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Sechstes Buch.


Einleitungs-Kapitel.

Im Original steht hiernach der Untertitel »Wherein Mr. Caxton is profoundly meatphysical«; Kolb hat diesen fortgelassen, und Winterfeld ist ihm darin gefolgt.

» Das Leben,« sagte mein Vater in strengstem dogmatischen Tone, »ist eine gewisse Quantität der Zeit, die wir aus zweierlei Weise betrachten können; erstens als ein integrales, vollständiges Leben; zweitens als ein fractionelles, gleichsam in Brüche aufgelöstes Leben. Das integrale Leben ist jenes vollkommene Ganze, jener Ausdruck eines gewissen, größeren oder kleineren Werthes, welchen Jedermann in sich selbst besitzt. Das fraktionelle Leben ist dasselbe Ganze, aber so, wie es Andere in Beschlag nehmen und, so zu sagen, überfallen, um es unter sich zu vertheilen. Diejenigen, welche ein großes Stück davon erhaschen, sagen: ›Das ist ein sehr werthvolles Leben!‹ Diejenigen endlich, welche bei diesem Grapsen nichts erwischen, rufen aus: ›Es taugt nichts!‹«

»Ich verstehe nichts von alle Dem, was du da sagst,« brummte Capitän Roland.

Mein Vater warf einen mitleidsvollen Blick auf seinen Bruder. »Ich will es so klar machen, daß selbst du es verstehst. Wenn ich ganz allein in meinem Studirzimmer sitze, die Thüre sorgfältig vor Euch Allen verschlossen, und ich mit meinen Büchern und Gedanken allein bin, dann befinde ich mich im vollen Besitz meines integralen Lebens. Ich bin totus, teres atque rotundus Nach Horaz, Sermones, II, 7, 86: »vollkommen, geschliffen und rund«. – ich bin ein ganzes menschliches Wesen, dessen Werth – wir wollen zur Erklärung der Sache eine runde Summe annehmen – gleich 100 Pfund ist. Wenn ich aber in das gemeinschaftliche Wohnzimmer eintrete, dann steckt Jeder, für den ich irgend welchen Werth habe, seine Finger in den Sack, der mich enthält, und nimmt von mir heraus, was er braucht. Kitty verlangt, daß ich eine Rechnung bezahlen soll, Pisistratus, daß ich ein paar Dutzend Bücher für ihn durchlese und ihm dadurch Zeit und Mühe erspare; die Kinder, daß ich ihnen Geschichten erzähle oder Versteckens mit ihnen spiele, die Karpfen, daß ich ihnen Brodkrumen gebe und so geht es fort durch die ganze Gesellschaft, der ich mich unvorsichtiger Weise selbst hingegeben habe, damit sie mich ausplündern und unter sich vertheilen können. Die 100 Pfund, welche ich in meinem Studirzimmer repräsentirte, werden jetzt in kleine Theile geschieden. Für Kitty bin ich 40–50 Pfund, für Pisistratus 20 Pfund und für die Karpfen vielleicht 30 Schillinge werth. Dies nenne ich fractionelles Leben: und ich höre auf, ein integrales Wesen zu sein, bis ich wieder nach meinem Studirzimmer zurückkehre und meine Thüre vor jeder andern Existenz, als der meinigen, verschließe. Indessen ist es vollkommen klar, daß ich für Diejenigen, welche gar nichts von mir erhalten, keinen Heller werth bin, mag ich nun in meinem Studirzimmer oder im gemeinschaftlichen Wohnzimmer mich aufhalten. Einem Eingebornen von Kamtschatka Dünn besiedelte Halbinsel im ostasiatischen Teil Russlands. Die dort lebenden Ureinwohner, die Korjaken, Itelmenen, Ewenen, Tschuktschen und Aleuten (Unangan), wurden von Russland im 18. Jh. blutig unterworfen und fast ausgerottet. muß es vollkommen gleichgültig sein, ob Austin Caxton aus dem großen Rechnungsbuche menschlicher Wesen gestrichen wird, oder nicht.«

»Hieraus,« fuhr mein Vater fort, »hieraus folgt, daß es, je fractioneller ein Leben ist, id est, je größer die Zahl der Personen ist, unter welche es vertheilt werden kann, desto mehr Leute gibt, welche sagen: ›das ist ein sehr werthvolles Leben!‹ So hat der Führer einer politischen Partei, ein Eroberer, ein König, ein Schriftsteller, der Hunderte oder Tausende oder Millionen unterhält, eine größere Anzahl von Personen, welche sein Werth interessirt oder angeht, als St. Simon Stylites Symeon Stylites der Ältere, auch Simeon, der Stylit (»der Säulenheilige«) genannt (389-459). Er lebte als Anachoret über mehrere Jahrzehnte auf einer Säule, um durch strenge Askese zu ständiger Gemeinschaft mit Gott zu finden. haben konnte, nachdem er sich auf die Spitze einer Säule gestellt hatte; obgleich St. Simon, wenn man einen Jeden an sich betrachtet, in seiner Ertödtung des Fleisches, in der Einbildung, daß er dadurch seinem göttlichen Wohlthäter gefällig sei, vielleicht eine größere Summe von moralischem Werth repräsentirte als Bonaparte oder Voltaire.«

Pisistratus. »Vollkommen klar, Sir; allein ich sehe nicht, was dies mit Meiner Novelle zu thun hat.«

Mr. Caxton. – »Sehr viel. Deine Novelle wird, wenn sie eine vollständige und umfassende Uebersicht über das » quicquid agunt homines« Nach Juvenal, Satiren, I, 85f.: Quidquid agunt homines, votum timor ira voluptas gaudia discursus nostri farrago libelli est: »Was auch immer Menschen tun: ihre Hoffnung, Furcht, Wut, Genüsse, Freude und Geschäfte – ist Stoff meines kleinen Buches.« – Wie Juvenal hier die Satire als »Weltdichtung« bestimmt, gibt Bulwer zugleich für sein Erzählen den poetologischen Standpunkt. Dieser deutete sich bereits in seinem frühen Roman »Pelham« (1828) an, in dessen 52. Kapitel er die Figur Vincent sagen läßt: »[…] jeder gute Roman hat Einen großen Zweck und alle denselben – nemlich unsre Kenntniß des menschlichen Herzens zu vermehren. In diesem Sinne muß ein Novellenschreiber Philosoph seyn. […] Die Menschheit – das ist das Feld, welches der Novellenschreiber bearbeiten soll: die Wahrheit, die Moral überhaupt soll seine Ausbeute seyn. […]« (nach der Übersetzung von Gustav Pfizer, 1836). sein soll – was sie werden muß. Angesichts der Länge und Breite, zu welcher du sie, wie ich aus der langsamen Entwickelung deiner Geschichte schließen muß, auszudehnen beabsichtigst – die beiden Standpunkte, von welchen aus man die menschliche Existenz betrachten kann, den integralen und fractionellen nämlich, zu berücksichtigen haben. Du hast uns in Leonard den ersten gezeigt, als er in der Hütte seiner Mutter saß oder an dem kleinen Springbrunnen in Riccabocca's Garten ausruhte. Und in Uebereinstimmung mit dieser Weise, sein Leben zu betrachten, hast du ihn verhältnißmäßig mit Integralen umgeben, die nur durch die zarte Hand ihrer nächsten Familien und Nachbaren, deines Squires und Pfarrers, deines verbannten Italieners und seiner Jemima vertheilt werden. Bei allen diesen ist das Leben mehr oder weniger ein Naturleben, und dieses ist immer mehr oder weniger das integrale Leben. Sodann kommt das künstliche Leben, welches immer mehr oder weniger das fractionelle Leben ist. In dem natürlichen Leben, in welchem wir nur von unseren angeborenen Impulsen und Wünschen in Bewegung gesetzt werden und nur dem großen ruhigen Gesetze der Tugend dienen (welches die Welt durchdrungen hat, seit sie sich aus dem Chaos herausrang), hat ein Mensch soviel Werth, wie in ihm selbst steckt. Newton war, bevor der Apfel vom Baume fiel, ebenso viel werth, als da ganz Europa dem Entdecker des Princips der Schwere Beifall spendete. In dem künstlichen Leben jedoch haben wir nur insofern einen Werth, als wir Andere interessiren, und in Bezug auf dieses Leben stieg Newton's Werth um mehr als eine Million Procent in dem Augenblick, da der Apfel herabfiel, in welchem Umstande zuletzt seine Entdeckung ihren Ursprung hatte. – Um die Civilisation im Gange zu erhalten und über die Welt das Licht des menschlichen Verstandes zu verbreiten, haben wir in unserem Innern gewisse Wünsche, die stets über die Ruhe und Abhängigkeit hinauszudrängen suchen, welche uns als Integralen zukommen. Ein so kalter Verstandesmensch Newton auch sein mochte, (er nahm niemals die Hand einer Dame in die seinige, Kitty, und bediente sich ihres Zeigefingers als Pfeifenstopfer – ein großer Philosoph!) – so kalt er auch sein mochte, so ließ er sich doch bewegen, seine Entdeckung der Welt preiszugeben, und zwar aus Beweggründen, welche in Qualität sehr wenig von denen verschieden sind, die Doctor Squills veranlassen, Artikel über die Schädel von Buschmännern und Beutelthieren in das phrenologische Journal zu schreiben. Denn es ist die Eigenschaft des Lichtes, in die Ferne zu dringen. Wenn der Mensch Licht in sich besitzt, so muß es hinausgehen, aber das erste Austreten des Genies aus seinem integralen Zustande (in welchem es auf seinem eigenen Reichthume ruhte) in den fractionellen geschieht gewöhnlich auf einem harten und gemeinen Wege. Es läßt die Träumereien der Einsamkeit, die Ruhe der Selbstbestimmung, die man die visionäre nennen möchte, hinter sich zurück und tritt plötzlich in den Zustand ein, welcher der positive und thatsächliche genannt werden darf. Hier sieht es die Wirkung des Geldes auf das äußere Leben, sieht alle roheren und gewöhnlicheren Triebfedern des Handelns, sieht den Ehrgeiz ohne Adel der Gesinnung, sieht die Liebe ohne Romantik, wird umhergeworfen, herumgeschickt, mit Füßen getreten und niedergedrückt – kurz, es macht eine Lehrzeit durch bei irgend einem Richard Avenel und entdeckt noch nicht, wie viel Gutes und Großartiges, welche Vermehrung, selbst der wahren Poesie der socialen Welt solche fractionelle Existenzen, wie die Richard Avenel's, gewähren: denn die Säulen, auf welchen die Gesellschaft ruht, sind gleich denen im Vorhof des jüdischen Tabernakels – sie sind von Erz, das ist wahr, aber sie sind mit Silber eingelegt. Aus einem solchen Uebergangszustande wird das Genie gestoßen und auf seinem Wege weiter getrieben, und es würde ihm in diesem Falle ebenso ergangen sein, selbst wenn Mrs. Fairfield (die blos die natürlichen häuslichen Neigungen repräsentirt, welche bei dem wahren Genie stets am stärksten sind, weil Licht Wärme ist) nie Mr. Avenel's Moosrose an ihren schwesterlichen Busen gedrückt hätte. Diesen Durchgang, dieses Defiliren, welches in die größere Welt hineinführt, muß das Genie passiren und dann vorwärts schreiten, indem es seine natürliche Bestimmung mitten unter Dingen und Formen von der künstlichsten Natur erfüllt. Leidenschaften, welche die Welt bewegen und beeinflussen, sind rings um dieselbe in Thätigkeit. Oft verliert es sich selbst aus den Augen, und sogar seine Abwesenheit ist ein schweigender Contrast gegen die vorhandene wirkende Kraft. Es verschwindet und versinkt zeitweilig in die praktische Welt, aber wir selbst fühlen doch fortwährend; daß es mitten in der Thätigkeit, die es umgibt, schafft und wirkt. Diese praktische Welt, welche es unsichtbar macht, hat ihren Ursprung in einer früheren Periode, und so beeinflußt jedes Genie, wenn wir auch nie mit ihm zusammentreffen, weil es an Orten thätig ist, die von den gewöhnlichen Verkehrsstraßen entlegen sind, doch die praktische Welt, die es nicht zu kennen scheint, für immer und ewig. Das ist Genie. Wir können es nicht in Büchern beschreiben, wir können es nur beiläufig und durch Vermuthungen andeuten, die wir künstlich um dasselbe zusammenhäufen. Der Eintritt eines wahren Schülers in dieses furchtbare Gottesgericht des praktischen Lebens gleicht dem Eintritt in die wunderbare Höhle, welcher, wie die Legende uns erzählt, St. Patrik veranlaßte, Irland zu bekehren.«

Blanche. – »Was ist das für eine Legende? Ich habe nie davon gehört.«

Mr. Caxton. – »Meine Liebe, du wirst sie in einem dünnen Foliobande rechts am Eingange meines Studirzimmers finden. Sie ist verfaßt von Thomas Messingham und führt den Titel: › Florilegium insulae Sanctorumetc. Florilegium insulae Sanctorum: seu vitae et acta Sanctorum Hiberniae, Paris 1624. Die Geschichte, welche darin enthalten ist, wird durch die Erzählung eines ehrenhaften Soldaten, Namens Louis Ennius, bestätigt, der wirklich die Höhle betreten hatte. Kurz, die Wahrheit der Legende läßt sich nicht läugnen, wenn du nicht etwa behaupten nullst, was ich keinen Augenblick annehmen kann, daß Louis Ennius ein Lügner war. Die Legende lautet folgendermaßen: Als St. Patrik fand, daß die irländischen Heiden seinen pathetischen Versicherungen von den Leiden und Qualen, welche denjenigen bestimmt wären, die nicht in dieser Welt ihre Sünden büßten, nicht glauben wollten, so bat er Gott um ein Wunder, um sie zu überzeugen. Seine Bitte wurde erhört, und eine gewisse Höhle, die so klein war, daß ein Mann nicht bequem darin aufrecht stehen konnte, wurde plötzlich in ein purgatorium Nach christlicher Lehre das Fegefeuer, ein Reinigungsort oder Läuterungsort der Seele nach dem Tod. verwandelt, welches Qualen genug enthielt, um die Ungläubigsten zu überzeugen. Wer nicht die menschliche Natur kennt, würde annehmen, daß Wenige dazu aufgelegt sein möchten, sich freiwillig nach einem solchen Orte zu begeben; aber gerade das Gegenteil geschah, und Pilger kamen in Menge. Alle aber, welche aus bloßer Neugierde oder mit unvorbereiteten Seelen hineintraten, kamen, elendiglich um; Diejenigen aber, welche mit tiefem und ernstem Glauben, im Bewußtsein ihrer Fehler, muthig aber doch demüthig eintraten, kamen nicht allein wohlbehalten und gesund, sondern gereinigt heraus, als wenn sie durch das Wasser einer zweiten Taufe geläutert worden wären. Siehe Savage und Johnson Abends in Fleet Street James Boswell berichtet in seinem »Life of Samuel Johnson« (1791), dass dieser (1709-84, bedeutender englischer Schriftsteller) und Richard Savage (engl. Dichter, 1697-1743; Johnson hat 1744 anonym über ihn das Buch Life of Savage veröffentlicht) oft nicht genug Geld hatten, dass sie sich eine Unterkunft leisten konnten und so ganze Nächte durch die Straßen wanderten. – In Fleet-Street befand sich zudem das Schuldgefängnis. – und wer wird an der Wahrheit voll St. Patrik's Fegefeuer zweifeln!« Hierauf seufzte mein Vater – machte seinen Lucian Siehe Anm. 133., welcher offen auf dem Tische vor ihm lag, zu und wollte den übrigen Theil des Abends nichts als »gute Bücher« lesen.


Zweites Kapitel.

Nachdem Leonard und seine Mutter aus dem Gefängnisse, zu welchem Mr. Avenel sie verurteilt halte, entronnen waren, schlugen sie den Weg nach einem kleinen Wirthshause ein, welches in geringer Entfernung von der Stadt an der Landstraße lag. Den Arm um den Leib seiner Mutter geschlungen, unterstützte er sie beim Gehen und beschwichtigte ihre Aufregung.

In der That waren die Nerven der armen Frau in hohem Grade erschüttert, und sie empfand eine drückende Reue darüber, daß ihr Eindringen dem jungen Manne in seinen Aussichten auf Versorgung geschadet habe.

Wie der kluge Leser bereits errathen haben wird, so war es jener elende Kesselflicker, der hauptsächlich diese kritische Wendung in den Angelegenheiten seines früheren Kunden veranlaßt hatte. Denn kaum war er nach der Umgebung von Hazeldean und dem Casino zurückgekommen, so eilte er, Mrs. Fairfield von seinem Zusammentreffen mit Leonard in Kenntniß zu setzen, und als er sie in Unwissenheit darüber fand, daß der Jüngling unter dem Dache seines Onkels weilte, hatte der pestilenzialische Vagabund (vielleicht aus Groll gegen Mr. Avenel oder vielleicht aus reiner Liebe zum Unglückstiften, mit welcher metaphysische Kritiker den Charakter Jago's Figur aus Shakespeares »Othello«, verkörpert den Typus des dämonischen Narren. erklären, und die freilich ein Hauptelement in der Idiosynkrasie Eigentümlichen Wesen. des Mr. Sprott bildete) der Wittwe eine solche Idee von dem hochfahrenden Betragen des Onkels und von dem eleganten Anzug des Neffen beigebracht, daß Mrs. Fairfield von einer bitteren und unerträglichen Eifersucht ergriffen worden war. Es lag hier offenbar die Absicht vor, sie ihres Knaben zu berauben – man wollte ihn zu vornehm für sie machen! Sein Schweigen war jetzt erklärt.

Diese Art von Eifersucht, die immer mehr oder weniger eine weibliche Eigenschaft ist, kommt oft unter den Armen sehr häufig und in sehr hohem Grade vor; und sie war um so stärker bei Mrs. Fairfield, weil der Knabe für sie, die alleinstehende Frau, alles in allem war. Und obgleich sie nun über den Verlust seiner Gegenwart sich getröstet hatte, so konnte doch nichts sie bei dem Gedanken beruhigen, daß man ihr seine Liebe entreißen möchte. Außerdem waren in ihrem Geiste gewisse Eindrücke vorhanden (über deren Berechtigung der Leser besser später urtheilen wird), die auf eine mehr als gewöhnliche kindliche Dankbarkeit, welche Leonard ihr schuldete, Bezug hatte.

Kurz, sie wollte nicht, wie sie sagte, »abgeschüttelt« werden. Sie beschloß deßhalb nach einer schlaflosen Nacht, sich selbst ein Urtheil zu verschaffen, worin sie durch die boshaften Vermuthungen bestärkt wurde, welche Mr. Sprott aufstellte; Derselbe freute sich außerordentlich bei dem Gedanken, den Gentleman zu demüthigen, der ihm auf eine so despectirliche Weise mit der Tretmühle gedroht hatte. Die Wittwe zürnte Pfarrer Dale und den Riccabocca's; denn sie glaubte, daß diese mit im Complott gegen sie seien. Sie theilte deßhalb Niemanden ihre Absicht mit, brach auf und machte ihre Reise theils zu Wagen, theils zu Fuß. Es war mithin kein Wunder, daß die arme Frau staubig war.

»Und, o, mein Junge,« sagte sie halb schluchzend, »als ich durch das Parkthor trat und auf den Rasenplatz kam und die Menge von vornehmen Leuten sah, – da sagte ich zu mir selbst (denn ich fürchtete mich) – ich will ihn nur einmal sehen und dann heimgehen. Aber weh, Lenny, als ich dich erblickte, und du so hübsch aussahst und als du dich umdrehtest und riefst! ›Mutter‹, da wäre mein Herz mir fast aus dem Munde gesprungen – und dann konnte ich es nicht lassen, dich in meine Arme zu schließen, und wenn ich hätte sterben müssen! Und du warst so lieb, daß ich alles vergaß, was Mr. Sprott von Dick's Stolz gesagt hatte, oder, dachte ich, habe er mir nur eine Lüge vorgemacht, wie er auch wollte, daß ich eine Lüge über dich glauben sollte. Dann kam Dick heran und ich hatte ihn seit vielen Jahren nicht gesehen – und wir stammen von denselben Eltern – und so – und so –« hier überwältigte das Schluchzen die Wittwe.

»Ah,« sagte sie, nachdem sie ihrem Schmerz freien Lauf gelassen und schlang ihre Arme um um Leonard's Hals, als sie in dem kleinen mit Sand bestreuten Zimmer des Wirthshauses saßen – »Ah, und ich habe dich dahin gebracht! Gehe zurück, gehe zurück, mein Junge, und denke nicht an mich.

Mit einiger Mühe gelang es Leonard, die arme Mrs. Fairfield zu beschwichtigen und zu bewegen, daß sie sich zu Bette legte; denn sie war in der That gänzlich erschöpft. Hierauf ging er gedankenvoll hinaus auf die Landstraße. Die Sterne glänzten hell am Firmament, und die Jugend blickt in ihrem Kummer instinktmäßig nach den Sternen. Leonard schlug die Arme übereinander und sah gen Himmel; seine Lippen bewegten sich leise.

Aus dieser Verzückung, denn so muß man es nennen, wurde er durch eine Stimme mit einem entschiedenen Londoner Accent geweckt und erblickte, als er sich rasch umdrehte, den sehr vornehm aussehenden Kellermeister Mr. Avenel's. Leonard's erster Gedanke war, daß sein Onkel Reue empfunden habe und ihn suchen lasse. Aber der Kellermeister schien ebenso überrascht über das Zusammentreffen wie er selbst. Dieser Herr begleitete nämlich, nachdem die Anstrengung des Tages vorüber war, einen von Mr. Gunter's Kellnern nach dem Wirthshause (in welchem dieser logirte). Der Kellner war ein alter Freund von ihm, und er beabsichtigte, ihn mit einem guten Glas Wein zu regaliren und – (wie sich von selbst verstand) – auf seine gegenwärtige Stellung zu schimpfen.

»Mr. Fairfield!« rief der Kellermeister, während der Kellner bescheiden weiter ging.

Leonard blickte ihn an und sagte nichts. Der Kellermeister begann daran zu denken, daß eine Entschuldigung nöthig sei, weil er sein Silbergeschirr und seine Speisekammer verlassen hatte, und daß er wohlthun würde, wenn er sich Leonard's geneigten Einflusses bei seinem Herrn versicherte.

»Um Verzeihung; Sir, ich war gerade im Begriff, Herrn Giles den Weg nach der kleinen Glocke zu zeigen, wo er die Nacht logirt. Ich hoffe, mein Herr wird es nicht übel nehmen. Wenn Sie nach Hause kommen, Sir – würden Sie so freundlich sein, es Mr. Avenel mitzutheilen?«

»Ich gehe nicht nach Hause zurück, Jarvis,« antwortete Leonard nach einer ›Pause. »Ich verlasse dieses Haus, um meine Mutter zu begleiten; es kommt etwas plötzlich. Ich würde Ihnen sehr verbunden sein, wenn Sie mir einige meiner Sachen in die kleine Glocke bringen wollten. Ich will Ihnen ein Verzeichniß davon geben, wenn Sie mit mir nach dem Wirthshause zurückgehen wollen.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, wandte sich Leonard nach dem Hause und machte sein bescheidenes Inventarium, enthaltend: die Kleider, welche er vom Casino mitgebracht hatte; item den Reisesack, in welchem dieselben gewesen; item einige Bücher ditto; item Doctor Riccabocca's Uhr; item verschiedene Manuskripte, von welchen jetzt die Hoffnungen des jungen Gelehrten auf Ruhm und Glück abhingen. Dieses Verzeichniß übergab er Mr. Jarvis.

