wenn Sie meinen, Gott hätte sie so werden lassen, wer soll sie dann wohl heilen können?«
»Niemand, wie es scheint. Ihre Familie hat für derartige Versuche mehr ausgegeben, als sie aufwenden kann. Sie haben sie arm gemacht, aber bisher hat ihr niemand geholfen.«
Hazels Blick wanderte über die Rosen und Lilien und zurück zu Fräulein Fletchers Gesicht. Die Dame betrachtete sie voll Neugier. Sie sah an dem wechselnden Gesichtsausdruck der Kleinen, daß viele Gedanken sie beschäftigten, während sie mit ihrer Puppe im Arm ruhig dastand.
»Du siehst aus, als möchtest du etwas sagen,« bemerkte sie schließlich.
»Ich möchte nicht unhöflich sein«, erwiderte Hazel zögernd.
»Ach,« sagte Fräulein Fletcher trocken, »wenn du wüßtest, wieviel Unhöflichkeit mir Zeit meines Lebens entgegengebracht worden ist, würdest du ohne Zögern dem noch ein wenig hinzufügen können. Sprich frei heraus und sag' mir, was du denkst.«
»Ich dachte, wie wunderbar und wie schön es ist, daß die Blumen für jedermann blühen,« sagte Hazel halb widerstrebend.
»Wieso?« fragte ihre neue Freundin abermals sehr erstaunt. »Denkst du, ich verdiene sie nicht?«
»O, Sie verdienen sie natürlich,« antwortete die Kleine schnell, »aber wenn Sie solche Ansichten über Gott haben, ist es seltsam, daß Seine Blumen in Ihrem Garten so schön blühen können.«
Fräulein Fletcher fühlte, wie ihr das Blut in das Gesicht stieg.
»Bewahre!« erwiderte sie ziemlich scharf, »was hast du denn für Religionsunterricht gehabt? Du bist groß genug, um zu wissen, daß es Sache eines Christen ist, sich in Gottes Willen zu ergeben. Du scheinst mir nicht viel kranke Leute gesehen zu haben, – wie heißt du?«
»Hazel.«
»Ach, das ist seltsam, das ist auch mein Name, und dabei ist es kein sehr gebräuchlicher.«
»Ist das nicht nett!« sagte die Kleine. »Beide heißen wir Hazel und beide haben wir die Blumen so lieb!«
»Ja; das ist ein eigenartiges Zusammentreffen. Warum sollten nun aber für mich keine Blumen wachsen, möchte ich wissen?«
»Ja, Sie denken, Gott machte den Rücken des kleinen Mädchens schwach, so daß sie nicht gehen kann. Aber, Fräulein Fletcher,« die Stimme der Kleinen wurde ernster, »Er würde das so gewiß nicht tun, wie ich hier niederknieen und den Stengel der lieblichen Weihblume brechen würde, um sie herunterhängen und verwelken zu lassen.«
Fräulein Fletcher schob die Brille hoch und sah in die klaren, grauen Augen vor sich.
»Glaubt Flossie auch, daß Er das tun könnte?« fügte Hazel verwundert hinzu.
»Ich denke wohl, daß sie das annimmt.«
»Und doch betet sie?«
»Natürlich tut sie das.«
»Was muß sie dann für ein gutes Kind sein!« rief Hazel ernst.
»Was meinst du damit?«
»Weil ich nicht zu jemand beten würde, von dem ich glaubte, er ließe mich im Elend.«
Fräulein Fletcher schreckte zurück. »Himmel, Kind!« rief sie. »Man sollte meinen, es müsse ein Donner vom Himmel kommen! Um Gotteswillen, wo geht deine Familie zur Kirche?«
»In die Kirche der Christlichen Wissenschafter.«
»Ach – so steht es mit dir! Flossies Verwandten haben auch davon gehört und Flossies Mutter gequält, es damit zu versuchen. Ich würde sicher alles versuchen, was nicht gotteslästerlich ist.«
»Was ist gotteslästerlich?«
»Nun – nun – alles, was keine Ehrfurcht vor Gott ausdrückt, ist gotteslästerlich.«
»Ach so,« erwiderte Hazel und fügte leise hinzu: »aber dann sind Sie es doch!«
»Was?« Fräulein Fletcher richtete sich in ihrem Erstaunen zu voller Höhe auf.
»O bitte, verzeihen Sie mir. Ich wollte nicht unhöflich sein; aber wenn Sie es doch versuchen möchten, dann würden Sie sehen, was für einen Fehler Sie und Flossie gemacht haben, und daß Gott sie heilen will.«
Die beiden sahen sich einen Augenblick schweigend an; das Herz der Kleinen schlug heftig, als sie den strafenden Blick fühlte.