»Sir,« sagte der Kellermeister, indem er das Papier zwischen den Zeigefingern und den Daumen gleiten ließ, »Sie gehen nicht auf längere Zeit fort, hoffe ich.«

Und als ihm die Scene auf dem Rasenplatz einfiel, von welcher ein dunkles Gerücht zu ihm gedrungen war, blickte er den jungen Mann, der ihn immer höflich behandelt hatte, mit so großer Neugierde und so viel Mitleid an, wie sie eine so apathische und erhabene Persönlichkeit nur immer in Angelegenheiten empfinden konnte, die eine weniger aristokratische Familie betroffen, als diejenigen, welchen er sich bisher zu dienen herabgelassen hatte.

»Ja,« sagte ›Leonard einfach und kurz; »und Ihr Herr wird es ohne Zweifel entschuldigen, daß Sie mir diesen Dienst erweisen.«

Mr. Jarvis schob für den Augenblick das Glas Wein und das Geplauder mit dem Kellner auf und kehrte sofort zu Mr. Avenel zurück. Dieser Gentleman, der noch immer in seinem Bibliothekzimmer saß, hatte die Abwesenheit des Kellermeisters nicht bemerkt; und als Mr. Jarvis in das Zimmer trat und ihm sein Zusammentreffen mit Mr. Fairfield und den ihm gewordenen Auftrag mittheilte, sowie um die Erlaubniß bat, denselben besorgen zu dürfen, fühlte Mr. Avenel, daß der forschende Blick des Mannes auf ihm ruhte, und wurde wegen dieser neuen Demüthigung seines Stolzes wiederum von Zorn gegen Leonard ergriffen. Es war ungeschickt, keine Erklärung der Abreise seines Neffen zu geben, und noch ungeschickter, dieselbe zu erklären.

Nach einer kurzen Pause sagte Mr. Avenel in mürrischem Tone: »Mein Neffe geht einige Zeit in Geschäftsangelegenheiten fort – thun Sie, was er Sie geheißen hat.« Und damit kehrte er Mr. Jarvis den Rücken zu und zündete seine Cigarre an.

»Der Hund von einem Jungen,« sprach er für sich, »entweder soll dies eine Kränkung oder ein Einlenken bedeuten; wenn eine Kränkung, dann bin ich ihn wahrhaftig gut los geworden; wenn ein Einlenken, so wird er es bald auf eine ehrerbietigere und passendere Weise wiederholen. Uebrigens kann ich nicht wenig Verwandte genug haben, bis ich mich gänzlich Mrs. M'Catchley's versichert habe. Sie hat den Titel: ›Ehrenwerth‹! Ich möchte wissen, ob ich dadurch auch ›Ehrenwerth‹ werde? Der verd– Debrett John Debrett veröffentlichte das weiter oben bereits erwähnte Adelshandbuch »The New Peerage« zuerst 1769; unter dem Namen »Debrett's Peerage & Baronetage« ist es bis heute immer wieder aktualisiert worden. gibt keine praktischen Aufschlüsse über solche Punkte.«

Am folgenden Morgen wurden die Kleider und die Uhr, welche Mr. Avenel Leonard zum Geschenk gemacht hatte, mit einem Billet zurückgeschickt, welches Dankbarkeit ausdrücken sollte, das aber unzweifelhaft mit sehr wenig Weltkenntniß geschrieben und so voll von jenem überreizten Stolze war, welcher früher Leonard veranlaßt hatte, von Hazeldean zu fliehen und Randal jede Entschuldigung zu verweigern, weßhalb man sich nicht wundern darf, daß Mr. Avenel's letzte Gefühle der Reue in Zorn aufgingen.

»Ich hoffe, daß er Hungers sterben wird!« sagte der Onkel rachsüchtig.


Drittes Kapitel.

» Höre mich an, meine liebe Mutter,« sprach Leonard am folgenden Morgen, als er, mit seinem Felleisen auf dem Rücken und Mrs. Fairfield am Arme, die Landstraße entlang schritt. »Ich gebe dir die herzliche Versicherung, daß ich den Verlust jener Gunst nicht beklage, welche, wie ich klar einsehe, jedes unabhängige Gefühl in mir erstickt haben würde. Aber hege meinetwegen keine Furcht; ich besitze eine gute Erziehung und Energie – ich werde mich schon durchschlagen, verlaß dich auf mich. Nein, nach unserer Hütte kann ich freilich nicht zurückkehren – ich kann nicht wieder Gärtner werden. Bitte mich nicht darum – ich würde unzufrieden und elend sein. Aber ich will nach London gehen! Das ist der Ort, um sich ein Vermögen und einen Namen zu machen. Ich werde mir beides machen. Jawohl, ich werde es, verlaß dich auf mich. Du wirst bald auf deinen Leonard stolz sein; und dann werden wir immer zusammen leben – immer! – Weine nicht!«

»Aber was kannst du in London thun – in einer so großen Stadt, Lenny?«

»Was ich thun kann? Verläßt nicht jedes Jahr irgend ein junger Bursche unser Dorf und geht fort, um sein Glück zu suchen, während er nichts mit sich nimmt als Gesundheit und seine starken Hände? Das besitze ich auch, und noch mehr: ich habe Verstand und Gedanken und Hoffnungen, darum – ich sage es noch einmal – nein, nein, fürchte meinetwegen nichts!«

Der Knabe warf stolz seinen Kopf zurück; es lag etwas Erhabenes in seinem jugendlichen Vertrauen auf die Zukunft.

»Gut – du wirst aber an Mr. Dale oder an mich schreiben? Ich werde Mr. Dale oder den guten fremden Herrn deine Briefe lesen lassen, da ich jetzt weiß, daß sie nicht gegen mich waren.«

»Das werde ich gewiß!«

»Und, mein Junge, du hast ja gar nichts in deinen Taschen. Wir haben Dick bezahlt; das, was ich hier habe, ist wenigstens mein Eigenthum, nachdem ich den Fuhrlohn bezahlt habe.« Und darauf wollte sie eine Guinée und einige Schillinge in Leonard's Westentasche stecken.

Nach einigem Widerstreben war er gezwungen, nachzugeben. »Und da hast du einen Sixpence mit einem Loch darin. Das darfst du aber nicht ausgeben, Lenny; das wird dir Glück bringen.«

Während sie so mit einander plauderten, hatten sie das Wirthshaus erreicht, bei welchem die drei Straßen sich theilten, und von wo aus ein Wagen direct nach dem Casino ging; hier setzten sie sich, ohne in das Wirthshaus einzutreten, auf den grünen Rasen an der Hecke, um auf die Ankunft des Wagens zu warten. Mrs. Fairfield war sehr niedergeschlagen, und es ruhte offenbar eine gewisse Unbehaglichkeit auf ihrem Gemüthe – sie hatte, wie es schien, einen Kampf mit ihrem Gewissen zu bestehen.

Sie machte sich nicht allein Vorwürfe wegen ihres unüberlegten Besuches, sondern sprach auch fortwährend von ihrem todten Mark. Was würde der von ihr sagen, wenn er sie im Himmel sehen könnte?

»Es war so selbstsüchtig von mir, Lenny.«

»Pah, Pah! Hat eine Mutter nicht ein Recht auf ihr Kind?«

»Gewiß, gewiß!« rief Mrs. Fairfield. »Ich liebe dich wie mein eigenes Kind. Aber wenn ich gar nicht deine Mutter wäre, Lenny, und dir alles dieses gekostet hätte – o, was würdest du dann von mir sagen?«

»Nicht meine eigene Mutter!« erwiderte Leonard lachend und küßte sie. »Nun, ich weiß nicht, was ich dann Anderes sagen würde, als was ich jetzt sage – nämlich: daß du, die mich erzogen, gepflegt und geliebt hat, auch ein Recht besitzt auf mein Haus und mein Herz, wo ich auch immer sein möchte.«

»Gott segne dich,« rief Mrs. Fairfield und drückte ihn an ihr Herz. »Aber hier lastet es schwer – es lastet schwer!« sprach sie und fuhr auf.

In diesem Augenblick erschien der Wagen, und Leonard sprang hin, um sich zu erkundigen, ob ein Platz zu haben sei. Hierauf entstand, während die Pferde gewechselt wurden, eine kurze Verwirrung, und Mrs. Fairfield wurde auf den obern Theil des Wagens hinaufgehoben. Damit hörte alle weitere Privatunterhaltung zwischen ihr und Leonard auf. Als aber der Wagen davon rollte und sie mit ihrer Hand dem Jungen zuwinkte, welcher an der Seite der Landstraße stand und ihr nachsah, murmelte sie immer noch vor sich hin »Hier lastet es – hier!«


Viertes Kapitel.

Leonard schritt rüstig die Straße entlang der Hauptstadt zu. Der Tag war ruhig und sonnig, aber von den fernen grauen Hügeln wehte ein milder Wind, und mit jeder Meile, die er zurücklegte, schien sein Schritt fester zu werden und seine Stirne ein zuversichtlicheres Aussehen zu gewinnen.

Es ist in der Jugend eine solche Freude, mit seinen Träumereien von künftigen Tagen allein zu sein! Und die Jugend empfindet einen so herrlichen Thätigkeitstrieb in dem Gefühle ihrer eigenen Kraft, wenn auch die vor ihr liegende Welt gegen sie ist! Plötzlich fern von jenem frostigen Comptoir und von dem befehlshaberischen Willen eines Gönners und Herrn – ohne Freunde, aber vollständig unabhängig – fühlte der junge Abenteurer, daß sein Dasein ein neues geworden; fühlte die große Menschennatur in sich und das Genie, dessen Entwickelung ihm lange verboten, und das bei Seite geworfen gewesen, stürmte auf ihn ein – stürmte wieder zurück auf ihn bei dem ersten Hauche der Widerwärtigkeiten, um ihn zu trösten – nein, er bedurfte keines Trostes – um ihn zu entzünden, zu beleben, zu erfreuen!

Wenn es irgend ein Wesen in der Welt gibt, das werth ist, von uns beneidet zu werden, nachdem wir hinter dem Ofen weise Philosophen geworden sind, so ist es nicht der bleiche Wollüstling, noch der in Sorgen ergraute Staatsmann, und auch nicht der große Fürst der Kunst und Wissenschaft, dessen Haupt bereits mit Lorbeeren gekrönt wurde, dessen Blätter aber ebenso gut Gift liefern, wie Guirlanden – sondern es ist der Jüngling, der voll Hoffnung und Abenteuerlust in die Welt hinauszieht. Ja, je leerer seine Börse ist, um so reicher ist (darauf können wir uns verlassen) sein Herz, um so weiter das Gebiet, an welchem seine Phantasie sich erfreut, wenn er mit den Schritten eines Königs der Zukunft entgegen eilt.

Erst gegen Abend begann unser Abenteurer etwas langsamer einher zu schreiten und dachte an Ruhe und Erfrischung. Da lagen vor ihm auf beiden Seiten der Landstraße die ausgedehnten Felder uneingeschlossenen Landes, welche in England häufig den Eingang zu einem Dorfe anzeigen. Bald erschienen zwei nette Hütten, dann ein kleines Pächterhaus mit seinem Hofe und Scheunen, und etwas weiterhin sah er den Schild eines ziemlich anständigen Wirthshauses hängen.

Es war eines jener Gasthäuser, welche man oft auf einer langen Poststation zwischen zwei großen Städten findet, und die man in England ›Halbwegshäuser‹ nennt. Aber das Wirthshaus war von der Landstraße etwas zurückgebaut, und vor denselben befand sich ein Rasenplatz, auf dem eine große Buche stand (von welcher der Schild herabhing) nebst einer ländlichen Laube, so daß die Landkutschen, welche hier anhielten, von der Hauptstraße abbiegen mußten, um an das Wirthshaus zu gelangen.

Zwischen diesem und unserem Fußgänger erhob sich mutterseelen allein auf dem Gemeindefelde eine Kirche. Unsere Vorfahren würden nie einen solchen Platz für dieselbe gewählt haben, darum war es auch eine moderne Kirche, ja eine moderne gothische Kirche, hübsch anzusehen für Denjenigen, der nicht mit den Eigentümlichkeiten der altkirchlichen Architectur vertraut war, für ein Kennerauge aber barbarisch. Genug, aus diesem oder jenem Grunde sah die Kirche kalt, roh und wenig einladend aus – gleichsam als wenn sie nur gebaut wäre, um sich sehen zu lassen; sie war zu groß für den kleinen Weiler und aller jener ehrwürdigen Zuthaten bar, die den Kirchen, in welchen viele Generationen gekniet und ihren Gottesdienst verrichtet haben, einen so eigentümlichen und unbeschreiblichen Duft der Frömmigkeit verleihen.

Leonard blieb einen Augenblick stehen und betrachtete das Gebäude mit dem Blicke nicht eines Kenners, wohl aber eines Dichters; es mißfiel ihm. Er dachte noch über das Warum nach, als ein junges Mädchen mit auf den Boden gerichteten Augen langsam an ihm vorbeiging, das kleine Thor öffnete, welches auf den Kirchhof führte, und verschwand. Er sah nicht das Gesicht des Kindes, in ihren Bewegungen lag aber etwas so außerordentlich Gleichgültiges, Verlassenes und Trübes, daß sein Herz dadurch gerührt wurden. Was that sie dort? Er näherte sich der niedern Mauer mit leisen Schritten und blickte neugierig über dieselbe.

Dort, an einem offenbar ganz frischen Grabe, das weder ein hölzernes Kreuz, noch ein Leichenstein zierte, wie es bei den übrigen der Fall war, hatte das kleine Mädchen sich niedergeworfen und. schluchzte laut und heftig.

Leonard öffnete das Thor. Und näherte sich ihr mit leisen Schritten. Er hörte, wie ihr Schluchzen untermischt war mit abgerissenen, vergeblichen Klagen, wie es alle menschliche Klagen über Gräbern sind.

»Vater! o Vater! Hörst du mich denn nicht – hörst du mich denn wirklich nicht? ich bin so allein – so allein! Nimm mich zu dir – o nimm mich zu dir!« Bei diesen Worten begrub sie ihr Gesicht in dem tiefen Grase.

»Armes Kind!« sagte Leonard halb flüsternd, »er ist nicht da. Blicke nach oben.«

Das Mädchen beachtete ihn nicht. Er legte sanft seinen Arm um ihren Leib, sie machte eine ungeduldige und zornige Bewegung, aber sie wollte ihr Gesicht nicht umwenden, sondern hielt sich mit ihren Händen an dem Grabe fest.

Nach hellen sonnigen Tagen fällt der Thau stärker; jetzt gerade, als die Sonne unterging, war das Gras gebadet in einen dunstigen Duft, und ein blasser Nebel erhob sich rings umher. Der junge Mann setzte sich neben sie und suchte das Kind an seine Brust zu ziehen. Da wandte sie sich heftig und entrüstet um und stieß ihn mißtrauisch mit ihren Armen von sich. Er entweihte das Grab! Sein tief poetisches Herz verstand sie, und er erhob sich. Es folgte eine Pause. Leonard war der erste, der sie brach.

»Komm mit mir nach Hause und wir wollen unterwegs von ihm sprechen.«

»Von ihm! Wer sind Sie? Sie kannten ihn nicht!« sagte das Mädchen noch immer zornig. »Gehen Sie fort – warum stören Sie mich? Ich thue niemanden etwas zu Leide. Gehen Sie – gehen Sie!«

»Du thust dir selbst ein Leides, und das wird ihn schmerzen, wenn er dich dort sieht! Komm!«

Das Mädchen blickte ihn an durch die Thränen, welche ihre Augen trübten. Und sein Gesicht besänftigte und beschwichtigte sie.

»Gehen Sie!« sagte sie klagend und in einem nachgiebigeren Tone. »Ich will nur noch eine Minute hier bleiben. Ich – ich habe noch so Vieles zu sagen.«

Leonard verließ den Kirchhof und wartete außen; kurz darauf kam das Kind heraus, winkte ihm, fortzugehn, als er sich ihr näherte, und eilte davon. Er folgte ihr in einiger Entfernung und sah, daß sie im Wirthshause verschwand.


Fünftes Kapitel.

» Hip – Hip – Hurrah!« Das waren die Töne, welche unsern jungen Reisenden begrüßten, als er den Eingang zum Wirthshause erreichte; Töne, an sich lustig genug, die aber in grellem Widerspruche standen zu den Gefühlen, welche das an dem Grabe schluchzende Kind in seinem Herzen hinterlassen hatte. Die Töne kamen von innen und waren von Klopfen und Stampfen und Gläsergeklirre gefolgt. Ein starker Tabaksgeruch drang ihm entgegen. Er zögerte einen Augenblick auf der Thürschwelle. Vor ihm saßen auf den Bänken unter der Buche und in der Laube verschiedene athletische Gestalten, welche im Freien rauchten. Die Wirthin bemerkte, als sie durch den Hausgang in die Trinkstube ging, seine Gestalt am Eingang und trat an ihn heran. Leonard stand noch unentschlossen da. Er würde seines Weges gegangen sein, wenn nicht das Kind gewesen wäre; dasselbe hatte großes Interesse bei ihm erweckt.

»Es scheint, Ihr Haus ist besetzt. Kann ich die Nacht hier bleiben?«

»Nun gewiß, Sir,« sagte die Wirthin höflich, »ich kann Ihnen ein Schlafzimmer geben, aber ich weiß nicht, wo ich Sie mittlerweile unterbringen soll. Die beiden Gastzimmer und die Trinkstube und die Küche sind alle gesteckt voll; in der Nachbarschaft ist ein großer Viehmarkt gewesen, und ich glaube, wir haben fünfzig Landleute und Ochsentreiber bei uns.«

»Was das anbelangt, so kann ich mich in dem Schlafzimmer aufhalten, das Sie mir zu geben so freundlich sind; und wenn es Ihnen nicht zu viel Mühe macht, schicken Sie mir etwas Thee herauf; ich wäre Ihnen hiefür dankbar: aber ich kann warten, bis es Ihnen gelegen ist. Machen Sie meinetwegen keine Umstände.«

Die Wirthin wurde durch dieses rücksichtsvolle Benehmen, an das sie bei ihren Kunden nicht gewohnt war, gerührt.

»Sie sind sehr artig, Sir, und wir werden alles thun, um Sie zu bedienen, wenn Sie das, was fehlen möchte, entschuldigen wollten. Diesen Weg hinauf, Sir.«

Leonard nahm sein Felleisen von der Schulter, trat in den Gang und bahnte sich mit Mühe einen Weg durch einen Haufen handfester Giganten in Stulpenstiefeln und Ledergamaschen, welche aus der Trinkstube und wieder hineinschwärmten; dann folgte er seiner Wirthin die Treppe hinauf zu einem kleinen Schlafzimmer im obersten Stockwerk.

»Es ist klein, Sir, und hoch oben,« sagte die Wirthin entschuldigend. »Es sind aber vier Gutsbesitzer aus weiter Ferne gekommen, und der ganze erste Stock ist besetzt; Sie werden hier mehr Ruhe haben.«

»Nichts ist mir angenehmer. Aber warten Sie einen Augenblick – bitte um Verzeihung;« und Leonard warf einen Blick auf den Anzug der Wirthin und bemerkte, daß sie nicht in Trauer war. »Ist das kleine Mädchen, welches ich vorhin auf dem Kirchhofe bitterlich weinen sich, eine Verwandte von Ihnen? Das arme Kind scheint tiefere Gefühle zu haben als man in ihrem Alter sonst zu finden pflegt.«

»Ach, Sir,« sagte die Wirthin, indem sie die Schürze an die Augen führte, »das ist eine sehr traurige Geschichte – ich weiß nicht, was ich thun soll. Ihr Vater wurde auf dem Wege nach London krank und blieb hier. Vor vier Tagen wurde er begraben. Das arme kleine Mädchen scheint keine Verwandten zu haben, und wo soll sie hingehen? Der Advokat Jones sagt, daß wir sie nach der Marybonegemeinde So im Original. Es muss sich jedoch um »Marylebone«, handeln, ein Stadtviertel in London in der City of Westminster nördlich der Oxford Street bzw. des Stadtteiles Mayfair und südlich des Regent's Park. Der Name leitet sich von einer St. Mary's-Kirche am kleinen Bache Tybourne her. Das Kirchspiel wurde deshalb St. Mary at the bourne genannt, was sich später zu Marylebone verschliff. schicken müssen, wo ihr Vater zuletzt lebte; und was wird dann aus ihr werden? Mein Herz blutet, wenn ich daran denke.«

In diesem Augenblick entstand unten ein solcher Lärm, daß offenbar irgend ein Streit ausgebrochen sein mußte; und die Wirthin, von der Pflicht gerufen, eilte hinab, um dort ihren versöhnenden Einfluß geltend zu machen.

Leonard setzte sich gedankenvoll an das kleine Gitterfenster. Es gab also hier noch Jemanden außer ihm, der allein in der Welt stand. Und sie, die arme Waise, hatte nicht das Herz eines kräftigen Mannes, um mit dem Schicksal zu ringen, und keine goldenen Manuscripte, die das »öffne dich, Sesam!« für noch ungehobene Schätze werden sollten.

Bald darauf brachte die Wirthin einen Präsentirteller mit Thee und andern Erfrischungen, und Leonard begann seine Fragen von Neuem.

»Keine Verwandte?« sagte er; »das Kind muß doch gewiß in London Verwandte haben. Hat ihr Vater keine Adressen hinterlassen? Oder war er nicht mehr in vollem Besitz seiner Geisteskräfte?«

»Ja, Sir, er war bis zum letzten Augenblick bei hellem Verstande. Und ich frug ihn, ob er etwas auf seinem Herzen habe, und er sagte: ›Ja.‹ Dann sagte ich: ›Ihr kleines Mädchen, Sir?‹, und er antwortete mir: ›Ja, Madame.‹ Dann legte er sein Haupt auf das Kissen und weinte still. Ich selbst konnte nichts mehr sagen, denn ich war gerührt, als ich ihn so sanft weinen sah; aber mein Mann ist härter als ich, und er sagte: ›Besinnen Sie sich, Mr. Digby: wäre es nicht besser, wenn Sie an Ihre Freunde schrieben.‹ ›Freunde!‹ sagte der Gentleman, und in welchem Tone! ›Freunde! ich habe nur Einen Freund, und ich gehe zu ihm! ich kann sie nicht mit dahin nehmen!‹ Dann schien er sich plötzlich zu besinnen und verlangte seine Kleider und stöberte in den Taschen herum, als wenn er nach irgend einer Adresse suchte, die er nicht finden konnte. Er schien ein Gentleman von sehr vergeßlicher Natur zu sein, und seine Hände waren, was man unbeholfen nennt, Sir! Dann stöhnte er: ›Halt, halt! Ich habe ja die Adresse nie gehabt. Schreiben sie an Lord Les–‹, es klang ungefähr wie Lord Lester, aber wir konnten aus dem Namen nicht klug werden. Er sprach ihn auch nicht ganz aus, denn ein Blutstrom drang über seine Lippen; und obgleich er, als er sich wieder erholte, bei Besinnung zu sein schien (denn er kannte nun auch sein kleines Mädchen, bis er mit einem Lächeln starb), so sprach er doch kein Wort mehr.«

»Der arme Mann,« sagte Leonard und trocknete seine Augen. »Aber das kleine Mädchen erinnert sich doch sicherlich des Namens, den er nicht vollständig aussprach?«

»Nein. Sie sagte, daß er einen Gentleman gemeint haben müsse, mit dem sie vor nicht langer Zeit im Park zusammen getroffen seien, und der sich sehr freundlich gegen ihren Vater gezeigt habe und ein Lord gewesen sein müsse. Aber sie erinnert sich des Namens nicht, denn sie hatte ihn nie früher gesehen, und auch nachher nicht mehr, und ihr Vater sprach in der letzten Zeit sehr selten von irgend Jemandem; er glaubte, daß er in Screwstown gute Freunde finden würde, und reiste mit ihr von London dahin. Aber sie vermuthet, daß er in seinen Erwartungen getäuscht worden sei, denn als er wieder herauskam, sagte er ihr nur, daß sie ihre Sachen zusammenpacken solle, sie müßten wieder nach London zurückgehen. Auf dem Wege dahin starb er. Still! was ist das? ich hoffe nicht, daß sie uns hat sprechen hören. Nein, wir sprachen ja leise. Ihr Zimmer befindet sich neben dem Ihrigen. Ich glaubte sie schluchzen zu hören. Stille!«

»In dem Nebenzimmer? Ich höre nichts. Gut, mit Ihrer Erlaubniß werde ich mit ihr sprechen, bevor ich Sie verlasse. Und hatte ihr Vater kein Geld bei sich?«

»Ja, einige Pfund, Sir; mit diesen hat man das Begräbniß bezahlt, und es ist noch gerade so viel übrig, daß sie nach der Stadt kann; denn mein Mann sagte zu mir: ›Hannah,‹ sagte er, ›die Wittwe gab ihr Scherflein, und wir dürfen das der Waise nicht nehmen;‹ und mein Mann ist sonst ein harter Mann, Sir. Gott segne ihn!«

»Erlauben Sie, daß ich Ihnen die Hand drücke, Madame. Gott lohne Ihnen Beiden.«

»Ach, Sir – es ist nicht der Mühe werth. Selbst Doctor Dosewell sagte, wenn auch in einem etwas mürrischen Tone – ›von meiner Rechnung will ich nicht reden; aber rufen Sie mich ein andermal nicht wieder um sechs Uhr Morgens, wenn Sie nicht ein wenig mehr von den Leuten wissen.‹ Und ich habe noch nie vorher gehört, daß Doctor Dosewell einen Krankenbesuch machte, ohne daß keine Rechnung bezahlt wurde. Er behauptete, es sei ein Streich, den der andere Doctor ihm gespielt habe.«

»Was für ein anderer Doctor?«

»O, ein sehr guter Gentleman, der mit auf dem Wagen stieg, als Mr. Digby krank wurde, und bis zum andern Morgen bei ihm blieb; und unser Doctor sagt, sein Name sei Morgan, und er lebe in London und sei ein Homy– oder etwas der Art.«

»Homicide Das englische Wort, das die Übersetzung hier wörtlich wiedergibt, bedeutet »Mord«.,« fiel Leonard in seiner Unwissenheit ein.

»Ah – Homicide, so etwas Aehnliches war es, nur viel länger und schwerer auszusprechen. Aber er ließ hier einige der allerkleinsten Kügelchen zurück, die Sie je gesehen haben, Sir, damit man sie dem Kinde geben solle; aber du lieber Gott, die haben ihr nichts geholfen – und wie sollten sie denn auch?«

»Winzige Kügelchen – o, ein Homöopath – ich verstehe; und der Doctor war freundlich gegen sie; vielleicht würde er ihr helfen. Haben Sie an ihn geschrieben?«

»Wir kennen ja seine Adresse nicht und London ist eine große Stadt, Sir.«

»Ich gehe nach London und ich werde ihn schon finden.«

»Ach, Sir, Sie scheinen sehr gut zu sein, und da sie doch nach London gehen müssen (denn was können wir hier mit ihr anfangen? sie ist zu zart, um irgend einen Dienst zu verrichten) so wollte ich, sie könnte mit Ihnen gehen.«

»Mit mir!« sagte Leonard überrascht; »nun, warum nicht?«

»Ich bin überzeugt, sie ist aus guter Familie, Sir. Wenn sie nur ihren Vater hätten sterben sehen, Sir, so würden Sie gewußt haben, daß er ein ächter Gentleman war; er starb so freundlich und so höflich, als ob er sich schämte, uns so viel Mühe zu machen – ja, er war ein Gentleman, wie es nur je einen gegeben hat. Und ein solcher sind Sie auch, Sir, davon bin ich überzeugt,« sagte die Wirthin mit einer Verneigung; »ich weiß, was vornehme Leute heißt, ich bin in einer der ersten Familien der Grafschaft Haushälterin gewesen, Sir, wenn ich auch allerdings nicht behaupten kann, in London gedient zu haben; und da die vornehmen Leute einander kennen, so zweifle ich nicht, daß Sie ihre Verwandten herausfinden werden. Du lieber Gott – du lieber Gott! ich komme schon, ich komme schon!«

Man hörte laut nach der Wirthin rufen, und sie eilte hinaus. Die Pächter und Ochsentreiber begannen abzureisen und ihre Rechnungen mußten ausgestellt und bezahlt werden.

All diesem Abend sah Leonard seine Wirthin nicht mehr. Man hörte die letzten Hipp! Hipp! Hurrahs! sowie einige Toaste, die vielleicht auf das Wohl der Parlamentsmitglieder der Grafschaft ausgebracht wurden. Allmälig trat nach den verschiedenen Mißtönen eine tiefe Stille ein; die Fuhrwerke und leichten Wagen rollten von dannen, der Hufschlag auf der Straße verhallte. Dann erfolgte ein dumpfer Klang, wie wenn unten Thüren geschlossen würden; man hörte leise summende Stimmen im Parterre, Leute, welche die Treppe hinaufstiegen, um in's Bett zu gehen, hie und da auch das Schlucken eines Betrunkenen oder ein halbblödsinniges Lachen, wie es vorkommt, wenn ein besiegter Anbeter des Bacchus in seine Wohnung getragen wird.

Zuletzt war alles ruhig, als eben die Glocke vom Kirchthurme elf Uhr schlug.

Unterdessen hatte Leonard seine Manuscripte durchgesehen. Darunter befand sich zunächst ein Entwurf zu einer Verbesserung an der Dampfmaschine – ein Entwurf, der lange in seinem Kopfe geruht und aus jener Zeit herstammte, da er sich die ersten Kenntnisse in der Mechanik durch seine Ankäufe bei dem Kesselflicker erworben hatte. Er legte den Entwurf jetzt bei Seite – es erforderte eine zu große geistige Anstrengung, um denselben noch einmal gründlich durchzugehen.

Weniger hastig überblickte er aber eine Sammlung von Abhandlungen über verschiedene Gegenstände, von welchen er einige für unrichtig, andere aber für gut hielt. Dann verweilte er bei einer Sammlung von Versen, die er sorgfältig und mit seiner schönsten Handschrift geschrieben – Versen, zu welchen er zunächst durch das Lesen von Nora's melancholischen Berichten inspirirt worden war.

Diese Verse waren eine Art Tagebuch seines Herzens und seiner Phantasie – jener tiefen, von Niemandem beachteten Kämpfe, welche alle denkenden Naturen in ihrer Jugendzeit durchmachen müssen. Freilich verweilen nur wenige Jünglinge bei der Erinnerung an jene Krisis, aus welcher sie langsam zu Männern heranreiften. Und diese ersten, flüchtigen Bemühungen, die Luftbilder, welche durch die nebligen Räume des Gehirns schweben, festzuhalten, waren mit jedem neuen Versuch entschiedener und kräftiger geworden, bis diese Phantasiebilder festgebannt, bis die fliehenden, wesenlosen Gebilde angehalten und gefesselt waren und eine Gestalt angenommen hatten.

Als er seinen letzten Versuch durchblickte, fühlte er, daß endlich der Dichter daraus sprach. Es war eine Arbeit, die, wenn auch bis jetzt nur halb vollendet, von einer kräftigen Hand herrührte; nicht der auf unruhigen Gewässern zitternde Schatten, welcher nur die blasse Abspiegelung und Nachahmung eines glänzenden Geistes ist, der uns fern und unerreichbar erscheint; sondern eine originelle Substanz – ein Leben, ein Ding der schöpferischen Kraft, das bereits den Athem athmet, den es empfangen hat. Diese Arbeit war während Leonard's Aufenthalt bei Mr. Avenel liegen geblieben oder nur von Zeit zu Zeit in verstohlener Weise bei Nacht ein wenig ausgefeilt worden.

Jetzt las er sie wieder durch, und zwar mit ganz andern Gefühlen: mit der seltsamen und unschuldigen Bewunderung, nicht seines eigenen Selbst (denn das Werk eines Mannes ist ja leider nicht er selbst, sondern die verklärte und idealisirte Wesenheit, welche auf eine ihm selbst nicht bekannte Art und Weise aus seinen eigenen körperlichen Bestandteilen gezogen wird) – er las sie mit derjenigen Bewunderung, welche nur die Dichter kennen – deren reinste Wonne, ja oft deren einziger Lohn sie ist.

Dann eilte er mit einem wärmeren und mehr irdischen Klopfen seines Herzens in seiner Phantasie nach der Weltstadt, wo alle Ströme des Ruhms zusammenstießen, aber nicht um dort unterzugehen und zu verschwinden, sondern um wieder individualisirt und gesondert weiter zu fließen, um den einen, ungeheuren Gedanken Gottes zu durchfluthen, welchen wir die Welt nennen.

Er legte seine Papiere bei Seite und öffnete, wie er es gewohnt war, sein Fenster, bevor er zu Bette ging – denn Leonard hatte viele eigentümliche Gewohnheiten und liebte es, in die Nacht hinauszublicken, wenn er betete. Seine Seele schien sich von dem Körper zu entfernen, in die Luft hinaufzusteigen und einen rascheren Zutritt zu dem fernen Thron in dem unendlichen Universum zu bekommen, wenn sein Athem mit den Winden dahin wehte und seine Augen auf die Sterne des Himmels gerichtet waren.

So betete der Knabe still, und nachdem er geendet hatte und im Begriffe war, langsam das kleine Fenster zu schließen, hörte er deutliches Schluchzen dicht neben sich. Er hielt inne und athmete kaum; dann blickte er vorsichtig hinaus, das Fensterlein neben ihm war ebenfalls geöffnet. Jemand mußte also an dem Fenster sein und betete vielleicht auch. Er lauschte noch aufmerksamer und vernahm folgende Worte, die sanft und leise ausgesprochen wurden: »Vater – lieber Vater – hörst du mich jetzt


Sechstes Kapitel.

Leonard öffnete seine Thüre und schlich sich an diejenige des nebenanliegenden Zimmers; denn sein erster, natürlicher Gedanke war, hineinzutreten und zu trösten. Als er aber seine Hand auf die Klinke gelegt hatte, zog er sie wieder zurück. Obgleich die Trauernde ein Kind war, so machte doch ihr Geschlecht ihre Schmerzen noch geheiligter gegen jede Zudringlichkeit. Etwas, er wußte in seiner jugendlichen Unwissenheit nicht, was, hielt ihn ab, über die Schwelle zu treten. Dieselbe zu überschreiten, würde ihm als eine Entweihung erschienen sein. Darum kehrte er zurück und hörte noch Stunden lang von Zeit zu Zeit das Schluchzen, bis dasselbe endlich verstummte, und das Kind sich selbst in den Schlaf geweint hatte.

Sobald er aber am folgenden Morgen seine Nachbarin im Nebenzimmer hörte, klopfte er sachte an die Thüre; keine Antwort. Er trat leise ein und sah sie vollkommen gleichgültig mitten im Zimmer sitzen, gerade als ob dasselbe keinen trauten Winkel und keine Ecke hätte, wie die Zimmer des heimatlichen Hauses. Ihre Hände waren in den Schooß gesunken und ihre Augen trostlos auf den Boden geheftet. Er trat näher und sprach zu ihr.

Helene war sehr niedergeschlagen und sehr still. Ihre Thränenquellen schienen versiegt zu sein, und es dauerte lange, bevor sie ein Zeichen gab, daß sie auf ihn achte. Endlich gelang es ihm doch nach und nach, ihr Interesse zu erregen, und das erste Symptom, daß es ihm gelungen sei, zeigte sich in dem Beben ihrer Lippen und in dem Ueberströmen der niedergeschlagenen Augen.

Allmälig gewann er ein wenig ihr Vertrauen; sie erzählte ihm flüsternd und in abgerissenen Sätzen ihre einfache Geschichte. Was ihn aber am meisten rührte, war, daß sie nur das Gefühl der Einsamkeit, nicht aber ihre schutzlose Lage zu empfinden schien. Sie trauerte um den Gegenstand, welchen sie gepflegt, gehütet und geliebt hatte; denn sie war eher die Beschützerin, als die Beschützte des hülflosen Verstorbenen gewesen.

In Betreff ihrer Verwandten und ihrer Verhältnisse konnte er keine befriedigendere Aufklärung von ihr erholten, als die, welche ihm die Wirthin bereits gegeben; aber sie erlaubte ihm ohne irgend einen Widerspruch, die von ihrem Vater hinterlassenen Effecten durchzusehen, ausgenommen, wenn seine Hand irgend etwas berührte, das ihrer Erinnerung besonders heilig zu sein schien; dann winkte sie ihm zurück oder nahm den Gegenstand rasch weg.

Leonard fand viele quittirte Rechnungen auf den Namen des Capitän Digby, ferner alte, vergilbte Noten für die Flöte, Rollenauszüge aus Soufflirbüchern, lustige Rollen aus heiteren Comödien, in welchen die Helden auf eine so erhabene Weise ihre Verachtung vor dem Gelde aussprechen – Rollen für einen Sheridan oder Farquhar Zu Sheridan siehe Anm. 293. – George Farquhar (1677-1707) war ein irischer Dramatiker. – dicht dabei wieder verschiedene Pfandscheine und endlich zwei bis drei nicht glatt zusammengelegte, sondern wie von dem unmuthigen Griffe einer schwachen, hülflosen Hand zusammengeknitterte Briefe. Er bat Helene um Erlaubniß, dieselben durchlesen zu dürfen, weil sie vielleicht Aufschluß über ihre Freunde geben könnten. Helene ertheilte mit einem stummen Kopfnicken ihre Einwilligung. Die Briefe enthielten indessen weiter nichts, als kurze und frostige Antworten von, wie es schien, entfernten Bekannten und früheren Freunden oder von Personen, an welche sich der Verstorbene wegen einer Anstellung gewendet hatte. Sie waren in ihrem Ton sämmtlich höchst entmuthigend.

Hierauf versuchte Leonard zunächst den Namen jenes Edelmannes in Helenens Gedächtniß aufzufrischen, welche ihr Vater in seinen letzten Augenblicken auf den Lippen gehabt hatte; aber dies mißlang ihm gänzlich. Man muß sich nämlich erinnern, daß Lord L'Estrange, als er Mr. Digby sein Darlehen aufdrang, und ihm sagte, er werde bei Mr. Egerton seine Adresse finden, aus natürlicher Delikatesse das Kind vorausgeschickt hatte, damit es nicht höre, wie man ihrem Vater ein Almosen gebe; und Helene sagte der Wahrheit gemäß, daß Mr. Digby in der letzten Zeit über alle seine Angelegenheiten gewöhnlich geschwiegen habe. Möglich wäre es, daß sie ihren Vater den Namen hätte erwähnen hören, aber sie hatte sich denselben nicht gemerkt; alles, was sie zu sagen vermochte, war, daß sie, wenn sie dem Fremden begegnete, nicht allein im Stande sein würde, ihn, sondern auch sogar seinen Hund wieder zu erkennen.

Als Leonard sah, daß das Kind ruhig geworden war, und er das Zimmer verlassen wollte, um sich mit der Wirthin zu besprechen, erhob sie sich plötzlich geräuschlos und legte ihre kleine Hand in die seinige, als wenn sie ihn zurückhalten wollte. Ihr Mund sagte kein Wort – ihre Bewegung sagte alles – es lag darin die rührende Bitte: »Verlasse mich nicht!« und Leonard's Herz strömte nach seinen Lippen, und er beantwortete die Bewegung, indem er sich niederbeugte, ihre Wangen küßte und sprach:

»Waise, willst du mit mir gehen? Wir haben Beide Einen Vater, und Er wird auf Erden unser Führer sein. Ich bin vaterlos, wie du.«

Sie erhob ihre Augen zu ihm, blickte ihn lange an und lehnte dann vertrauungsvoll ihren Kopf an seine starke, junge Schulter.


Siebentes Kapitel.

Um die Mittagsstunde desselben Tages befanden sich der junge Mann und das Kind auf dem Wege nach London. Der Wirth hatte erst einige Bedenken gehabt, einem so jungen Begleiter Helenen anzuvertrauen; aber Leonard hatte in seiner glücklichen Unwissenheit so sanguinisch davon gesprochen, daß er jenen Lord ausfindig machen oder irgend einen passenden Beschützer dem Kinde verschaffen würde. Außerdem hatte er von seinen eigenen bedeutenden Aussichten in der Hauptstadt (welcher Art sie seien, sagte er nicht) in so großartiger Weise, wenn auch in aller Aufrichtigkeit, gesprochen, daß er den ländlichen Wirth nicht besser für sich hätte einnehmen können, wenn er der schlauste Betrüger gewesen wäre. Und während die Wirthin immer noch in der trügerischen Einbildung begriffen war, daß alle vornehmen Laute in London einander kennen müßten, wie dies in einer Grafschaft der Fall ist, so glaubte der Wirth doch endlich, daß ein junger Mensch, der, obgleich er nur zu Fuß reiste, so anständig gekleidet war, der in einem so zuversichtlichen Tone sprach und so bereit war, sich eine ziemlich lästige Bürde aufzuladen, jedenfalls, wenn er sich derselben wieder entledigen wollte, Freunde haben müsse, die älter und klüger, als er selbst, und im Stande wären, darüber zu urtheilen, was sich für die Waise am besten thun lasse.

Und was sollte der Wirth mit ihr anfangen? Am Ende war doch diese freiwillige Begleitung besser für sie, als wenn sie von einem Kirchspiel zum andern geschickt würde und sich zu guter Letzt ohne alle Freunde in den Straßen Londons zurecht finden müßte. Auch lächelte Helene zum ersten Male, als sie gefragt wurde, ob es ihr Wunsch sei, mit Leonard zu gehen, und dann legte sie wieder ihre Hand in die seinige. Kurz, die Sache wurde auf diese Weise abgemacht.

Das kleine Mädchen schürzte ein Bündelchen von den sieben Sachen, auf welche sie den meisten Werth legte, und die sie am meisten nöthig hatte. Als Leonard dasselbe an seinen Tornister band, fühlte er nicht, daß dieser schwerer geworden wäre. Das übrige Gepäck sollte nach London geschickt werden, sobald Leonard schrieb und seine Adresse angab, was er bald zu thun versprach. Helene machte ihren letzten Besuch auf dem Kirchhofe und schloß sich ihrem Begleiter an, als er auf der Landstraße stand, die außerhalb des feierlichen Gebietes lag.

Sie waren schon einige Stunden weit gegangen, als er sie frug, ob sie müde sei, worauf sie mit »Nein« antwortete. Aber Leonard hatte Mitleid mit ihr und sorgte dafür, daß sie kurze Tagereisen machten; in Folge dessen vergingen einige Tage, bevor sie London erreichten.

Auf dieser langen, einsamen Reise wurden sie vertraulicher mit einander; am Ende des zweiten Tages nannten sie sich Bruder und Schwester; und Leonard fand zu seiner Freude, daß ihr Kummer mit der körperlichen Bewegung und der Veränderung der Umgebung sich etwas legte, und ihre Unempfindlichkeit für andere Eindrücke nachließ. Dabei entwickelte sie eine scharfe Auffassungsgabe, die weit über ihre Jahre hinauf ging.

Das arme Kind – diese Gabe war ihr durch die Nothwendigkeit aufgedrungen worden! Sie verstand ihn, wenn er ihr geistigen Trost, der halb poetisch, halb religiös klang, spendete; und sie lauschte der Erzählung seiner Erlebnisse, der Geschichte seiner Selbsterziehung und seiner einsamen Kämpfe das alles begriff sie. Wenn er aber seinem Enthusiasmus, seinen glorreichen Hoffnungen und seinem Vertrauen auf das Schicksal Worte lieh, welches ihnen bevorstehe, dann schüttelte sie ihren Kopf sehr still und sehr trübselig. Begriff sie denn diese Dinge? Ach! vielleicht zu gut. Sie kannte mehr von der Wirklichkeit des Lebens, als er.

Leonard war zuerst ihr gemeinschaftlicher Schatzmeister; aber bevor der zweite Tag zu Ende war, schien Helene zu entdecken, daß er zu verschwenderisch sei; und sie sagte ihm das mit einem klugen, ernsten Blicke, indem sie ihre Hand auf seinen Arm legte, als er eben in ein Wirthshaus einkehren und ein Mittagessen bestellen wollte. Dieser Ernst würde sich komisch ausgenommen haben, wenn nicht die Feuchtigkeit ihrer Augen so mild und dankbar ihm entgegen geglänzt hätte. Sie fühlte, daß er im Begriff sei, ihretwegen zu viel auszugeben und sich zu ruiniren. Wie es nun auch zuging, die Börse kam in ihre Verwahrung, und jetzt sah sie so stolz aus, als ob sie in ihrem natürlichen Elemente sich befinde.

Ach! welche glückliche Mahlzeiten wurden nun durch ihre Vermittlung besorgt, wie viel mehr Genuß gewährten sie, als in den dumpfen, mit Sand bestreuten Wirthszimmern, die von Fliegen wimmelten und nach dem Tabak des vorigen Abends rochen. Jetzt, wenn sie an dem Eingang eines Dorfes ankamen, verließ sie ihn und sprang voraus, um Lebensmittel zu kaufen, und kehrte dann zurück mit einem kleinen Korb und mit einem hübschen blauen Krüglein, das sie unterwegs gekauft hatte, und das jetzt mit Milch gefüllt war; dazu brachte sie etwas frisches Brod und als ganz besondere Leckerbissen Radischen und Brunnenkresse.

Dabei hatte sie ein Talent, die schönsten Plätze zum Ausruhen und zu den Mahlzeiten herauszufinden; bisweilen mitten in einem Gehölze, wo es so stille war, wie in einem Zauberwalde, wo die Hasen sich durch die einsamen Waldgänge schlichen, und die Eichhörnchen von den Aesten auf sie herabblickten; ein anderes Mal an einem kleinen rauschenden Bache, in welchem man die Fische unter der klaren Oberfläche sehen konnte, wie sie auf die ihnen hingeworfenen Brodkrumen heranschossen. Zu einem Arkadion wurde für sie der Weg zu ihren Thermopylen Arkadien, eine Landschaft der griechischen Halbinsel Peleponnes, wurde seit der Zeit des Hellenismus verklärt zum Ort des Goldenen Zeitalters, wo die Menschen unbelastet von mühsamer Arbeit und gesellschaftlichem Anpassungsdruck in einer idyllischen Natur als zufriedene und glückliche Hirten lebten. – Die Thermopylen sind ein Engpass zwischen dem Kallidromos-Gebirge und dem Golf von Malia; zu Beginn des Zweiten Perserkrieges 480 hinderte eine kleine spartanische Heeresgruppe unter König Leonidas in mehrtägigem Widerstand die Perser am Übergang und deckte den Abzug des griechischen Heeres; alle 300 Spartaner und Leonidas fielen schließlich. Diese Tat wurde zum Inbegriff einzigartiger Tapferkeit stilisiert und in Kriegszeiten später gern rhetorisch für Durchhalteparolen missbraucht. – Zu Tempe siehe Anm. 204. – zu dem Kriege gegen die Millionen, welche auf der andern Seite ihres Weges durch Tempe ihrer harrten.

»Werden wir glücklicher sein, wenn wir groß geworden?« sagte Leonard in seiner erhabenen Einfalt.

Helene seufzte und schüttelte den kleinen klugen Kopf.


Achtes Kapitel.

Endlich kamen sie ganz in die Nähe von London. Aber Leonard hatte beschlossen, nicht erschöpft und ermattet, wie ein Wanderer, der einer Zuflucht bedarf, sondern frisch und bei guter Laune, wie ein Eroberer, der im Triumphe sich naht, um Besitz zu ergreifen von der Hauptstadt, diese zu betreten. Darum machten sie früh Abends an dem Tage, welcher ihrem majestätischen Einzuge voranging, ungefähr sechs Meilen von der Hauptstadt in der Gegend von Ealing Halt (denn von dieser Seite her kamen sie). Sie waren nicht ermüdet, als sie in ihrem Wirthshause anlangten.