»Du könntest Flossie einmal besuchen,« schlug Fräulein Fletcher zuletzt vor. »Sie hat Langeweile, die Ärmste. Ich habe schon andere Kinder gebeten, sie zu besuchen, und sie sind alle freundlich zu ihr gewesen; aber jetzt während der Ferien sind viele Bekannte verreist.«
»Das will ich tun,« antwortete Hazel. »Kommt sie nicht gern hier heraus zu den Blumen?«
»Ja, heute ist es etwas zu trübe und schwül gewesen, aber wenn es morgen schön ist, will ich sie unter die große Ulme fahren, und dann würde sie sich freuen, wenn du kämst. Wohnst du weit von hier?«
»Nein, Onkel Dick wohnt hier in dieser Straße.«
»Badger,« antwortete Hazel und sah nicht, wie steif und kühl Fräulein Fletchers Haltung plötzlich wurde.
»Und wie ist der deine?« fragte die Dame mit veränderter Stimme.
»Wright.«
Dieses Mal hätte jeder, der für etwas anderes außer für die Blumen Augen hatte, deutlich sehen können, wie Fräulein Fletcher zurückfuhr. Ihr Gesicht rötete sich, und die Augen wurden ihr feucht. Dies war das Kind ihrer lieben Mabel Badger; ihre kleine Namensschwester, ihr eigen Fleisch und Blut!
Mühsam zwang sie sich zu der weiteren Frage: »Hast du je mit deinem Onkel Dick von meinem Garten gesprochen?«
»O ja, gewiß. Darum hat er mir ja erlaubt, selbst einen kleinen anzulegen; jeden Abend fragt er mich: ›Na, wie sieht Fräulein Fletchers Garten heute aus?‹, und dann erzähle ich ihm alles.«
»Und hat er dir nie etwas von mir erzählt?«
»Wieso? nein!« Das Kind sah sehr verwundert auf. »Er kennt Sie doch nicht, nicht wahr?«
»Früher kannten wir uns«, entgegnete Fräulein Fletcher steif.
In diesem besonderen Falle hatte Dick sich allerdings tadellos benommen, wenigstens hatte er nicht gelogen.
»Hazel ist solch' ungewöhnlicher Name,« fuhr sie nach einer Pause fort. »Nach wem hat man dich so genannt?«
»Nach der Lieblingstante meiner Mutter,« sagte das Kind.
»Und wo lebt die?«
»Das weiß ich nicht,« antwortete Hazel. »Mutter erzählte mir von ihr am Abend, ehe Onkel Dick und ich von Boston abreisten. Sie sagte, wie lieb sie Tante Hazel hätte; aber der Irrtum hätte sich eingeschlichen, und daher könnten sie sich jetzt nicht sehen, aber Gott würde es eines Tages schon alles wieder gutmachen. Ich habe einen hübschen, silbernen Löffel, den sie mir schenkte, als ich noch ein Baby war.«
Fräulein Fletcher bückte sich und schnitt mit der Schere, die an ihrem Gürtel hing, ein Sträußchen Reseda ab.
»Hier hast du etwas zu riechen für den Heimweg,« sagte sie. Hazel sah, daß die Hand, die ihr die Blumen reichte, zitterte.
»Gibst du wohl einer Fremden mal einen Kuß?« fügte die alte Dame hinzu, als sie aufstand.
Hazel hob ihr Gesichtchen auf, umfaßte Fräulein Fletchers Arm und küßte sie. »Sie sind so freundlich zu mir gewesen,« sagte sie herzlich, »es war wunderschön.«
»Du kannst die Kletterrose pflücken, wenn du vorübergehst,« sagte Fräulein Fletcher. »Sie scheint sich hinauszusehnen in die Welt. Nimm sie mit und vergiß nicht, morgen zu kommen; hoffentlich wird es schön.«
Sie blieb stehen und sah der Kleinen nach, wie sie den Weg entlang trippelte.
Das Kind sah zurück und pflückte lächelnd die rote Rose. Als sie Fräulein Fletcher Kußhändchen zuwarf, erwiderte die alte Dame den zärtlichen Gruß; dann ging sie ins Haus. Auf ihren Wangen lag noch ein helles Rot.
»Wie lange du fortgeblieben bist, Tante Hazel,« sagte die kleine Kranke verdrießlich.
»Ja, das mag wohl sein,« antwortete Fräulein Fletcher. Flossie bemerkte, daß die Stimme ungewöhnlich lebhaft klang.