Das Wetter war äußerst angenehm, ein Gemisch von Milde und Glanz, wie man es nur an den seltenen wahren Sommertagen in England findet; unten alles so grün und oben alles so blau – Tage, wie wir nur ungefähr sechs im Jahre haben, und deren wir uns in unbestimmter Weise erinnern, wenn wir von Robin Hood und der Maid Marian, von der Dame und dem Ritter in Spenser's goldenem Sommerliede, oder von Jacob lesen, der unter einem Eichenbaum sich niederließ, um in den Thälern der Ardennen den Hirschen aufzupassen.

Nachdem sich die Beiden ein wenig im Wirthshause aufgehalten hatten, wanderten sie weiter, nicht um die Reise fortzusetzen, sondern des Vergnügens halber. Als die Sonne im Begriff war, unterzugehen, und der Abend kühler wurde, kamen sie an dem Gebiete vorüber, welches einst dem Herzoge von Kent gehört hatte, und warfen durch das Gitterthor einen Blick auf das Gebüsch und auf die Rasenplätze jener schönen Besitzung. Dann schritten sie quer durch einige Felder und erreichten ein Flüßchen, Brent genannt.

Helene war an jenem Tage trauriger gewesen, als an irgend einem früheren ihrer Reise. Vielleicht weil durch die Nähe von London die Erinnerung an ihren Vater lebhafter wurde; vielleicht auch, weil sie so vorzeitig das Leben kennen gelernt hatte und deßhalb ahnen mochte, was ihnen bevorstehe. Aber Leonard war an diesem Tage selbstsüchtig. Die Traurigkeit seiner Begleiterin übte keinen Einfluß auf ihn. Er war zu sehr von Selbstbewußtsein erfüllt, und er hatte bereits aus der Atmosphäre dasjenige Fieber eingesogen, welches den großen unruhigen Hauptstädten eigentümlich ist.

»Setze dich hieher, Schwester,« sagte er in einem befehlenden Tone und ließ sich in den Schatten eines Baumes nieder, dessen Aeste über den sich dahin schlängelnden Bach herabhingen. »Setze dich hieher und plaudere mit mir.«

Er warf seinen Hut von sich, strich seine reichen Locken zurück und besprengte seine Stirn mit dem Wasser des Flusses, welcher ringsum die Wurzeln des Baumes bespülte, die sich kahl und in einander geschlungen vom Ufer ausstreckten und in die Wellen hinabzogen. Helene gehorchte und setzte sich dicht neben ihn.

»Also London ist wirklich sehr groß – sehr groß?« wiederholte er in forschendem Tone.

»Sehr groß,« antwortete Helene, während sie die in ihrer Nähe stehenden Schlüsselblumen gepflückt und sie in das vorbeifließende Wasser fallen ließ. »Sieh', wie die Blumen von dem Fluß weggetrieben werden! Jetzt sind sie verloren. London ist für uns, was der Fluß für diese Blumen ist – sehr groß, sehr mächtig –« und sie fügte nach einer Pause hinzu: »sehr grausam!«

»Grausam! Ach, das ist es gegen dich gewesen, aber jetzt! – jetzt will ich für dich sorgen!«

Dabei lächelte er triumphirend, und sein Lächeln war schön, sowohl um des Stolzes, als um der Güte willen, welche sich darin aussprach. Leonard hatte sich wunderbar verändert, seit er das Haus seines Onkels verlassen. Er war zu gleicher Zeit jünger und älter geworden; denn das Bewußtsein des Genies macht uns, wenn es sich seiner Fesseln entledigt, einerseits älter und klüger in Beziehung auf die Welt, zu welcher es hinaufsteigt, andererseits jünger und blinder in Bezug auf die Welt, von welcher es herstammt.

»Und es ist auch keine hübsche Stadt, sagst du?«

»Sehr häßlich in der That,« sagte Helene fast heftig, »wenigstens, so weit ich gesehen habe.«

»Es muß aber doch Theile geben, die schöner sind, als andere? Du sagst, daß es Parks gibt; warum sollten wir nicht in ihrer Nähe wohnen und Aussicht auf die grünen Bäume haben?«

»Das wäre hübsch,« sagte Helene fast in fröhlichem Tone; »aber« – und dabei schüttelte sie den Kopf – »für uns gibt es keine Wohnungen, ausgenommen in den Höfen und in den Gäßchen.«

»Warum?«

»Warum?« wiederholte Helene lächelnd und hielt ihm die Börse hin

»Puh! immer diese entsetzliche Börse, als wenn wir sie nicht wieder füllen könnten! Habe ich dir nicht die Geschichte von Fortunio Eines der Feenmärchen der Madame d'Aulnoy (Marie-Catherine Aulnoy, 1650/1651-1705); die englische Übersetzung »The History of Fortunio, and His Famous Companions« war seit der 2. Hälfte des 18. Jh. verbreitet. erzählt? Gut, jedenfalls gehen wir zuerst in die Gegend, wo du zuletzt gewohnt hast, um alles zu erfahren, was möglich ist; und dann werde ich übermorgen Doctor Morgan aufsuchen und jenen Lord ausfindig machen.«

Helenen's milde Augen standen voll Thränen. »Du wünschest mich bald los zu werden, Bruder.«

»Ich! ach, ich fühle mich so glücklich, dich bei mir zu haben. Es kömmt mir vor, als wenn ich mich mein ganzes Leben lang um dich gegrämt hätte, und als ob du dann endlich gekommen wärest; denn ich habe nie weder Bruder, noch Schwester, noch irgend Jemanden zum Lieben gehabt, der nicht älter war, als ich selbst, ausgenommen –«

»Ausgenommen die junge Dame, von der du mir gesprochen hast,« sagte Helene und wandte ihr Gesicht ab; denn Kinder sind sehr eifersüchtig.

»Ja, ich liebte sie, und ich liebe sie noch. Aber das war etwas ganz Anderes,« sagte Leonard und erröthete. »Ich hätte nie mit ihr so sprechen können, wie mit dir; dir gegenüber ist mein ganzes Herz offen, du bist meine kleine Muse, Helene. Ich gestehe dir meine wilden Launen und Phantasien eben so frei und offen, als ob ich Gedichte schriebe.«

Bei diesen Worten hörte man Tritte, und ein Schatten fiel auf den Fluß hinab. Ein Angler, der sich verspätet hatte, erschien am Ufer und zog seine Schnur so ungeduldig durch das Wasser, als wenn er irgend einen schlummernden Fisch zum Anbeißen bringen wollte, ehe derselbe für die Nacht auf den Grund ging. Vollständig in seine Beschäftigung vertieft, bemerkte der Angler die jungen Leute auf dem Rasen unter dem Baume nicht und blieb dicht neben ihnen stehen.

»Der verdammte Barsch!« sprach er laut.

»Nehmen Sie sich in Acht, Sir,« rief Leonard, denn der Mann wäre, als er einen Schritt zurück that, beinahe auf Helene getreten.

Der Angler drehte sich um. »Was gibt es? Bst, Sie haben meinen Barsch verscheucht. Können Sie nicht still sein?«

Helene rückte bei Seite, und Leonard blieb bewegungslos. Er erinnerte sich Jackeymo's und empfand Theilnahme für den Angler.

»Das ist der außerordentlichste Barsch, den ich je beobachtet!« murmelte der Fremde, vor sich hin sprechend. »Er hat ein teufelsmäßiges Glück. Er muß mit einem silbernen Löffel im Maule geboren worden sein, der verdammte Barsch! Ich werde ihn nie fangen – nie! Ha! – nein, es ist nur ein Unkraut; ich gebe es auf.«

Mit diesen Worten zog er entrüstet seine Angelruthe aus dem Wasser und begann sie aus einander zu legen. Während er sich in aller Gemächlichkeit damit beschäftigte, wandte er sich an Leonard.

»Hm! sind Sie genau mit diesem Bach bekannt, Sir?«

»Nein,« antwortete Leonard. »Ich habe ihn nie früher gesehen.«

Angler (in feierlichem Tone). – »Dann folgen Sie meinem Rath, junger Mann, und lassen Sie sich nicht von demselben in Versuchung führen. Ich, Sir, bin ein Märtyrer dieses Baches; er ist die Delila Bezug auf die Geschichte von Samson und Delila (Bibel, Richter 13-16): Samson erliegt der betörenden Delila aus dem Lager der gegnerischen Philister und verrät ihr das Geheimnis seiner unbezwingbaren Kraft; diese schwindet, sobald ihm die Haare abgeschnitten werden. meines Daseins geworden.«

Leonard (teilnahmsvoll, weil der letzte Satz ihm poetisch erschien). – »Die Delila, Sir – die Delila!«

Angler. – »Die Delila. Junger Mensch, hören Sie mich an, und lassen Sie mein Beispiel Ihnen eine Warnung sein. Als ich ungefähr in Ihrem Alter war, kam ich zum ersten Male an diesen Bach, um zu fischen. Sir, es war um drei Uhr Nachmittags an jenem unglücklichen Tage, daß ich einen Fisch fing – einen sehr großen Fisch, der wohl anderthalb Pfund gewogen haben muß. Sir, er war von dieser Länge;« und indem er so sprach, legte der Angler seinen Finger an das Handgelenke. »Und gerade, als ich ihn beinahe an das Land gebracht hatte, eben da, wo Sie jetzt sitzen, auf diesem schief herabhängenden Ufer, junger Mann, riß die Schnur entzwei und der Barsch entschlüpfte zwischen den Wurzeln. Und das Teufelsgeschöpf – denn das war es – ging durch mit sammt dem Angelhaken. Nun gut, dieser Fisch spukte immer in meinem Kopf; ich hatte noch nie in meinem Leben einen solchen Fisch gesehen. Elritzen hatte ich in der Themse und sonst wohl gefangen, auch Grundlinge und hie und da sogar einen Weißfische. Aber einen solchen Fisch – einen Barsch – der alle seine Finnen aufgezogen hatte, wie die Segel eines Kriegsschiffes – ein Ungeheuer von einem Barsch – ein Wallfisch in Barschgestalt! Nein, nie bis zu jener Zeit hatte ich gewußt, welche gewaltige Leviatans in der Tiefe liegen. Ich konnte nicht schlafen, bis ich wieder zurückgekehrt war und dann – Sir – fing ich wieder den Barsch. Und dieses Mal brachte ich ihn, wie es sich gehört, auf dem Wasser heraus. Er entkam aber wieder; und wie entkam er? Sir, er ließ eines seiner Augen an dem Angelhacken stecken! Lange, lange Jahre sind seit jener Zeit verstrichen, aber ich werde nie das Peinliche jenes Augenblicks vergessen«

Leonard. – »Für den Barsch, Sir?«

Angler. – »Für den Barsch? Peinlich für ihn? Er freute sich dessen! Nein, peinlich und qualvoll für mich! Ich sah mir das Auge an, und das Auge blickt wieder auf mich so schlau und so boshaft, als wenn es mir in's Gesicht lachen wollte. Gut, Sir, ich hatte gehört, daß es keinen besseren Köder für einen Barsch gebe, als das Auge eines Barsches. Ich befestigte jenes Auge an den Angelhaken und ließ die Schnur leise hinab. Das Wasser war ungewöhnlich hell; binnen zwei Minuten sah ich den Barsch zurückkehren. Er näherte sich dem Haken; er erkannte sein Auge – schlug mit dem Schwanze – tauchte unter – und riß, so wahr ich lebe, das Auge los, blieb dabei frisch und gesund, und ich bemerkte, wie er es neben einer Wasserlilie verspeiste. Dieser höhnische Teufel! seit jener Zeit habe ich im Laufe eines bewegten und ereignißvollen Lebens diesen Barsch sieben Mal wieder gefangen und sieben Mal ist er mir wieder entwischt.«

Leonard (erstaunt). – »Es kann nicht derselbe Barsch sein; die Barsche sind zarte Fische, und wenn der Haken in seinem Rachen festsitzt, oder ihm ein Auge ausgehackt wird, so kann kein Barsch eine solche Verletzung seines Körpers ertragen.«

Angler (mit einem Ausdruck des Entsetzens). – »Es scheint übernatürlich. Aber es ist derselbe Barsch, denn, hören Sie, Sir, es gibt nur einen einzigen Barsch in dem ganzen Bache! Die vielen Jahre, die ich hier fischte, habe ich nie einen andern Barsch gefangen; und ich kenne diesen einsamen Bewohner des wässerigen Elements besser vom Ansehen, als meinen eigenen verstorbenen Vater. Jedesmal nämlich, wenn ich ihn auf dem Wasser herausgezogen habe, war sein Profil gegen mich gekehrt, und ich habe mit Schaudern bemerkt, daß er nur – Ein Auge hatte! Dieser Barsch ist ein höchst geheimnißvolles und ein höchst diabolisches Phänomen! Er ist es, der meine Lebensaussichten zu Grunde gerichtet hat. Es war mir eine Stelle in Jamaika angeboten, allein ich konnte nicht hingehen und diesen Barsch triumphirend hier zurücklassen! Nachher hätte ich in Indien eine Anstellung erhalten können, aber ich konnte es nicht zugeben, daß der Ocean zwischen mir und jenem Barsche liege. So habe ich mein Dasein in dieser unseligen Hauptstadt meines Vaterlands zersplittert. Von Februar an bis zum Dezember komme ich jede Woche einmal hieher. – Du lieber Gott! wenn ich eines Tages diesen Barsch fangen sollte, so würde ich in meinem Leben keine Beschäftigung mehr haben.«

Leonard betrachtete neugierig den Angler, der die letzten Worte in traurigem Tone gesprochen hatte. Die zierliche Form seiner Perioden paßte nicht zu seinem fadenscheinigen, ärmlichen Anzug. Es war jedoch in gewisser Art eine vornehme Aermlichkeit – die Aermlichkeit in schwarzer Kleidung. In seinen Mundwinkeln lag Humor, und seine Hände waren, obgleich sie nicht besonders reinlich zu sein schienen – seine Beschäftigung war ohnedies gerade nicht der propersten Art – diejenigen eines Mannes, der nichts von Händearbeit weiß. Sein Gesicht war blaß und aufgedunsen und die Spitze seiner Nase geröthet. Er schien mit dem Element des Wassers nicht so vertraut zu sein, wie seine Delila – der Barsch.

»So ist das Leben!« begann der Angler wieder im moralisirenden Tone, als er seine Angelruthe in das Futteral steckte.

»Wenn Jemand wüßte, was es heißen will, sein ganzes Leben lang in einem Bache zu fischen, in welchem sich nur ein einziger Barsch befindet! Dann diesen Barsch alles in allem neun Mal zu fangen und mit ansehen zu müssen, wie er neun Mal wieder in das Wasser hineinfällt – wenn irgend Jemand wüßte, was das heißen will – nun, dann –« hier blickte er über seine Schulter Leonard voll in das Gesicht – »nur dann, junger Sir, würde er wissen, was das menschliche Leben für den eitlen Ehrgeiz ist. Guten Abend.«

Damit ging er fort, über die Gänseblümchen und Hahnenfüße hinwegschreitend. Helene folgte ihm neugierig mit den Augen.

»Welch' ein sonderbarer Mensch!« sagte Leonard lachend.

»Ich denke, er ist ein sehr weiser Mensch,« murmelte Helene und rückte dicht an Leonard heran; dann legte sie seine Hand in die ihrige, als ob sie bereits fühlte, daß er eines Trösters bedürfe – daß die Schnur bereits zerrissen und der Barsch verloren sei!


Neuntes Kapitel.

Um die Mittagszeit des folgenden Tages tauchte London in einem dicken, drückenden Nebel vor ihnen auf; denn, wo könnte man sagen, daß London uns in die Augen springe? Es tauchte vor ihnen auf durch einen von seinen schönsten und lieblichsten Zugängen, durch die sinnlichen Gärten von Kensington, längs Hydepark u. s. w. bis Cumberland Gate.

Leonard war nicht im geringsten erstaunt, und doch wäre es möglich, mit sehr wenigen Kosten und mit ein klein wenig Geschmack diesen Eingang zu London ebenso großartig und ebenso imponirend zu machen, wie denjenigen, welcher von den Champs Elysées nach Paris führt.

Als sie sich Edgeware Road näherten, nahm Helene ihren neuen Bruder bei der Hand, um ihm als Führerin zu dienen; denn sie kannte die dortige Gegend und wußte eine Wohnung in der Nähe derjenigen, welche ihr Vater inne gehabt hatte (in diese selbst würde sie um alles in der Welt nicht zurückgekehrt sein), wo sie ein billiges Unterkommen finden konnten. Gerade jetzt aber erschienen die Wolken, welche seit dem Morgen den Himmel bedeckt hatten, wie eine einzige schwarze Masse. Plötzlich trat ein heftiges Regenwetter ein. Leonard und Helene flüchteten sich unter einen bedeckten Schuppen in einer Straße, die von Edgeware Road ausging. Bald war dieses Obdach mit Menschen angefüllt. Die beiden jungen Pilger drückten sich, von den Uebrigen abgesondert, dicht an die Wand. Leonard hatte seinen Arm um Helene geschlungen und beschützte sie vor dem Regen, den der scharfe Wind, der mit demselben kämpfte, durch die Thüre ihnen entgegen trieb.

Kurz darauf trat ein junger Mann von besserem Aussehen und in eleganterer Kleidung, als die andern Flüchtlinge, herein, aber nicht mit hastigen, sondern eher mit langsamen und stolzen Schritten, gleichsam, als ob er, wenn er sich auch dazu herabließ, ein Obdach zu suchen, es doch verschmähe, danach zu rennen. Er blickte etwas hochmüthig herab auf die anwesende Gruppe, schritt mitten durch dieselbe und gelangte so in die Nähe von Leonard. Hierauf nahm er seinen Hut ab und schüttelte den Regen von dem Rande desselben. Da sein Haupt auf diese Weise unbedeckt war, so konnte man alle seine Züge beobachten, und Leonard erkannte auf den ersten Blick in ihm seinen alten, siegreichen Angreifer auf der Wiese von Hazeldean.

Randal Leslie hatte sich jedoch verändert. Seine dunkeln Wangen waren ebenso schmal, wie in seiner Knabenzeit, wo nicht durch eifriges Studium und durch Nachtwachen noch mehr abgezehrt; der Ausdruck seines Gesichtes aber war zugleich ausdrucksvoller und männlicher geworden, und in seinen großen Augen glänzte ein ruhiges, concentrirtes Licht, wie bei einem Manne, der sich daran gewöhnt hat, alle seine Gedanken in Einen Punkt zusammenzufassen. Er sah älter aus, als er war. Er war einfach schwarz gekleidet, und diese Farbe stand ihm gut; in seinem Aeußeren und in seiner ganzen Erscheinung war jedoch nichts Prunkhaftes, sondern etwas Vornehmes. Er sah für das gewöhnliche Auge wie ein Gentleman und für den aufmerksameren Beobachter wie ein Gelehrter aus.

Jetzt ging es bunt her, Alles durch einander! Bald drückten die Leute in dem Durchgang auf einander, bald zerstreuten sie sich nach allen Seiten, um Platz zu machen, bald stürzten sie sich nach hinten, dann wieder gegen die Wand – als ein feuriges Roß in die Scheuer hineinstürmte. Der Reiter, ein junger Mann mit einem sehr hübschen Gesichte und auf jene sorgfältige Weise gekleidet, die man gewöhnlich stutzerhaft nennt, rief in gutmüthigem Tone: »Fürchten Sie sich nicht, das Pferd wird Niemand etwas zu leide thun – bitte tausendmal um Verzeihung – so ho! so ho!« Er streichelte das Pferd, und es stand wie eine Mauer, den ganzen Raum mitten im Thorwege einnehmend. Die Gruppe beruhigte sich wieder, und Randal näherte sich dem Reiter.

»Frank Hazeldean!«

»Ah – Randal Leslie!«

In einem Augenblick war Frank vom Pferde gesprungen und übergab die Zügel den Händen eines schmächtigen Lehrlings, der ein Bündel trug.

»Wie freut es mich, mein lieber Junge, dich zu sehen. Welch' glücklicher Zufall, daß ich hier hereinkam. Und es ist sonst nicht meine Art, denn ich mache mir nichts daraus, naß zu werden. Wohnst du hier in der Stadt, Randal?«

»Ja, in dem Hause deines Onkels, Mr. Egerton. Ich habe Oxford verlassen.«

»Für immer?«

»Für immer.«

»Aber du hast ja noch nicht promovirt, so viel ich weiß? Wir Etonianer glaubten immer, daß du die erste Note bekommen würdest. O, wir sind so stolz auf deinen Ruhm gewesen – du hast alle ersten Preise davon getragen.«

»Nicht alle, aber allerdings einige. Mr. Egerton stellte mir die Wahl frei, dort zu bleiben, bis ich promovirt hätte, oder sofort in das Ministerium des Auswärtigen einzutreten. Ich zog den Zweck dem Mittel vor. Denn wozu nützen alle akademischen Ehren, als zum Eintritt in das praktische Leben? Jetzt in dasselbe eintreten, heißt, sich auf einem langen Wege einen Schritt ersparen, Frank.«

»Ah, du warst immer ehrgeizig, und ich bin überzeugt, du wirst eine große Rolle spielen.«

»Vielleicht – wenn ich dafür arbeite. Wissen ist Macht!«

Leonard fuhr auf.

»Und du,« fuhr Randal fort, indem er seinen alten Schulkameraden mit neugieriger Aufmerksamkeit betrachtete – »du bist nie nach Oxford gekommen. Ich hörte, du wärest in die Armee eingetreten.«

»Ich bin in der Garde,« sagte Frank, indem er sich viele Mühe gab, bei diesem Geständniß nicht zu eingebildet auszusehen. »Mein Vater war anfangs etwas dagegen und hätte es lieber gesehen, wenn ich bei ihm in der alten Halle geblieben wäre und mich dort mit der Landwirtschaft beschäftigt hätte. Dazu hat man aber noch Zeit genug – nicht wahr? Beim Zeus, Randal, das Leben in London ist ein sehr angenehmes Leben! Bist du heute Abend bei Almack's?«

»Nein, Mittwochs ist Feiertag im Unterhaus. Mr. Egerton gibt ein großes parlamentarisches Mittagessen. Er ist jetzt, wie du weißt, im Kabinet; aber du siehst wohl deinen Onkel nicht häufig, vermuthe ich.«

»Unsere beiderseitigen gesellschaftlichen Kreise sind zu verschieden,« sagte der junge Gentleman in einem brummellswürdigen George Bryan Brummell, auch Beau Brummell genannt (1778-1840), englischer Lebemann, die modische Stilikone Englands zu seiner Zeit. Tone. »Alle diese Parlamentarischen sind verteufelt langweilig. Der Regen hat aufgehört. Ich weiß nicht, ob es meinem Vater lieb wäre, wenn ich in Grosvenor-Square vorspräche, aber bitte, besuche mich doch; hier ist meine Karte, damit du's nicht vergissest. Du mußt mit uns am Regimentstisch essen. Du wirst sehen, was ich für angenehme Kameraden habe. Welchen Tag willst du festsetzen?«

»Ich werde es dich wissen lassen. Findest du das Leben in der Garde nicht etwas kostspielig? Ich erinnere mich, daß du glaubtest, dein Vater habe es nicht sehr gerne gesehen, wenn du ihm um mehr Taschengeld schriebst, und ein Mal entsinne ich mich, Thränen in deinen Augen gesehen zu haben, als Mr. Hazeldean bei der Uebersendung von fünf Pfund dich daran erinnerte, daß seine Güter nicht Fideicommisse seien, sondern daß er nach seinem Belieben über sie verfügen könne, und sie nie in die Hände eines Verschwenders übergehen würden. Das war keine angenehme Drohung für dich, Frank.«

»O!« rief der junge Mann, indem er tief erröthete, »es war nicht die Drohung, die mich schmerzte, sondern der Gedanke, mein Vater könne eine so niedrige Meinung von mir haben und glauben, daß – gut – nun gut – das war noch die Schulknabenzeit. Und mein Vater war immer freigebiger gegen mich, als ich es verdiente. Wir müssen uns oft sehen, Randal. Du warst immer so gut gegen mich in Eton, und machtest mir meine Stylübungen – das werde ich dir nie vergessen; besuche mich bald.«

Frank schwang sich in den Sattel und gab dem schmächtigen Jungen eine halbe Krone, was ungefähr viermal so viel war, als sein Vater für genügend gehalten haben würde. Er ergriff die Zügel, gab dem Pferde die Sporen und fort galopirte das stolze Roß mit dem jungen, fröhlichen Reiter.

Randal versank in Nachdenken, und als der Regen vollständig aufgehört hatte, zerstreuten sich die Leute, die eine Zuflucht in der Scheuer gesucht hatten, und gingen ihres Weges. Nur Randal, Leonard und Helene blieben zurück. Als Randal, noch immer in Gedanken, seine Blicke erhob, fielen sie gerade auf Leonard's Antlitz. Er schien überrascht, fuhr hastig mit der Hand über die Stirne und warf nochmals einen scharfen, durchdringenden Blick auf Leonard; seine blasse Wange wurde noch blässer, und ein unwillkürliches Zusammendrücken und gleichsam Zusammenbeißen seiner Lippen zeigte, daß auch er seinen alten Feind wieder erkannt hatte. Dann glitt sein Blick über Leonard's Anzug, der zwar etwas staubig aussah, aber doch einen Bauernanzug weit übertraf. Randal zog mit einem geringschätzenden Lächeln seine Augenbrauen erstaunt in die Höhe – dieses Lächeln war ein Stich für Leonard. Sodann verließ er langsamen Schrittes die Scheuer und ging nach Grosvenor-Square. Der Eingang zum Ehrgeize lag offen und klar da für ihn.

Das kleine Mädchen faßte Leonard wieder bei der Hand und führte ihn durch eine Reihe von schmalen, dunklen und traurigen Straßen und verschlungenen Gäßchen, die immer enger und enger wurden, bis die Gestalten Beider verschwanden.


Zehntes Kapitel.

» Aber komm' doch; kleide dich um, kehre zurück und speise dann bei mir zu Mittag; du hast gerade noch Zeit, Harley. Du wirst mit den ausgezeichnetsten Männern unserer Partei zusammentreffen, die es gewiß verdienen, daß du sie studirst, Philosoph, der du sein willst.«

So sprach Audley Egerton zu Lord L'Estrange, mit dem er ausgeritten war, nachdem er seine Geschäfte beendigt hatte. Die beiden Gentlemen befanden sich in Audley's Bibliothekzimmer.

Mr. Egerton saß wie gewöhnlich mit zugeknöpftem Rocke in seinem Stuhl und hatte die aufrechte Haltung eines Mannes, der verächtlich herabsieht auf die »ruhmlose Gemächlichkeit.« Harley hatte sich, ebenfalls wie gewöhnlich, der Länge nach auf den Sopha hingestreckt; seine langen Haare hingen in Locken nachlässig herab; sein Halstuch war leicht um den Hals geschlungen, und sein Anzug schlotterte ihm um die Glieder – simplex munditiis Nach Horaz, Oden, I, 5, 5: In schlichter Eleganz. – Auch Titel eines Gedichts von Ben Jonson (1573–1637). – seine Anmuth war eine ganz individuelle; anscheinend nachlässig, niemals schlappig; überall und mit Jedem gemächlich, sogar mit Mr. Audley Egerton, der die meisten Menschen frösteln machte und aus ihrer Gemütlichkeit herauszubringen verstand.

»Nein, lieber Audley, du mußt mich entschuldigen. Aber deine ausgezeichneten Männer sind lauter Leute, die von Einer Idee beseelt sind – Politik! Politik! Politik! Es ist der Sturm in einem Glas Wasser.«

»Aber was ist dein Leben, Harley? – ein Glas Wasser ohne Sturm?«

»Weißt du, daß dies sehr gut gefaßt war, Audley; ich hätte nicht gedacht, daß du in deinen Antworten so schlagfertig wärst. Leben – Leben! Das ist ein einfältiges, schales Ding. Man kann in einem Glas Wasser keine Argonautenzüge Die Argonautensage handelt von der Fahrt des Iason und seiner Begleiter nach Kolchis im Kaukasus, der Suche nach dem Goldenen Vlies und dessen Raub. machen. Audley, ich habe eine ganz sonderbare Idee –«

»Das versteht sich von selbst,« sagte Audley trocken. »Du hast nie andere Ideen gehabt. Was ist es denn für eine neue Idee?«

Harley (mit großer Würde). – »Glaubst du an Mesmerismus?«

Audley. »Gewiß nicht.«

Harley. – »Wenn es nur in der Gewalt eines animalischen Magnetiseurs läge, mich aus meiner eigenen Haut heraus zu nehmen und in die eines Anderen zu stecken? Das ist meine Idee! Ich habe mich selbst so satt – so satt! Ich habe alle meine Ideen durchgemacht – ich kenne sie alle auswendig; wenn irgend so eine unverschämte Betrügerin sich hervordrängt und sagt, ›sieh' mich einmal an, ich bin ein neuer Bekannter,‹ dann nicke ich ihr zu und sage: ›Durchaus nicht, du hast nur ein neues Kleid angezogen, du bist derselbe alte böse Kamerad, der mich seit zwanzig Jahren gequält hat; fort mit dir!‹ Wenn ich nur eine halbe Stunde lang dein langer Portier sein könnte oder einer von deinen vortrefflichen praktischen Leuten, dann würde ich in der That in eine neue Welt reisen‹ Wenn zu jener Zeit, als Lord L'Estrange diese Unterhaltung mit Mr. Egerton pflog, Alfred de Musset seine Lustspiele geschrieben hätte, so würden wir seine Herrlichkeit im Verdacht haben, daß er aus einem dieser Lustspiele die grillenhafte Ideen gestohlen hätte, welche er hier Audley zum Besten gibt; indem der Verfasser dieser Novelle dieselbe widergibt, kann er wenigstens nicht umhin, seine Verbindlichkeit gegen jenen Schriftsteller auszudrücken, dessen Humor ausgiebig genug ist, um ein solches Anlehen zu rechtfertige. [ Anm.d.Verf.]. Das Gehirn eines jeden Menschen muß eine Welt für sich sein, nicht wahr? Wenn ich mich nur, wie in einem Kirchspiel, in dem deinigen, Audley, niederlassen und über alle deine Gedanken und Gefühle Revue halten könnte! So wahr ich lebe, ich will zu dem französischen Mesmeristen hingehen und mit ihm darüber sprechen.«

Audley (der keine Freude an der Idee zu haben scheint, daß seine Gedanken und Gefühle, wenn auch von einem Freunde und nur in der Einbildung, durchgestöbert werden). – »Pah, pah, pah! sprich doch wie ein vernünftiger Mensch.«

Harley. – »Wie ein vernünftiger Mensch! Wo soll ich das Muster eines solchen finden? Ich kenne keinen vernünftigen Menschen! Bin noch nie mit einem solchen Geschöpf zusammengetroffen – glaube nicht, daß ein solches je existirte. Es gab eine Zeit, wo ich wähnte, daß Sokrates ein vernünftiger Mensch gewesen sei; – es war eine Täuschung; er gehörte zu denen, welche hinstehen, in die Luft starren, und von Morgens bis Abends mit ihrem Genius sprechen. Sieht das aus, wie ein vernünftiger Mensch? Armer Audley, wie ich dich verwirre! Gut, ich will es versuchen, aus Artigkeit gegen dich vernünftiger zu reden. Erstens« (dabei stützte sich Harley auf seinen Ellenbogen) – »erstens frage ich dich, ob es wahr ist, wie unbestimmte Gerüchte gehen, daß du der Schwester jenes ehrlosen italienischen Verräthers den Hof machst?«

»Madame di Negra? Nein, ich mache ihr nicht den Hof,« antwortete Audley mit einem kalten Lächeln. »Aber sie ist sehr schön; sie ist sehr gescheidt; sie ist mir sehr nützlich – wie und warum? habe ich nicht nöthig zu sagen, das gehört zu meinem Handwerk als Politiker. Aber wenn du meinen Rath befolgen oder deinen Freund bewegen willst, denselben zu befolgen, so glaube ich, daß ich durch ihren Bruder einige Zugeständnisse für deinen Verbannten erlangen könnte. Sie ist sehr begierig, zu wissen, wo er ist.«

»Du hast es ihr doch nicht gesagt?«

»Nein – ich habe dir versprochen, es geheim zu halten.«

»Glaube mir, es ist nur, um irgend ein Unheil anzustiften, um irgend eine Falle zu stellen, daß sie eine solche Mittheilung wünscht. Zugeständnisse – pah! Hier handelt es sich nicht um Zugeständnisse, sondern um Rechte.«

»Du solltest, meine ich, es deinem Freunde überlassen, hierüber zu urtheilen.«

»Gut, ich will ihm schreiben. Indessen nimm dich vor diesem Weibe in Acht. Ich habe im Auslande viel von ihr gehört; sie hat denselben Charakter, wie ihr Bruder, sie ist eben so falsch und –«

»Schön,« unterbrach ihn Audley, indem er dem Gespräche gewandt eine andere Richtung gab. »Es ist mir gesagt worden, daß der Graf einer der schönsten Männer Europa's sei, ja sogar schöner, als seine Schwester, obgleich er beinahe zweimal so alt ist. Beruhige dich, Harley, fürchte nichts für mich. Ich bin gegen alle weiblichen Reize gewappnet. Mein Herz ist todt.«

»Nein, nein, so solltest du nicht sprechen – überlasse mir das. Aber selbst ich will das nicht sagen. Das Herz stirbt nie. Und du, was hast du verloren? – ein Weib, ein vortreffliches, edles Weib, das ist wahr. Aber war es Liebe, was du für sie fühltest? Beneidenswerther Mann, hast du je geliebt?«

»Vielleicht nicht, Harley,« sagte Audley, düster vor sich hinblickend und in niedergeschlagenem Tone; »sehr wenige Männer haben je geliebt, wenigstens nicht in dem Sinne, wie du es meinst. Aber es gibt andere Leidenschaften, als die Liebe, welche das Herz tödten und uns zu einer Maschine machen.«

Während Egerton sprach, wendete sich Harley ab, und seine Brust hob sich. Ein kurzes Schweigen entstand, Audley war der erste, der es brach.

»Da du von meiner verstorbenen Frau sprichst, so thut es mir leid, daß du mit dem, was ich für ihren jungen Verwandten, Randal Leslie, gethan habe, nicht einverstanden bist.«

Harley (sich mit einiger Anstrengung fassend). – »Heißt das Güte, wenn man ihm befiehlt, seine männliche Unabhängigkeit mit dem Schutze eines Gönners in der Person eines Beamten zu vertauschen?«

Audley. – »Ich habe ihm nicht befohlen. Ich stellte ihm die Wahl frei. In seinem Alter würde ich ebenso gewählt haben, wie er es gethan hat.«

Harley. – »Das glaube ich nicht; ich denke besser von dir. Aber antworte mir offen auf Eine Frage; und dann werde ich dir eine zweite vorlegen. Willst du diesen jungen Mann zu deinem Erben machen?«

Audley (ein wenig verlegen). – »Zum Erben? Pah! Ich bin noch jung, ich kann so lange leben, wie er – übrig Zeit, darüber nachzudenken.«

Harley. – »Nun zu meiner zweiten Frage. Hast du ihm gerade heraus gesagt, daß er auf deinen Einfluß, aber nicht auf dein Vermögen rechnen dürfe?«

Audley (in bestimmtem Tone). – »Ich glaube, ich habe es gethan; aber ich werde es auf eine nachdrücklichere Weise wiederholen.«

Harley. – »Dann bin ich mit deinem Betragen, aber nicht mit dem seinigen zufrieden; denn er hat einen zu scharfen Verstand, um nicht zu wissen, was es heißt, seine Unabhängigkeit aufgeben; und du kannst dich darauf verlassen, daß er seine Berechnungen gemacht hat, und daß er bei allem, was er thut, um sich einen Vortheil zuzuwenden, dich mit in Anschlag bringt. Du folgst bei der Beurtheilung der Menschen deiner Erfahrung, ich meinem Instinkte. Die Natur warnt uns so gut, wie die unvernünftigen Thiere, nur sind wir Zweifüßler zu eingebildet, um auf ihre Warnungen zu achten. Mein Instinkt als Soldat und Edelmann stößt mich von diesem altklugen jungen Mann zurück. Er hat die Seele eines Jesuiten. Ich sehe das in seinem Auge, ich höre das in dem Tritte seines Fußes; volto sciolto hat er nicht, aber i pensieri stretti »Ein offenes Gesicht hat er nicht, aber verborgene Gedanken hat er.« hat er. Stille! Ich höre eben seinen Schritt in der Halle. Ich würde ihn unter Tausenden erkennen. Nur er kann so die Hand auf die Thürklinke legen.«

Randal Leslie trat ein. Harley, welcher, obgleich er sonst alle Formalitäten verschmähte und Randal nicht leiden konnte, doch zu wohl erzogen war, um nicht gegen einen Jüngeren oder gegen einen im Range unter ihm Stehenden höflich zu sein, machte eine Verbeugung. Aber sein klarer, durchdringender Blick wurde nicht milder, als er sich auf das tiefere und mehr verborgene Feuer in Randal's Auge heftete. Harley nahm seinen Sitz nicht wieder ein, sondern trat an den Kamin und lehnte sich an denselben.

Randal. – »Ich habe Ihre Aufträge besorgt, Mr. Egerton. Zuerst ging ich nach Maida Hill, um Mr. Burley aufzusuchen. Ich gab ihm die Anweisung; er fand es zuviel und sagte, er werde die Hälfte dem Banquier zurückgeben; er wird den Artikel schreiben, wie Sie es gewünscht haben. Sodann –«

Audley. – »Genug, Randal! Wir wollen Lord L'Estrange nicht mit diesen Bagatellsachen aus einer Sphäre, die ihm mißfällt – aus der Sphäre des politischen Lebens – ermüden.«

Harley. – »Aber diese Bagatellgeschichten mißfallen mir nicht, sie tragen dazu bei, mich mit meinem eigenen Leben zu versöhnen. Fahren Sie fort Mr. Leslie, ich bitte.«

Randal hatte zu viel Takt, um eines warnenden Blickes von Mr. Egerton zu bedürfen. Er fuhr nicht fort, sondern sagte in sanftem Tour: »Glauben Sie, Lord L'Estrange, daß man durch das Anstellen von Betrachtungen über die Lebenswege Anderer sich mit seiner eigenen aussöhnen könne, wenn man wirklich glaubt, daß dieselbe eine solche Aussöhnung bedürfe?«

Harley schien diese Frage zu gefallen, denn sie war ironisch; und wenn irgend etwas in der Welt ihn anwiderte, so war es Schmeichelei.

»Besinnen Sie sich auf Ihren Lukretius, Mr. Leslie, auf das suave mare Lucretius, De Rerum Natura II, 1f.: »Wonnevoll ist's bei wogender See, wenn der Sturm die Gewässer / Aufwühlt, ruhig vom Lande zu sehn, wie ein andrer sich abmüht ...« (Übertragung durch Hermann Diels, 1924, postum). etc., wie schön es sei, vom Felsen aus zu sehen, wie die Schiffsleute auf dem Ocean herumgeschlendert werden. Fürwahr, ich denke, daß uns ein solcher Anblick mit dem Felsen versöhnt, wenn uns auch vorher das Spritzen des schäumenden Meeres belästigt, und das Schreien der Seemöven betäubt hat. Aber ich verlasse Dich, Audley. Merkwürdig, daß ich nichts mehr von meinem Soldaten gehört habe. Vergiß nicht dein Versprechen, wenn ich komme, um dessen Erfüllung zu verlangen. Leben Sie wohl, Mr. Leslie, ich hoffe, daß Mr. Burley's Artikel soviel werth sein wird, wie – die Anweisung.«

Lord L'Estrange bestieg sein Pferd, welches noch vor der Thüre stand, und ritt durch den Park. Dieses Mal aber grüßte man ihn durch Bezeugungen und Zunicken.

»Ach, ich bin also erkannt,« sagte er zu sich. »Und dazu die so schreckliche Herzogin von Knaresborough – ich muß aus meinem Vaterlande fliehen.«

Er setzte sein Pferd in Trapp und war aus dem Parke verschwunden. Als er an dem abgelegenen Hause seines Vaters abstieg, würde man schwerlich in ihm denselben launenhaften, phantastischen, aber tiefsinnigen und seinen Humoristen erkannt haben, der sich darin gefiel, den materiellen Audley in Verlegenheit zu setzen. Seine ausdrucksvollen Züge zeigten einen unaussprechlichen Ernst. Sobald er aber bei seinen Eltern eintrat, war seine Miene wieder heiter und liebenswürdig. Sein Antlitz erleuchtete das ganze Zimmer wie Sonnenschein.


Elftes Kapitel.

» Mr. Leslie,« sagte Egerton, als Harley das Bibliothekzimmer verlassen hatte, »Sie haben sich nicht in Ihrer gewohnten diskreten Weise benommen, indem Sie über Angelegenheiten der Politik in Gegenwart eines Dritten sprechen.«

»Ich fühle das bereits, Sir; meine Entschuldigung liegt darin, daß ich Lord L'Estrange für einen Ihrer vertrautesten Freunde hielt.«

»Ein Mann der Oeffentlichkeit, Mr. Leslie, würde seinem Vaterlande schlecht dienen, wenn er nicht gegen seine Privatfreunde besonders zurückhaltend wäre – vorausgesetzt, daß sie nicht zu seiner Partei gehören.«

»Ich bitte meine Unwissenheit zu entschuldigen. Aber Lord Lansmere ist so bekannt als eine Ihrer Stützen, daß ich mir einbildete, sein Sohn müsse dieselben Gesinnungen hegen und Ihr Vertrauen besitzen.«

Egerton zog die Augenbrauen leicht zusammen, der immer ernste und entschiedene Ausdruck seines Gesichtes wurde plötzlich streng. Indessen antwortete er in sanftem Tone:

»Wenn man in das politische Leben eintritt, Mr. Leslie, so gibt es nichts, wovor ein junger Mann von Ihren Talenten sich mehr in Acht nehmen sollte, als davor, sich eine Ansicht zu bilden, denn sie wird immer unrichtig sein. Das, glaube ich, ist auch der Grund, weßhalb junge Leute von Talent die Erwartungen ihrer Freunde so oft täuschen und – so lange kein Amt erhalten.«

Randal erröthete in seinem Hochmuthe; diese Röthe verschwand rasch wieder, und er verbeugte sich stillschweigend.

Egerton fuhr fort, gleich als ob er weitere Erklärungen geben und sich in freundlicher Weise entschuldigen wollte:

»Betrachten Sie Lord L'Estrange selbst. Welcher junger Mann hätte mit glänzenderen Aussichten in das Leben eintreten können? Rang, Vermögen, lebhafte Empfindung, Muth, Selbstbeherrschung, ebenso glänzende Kenntnisse, wie vielleicht die Ihrigen; und nun sehen Sie, wie er sein Leben verschwendet! Und warum? Weil er es für gut fand, stets seine eigenen Ansichten zu haben. Er hat sich nie einen Zaum anlegen lassen und wird es auch künftig nicht thun. Der Staatswagen, Mr. Leslie, verlangt, daß alle Pferde zusammenziehen.«

»Mit Ihrer gütigen Erlaubniß, Sir,« antwortete Randal – »ich glaube, daß es andere Gründe gibt, warum Lord L'Estrange, mag er Talente besitzen, welche er will (und darüber sind Sie jedenfalls ein competenter Richter) mit dem öffentlichen Leben nichts zu schaffen haben möchte.«

»Nun, und welche?« sagte Egerton rasch.

»Erstens,« erwiderte Randal schlau, »hat das Privatleben zu viel für ihn gethan. Was konnte das öffentliche Leben Jemandem bieten, der Nichts nöthig hat? Warum sollte er, der in den höchsten Kreisen geboren ist und auf der obersten Sprosse der socialen Leiter steht, auf die unterste hinabsteigen, um wieder hinaufzuklimmen? und zweitens scheint mir Lord L'Estrange ein Mann zu sein, in dessen Natur das Gefühl eine zu große Rolle spielt, um für das praktische Leben irgend einen Sinn in ihm aufkommen zu lassen.«

»Sie haben einen scharfen Blick,« sagte Audley mit einiger Bewunderung, »einen scharfen Blick für einen so jungen Mann. – Armer Harley!«

Die letzten Worte sprach Mr. Egerton zu sich selbst. Sodann fuhr er rasch fort:

»Es liegt mir etwas auf dem Herzen, mein junger Freund. Lassen Sie uns offen mit einander reden. Ich habe Ihnen klar und deutlich die Vortheile und die Nachtheile auseinander gesetzt, welche Ihnen die von mir gestellte Wahl darbot, nämlich entweder mit solcher Ehre zu promoviren, wie Sie es ohne Zweifel gethan haben würden, Ihr Stipendium zu erhalten und mit diesen Empfehlungen Ihres Talents Advokat zu werden – das war der eine Weg; dann aber: sofort in das öffentliche Leben einzutreten, von meiner Erfahrung Vortheil zu ziehen, meinen Einfluß zu gebrauchen, sich dem Wechsel des Steigens oder Fallens der Partei auszusetzen. Sie haben das Letztere gewählt. Als Sie es aber thaten, gab es vielleicht eine Erwägung, welche bei Ihnen ein Gewicht in die Wagschale legte, und die Sie mir verschwiegen, als Sie die Gründe für Ihre Entscheidung angaben.«

»Und welches wäre diese Erwägung, Sir?«

»Sie haben vielleicht auf mein Vermögen gerechnet, im Falle das Parteiglück Sie im Stiche lassen sollte. Sprechen Sie ohne Scheu, wenn dem so ist. Es wäre ganz natürlich bei einem jungen Manne, der von der ältern Linie des Hauses abstammt, dessen Erbin meine Frau gewesen.«

»Sie kränken mich, Mr. Egerton,« sagte Randal und wandte sich ab.

Mr. Egerton's kalter, ruhiger Blick beobachtete Randal's Bewegung. Das Antlitz des jungen Mannes entzog sich diesem Blicke; er ruhte auf der Gestalt, welche sich oft ebenso gut verräth, wie die Züge des Gesichts. Allein Randal bot Mr. Egerton's durchdringenden Blicken Trotz – seine Bewegung konnte edlen Stolz und schmerzliche, hochherzige Gefühle ausdrücken – sie konnte aber auch irgend etwas Anderes bedeuten.

Egerton fuhr langsam fort: »Ich will Ihnen denn hiermit Ein für alle Mal bestimmt und ausdrücklich sagen – rechnen Sie nie darauf; rechnen Sie auf alles Andere, was ich sonst für Sie thun kann, und verzeihen Sie mir, wenn ich Ihnen in rauher Weise Rathschläge oder in kaltem Tone Rügen ertheile. Halten Sie das dem Interesse zu gute, welches ich für Ihr Fortkommen empfinde. Außerdem wünsche ich, daß Sie, bevor Ihr Entschluß unwiderruflich gefaßt wird, all das Unangenehme und selbst Demüthigende erfahren, was mit den ersten Schritten Desjenigen verbunden ist, der ohne Vermögen und ohne Rang im öffentlichen Leben etwas erreichen will. Ich werde Ihre Wahl nicht als entschieden betrachten, bis wenigstens das Jahr zu Ende ist. Ihr Name wird in den Büchern der Universität bis dahin eingetragen bleiben, damit, wenn Sie je nach den Erfahrungen, welche Sie machen, es vorziehen sollten, nach Oxford zurückzukehren und den langsameren, aber sicheren Weg zur Unabhängigkeit und Auszeichnung zu betreten, Ihnen dieß immer noch offen sieht. Und jetzt geben Sie mir Ihre Hand, Mr. Leslie, zum Zeichen, daß Sie meine Derbheit verzeihen; – es ist Zeit, sich umzukleiden.«

Randal streckte mit noch immer abgewandtem Gesichte seine Hand aus. Mr. Egerton hielt sie einen Augenblick in der seinigen, ließ sie dann los und ging aus dem Zimmer. Als sich die Thüre geschlossen hatte, drehte sich Randal um, und in seinem düsteren Gesichte lag ein finsterer, leidenschaftlicher Ausdruck, der alle Warnungen Harley's rechtfertigte. Er bewegte seine Lippen auf eine kaum hörbare Weise und folgte hierauf Egerton in die Halle nach.