»Was ist das für ein kleines Mädchen?«
»Sie heißt Hazel Wright und wohnt bei Badgers. Sie ist eine ebenso große Blumenfreundin wie ich, also hatten wir uns eine Menge zu erzählen. Sie hielt mir auch einen Vortrag über Religion,« die Sprechende lachte erregt auf. »Sie ist ein ungewöhnliches Kind, und sie sieht jedenfalls den Fletchers ähnlich.«
»Was? Ich meinte, du sagtest, ihr Name sei Wright.«
»So ist es, ich versprach mich. Morgen will sie dich besuchen, Flossie. Wir müssen deine Puppe zurechtmachen, ich will heute nachmittag noch ihr rosa Kleid waschen und plätten; denn Hazel selbst hat eine wunderschöne Puppe. Ich denke, das kleine Mädchen wird dir gefallen.«
Als Onkel Dick und Hazel an dem Tage beim Abendbrot saßen, fragte Herr Badger, wie gewöhnlich, nach ihren Tageserlebnissen.
»Ich habe mich so schön amüsiert,« antwortete sie. »Ich war bei Fräulein Fletcher. Sie lud mich ein, ihren Garten zu besehen. Wir haben alle Blumen bewundert, und es war herrlich!«
Hanna stand hinter dem Stuhl der Kleinen. Ihre Augen sprachen Bände, als sie ihrem Herrn bedeutsam zunickte.
»Jawohl, Herr Badger, Hazel hat Fräulein Fletcher erzählt, wo sie zum Besuch ist, und sie brachte ein Sträußchen Reseda und eine Rose von dort mit nach Hause.«
»Ja,« pflichtete Hazel bei, »sie stehen im Wohnzimmer in einer Vase, und morgen hat sie mich eingeladen, ein kränkliches, kleines Mädchen zu besuchen, das bei ihr wohnt. Du weißt doch, Onkel Dick,« Hazel blickte ihn ernsthaft an, »du weißt doch, daß überall in der Bibel steht, wer mühselig und beladen ist, soll zu Gott gehen, und der hilft allen, und was denkst du wohl! Fräulein Fletcher und die kleine Flossie glauben beide, Gott habe Flossies Rücken so steif werden lassen, daß sie nicht gehen kann!«
Herr Badger lächelte über den verwunderten Blick. »Das ist nicht christlich wissenschaftlich, wie?« fragte er.
»Lieber möchte ich niemals einen Garten haben, selbst nicht solch einen Garten wie Fräulein Fletchers, wenn ich das denken müßte,« erklärte Hazel, während sie weiteraß. »Sie tun mir so leid!«
»Also morgen gehst du hinüber,« sagte Herr Badger, »und was hast du vor? Willst du die kleine Kranke behandeln?«
»O nein, gewiß nicht, nur, wenn sie mich darum bittet.«
»Weshalb denn nicht?«
»Weil das Irrtum wäre; es ist die größte Unschicklichkeit, jemand zu behandeln, der nicht darum gebeten hat; aber ich darf keinen Augenblick vergessen, daß ihre Annahme eine Lüge ist, und daß Gott nichts davon weiß.«
»Ich dachte, Gott wüßte alles,« sagte Herr Badger mit einem gespannten Blick auf das Kind.
»Das tut er auch, natürlich, alles, was immer und ewig bleibt, alles, was schön und gut und stark ist. Alles, woran Gott denkt, muß bestehen.« Das Kind zuckte mit den Schultern. »Ach, wie bin ich froh, daß Fehler keinen Raum in seinen Gedanken haben, – Krankheit und so etwas alles – freut dich das nicht auch?«
»Ich möchte sicherlich nicht, daß Krankheit ewig währte,« erwiderte Herr Badger.
Der folgende Tag war klar und hell; früh am Nachmittag ging Hazel in einem reinen Waschkleid, die Puppe im Arm, die Straße hinunter zu Fräulein Fletcher.
Der Rollstuhl stand schon draußen unter der Ulme, und Flossie sah nach ihrem Besuch aus. Fräulein Fletcher saß mit einer Näharbeit neben ihr und wartete mit versteckter Ungeduld auf das Erscheinen des frischen kleinen Gesichts.
Sobald Hazel um die Ecke des Gitters bog und Flossie sah, begann sie zu laufen, den Blick erwartungsvoll auf die weiße Gestalt im Rollstuhl gerichtet. Die müden, blauen Augen der Kranken beobachteten sie neugierig, als sie den Gartenweg heraufgelaufen kam und quer über den Rasen auf den großen, schattenspendenden Baum zustrebte.
Hazel war nie in die Nähe einer Kranken gekommen. Flossies Erscheinung und die Blässe der dünnen Hände, die die Puppe in dem rosa Kleid festhielten, brachten dem gesunden Kinde Tränen in die Augen und machten ihr Herz schneller schlagen.
»Lieber Vater, ich möchte ihr helfen!« sagte sie unhörbar. Fräulein Fletcher schenkte sie keine Beachtung, sondern ging, Verwunderung und Mitleid im Blick, gerade auf den Stuhl der Kranken zu.
»Flossie Wallau, dies ist Hazel Wright,« sagte die alte Dame, und Flossie lächelte leicht, als sie soviel Liebe aus Hazels Augen zu sich hinüberstrahlen sah.