»Sir,« sagte er, »ich vergaß Ihnen zu sagen, daß ich, als ich von Maida Hill zurückkehrte, in einem bedeckten Durchgang gegen den Regen Schutz suchen mußte und dort unerwartet Ihren Neffen Frank Hazeldean traf.«

»Ah!« sagte Egerton in gleichgültigem Tone, »ein hübscher junger Mann; er ist in der Garde. Schade, daß mein Bruder so veraltete politische Ideen hat; er hätte seinen Sohn in das Parlament schicken und unter meine Leitung stellen sollen; ich hätte ihn vorwärts bringen können. Nun, was sagte Frank?«

»Er lud mich ein, ihn zu besuchen. Ich erinnere mich, daß Sie mich einmal vor einer zu genauen Bekanntschaft mit Denjenigen warnten, welche ihr Glück nicht erst zu machen haben.«

»Weil sie faul sind und Faulheit ansteckend ist. Sie haben Recht; es ist besser, mit einem jungen Offizier der Garde nicht auf einem vertrauten Fuße zu stehen«

»Sie wünschen also nicht, daß ich ihn besuche, Sir? Wir waren früher Freunde in Eton, und wenn ich seine Annäherung gänzlich zurückwiese, könnte er dann nicht denken, daß Sie –«

»Ich!« unterbrach ihn Egerton »Ja, es ist richtig, mein Bruder könnte denken, ich hätte irgend einen Groll gegen ihn. Thöricht! Bestechen Sie ihn also und laden Sie den jungen Mann zu mir ein. Indessen rathe ich Ihnen doch nicht, sich mit ihm auf einen vertrauten Fuß zu stellen.«

Egerton begab sich in sein Ankleidezimmer. »Sir,« sagte sein Diener, der auf ihn wartete, »Mr. Levy ist hier – er sagt, er sei erwartet. Und Mr. Grinders ist eben vom Lande angekommen.«

»Sage Mr. Grinders, ich wolle ihn sogleich sehen,« befahl Egerton und setzte sich. »Du brauchst nicht zu warten, ich kann mich ohne dich anziehen. Sage Mr. Levy, daß ich ihn in fünf Minuten empfangen werde.«

Mr. Grinders war Audley Egerton's Verwalter.

Mr. Levy war ein hübscher Mann, der im Knopfloche eine Kamelie trug, in einem Cabriolet fuhr mit einem hochtrabenden Pferde, das zweihundert Pfund gekostet hatte, allen jungen Leuten von Tone wohl bekannt war und von deren Vätern für eine sehr gefährliche Bekanntschaft gehalten wurde.


Zwölftes Kapitel.

Als sich die Gesellschaft in den Salons versammelt hatte, stellte Mr. Egerton Randal Leslie seinen ausgezeichneten Freunden in einer Weise vor, die sehr verschieden war von dem abgemessenen und ermahnenden Benehmen, welches er unter vier Augen gegen ihn an den Tag gelegt hatte. Die Vorstellung erfolgte mit jener Herzlichkeit und in jener anmuthigen, achtungsvollen Weise, mit welcher Leute, die eine Stellung im Leben haben, Andere empfehlen, die eine solche zu gewinnen hoffen.

»Mein lieber Lord, erlauben Sie, daß ich Ihnen einen Verwandten meiner verstorbenen Frau vorstelle« (flüsternd) – »er ist Erbe der ältern Linie ihrer Familie. Stanmore, dies ist Mr. Leslie, von dem ich Ihnen erzählt habe. Da Sie selbst sich in Oxford so ausgezeichnet haben, so wird er um der Preise willen, die er dort davon trug, in Ihrer Achtung nicht sinken. Herzog, erlauben Sie, daß ich Ihnen Mr. Leslie vorstelle. Die Herzogin ist mir böse, weil ich ihre Bälle versäume; ich hoffe aber wieder Gnade zu finden, indem ich mir einen jüngeren und lebhafteren Stellvertreter verschaffe. Ah, Mr. Howard, hier ist ein junger Gentleman, der gerade von Oxford kömmt, und der uns alles von der neuen Sekte erzählen kann, die sich dort gebildet hat. Er hat seine Zeit nicht mit Billardspiel und mit Reiten vergeudet.«

Leslie wurde mit all' der Höflichkeit aufgenommen, welche das τὸ καλόν Edle Zeichen (wörtlich: das Schöne). der Aristokratie ist.

Nach dem Essen lenkte sich das Gespräch auf die Politik; Randal hörte aufmerksam und schweigend zu, bis Egerton ihn ganz leise hineinzog – gerade soviel und nicht mehr, als für ihn nothwendig war, um seinen Verstand zeigen zu können, ohne den Vorwurf der Anmaßung auf sich zu ziehen. Egerton verstand es, jungen Leuten Gelegenheit zum Sprechen zu geben – und das ist eine schwierige Kunst. Es mochte dies auch einer der Gründe sein, weßhalb er bei denjenigen Mitgliedern seiner Partei, welche im Emporkommen erst begriffen waren, so beliebt war. Die Gesellschaft brach frühzeitig auf.

»Wir haben noch Zeit zu Almack's,« sagte Egerton, indem er auf seine Uhr sah, »und ich habe eine Karte für Sie; kommen Sie.«

Randal folgte seinem Gönner in den Wagen. Unterwegs redete ihn Egerton folgendermaßen an:

»Ich werde Sie den Hauptführern der Gesellschaft vorstellen; lernen Sie dieselben kennen und machen Sie Ihre Studien dabei. Ich rathe Ihnen nicht, den Versuch zu machen, mehr zu thun – das heißt, den Versuch zu machen, in die Mode zu kommen. Es ist dies ein sehr kostspieliger Ehrgeiz. Einigen hilft er, aber die Meisten werden dadurch ruinirt. Tanzen Sie, oder tanzen Sie nicht, je nach Ihrem Belieben, aber machen Sie den Damen nicht den Hof. Wenn Sie den Hof machen, so wird man nach Ihrem Vermögen fragen, und solche Nachforschungen würden nicht vortheilhaft sein. Außerdem verleitet das Hofmachen junge Leute zum Heirathen. Dies ginge niemals an. Hier sind wir.«

Zwei Minuten darauf befanden sie sich in dem großen Ballsaal, und Randal's Augen wurden von den Lichtern, den Diamanten und dem Glanze der Schönheit geblendet. Audley stellte ihn rasch nach einander einem Paar Dutzend Damen vor und verschwand dann unter der Menge.

Randal war nicht verlegen; er kannte keine Schüchternheit, oder wenn er diese Schwäche hatte, so verdeckte er sie. Er beantwortete die matten Fragen, die man an ihn richtete, mit einer gewissen Lebhaftigkeit, die das Gespräch aufrecht erhielt, und hinterließ einen günstigen Eindruck von seinen liebenswürdigen Eigenschaften. Diejenige Dame aber, mit welcher er sich am besten unterhielt, war eine hübsche und witzige Weltdame (ohne Töchter), Lady Frederik Coniers.

»Das ist also Ihr erster Ball bei Almak's, Mr. Leslie?«

»Mein erster.«

»Und Sie sind noch nicht mit einer Tänzerin versehen? Soll ich Ihnen für eine sorgen? Wie gefällt Ihnen das hübsche Mädchen dort in dem blaßrothen Kleide?«

»Ich sehe sie, aber ich kann kein Urtheil über sie fällen.«

»Es scheint mir, Sie sind gerade wie ein Diplomat, welcher es sich vor allem bei einem neuen Hofe zur Aufgabe macht, zu erfahren, wer die Leute sind, mit denen er zu thun hat.«

»Ich muß bekennen, daß es mir jetzt, da ich anfange, die Geschichte der Gegenwart zu studieren, erwünscht wäre, die Portraits, welche zu ihrer Erläuterung dienen, von einander unterscheiden zu können.«

»Geben Sie mir Ihren Arm, und ich will Sie in das nächste Zimmer begleiten. Wir werden dort die verschiedenen Notabilitäten sehen, wie sie eine nach der andern eintreten, und Sie können dann beobachten, ohne beobachtet zu werden. Das ist das Wenigste, was ich für einen Freund von Mr. Egerton thun kann.«

»Mr. Egerton,« sagte Randal, als sie den Raum außerhalb der Barriere, welche die Tanzenden von demselben trennte, durchschritten – »Mr. Egerton hat also das Glück gehabt, Ihre Achtung selbst für Diejenigen seiner Freunde zu gewinnen, die im politischen Leben noch unbekannt sind.«

»Nun, wenn ich die Wahrheit sagen soll, so glaube ich, daß Keiner von Denen, die Mr. Egerton zu seinen Freunden rechnet, im politischen Leben lange unbekannt zu bleiben braucht, wenn derselbe Ehrgeiz genug hat, eine Rolle zu spielen; denn es ist bei Mr. Egerton Grundsatz, niemals einen Freund oder einen Dienst, den man ihm erwiesen hat, zu vergessen.«

»Wirklich?« sagte Randal verwundert.

»Aus diesem Grunde,‹ fuhr Lady Frederik fort, »sammeln sich die Freunde um ihn auf seinem Lebenspfad. Er wird noch höher steigen. Es ist eine sehr gute Politik, dankbar zu sein, Mr. Leslie.«

»Hm,« murmelte Randal.

Sie waren jetzt in das Zimmer eingetreten, in welchem Thee, Butter und Brod die einfache Erfrischung für diejenigen Mitglieder der Gesellschaft bildete, welche zu jener Zeit zu der exclusivsten in London gehörte. Sie zogen sich in eine Fensternische zurück, und Lady Frederik versah ihr Amt als Cicerone mit liebenswürdiger Lebhaftigkeit, indem sie jede Bemerkung über die verschiedenen Personen, die wie in einem Panorama an ihnen vorüberzogen, mit einer kleinen Skizze oder Anekdote begleitete, die bisweilen gemüthlicher, im Allgemeinen satyrischer, immer aber treffender und unterhaltender Natur war.

Nach einiger Zeit erschien Frank Hazeldean mit einer jungen Dame von stolzer Miene und vornehmem Wesen am Arme und begab sich an den Theetisch.

»Das ist der zuletzt eingetretene Offizier der Garde,« sagte Lady Frederik, »ein sehr hübscher junger Mensch und noch nicht ganz verdorben; er ist aber in eine gefährliche Gesellschaft gerathen.«

Randal. – »Die junge Dame ist hübsch genug, um gefährlich zu sein.«

Lady Frederik (lachend). – »Von dieser Seite ist keine Gefahr – wenigstens bis jetzt nicht. Lady Mary (Tochter des Herzogs von Karesborough) geht erst seit zwei Jahren in die Welt. Im ersten Jahre mußte es wenigstens ein Graf, im zweiten wenigstens ein Baron sein. Es wird volle vier Jahre dauern, bevor sie sich zu einem Nichtadeligen herabläßt. Die Gefahr, welche Mr. Hazeldean droht, ist anderer Natur. Er geht viel mit Männern um, welche nicht gerade vom mauvais ton Übles Benehmen. sind, aber keinenfalls den besten Geschmack haben. Er ist indessen noch sehr jung; er kann noch mit einem blauen Auge davon kommen, wenn er auch die Hälfte seines Vermögens dabei einbüßt.

»Sehr gut; er ist ein Neffe Mr. Egerton's.«

»Wirklich! Das habe ich nicht gewußt. Der Name Hazeldean ist in London noch ganz neu. Ich habe gehört, daß sein Vater ein einfacher Gutsbesitzer auf dem Lande sei mit einem ziemlichen Vermögen, aber nicht, daß er mit Mr. Egerton verwandt wäre.«

»Ein Halbbruder.«

»Wird Mr. Egerton die Schulden des jungen Herrn bezahlen? Er hat selbst keine Söhne.«

Randal. – »Das Vermögen Mr. Egerton's stammt von seiner Frau – von meiner Familie – von einer Leslie, nicht einer Hazeldean her.«

Lady Frederik wandte sich rasch um, betrachtete das Gesicht Randals mit größerer Aufmerksamkeit, als bisher, und versuchte ein Gespräch über die Leslie's einzuleiten. Randal war jedoch sehr wortkarg.


Eine Stunde darauf befand sich Leslie, der nicht getanzt hatte, noch in dem Erfrischungszimmer, aber Lady Frederik hatte ihn längst verlassen. Er unterhielt sich mit einigen früheren Etonianern, die ihn erkannt hatten, als eine Dame eintrat, deren Erscheinen ein leises Gemurmel in dem Saale hervorrief.

Sie mochte drei oder vierundzwanzig Jahre alt sein und trug ein schwarzes Sammetkleid, welches gegen ihren alabasterweißen Hals und die durchsichtige Blässe ihrer Gesichtsfarbe scharf abstach, während es den Glanz der Diamanten, mit welchen sie im Ueberfluß bedeckt war, hervorhob. Ihre Haare waren vom tiefsten Schwarz und in einfachen Flechten um den Kopf gelegt, die Augen dunkel und glänzend, die Gesichtszüge regelmäßig und im höchsten Grade interessant. Aber der Ausdruck derselben, wenn sie ruhig waren, konnte Denjenigen nicht zusagen, welche das Bescheidene und Sanfte in dem Antlitze eines Weibes lieben. Wenn sie aber sprach und lächelte, lag soviel Geist und Lebendigkeit in diesen Zügen, soviel Zauber in diesem Lächeln, daß alles, was ihrer Schönheit Eintrag gethan hatte, auf wunderbare und plötzliche Weise verschwand.

»Wer ist jene schöne Frau?« frug Randal.

»Eine Italienerin – irgend eine Marchesa,« sagte einer der Etonianer.

»Di Negra,« bemerkte ein Anderer, der im Auslande gewesen war; »sie ist Wittwe; ihr Gemahl gehörte der großen genuesischen Familie der Negras an – das heißt einer jüngeren Linie derselben.«

Jetzt versammelten sich mehrere Herren um die schöne Italienerin. Einige Damen vom höchsten Range sprachen mit ihr, aber mit etwas größerer Zurückhaltung in ihrer Höflichkeit, als Damen von höheren Ständen gegen so vornehme fremde, wie Madame di Negra, an den Tag zu legen pflegen. Damen von weniger hohem Range, schienen sogar eine gewisse Scheu vor ihr zu haben – möglich, daß Eifersucht dabei im Spiele war. Als Randal die Marchesa mit vielleicht mehr Bewunderung anblickte, als bis jetzt irgend ein weibliches Wesen in ihm erregt hatte, hörte er in seiner Nähe eine Stimme sagen

»O, Madame di Negra hat den Entschluß gefaßt, sich bei uns nieder zu lassen und einen Engländer zu heirathen.«

»Wenn sie einen findet, der Muth genug dazu hat,« erwiderte eine weibliche Stimme.

»Nun, sie gibt sich sehr viele Mühe um Egerton, und hat Muth genug zu Allem.«

Die weibliche Stimme antwortete lachend: »Mr. Egerton kennt die Welt zu gut und hat zu vielen Versuchungen widerstanden, um –«

»Still! – da ist er.«

Egerton trat mit seinem gewöhnlichen festen Schritt und mit seiner selbstbewußten Miene in das Zimmer. Randal bemerkte, daß zwischen ihm und der Marchesa ein flüchtiger Blick gewechselt wurde; der Minister ging aber mit einer Verbeugung an ihr vorüber.

Randal setzte jedoch seine Beobachtung fort, und zehn Minuten nachher saßen Egerton und die Marchesa allein in derselben bequemen Fensternische, welche Randal und Lady Frederik ungefähr eine Stunde vorher eingenommen hatten.

»Ist das der Grund, weßhalb Mr. Egerton mich auf eine so beleidigende Weise gewarnt hat, auf sein Vermögen zu rechnen?« sprach Randal vor sich hin »Beabsichtigt er, sich wieder zu verheirathen?«

Ein ungerechter Verdacht! Denn eben in diesem Augenblick entfielen den ehernen Lippen Audley Egerton's folgende Worte:

»Nein, meine theure Marchesa, Sie dürfen meiner offenen Bewunderung nicht mehr Galanterie zuschreiben, als dieselbe verdient. Ihre Unterhaltung entzückt mich, Ihre Schönheit bezaubert mich; Ihre Gesellschaft ist ein Festtag, auf den ich erwartungsvoll blicke nach den Mühseligkeiten meines Lebens; aber mit der Liebe habe ich abgeschlossen, und ich werde nie mehr heirathen.«

»Sie reizen mich beinahe zu dem Versuche, Sie zu gewinnen, um Sie abzuweisen,« sagte die Italienerin, indem ihr glänzendes Auge ihm entgegenblitzte.

»Ich trotze selbst Ihnen,« antwortete Audley mit seinem kalten, starren Lächeln. »Aber um auf besagten Punkt zurückzukommen – Sie haben wenigstens auf jenen schlauen Gesandten etwas mehr Einfluß; und ich verlasse mich darauf, daß ich durch Sie das Geheimniß erhalte, von welchem wir gesprochen haben. Ah, Madame, lassen Sie uns Freunde bleiben. Sie sehen, daß ich die ungerechten Vortheile gegen Sie überwunden habe; Sie werden überall empfangen und gefeiert, wie es Ihrer Geburt und Ihren anziehenden Eigenschaften gebührt. Bauen Sie immer auf mich, wie ich auf Sie baue. Allein ich würde zu viel Neid erregen, wenn ich noch länger hier verweilte, und ich bin eingebildet genug, um zu befürchten, daß ich Ihnen Nachtheil bringen könnte, wenn ich böswilligen Leuten zu Schwätzereien Anlaß gäbe. Als Ihr anerkannter Freund kann ich Ihnen nützlich sein – als Ihr angeblicher Anbeter kann ich es nicht.«

Mit diesen Worten erhob sich Audley und fügte, an seinem Stuhle stehen bleibend, nachlässig hinzu:

»Apropos, die Summe, welche Sie mir die Ehre erweisen, von mir zu entlehnen, wird morgen an Ihren Banquier ausbezahlt werden.«

»Tausend Dank! Mein Bruder wird sich beeilen, sie Ihnen zurückzuerstatten.«

Audley verbeugte sich.

»Ihr Bruder wird, hoffe ich, mir dieselbe in Person zurückerstatten, und nicht früher. Wann kömmt er?«

»O, er hat seinen Besuch in London wiederum verschoben; seine Anwesenheit ist in Wien so nöthig. Da wir jedoch eben von ihm sprechen, so erlauben Sie mir die Frage, ob Ihr Freund Lord L'Estrange noch immer gegen meinen armen Bruder so erbittert ist.«

»Noch immer.«

»Es ist abscheulich,« rief die Italienerin mit Wärme; »was hat ihm denn mein Bruder je gethan, daß er an seinem eigenen Hofe gegen den Grafen intriguirt?«

»Intriguirt! Ich glaube, Sie irren sich in Beziehung auf Lord L'Estrange; er hat nur das, was er für die Wahrheit hielt, zur Verteidigung eines zu Grunde gerichteten Flüchtlings angeführt.«

»Und Sie wollen mir nicht sagen, wo jener Verbannte sich aufhält, oder ob seine Tochter noch lebt?«

»Meine liebe Marchesa, ich habe Sie meine Freundin genannt, und darum will ich L'Estrange nicht behülflich sein, Ihnen oder den Ihrigen auf irgend eine Weise eine Kränkung zuzufügen. Aber ich nenne auch L'Estrange meinen Freund und kann das Vertrauen nicht verletzen, welches –«

Audley brach kurz ab und biß sich auf die Lippe.

»Sie verstehen mich,« schloß er mit einem heitereren Lächeln, als gewöhnlich, worauf er sich empfahl.

Die Italienerin zog ihre Augenbrauen zusammen, während ihr Blick ihm folgte. Als sie sich darauf erhob, begegnete ihr Auge demjenigen Randal's. Beide betrachteten einander – Beide empfanden einen gewissen merkwürdigen Zauber, eine Sympathie nicht des Herzens, sondern des Verstandes.

»Dieser junge Mann hat das Auge eines Italieners,« sprach die Marchesa vor sich hin; und als sie, in den Ballsaal tretend, an ihm vorüberging, wandte sie sich gegen ihn und lächelte.


Dreizehntes Kapitel.

Leonard und Helene hatten sich in zwei kleinen Zimmern in einem schmalen Gäßchen eingemiethet. Die Umgebung war trübselig genug und die Einrichtung bescheiden, aber ihre Wirthin sah freundlich aus. Dies war vielleicht der Grund, warum Helene die Wohnung gewählt hatte; man findet nicht immer ein freundliches Lächeln bei der Hauswirthin, wenn der Miether arm ist. Und von ihren Fenstern aus konnten sie einen grünen Baum, eine Ulme, sehen, welche hinten in dem Hofe eines Zimmermanns hübsch und schlank emporwuchs. Dieser Baum glich einem zweiten Lächeln an jenem Ort. Sie sahen, wie die Vögel sich ab und zu unter dessen Schutz begaben, wenn sich ein Wind erhob, hörten sie sogar das liebliche Rauschen seiner Zweige.

Leonard besuchte an demselben Abend Kapitän Digby's alte Wohnung, konnte aber über etwaige Freunde oder Beschützer Helenen's nichts in Erfahrung bringen. Die Leute waren roh und mürrisch und behaupteten, der Kapitän schulde ihnen noch ein Pfund und siebzehn Schillinge. Die Forderung schien indessen sehr zweifelhaft und wurde von Helene auf das Bestimmteste in Abrede gezogen.

Am nächsten Morgen machte sich Leonard auf den Weg, um Doktor Morgan zu suchen. Er hielt es für das Beste, in der nächsten Apotheke nach der Adresse des Doktors zu fragen, und der Apotheker war so gefällig, in dem Hofwegweiser nachzusehen, worauf er ihm ein Haus in Balstrode Street, Manchester Square, bezeichnete. Leonard begab sich dorthin und wunderte sich bei dieser Gelegenheit sehr über das schlechte Aussehen London's; Screwstown schien ihm die schönere der beiden Städte zu sein.

Ein Diener in einem schäbigen Anzug öffnete die Thüre, und Leonard bemerkte, daß der enge Hausgang mit Kisten, Koffern und verschiedenem Hausrath angefüllt war. Man wies ihn in ein kleines Zimmer, in welchem ein sehr großer, runder Tisch stand, auf dem verschiedene Werke über die Homöopathie, Parry's Cymbrischer Plutarch John H. Parry, The Cambrian Plutarch (1824), eine Sammlung kurzer Biographien walisischer Persönlichkeiten., Davies' celtische Untersuchungen Edward Davies, Celtic Researches on the Origin, Traditions and Languages of the Ancient Britons (1804). und ein Sonntagsblatt lagen. Ein in Kupfer gestochenes Bild des berühmten Hahnemann nahm den Ehrenplatz über dem Kamine ein.

Nach einigen Minuten öffnete sich die Thüre des hinteren Zimmers, in welchem Doktor Morgan erschien und höflich sagte:

»Treten Sie ein, Sir.«

Der Doktor setzte sich an einen Schreibtisch und warf rasch einen Blick auf Leonard und einen zweiten nach einem auf dem Tisch sich befindenden großen Chronometer.

»Meine Zeit ist kurz zugemessen, Sir, ich gehe in das Ausland, und jetzt, da ich fortgehe, strömen die Patienten mir zu. Es ist zu spät. London wird seine Apathie bereuen. Meinetwegen!«

Der Doktor hielt mit einer majestätischen Miene inne und wiederholte, als er nicht die erwartete Ueberraschung in Leonard's Zügen bemerkte, in mürrischem Tone:

»Ich gehe in's Ausland, Sir; ich werde aber über Ihren Fall eine übersichtliche Zusammenstellung meiner Wahrnehmungen machen und sie meinem Nachfolger hinterlassen. Hm! Haare kastanienbraun; Augen – von welcher Farbe? blicken Sie hierher – blau, dunkelblau. Hm! Nervöse Konstitution. Wie sind die Symptome?«

»Sir,« begann Leonard, »ein kleines Mädchen –«

Doktor Morgan (ungeduldig). – »Kleines Mädchen! Lassen Sie die Geschichte Ihrer Leiden bei Seite; halten Sie sich an die Symptome! an die Symptome!«

Leonard. – »Sie mißverstehen mich; es handelt sich nicht um meine Person. Ein kleines Mädchen –«

Doktor Morgan –– »Wieder das Mädchen! ich verstehe – sie ist es, die krank ist. Soll ich zu ihr kommen? Sie muß selbst die Symptome ihrer Krankheit angeben. Ich kann mir aus dem, was Sie mir sagen, kein Urtheil bilden. Sie werden mir sagen, daß sie entweder die Schwindsucht oder Dispepsie Verdauungsstörung im Oberbauch. oder irgend so eine Krankheit habe, die gar nicht existirt; das sind lauter allopathische Erfindungen – Symptome Sir, Symptome!«

Leonard (ihn entschlossen unterbrechend). – »Sie behandelten ihren armen Vater, Capitän Digby, als er auf der Reise in einem Wagen, in welchem Sie sich mit ihm befanden, krank wurde. Er ist gestorben und sein Kind eine Waise.«

Doktor Morgan (sucht nach in seinem ärztlichen Taschenbuch). – »Nichts Besseres für Waisen, besonders, wenn sie untröstlich sind, als Aconit und Camomilla Matricaria chamomilla: Echte Kamille.Es möge hierbei bemerkt werden, daß die Homöopathie sich mit unseren moralischen ebenso, wie mit unseren physischen Krankheiten beschäftigt und für jeden Kummer ein Kügelchen hat. [ Anm.d.Verf.]

Nach einiger Mühe gelang es Leonard, Helene dem Homöopathen ins Gedächtniß zurückzurufen, worauf er ihm mittheilte, daß er sie unter seine Obhut genommen, und weßhalb er Morgan aufgesucht habe.

»Aber,« sagte er nach einer Pause, »ich weiß wirklich nicht, wie ich dem armen Kinde helfen soll. Ich weiß nichts von ihren Verwandten. Dieser Lord Les – wie nun sein Name sein mag – ich kenne keine Lords in London. Ich kannte Lords und habe auch welche behandelt, als ich noch so ein allopathischer Pfuscher war. Earl of Lansmere z. B. hat von mir, der ich damals noch ein Sünder war, manche blaue Pille erhalten. Sein Sohn war klüger, er wollte nie Arznei nehmen. Ein sehr gescheidter Mensch war Lord L'Estrange – ich weiß nicht, ob er ebenso gut, wie geschickt war –«

»Lord L'Estrange! – Der Name beginnt mit Les –«

»Dummes Zeug! er ist immer noch im Auslande, das beweist, daß er ein vernünftiger Mensch ist. Ich gehe auch in's Ausland. In dieser abscheulichen Stadt gibt es keine wissenschaftliche Entwicklung; sie ist voll von Vorurtheilen, Sir, und hat die allerbarbarischsten allopathischen und phlebotomikalischen Phlebotomie: Aderlass. Neigungen. Ich gehe nach dem Vaterlande Hahnemann's, Sir – ich habe mein Eigentumsrecht auf das Haus und meine Möbel veräußert und mich am Rheine angekauft. Dort ist ein natürliches Leben, Sir, die Homöopathie braucht die Natur; man speist dort um Ein Uhr zu Mittag und steht um vier Uhr Morgens auf! Thee ist wenig bekannt, die Wissenschaft aber geachtet. Doch ich vergesse, worüber wir sprachen. Mein Gott! was kann ich für die Waise thun?«

»Sir,« sagte Leonard, indem er aufstand, »der Himmel wird mir die Kraft geben, ihr eine Stütze zu werden.«

Der Doctor betrachtete den jungen Menschen aufmerksam.

»Und doch,« fuhr er in milderem Tone fort, »sind Sie, junger Mann, nach dem, was Sie sagen, ihr vollkommen fremd, oder waren es wenigstens, als Sie es übernahmen, sie nach London zu bringen. Sie haben ein gutes Herz – behalten Sie das immer. So ein gutes Herz, Sir, ist etwas sehr gesundes – d. h. wenn es nicht übertrieben wird. Aber Sie haben wohl selbst Freunde in der Stadt?«

Leonard. – »Noch nicht, Sir, ich hoffe aber, mir welche zu erwerben.«

Doctor. – »Du lieber Himmel, das hoffen Sie? Wie denn? – Ich kann mir keine erwerben.«

Leonard erröthete und ließ den Kopf hängen. Er war im Begriffe, zu sagen: »Schriftsteller finden Freunde an ihren Lesern, und ich werde ein Schriftsteller werden.« Er fühlte jedoch, daß diese Antwort etwas anmaßend klingen würde, und schwieg deßhalb.

Der Doctor fuhr fort, ihn mit freundlicher Theilnahme auszuforschen.

»Sie sagten, daß Sie zu Fuß nach London gekommen sind; geschah dies aus Liebhaberei oder aus ökonomischen Gründen?«

Leonard. – »Beides bestimmte mich dazu, Sir.«

Doctor. – »Setzen Sie sich wieder und lassen Sie uns mit einander reden. Ich kann Ihnen noch eine Viertelstunde widmen, und ich will einmal sehen, ob ich einem von Euch Beiden helfen kann, vorausgesetzt, daß Sie mir alle Symptome, das heißt, alle Einzelheiten mittheilen.«

Hierauf begann Doctor Morgan, der in der That ein scharfsinniger und vernünftiger Mann war, seine Fragen mit der einem gewandten Arzte eigenen Geschicklichkeit zu stellen, und hatte bald von Leonard dessen Geschichte und Hoffnungen erfahren. Als aber der Doctor, der eine solche, mit dem ausgeprägten Verstande des jungen Mannes so sehr im Widerspruch stehende Einfachheit bewunderte, endlich nach dessen Namen und Verwandtschaft frug, und Leonard ihm dieselben nannte, war der Homöopath sichtlich überrascht.

»Leonard Fairfield, der Enkel meines alten Freundes, John Avenel von Lansmere! Ich muß Ihnen die Hand drücken. Erzogen von Mrs. Fairfield! Ah, jetzt bemerke ich die große Familienähnlichkeit – eine sehr große Familienähnlichkeit!«

Die Thränen standen dem Doctor in den Augen.

»Die arme Nora!« sagte er.

»Nora! Kannten Sie meine Tante?«

»Ihre Tante? Ah – ah! – Ja wohl – ja wohl! Die arme Nora! – Sie starb beinahe in meinen Armen – so jung, so schön. Ich erinnere mich dessen, als ob es gestern gewesen wäre.«

Der Doctor strich mit der Hand über die Augen, verschluckte ein Kügelchen und hatte wohlwollend ein zweites zwischen die bebenden Lippen Leonard's gesteckt, bevor der junge Mensch wußte, wie ihm geschah.

Es wurde an die Thüre geklopft.

»Ha! Das ist mein bedeutendster Patient,« rief der Doctor, indem er sich wieder faßte; »ich muß ihn sehen. Es ist ein chronischer Fall – ein vortrefflicher Patient – Gesichtsschmerz, Sir, Gesichtsschmerz. Ein überraschender und interessanter Fall. Wenn ich denselben mit mir nehmen könnte, so würde ich den Himmel um nichts mehr bitten. Besuchen Sie mich wieder am Montag; ich muß Ihnen dann etwas sagen, was Sie selbst betrifft. Das kleine Mädchen kann nicht bei Ihnen bleiben; das wäre unrecht und unvernünftig. Ich will nach ihr sehen. Lassen Sie Ihre Adresse hier; schreiben Sie sie hier hin – ich glaube, daß ich eine Dame kenne, die sich ihrer annehmen wird. Leben Sie wohl – nächsten Montag um zehn Uhr.«

Mit diesen Worten schob der Doctor Leonard hinaus und führte seinen bedeutendsten Patienten herein, den er so gerne mit nach den Ufern des Rheines genommen hätte.

Es blieb nun Leonard nur noch übrig, den Edelmann ausfindig zu machen, dessen Namen der arme Kapitän Digby in so unbestimmter Weise genannt hatte. Er mußte wieder seine Zuflucht zu dem Hofadreßbuch nehmen, und als er darin die Namen von zwei oder drei Lords fand, deren Anfangsbuchstaben mit denjenigen, die man ihm wiederholt mitgetheilt hatte, Aehnlichkeit zu haben schienen, und du dieselben in der Gegend von Mayfair ziemlich nahe bei einander wohnten, so lenkte er seine Schritte dorthin und forschte, indem er von seinem Mutterwitze Gebrauch machte, in den benachbarten Läden nach dem persönlichen Aussehen jener Edelleute. Wegen seiner ländlichen Manieren erhielt er sehr höfische und klare Antworten; aber keiner von den fraglichen Lords stimmte mit der von Helene gegebenen Beschreibung überein. Der eine war alt, der andere außerordentlich corpulent und ein dritter bettlägerig. Von keinem derselben wußte man, daß er einen großen Hund hielt. Es ist nicht nothwendig, zu erwähnen, daß der Name Lord L'Estrange's, der kein Bewohner Londons war, nicht in dem Hofadreßbuch stand. Und die Bemerkung Doctor Morgans, daß derselbe immer im Auslande lebe, lenkte unglücklicher Weise Leonard's Gedanken von diesem Namen, den der Homöopath nur zufällig genannt hatte, ab.

Helene war jedoch nicht enttäuscht, als ihr junger Beschützer spät zurückkam und ihr von seinen schlechten Erfolgen erzählte. Das arme Kind war so herzlich vergnügt darüber, daß sie von ihrem neuen Bruder nicht getrennt werden sollte, und Leonard war gerührt, zu sehen, wie sie in seiner Abwesenheit sich bemüht hatte, dem kahlen Zimmer, welches er bewohnen sollte, eine gewisse Behaglichkeit und gemütliche Anmuth zu verleihen. Sie hatte seine wenigen Bücher und Papiere in der Nähe des Fensters dem grünen Ulmenbaum gegenüber auf zierliche Weise geordnet. Der freundlichen Wirthin hatte sie ein paar weitere Möbel abgeschmeichelt, besonders einen Schreibtisch von Nußbaumholz, sowie einige Enden und Streifen von Bändern, mit welchen sie die Vorhänge befestigte. Selbst die alten Strohstühle hatten durch die Art und Weise, wie sie aufgestellt waren, ein merkwürdig elegantes Aussehen bekommen.

Leonard wunderte sich und spendete ihr sein Lob. Er küßte dankbar seine erröthende Gehülfin, und sie setzten sich fröhlich zu ihrem bescheidenem Mahle nieder, als sein Gesicht sich plötzlich verfinsterte; er erinnerte sich wieder der Worte Doctor Morgan's:

»Das kleine Mädchen kann nicht bei Ihnen bleiben; es wäre unrecht und unvernünftig. Ich glaube, daß ich eine Dame kenne, die sich ihrer annehmen wird.«

»Ach!« rief Leonard betrübt, »wie konnte ich das vergessen?« Und jetzt erzählte er Helenen, was ihm Kummer machte. Helene erwiderte rasch, daß sie nicht gehen werde. Dann begann Leonard wie gewöhnlich in fröhlichem Tone von seinen großen Aussichten zu sprechen, beendigte schnell die Mahlzeit, als sei keine Zeit zu verlieren, und setzte sich sogleich an die Arbeit. Helene aber betrachtete ihn traurig, während er sich vergnügt über seine Papiere beugte; und als er endlich seine leuchtenden Augen von dem Manuscripte erhob und rief:

»Nein, nein, du sollst nicht gehen. Dieses muß Erfolg haben, und wir werden in einer hübschen Villa wohnen, wo wir mehr als Einen Baum sehen können« – da seufzte Helene und antwortete dieses Mal nicht: Nein, ich will nicht gehen.

Kurz darauf schlich sie sich aus dem Zimmer und ging in das ihrige; dort kniete sie nieder und betete – und ihr Gebet lautete ungefähr folgendermaßen:

»Beschütze mich gegen mein eigenes selbstsüchtiges Herz; möge ich niemals ihm zur Last fallen, der mich unter seinen Schutz genommen hat.«

Vielleicht wird der Schöpfer, wenn er herabblickt auf diese Welt, deren Schönheit uns um so wunderbarer entgegenstrahlt, jemehr unsere Wissenschaft sie der Poesie zu berauben und nach Gesetzen zu fassen sucht – vielleicht wird er nichts Schöneres erblicken, als das reine Herz eines einfachen, liebenden Kindes!


Vierzehntes Kapitel.

Leonard ging am nächsten Tage mit seinen kostbaren Manuscripten aus. Er hatte sich genug in der modernen Literatur umgesehen, um die Namen der vornehmsten Londoner Verleger zu kennen; zu diesen begab er sich festen Schrittes, wenn auch mit klopfendem Herzen.

An diesem Tage blieb er länger aus als gestern, und als er zurückkehrte und in das kleine Zimmer trat, stieß Helene einen Schrei aus – sie erkannte ihn beinahe nicht wieder. Auf seinem Gesichte ruhte eine so tiefe, schweigende, vollständige Mutlosigkeit! Er setzte sich nieder, ohne sich um irgend etwas zu kümmern, und küßte sie dieses Mal nicht, als sie zu ihm hinschlich. Er fühlte sich so gedemüthigt, als wäre er ein abgesetzter König. Er wollte ein anderes Leben in seinen Schutz nehmen! Er!

Durch Schmeichelworte brachte sie ihn endlich dahin, daß er ihr die Geschichte des Tages mittheilte. Der Leser weiß schon im Voraus zu gut, wie dieselbe beschaffen sein mußte, als doch eine ausführliche Wiederholung derselben notwendig wäre. Die meisten Verleger hatten sich geradezu geweigert, sein Manuskript durchzusehen; einer oder zwei waren so gutmüthig gewesen, einen Blick hineinzuwerfen und es ihm sofort wieder mit ein paar höflichen, aber abweisenden Worten zurückzugeben. Nur ein einziger Verleger, der selbst ein wissenschaftlich gebildeter Mann war und in seiner Jugend denselben bitteren Proceß der Enttäuschung durchgemacht hatte, welcher jetzt unserem Dorfgenie bevorstand, gab in freundlicher, aber doch ernster Weise dem unglücklichen jungen Mann einige Aufklärungen und Rathschläge. Dieser Gentleman las einen Theil von Leonard's Hauptgedicht mit Aufmerksamkeit und sogar mit aufrichtiger Bewunderung durch; er würdigte die schönen Hoffnungen, wozu es berechtigte. Er interessirte sich für die Geschichte des jungen Mannes und sagte, indem er sich von ihm verabschiedete:

»Wenn ich dieses Gedicht für Sie drucken lasse, so werde ich als Kaufmann einen bedeutenden Verlust daran haben. Wollte ich alles das, was ich bewundere, aus Interesse für den Verfasser verlegen, so wäre ich ein zu Grunde gerichteter Mann. Aber angenommen, ich würde, überzeugt, wie ich in der That bin, von dem nicht gewöhnlichen poetischen Talent, welches dieses Manuscript verräth, nicht als Kaufmann, sondern als Freund der Literatur Ihre Gedichte veröffentlichen, so würde ich in der That Gefahr lauten, Ihnen einen schlechten Dienst zu erweisen und Sie vielleicht für Ihr ganzes Leben zu denjenigen Anstrengungen unfähig machen, welchen Sie sich unterziehen müssen, um sich eine unabhängige Stellung zu erringen.«

»Wie so, Sir?« rief Leonard. »Nicht daß ich Sie bitten möchte, sich meinetwegen in Schaden zu bringen,« setzte er mit stolzen Thränen in den Augen hinzu.

»Wie so, mein junger Freund? Ich will es Ihnen erklären. Es liegt in diesen Versen Talent genug, um einige der literarischen Journale zu sehr schmeichelhaften Besprechungen zu veranlassen. Sie werden diese lesen, Sie werden sich als Dichter proclamirt finden und ausrufen: ›Ich bin auf dem Wege zum Ruhme.‹ Sie werden dann zu mir kommen und fragen, wie Ihr Gedicht abgeht? Ich werde auf ein schwerbeladenes Bücherbrett deuten und sagen: ›Keine zwanzig Exemplare.‹ Die Journale mögen ein solches Buch loben, aber das Publikum will es nicht kaufen. Ja, Sie haben einen Namen als Dichter, der gerade hinreichend sein wird, jeden praktischen Mann abgeneigt zu machen, Ihr Talent in irgend einem Geschäfte des positiven Lebens einer Prüfung zu unterwerfen; Niemand mag Dichter anstellen; ein solcher Name wird Ihrem Geldbeutel keinen Heller eintragen; und noch schlimmer – derselbe wird eine Barriere bilden gegen jeden Versuch, in die Wege einzulenken, auf welchen man zu Vermögen gelangt. Haben Sie aber einmal den Ruhm gekostet, dann werden Sie fortfahren, darnach zu seufzen; Sie werden vielleicht nie wieder einen Verleger für Ihre Gedichte finden, aber in dem Musenhaine sich herumtreiben, für Zeitschriften Artikel zusammenstoppeln und zuletzt zum Knechte irgend eines Buchhändlers herabsinken. Der Verdienst wird so unsicherer Natur sein, daß es unmöglich sein wird, das Schuldenmachen zu vermeiden; endlich werden Sie, der Sie jetzt so freimüthig und stolz aussehen, noch tiefer sinken und ein literarischer Bettler werden – Abnahme heischen – borgen –«

»Nie – nie – nie!« rief Leonard und bedeckte sein Gesicht mit den Händen.

»Das wäre auch meine Laufbahn gewesen,« fuhr der Verleger fort. »Aber ich hatte glücklicher Weise einen reichen Verwandten, einen Kaufmann, dessen Beruf ich als junger Mensch verachtete; derselbe verzieh mir freundlich meine Thorheit und nahm mich als Lehrling zu sich, und hier bin ich jetzt – nicht allein im Stande, Bücher zu schreiben, sondern auch sie zu verkaufen. Junger Mensch, Sie müssen achtbare Verwandte haben – richten Sie sich nach deren Rath und Anweisung, widmen Sie sich irgend einem positiven Beruf. Werden Sie in London eher alles Andere – nur nicht ein Dichter von Profession.«

»Und wie kommt es alsdann, Sir, daß es je Dichter gegeben hat? Hatten sie nebenbei einen andern Beruf?«

»Lesen Sie ihre Biographien, und dann beneiden Sie dieselben!«

Leonard schwieg einen Augenblick, worauf er sein Haupt erhob und laut und rasch erwiderte: »Ich habe ihre Biographien gelesen. Es ist wahr, Armuth, vielleicht Hunger war ihr Loos. Sir, ich – beneide sie!«

»Armuth und Hunger sind kleine Uebel,« antwortete der Buchhändler mit einem ernsten, aber wohlwollenden Lächeln. »Es gibt schlimmere – Schulden, Erniedrigung und – Verzweiflung.‹

»Nein, Sir, nein – Sie übertreiben; das ist nicht das Loos aller Dichter.«

»Nein; denn die meisten unserer größten Dichter hatten selbst einiges Vermögen, und was manche Andere betrifft, so zieht nicht Jeder, der in die Lotterie setzt, eine Niete. Wer könnte aber Jemandem den Rath geben, seine ganze Glückshoffnung auf die Möglichkeit eines Gewinnes in einer Lotterie zu setzen? Und in einer solchen Lotterie!« seufzte der Verleger mit einem Blick auf die Bogen und Stöße todter Schriftsteller, die wie Blei auf seine Büchergestelle drückten.

Leonard preßte seine Manuscripte an sein Herz und eilte fort.

»Ja,« murmelte er, als Helene sich an ihn schmiegte und ihn zu trösten suchte – »ja, du hast Recht; London ist sehr groß, sehr mächtig und sehr grausam.« Darauf ließ er seinen Kopf tiefer und tiefer auf seine Brust herabsinken.

Plötzlich wurde die Thüre weit aufgerissen und herein trat Doctor Morgan.

Das Kind wandte sich gegen ihn und erinnerte sich bei seinem Anblick ihres Vaters; die Thränen, welche sie um Leonard's willen zu unterdrücken versucht hatte, brachen aus ihren Augen.

Der gute Doctor gewann bald das ganze Vertrauen dieser beiden jungen Herzen. Nachdem er sich Leonard's Geschichte seines in Einem Tage verlorenen Paradieses hatte erzählen lassen, klopfte er ihm auf die Schulter und sagte:

»Nun, Sie werden mich am nächsten Montag besuchen, und wir werden sehen. Nehmen Sie indessen dieses Darlehen von mir an« – und damit versuchte er drei Sovereigns in Leonard's Hand schlüpfen zu lassen. Leonard war entrüstet. Die Warnung des Buchhändlers fiel ihm ein. Betteln! O nein! so weit war es noch nicht mit ihm gekommen! Er wies das Anerbieten in einer fast rauhen Weise zurück; und der Doctor war ihm um dessenwillen nicht weniger gut.

»Sie sind ein starrköpfiger Knabe,« sagte der Homöopath und steckte mit Widerstreben seine Sovereigns wieder in die Tasche.

»Wollen Sie irgend eine praktische und prosaische Arbeit verrichten und einstweilen das Dichten ruhen lassen?«

»Ja,« sagte Leonard düster,« ich will arbeiten.«

»Gut. Ich kenne einen achtbaren Buchhändler, der Ihnen irgend eine Beschäftigung geben wird; auf alle Fälle werden Sie mit Büchern zu thun haben und das wird Ihnen einigen Trost gewähren.«

Leonard's Augen glänzten wieder. »Ein großer Trost, Sir,« sprach er und drückte die Hand, welche er vorher von sich gewiesen, an sein dankbares Herz.

»Aber,« fuhr der Doctor in ernstem Tone fort,« fühlen Sie wirklich eine so starke Neigung zum Versemachen?«

»Bisher, ja, Sir.«

»Ein sehr schlimmes Symptom, in der That, das man beseitigen muß, bevor ein Rückfall eintritt! Sehen Sie, hier, mit diesem neuen Specificum habe ich drei Propheten und zehn Dichter curirt.«

Während er so sprach, hatte er sein Buch und ein Kügelchen aus seiner Tasche herausgeholt. » Agaricus muscarius Fliegenpilz. in einem Glas Wasser aufgelöst und davon einen Theelöffel voll genommen, so oft der Anfall sich einstellt. Sir, das würde selbst Milton curirt haben.«

Hierauf wandte er sich an Helene und sagte: »Und nun, was Sie betrifft, mein Kind, so habe ich eine Dame gefunden, die Sie sehr gütig behandeln wird. Es ist nicht die Stellung einer Dienerin, die Sie einnehmen worden. Sie wünscht Jemanden zur Gesellschaft, der ihr vorlesen und sie pflegen kann. Sie ist alt und hat keine Kinder und zieht ein Mädchen in Ihrem Alter einem älteren vor. Sagt Ihnen das zu?«

Leonard trat bei Seite.

Helene hielt ihren Mund dicht an des Doctors Ohr und flüsterte: »Nein, ich kann ihn jetzt nicht verlassen – er ist so traurig.«

»Nun,« grunzte der Doctor, »Ihr Beide müßt Paul und Virginie Jacques-Henri Bernardin de Saint-Pierre, Paul et Virginie (1788), ein Bestseller seiner Zeit, der in 30 Sprachen übersetzt wurde und dessen Erfolg lange anhielt. Die Titelfiguren Paul und Virginie sind von Geburt an füreinander bestimmt und wachsen in wechselseitiger Fürsorge und Liebe auf. gelesen haben! Wenn ich nur in England bleiben könnte, so würde ich versuchen, was ignatia Frucht des Ignatius-Bohnenbaums, eines Brechnussgewächses; wird in der Homöopathie bei Kummer, Kopfschmerzen und Erregbarkeit verwendet. in diesem Fall ausrichten dürfte – ein interessantes Experiment! Hören Sie mir zu, kleines Mädchen; und verlassen Sie das Zimmer, junger Sir.«

Leonard gehorchte mit abgewandtem Gesicht. Helene that unwillkürlich einen Schritt, um ihm zu folgen – der Doctor hielt sie zurück und setzte sie auf seine Kniee.