»Es freut mich, daß du deine Puppe mitgebracht hast,« begann Flossie.
»Ella begleitet mich überall hin,« sagte Hazel. »Wie heißt deine Puppe?«
»Beatrice; ich finde, Beatrice ist ein schöner Name,« sagte Flossie.
»Das finde ich auch,« meinte Hazel. Dann schwiegen beide Kinder einen Augenblick und sahen sich an, ohne recht zu wissen, was sie weiter sprechen sollten.
Hazel begann mit der Frage: »Ist es nicht schön, einen solchen Garten zu haben?«
»Ja, Tante Hazel hat schöne Blumen.«
»Ich habe auch eine Tante Hazel,« sagte der kleine Gast.
»Fräulein Fletcher ist nicht meine wirkliche Tante, ich nenne sie nur so.«
»Und du könntest es ebenso machen,« schlug Fräulein Fletcher vor und sah Hazel an, für die ihr Herz sich mehr und mehr erwärmte, trotz der erstaunlichen Anklagen vom Tage vorher.
»Meinen Sie, ich könnte Sie Tante Hazel nennen?« fragte das Kind etwas zaghaft.
»Weil du dich mit mir durch meinen Garten, verwandt fühlst, wäre es wohl möglich. Meinst du nicht auch?«
»Was macht die Weihblume heute?« fragte Hazel.
»Welche? Ach, du meinst die Lilie; die ist noch in der Knospe.«
»Darf ich sie sehen?« rief Hazel, »und möchtest du nicht mitkommen?« wandte sie sich an Flossie. »Vielleicht kann ich deinen Stuhl fahren?«
»Ja gewiß!« sagte Fräulein Fletcher erfreut. »Er läßt sich leicht fahren; gib Flossie auch deine Puppe, dann wollen wir alle zusammen die Lilienknospe ansehen.«
Hazel gehorchte, sorgsam schob sie den leichten Stuhl, und so kamen sie langsam an den Platz, wo die weißen Blütenkelche der Gartenlilien ihren Duft ausströmten.
»Fräulein Fletcher,« rief Hazel aufgeregt und ließ sich neben dem Beet auf die Knie nieder, »das wird die allerschönste. Wenn sie ganz offen ist, ist die Pflanze so weit, daß man sie dem Könige bringen muß.«
Lächelnd sah die Kleine zu ihrer Gastgeberin auf.
»Welcher König soll meine Lilie haben?«
»Der, welcher Sie aussenden wird.«
»Auf welche Sendung denn?« fragte Fräulein Fletcher aufs höchste interessiert.
»Das weiß ich nicht.« Hazel schüttelte den Kopf. »Jedermanns Auftrag ist verschieden.«
»Was heißt ausgesandt werden?« fragte Flossie.
»Erzähl' es ihr, Hazel.«
»Mutter sagt, es heißt auf die Suche nach einem Schatz gesandt werden.«
»Du mußt uns diese Geschichte von der Weihblume einmal erzählen,« sagte Fräulein Fletcher.
»Ich habe die Geschichte hier,« sagte Hazel eifrig. »Ich habe sie wieder und wieder gelesen, weil ich sie so liebe, deshalb hat meine Mutter sie mir mit meinen christlich-wissenschaftlichen Büchern in den Koffer gepackt. Ich kann sie herbringen und Ihnen vorlesen, wenn Sie wollen. Sie würden sie auch leiden mögen, das weiß ich, Fräulein Fletcher.«
»Tante Hazel hat mir gesagt, daß du eine christliche Wissenschafterin bist«, sagte Flossie. »Ich habe noch nie eine getroffen, aber die Leute haben Mutter davon erzählt.«
»Ich könnte die Bücher ja auch herüberbringen,« antwortete Hazel sinnend, »und wir könnten jeden Tag die Lektion lesen, und vielleicht würdest du dich danach besser fühlen.«
»Ich weiß aber noch nicht, was darin steht!« sagte Flossie.
»Es steht vom Heilen der Kranken und vom Bekehren der Sünder darin.«
»Ich bin auch oft sündhaft,« entgegnete Flossie. »Manchmal mag ich gar nicht leben und wollte, ich brauchte nicht zu leben, und jeder sagt, das ist sündhaft.«
Fräulein Fletchers Augen füllten sich mit Tränen, und als die kleinen Mädchen sich ganz vertieft anblickten, Hazel dicht an Flossies Stuhl geschmiegt, stahl sie sich unbemerkt ins Haus.
»Sie müßte geheilt werden,« sagte sie sich. »Sie müßte geheilt werden. Nun gibt es doch noch eine Möglichkeit. Ich bin jetzt auf dem Punkt angekommen, daß ich bereit bin, die Säuglinge und Unmündigen ihr Heil versuchen zu lassen.«