»Wie ist Ihr Taufname? Ich habe ihn vergessen.«

»Helene.«

»Helene, hören Sie mich an. In ein oder zwei Jahren werden Sie ein erwachsenes Mädchen sein, und es würde sich dann für Sie nicht mehr schicken, mit jenem jungen Manne allein zusammen zu leben. Unterdessen haben Sie kein Recht, alle seine Energie abzuschwächen. Sie dürfen sich nicht auf seinen rechten Arm lehnen – Sie würden ihn zu Boden ziehen. Ich reise ab und sobald ich fort bin, wird Niemand mehr da sein, der Ihnen hilft, wenn Sie die Freundin, die ich Ihnen anbiete, zurückweisen. Thun Sie, wie ich Ihnen sage, denn ein kleines Mädchen von einer so empfänglichen Natur (durchaus eine pulsatilla-Constitution) kann nicht eigensinnig und egoistisch sein.«

»Wenn ich ihn zufrieden und glücklich sehe,« sagte sie mit Festigkeit, »so will ich gehen, wohin Sie wünschen, Sir.«

»Dafür werde ich sorgen; und morgen, während er ausgegangen ist, will ich kommen, um Sie zu holen. Es gibt nichts Schmerzlicheres als Abschied nehmen – es erschüttert das Nervensystem und ist eine reine Verschwendung unserer animalischen Kräfte.«

Helene schluchzte laut; dann entwand sie sich den Händen des Doctors und rief: »Aber er darf wissen, wo ich bin? Wir dürfen uns bisweilen sehen? Ach, Sir, es war am Grabe meines Vaters, wo wir uns zum ersten Male trafen, und ich meine, der Himmel habe ihn mir gesandt. Trennen Sie uns nicht für immer.«

»Ich würde ein Herz von Stein haben, wenn ich das thun wollte;« rief der Doctor heftig, »und Miß Starke wird ihm erlauben, Sie jede Woche ein Mal zu besuchen. Ich werde ihr etwas geben, damit sie es thut. Von Natur ist sie gegen Andere gleichgültig. Ich werde ihre ganze Gemüthsbeschaffenheit umwandeln und dieselbe in eine sympathische umschmelzen – mit Hülfe von Rhododendron und Arsenik


Fünfzehntes Kapitel.

Ehe der Doctor sich entfernte, schrieb er ein paar Zeilen an den Buchhändler Mr. Prickett in Holborn und sagte Leonard, er solle den Brief am nächsten Morgen an dessen Adresse befördern.

»Ich werde heute Abend selbst zu Mr. Prickett gehen und ihn auf Ihren Besuch vorbereiten. Allein ich hoffe und bin der Ueberzeugung, daß Sie nur einige Tage dort bleiben werden.«

Hierauf gab er dem Gespräch eine andere Richtung, um Leonard seine Pläne in Betreff Helenen's mitzutheilen. Miß Starke wohnte in Highgate; sie war eine achtbare Dame, obgleich etwas steif und abgemessen, wie es alte Jungfrauen zu sein pflegen. Aber gerade diese Stelle paßte für ein kleines Mädchen wie Helene, und sie würde jedenfalls Leonard gestatten, Letztere zu besuchen.

Leonard hörte ihm zu und machte keine Einwendung. Jetzt, da sein kurzer Traum sich in nichts aufgelöst, hatte er kein Recht mehr darauf, Helenen's Beschützer zu sein. Er hätte sie bitten können, sein Vermögen und seinen Ruhm, aber nicht, seine Noth und seine Knechtschaft mit ihm zu theilen.

Es war sehr traurig, jenes letzte Zusammensein des Jünglings und des Kindes. Sie blieben lange auf – bis ihr Licht in dem Leuchter heruntergebrannt war. Auch sprachen sie nicht viel, aber seine Hand hielt die ihrige fest umschlossen, und sie stützte ihren Kopf auf seine Schulter: ja, ich fürchte, daß, als sie sich endlich trennten, es nicht geschah, um zu schlafen.

Und als nun Leonard am andern Morgen fortging, stand Helene unter der Hausthüre und sah ihm nach, wie er langsam weiter schritt. Es gab ohne Zweifel in demselben unscheinbaren Gäßchen noch viele andere betrübte Herzen, aber keines war wohl so schwer und traurig, wie dasjenige des schweigsamen, stillen Kindes, als die Gestalt, auf welche ihre Aufmerksamkeit gerichtet gewesen, ihren Blicken entschwand! Da stand sie noch immer auf der einsamen Schwelle und blickte hinaus in das Weite – und alles war leer.


Sechzehntes Kapitel.

Mr. Prickett war ein Anhänger der Homöopathie und erklärte zum Aerger aller Apotheker in der Umgegend von Holborn, daß er durch Doctor Morgan von einem chronischen Rheumatismus geheilt worden sei. Der gute Doctor hatte, als er Leonard verließ, seinem Versprechen gemäß, Mr. Prickett aufgesucht und ihn um die Gefälligkeit gebeten, einem jungen Manne eine leichte Beschäftigung zu verschaffen, die als eine Entschuldigung für einen bescheidenen wöchentlichen Lohn dienen könnte.

»Es wird nicht für lange sein,« sagte der Doctor; »seine Verwandten sind achtbare Leute und in guten Verhältnissen. Ich werde an seine Großältern schreiben und hoffe, Sie in wenigen Tagen Ihrer Bürde zu entheben. Es versteht sich von selbst, daß ich Ihnen, wenn Sie ihn nicht brauchen können, Ihre Auslagen ersetzen werde.«

Nachdem Mr. Prickett in dieser Weise auf Leonard's Besuch vorbereitet worden war, empfing er ihn selbst gütig und fand schon nach einigen wenigen Fragen in dem jungen Manne gerade die geeignete Persönlichkeit, um ihm bei Abfassung des Catalogs seiner Bücher zu helfen; auch sollte Leonard nicht weniger als ein Pfund wöchentlich für seine Mühe erhalten.

So auf einmal in eine Welt von Büchern hinein versetzt, tauchte beim Anblick jener ehrwürdigen Bände in dem Kopfe des Dorfstudenten der alte göttliche Traum des Wissens wieder auf. Die Büchersammlung Mr. Prickett's war in Wirklichkeit keineswegs groß, aber sie umfaßte nicht allein die gewöhnlichen Hauptwerke, sondern auch verschiedene merkwürdige und seltene Bücher. Und Leonard hielt bei dem Aufschreiben derselben von Zeit zu Zeit inne und warf einen verstohlenen Blick in das Innere manchen Bandes, welcher durch seine Hände ging. Dem Buchhändler, der ein Liebhaber von alten Büchern war, machte es Vergnügen, bei seinem neuen Gehülfen ein verwandtes Gefühl zu entdecken (sein Ladendiener hatte allerdings niemals ein solches an den Tag gelegt!). So kam es, daß er von seltenen Ausgaben und wenig vorhandenen Exemplaren sprach und auf diese Weise Leonard in viele Mysterien der Bibliographie einweihte.

Nichts konnte düsterer und schmutziger sein als jener Buchladen. Vor demselben stand eine Bude, in der sich billige Bücher und defecte Werke befanden, um welche immer eine aufmerksame Gruppe versammelt war. Im Innern brannte Tag und Nacht eine Gaslampe.

Die Zeit verstrich aber rasch für Leonard. Er vermißte nicht die grünen Felder, er vergaß seine Täuschungen und hörte sogar auf, an Helene zu denken. Wie merkwürdig ist nicht die Leidenschaft für das Wissen! Nichts gleicht derselben in Beziehung auf Stärke und Hingebung.

Mr. Prickett war ein Junggeselle und lud Leonard ein, sein Mittagessen mit ihm zu theilen, das in einer kalten Hammelskeule bestand. Während der Mahlzeit hütete der Ladendiener den Laden, und Mr. Prickett war in der That in seiner Unterhaltung nicht allein angenehm, sondern sogar gesprächig. Er faßte ein Wohlwollen für Leonard, und dieser erzählte ihm seine Abenteuer mit den Verlegern, worauf Mr. Prickett, sich die Hände reibend, so herzlich lachte, als wenn die Sache ein großer Spaß gewesen wäre.

»O, geben Sie das Dichten auf und legen Sie sich auf den Handel,« rief er; »und damit Sie für immer von der Grille geheilt werden, ein Schriftsteller sein zu wollen, will ich Ihnen das Leben und die Werke Chatterton's Thomas Chatterton (1752-1770), englischer Dichter; starb mit 18 Jahren durch Selbstmord. Angestellt als Schreiber bei einem Rechtsanwalt, brachte er alte Gedichte zum Vorschein, die – nach seiner Behauptung – von einem Mönch des 15. Jh. namens Rowley verfasst worden waren und nun großes Aufsehen erregten (das ist jener ›Betrug‹, von dem der Roman im Weiteren spricht). Daran, dass diese Poesien von Chatterton selbst herrührten, gibt es keinen Zweifel; und es ist nicht allein das Talent zu bewundern, mit dem er die Sprache und Ausdrucksweise, ja selbst die äußere Gestaltung der Dichtungen einer früheren Zeit nachbildete, so dass selbst Kenner getäuscht wurden, sondern noch mehr die Genialität, der Gedankenreichtum und die poetische Variationsvielfalt, die sich in ihnen offenbaren. – Bei den ›späteren Werken‹, wie der Roman sie nennt, handelt es sich um Texte, die Chatterton in modernem Englisch verfasste und die meist nur mittelmäßig sind. leihen Sie können sie mit nach Hause nehmen und lesen, bevor Sie zu Bett gehen. Morgen werden Sie als ein ganz anderer Mensch zurückkommen.«

Leonard kehrte nicht nach seiner Wohnung zurück, bevor der Laden Abends geschlossen war. Als er darauf sein Zimmer betrat, gab ihm die dort herrschende Oede und Stille einen Stich in's Herz. Helene war fort! Auf dem Tische, an welchem er zu schreiben pflegte, stand ein Rosenstock und daneben lag ein Streifen Papier, auf welchem folgende Zeilen geschrieben waren:

»Lieber, lieber Bruder Leonard! Gott segne dich! Ich werde es dich wissen lassen, wenn wir uns wieder treffen können. Nimm diese Rose Unter deine Obhut, mein Bruder, und vergiß nicht deine arme

H e l e n e.«

Ueber dem Worte »Vergiß« befand sich ein großer runder Fleck, welcher das Wort beinahe verwischt hatte.

Leonard stützte sein Gesicht auf seine Hände und fühlte zum ersten Mal in seinem Leben, was Einsamkeit sei. Er konnte es nicht lange aushalten in seinem Zimmer. Er ging wieder fort und wanderte zwecklos von einer Straße zur andern. Er verließ jene ruhigere und ärmere Gegend und mischte sich unter die Menge, welche in den volkreicheren Theilen der Stadt herumschwärmte. Hunderte und Tausende eilten an ihm vorüber und dennoch – dennoch diese Einsamkeit.

Er kam zurück, zündete ein Licht an und zog entschlossen seinen Chatterton aus der Tasche, den der Buchhändler ihm geliehen hatte. Es war eine alte Ausgabe in Einem dicken Bande. Offenbar hatte das Buch einem Zeitgenossen des Dichters und wahrscheinlich einem Bewohner von Bristol gehört, der viele Anekdoten über die Gewohnheiten Chatterton's gesammelt und allem nach ihn selbst gesehen, ja sogar in seiner Gesellschaft gelebt hatte; denn das Buch war mit Blättern durchschossen und die Blätter mit Anmerkungen und Notizen in einer steifen, deutliche Handschrift bedeckt, welche keinen Zweifel übrig ließen, daß der Schreiber den melancholischen, unsterblichen Todten gekannt hatte.

Zuerst kostete es Leonard einige Anstrengung, zu lesen; dann aber ergriff ihn der seltsame und wilde Zauber dieses furchtbaren Lebens; mit düsterem Schmerz und Schrecken las er von diesem Jüngling, der in demselben Alter, in dem er selbst jetzt stand, durch seine eigene Hand gestorben war. Dieser wunderbare Jüngling von einem so unvergleichlichen Genie – ja, das größte Genie, welches sich je in einem Alter von achtzehn Jahren entwickelte und dann erlosch – hatte alles von sich selbst gelernt – allein für sich gekämpft – sich selbst geopfert. In der ganzen Literatur gibt es nichts, das einem solchen Leben und einem solchen Tode gleich käme!

Mit außerordentlichem Interesse las Leonard das Phantasiegemälde eines glänzenden Betruges, welches so rauh und unsinnig als das Verbrechen der Fälschung ausgelegt wurde und, wenn auch nicht gänzlich unschuldig, doch den literarischen Erfindungen, die man in andern Fällen mit Nachsicht betrachtet, so ähnlich war und dabei intellectuelle Eigenschaften so erstaunlicher Natur offenbarte – so viel Geduld, Scharfblick, Fleiß, Muth und Freimütigkeit – Eigenschaften, die, wenn sie richtig geleitet werden, große Männer schaffen, nicht nur in Büchern, sondern im wirklichen Leben.

Und als sich nun der junge Leser von der Geschichte jenes Betrugs zu den Gedichten selbst wandte, da neigte er sich in buchstäblichem Sinne des Wortes athemlos und mit Ehrfurcht vor ihrer Schönheit. Wie hatte dieser seltsame Bristoler Jüngling sein rohes und buntscheckiges Material beherrscht und in eine harmonische Musik gebracht, welche jede Melodie und jede Tonart von der einfachsten bis zu der erhabensten enthielt!

Er kehrte wieder zu der Biographie zurück; er las weiter; er sah jenen stolzen, kühnen, melancholischen Geist allein in der großen Stadt, wie er selbst es jetzt war; er folgte seiner schrecklichen Laufbahn; er sah, wie er mit zerschmetterten und beschmutzten Schwingen in den Koth hinabfiel.

Und nun wandte er sich an die spätern Werke, Arbeiten, die er um's Brod geschrieben – Satyren ohne moralische Größe und politische Aufsätze ohne einen redlichen Glauben an deren Wahrheit. Er schauderte, als er weiter und weiter las. Jedoch erkannte und würdigte sogar auch hier noch sein poetischer Geist (was vielleicht nur ein Dichter vermochte) jenes göttliche Feuer, welches selbst durch seinen geringeren und unreineren Brennstoff flackerte – auch in jenen rohen, rasch hingeworfenen bitteren Opfern, die er der drängenden Notwendigkeit brachte, entdeckte er noch die Hand des jungen Riesen, der die majestätischen Verse Rowley's geschrieben. Aber ach! wie verschieden von jenen »gewaltigen Zeilen«! Wie war alle Heiterkeit und alle Ruhe verschwunden aus diesen letzten Produkten einer Kunst, die zum Handwerk herabgesunken war!

Dann kam die Katastrophe – die verschlossenen Thüren – das Gift – der Selbstmord – die Manuscripte zerrissen von der Hand der Verzweiflung und in dem Todtenzimmer rings um den Leichnam gestreut. Es war entsetzlich! Das Gespenst des Titanischen Jünglings, wie er in den am Rande geschriebenen Notizen beschrieben wurde, mit den stolzen Augenbrauen, dem cynischen Lächeln, den glänzenden Augen, verfolgte die ganze Nacht hindurch das verwirrte und einsame Kind der Dichtkunst.


Siebenzehntes Kapitel.

Es kommt oft vor, daß gerade Dasjenige, was den menschlichen Geist von irgend einer besonderen Richtung ablenken sollte, die entgegengesetzte Wirkung hat. Man sollte z. B. glauben, daß Jeder, der in den Zeitungen von irgend einem Verbrechen oder von einer Hinrichtung liest, dadurch von einer verbrecherischen That, auf welche er selbst etwa gesonnen, abgeschreckt oder von Furcht vor Entdeckung ergriffen wurde. Indessen wissen wir sehr wohl, wie Mancher im Gegentheil gerade dadurch erst zu einem Uebelthäter geworden ist, daß er über das Schicksal seines Vorgängers in demselben Verbrechen nachdachte. Das Dunkle und Verbotene besitzt einen gewissen Zauber, der seltsamer Weise sich nur in der Dichtung verliert. Kein Mensch wird noch geneigt sein, seine Neffen zu ermorden oder seine Frau zu ersticken, nachdem er Richard den Dritten oder Othello gelesen hat. Die Wirklichkeit selbst ist nothwendig, um die Gefahr der Ansteckung eintreten zu lassen.

Diese Wirklichkeit in dem Schicksal, Leben und schließlichen Selbstmord Chatterton's war es, welche sich den Gedanken Leonard's aufdrang und dort festsetzte gleich einem unsichtbaren bösen Geiste und Böses gleich einer Wolke um sich sammelte. Es lag in dem Charakter, in den Prüfungen und in dem Untergang des todten Dichters vieles, das Leonard wie ein zudringlicher, riesenhafter Schatten seiner selbst und seines Schicksals erschien. Ach! der Buchhändler hatte in Einer Hinsicht wahr gesprochen.

Am folgenden Tage kehrte Leonard zu ihm zurück als ein neuer Mensch; ihm selbst schien es, als habe er mit Helene seinen guten Engel verloren.

»O, daß sie an meiner Seite gewesen wäre!« dachte er. »Daß ich die Berührung ihrer trauten Hand hätte fühlen dürfen – daß ihr milder Blick von der unschuldigen, bescheidenen, anspruchslosen Kindheit zu mir gesprochen hätte, wenn ich aufblickte von der öden, schrecklichen Ruine dieses Lebens, das sich begeistert über das Niedere erhob und bis zur Thurmeshöhe aus der Sündfluth emporzusteigen strebte! Ach! wenn ich wirklich noch notwendig für sie wäre – noch ihr einziger Pfleger und Beschützer – dann könnte ich zu mir selbst sagen: ›Du darfst nicht verzweifeln und sterben! Du mußt für sie leben und sterben!‹ Aber nein, nein! Für mich gibt es nur dieses ungeheure, entsetzliche London – die Einsamkeit des traurigen Dachstübchen und jene glänzenden Augen, welche mir im Menschengewühle, wie in der Einsamkeit entgegen funkeln.«


Achtzehntes Kapitel.

Am folgenden Montag öffnete der schäbig gekleidete Diener Doctor Morgan's einem jungen Mann die Thüre, in welchem er beim ersten Blick den früheren Besucher nicht wieder erkannte.

Einige Tage vorher war Leonard Fairfield auf derselben Schwelle gestanden, gebräunt von einer der Gesundheit förderlichen Reise, mit einem heiteren Blick in seinen Augen und dem Ausdruck aufrichtigen und unschuldigen Vertrauens auf den Lippen. Jetzt stand er wieder da – mit bleichen und eingefallenen Wangen, die bereits die tiefen Linien der Sorge trugen und Zeugniß ablegten von einer anstrengenden geistigen Arbeit und schlaflosen Nächten; es ruhte auf seiner ganzen Erscheinung eine düstere Mutlosigkeit.

»Ich bin bestellt,« sagte der junge Mensch mürrisch, als der Diener unschlüssig stehen blieb.

»Mein Herr ist soeben zu einem Patienten gerufen worden. Haben Sie die Güte, zu warten.« Mit diesen Worten wies er ihn in das kleine Besuchzimmer.

In wenigen Minuten wurden zwei andere Patienten eingelassen. Es waren Damen, welche sogleich anfingen, sehr laut zu sprechen. Sie störten die Gedanken Leonard's, der zu keiner Unterhaltung aufgelegt war. Er bemerkte, daß die Thüre zum Empfangszimmer halb offen stand, und trat, mit der Etikette unbekannt, welche solche penetralia Allerheiligstes. heilig hält, dort hinein, um dem Geplauder zu entgehen. Hierauf setzte er sich in des Doctors abgenützten Stuhl und sprach vor sich hin:

»Warum forderte er mich auf, zu kommen? Welche neue Pläne kann er mit mir haben? und wenn es eine Gefälligkeit wäre, dürfte ich sie annehmen? Er hat mir die Mittel gegeben, mir mein Brod durch Arbeiten zu verdienen; das ist alles, was ich ein Recht habe, von ihm oder irgend einem andern Menschen zu verlangen; das ist alles, was ich annehmen darf.«

Während er so mit sich selbst redete, fiel sein Blick auf einen offenen Brief, der auf dem Tische lag. Er fuhr zusammen – er hatte die Handschrift erkannt; es war dieselbe, in welcher jener Brief geschrieben gewesen, der die fünfzig Pfund für seine Mutter enthalten hatte – es war ein Brief seiner Großältern. Er sah seinen eigenen Namen; er sah noch mehr – Worte, die sein Herz still stehen und das Blut in seinen Adern zu Eis erstarren machten. Plötzlich wurde eine Hand auf den Brief gelegt und eine Stimme sagte in zornigem Tone:

»Wie können Sie es wagen, in mein Zimmer einzutreten und meine Briefe zu lesen ? Sir–r–r!«

Leonard legte seine Hand fest auf die des Doctors und erwiderte heftig:

»Dieser Brief betrifft mich – gehört mir – vernichtet mich. Ich habe genug gelesen, um so viel zu wissen. Ich verlange alles zu lesen – alles zu erfahren.«

Der Doctor blickte sich um, und als er sah, daß die Thüre zu dem Empfangszimmer noch offen war, warf er sie mit dem Fuße zu und sagte dann halb flüsternd:

»Was haben Sie gelesen? Sagen Sie mir die Wahrheit.«

»Nur zwei Zeilen, und in diesen nennt man mich – nennt man mich« –

Leonard's ganzer Körper zitterte vom Kopf bis zu den Füßen, und seine Stirnadern schwollen hoch auf. Er konnte den Satz nicht vollenden. Es war ihm, als wenn ein Ocean nach seinem Gehirne wogte und in seinen Ohren brauste.

Der Doctor sah mit Einem Blick, daß er sich in einem gefährlichen, körperlichen Zustande befand und antwortete rasch und beschwichtigend:

»Setzen Sie sich, setzen Sie sich – beruhigen Sie sich – Sie sollen alles erfahren – alles lesen. Trinken Sie dieses Wasser;« worauf er einige Tropfen aus einer kleinen Phiole in ein Glas mit Wasser schüttete.

Leonard gehorchte mechanisch; denn er war in der That nicht fähig, sich länger auf den Beinen zu halten. Er schloß seine Augen, und während ein Paar Minuten schien das Leben von ihm gewichen zu sein. Dann kam er wieder zu sich und sah, wie ihn der gute Doctor mit großer Theilnahme anblickte. Schweigend streckte er seine Hand nach dem Briefe aus.

»Warten Sie einige Augenblicke,« sagte der Arzt mit Ueberlegung, »und hören Sie mich unterdessen an. Es war ein sehr unglücklicher Zufall, daß Sie einen Brief zu sehen bekamen, der nie dazu bestimmt war, Ihnen vor die Augen zu kommen, und der Anspielungen auf ein Geheimniß enthält, welches Sie nie erfahren sollten. Wenn ich Ihnen aber noch mehr mittheile, werden Sie mir dann auf Ihr Ehrenwort versprechen, daß Sie das Geheimniß vor Mrs. Fairfield, den Avenels – überhaupt vor allen Menschen heilig halten wollen? Ich habe mich selbst verbindlich gemacht, dieses Geheimniß, zu bewahren, und kann es Ihnen daher nur unter derselben Bedingung anvertrauen.«

»Es ist kein Grund vorhanden,« sagte Leonard unsicher und mit einem bittern Lächeln auf seinen Lippen – »es ist, scheint es, kein Grund vorhanden, daß ich stolz sein könnte, mit jenem Geheimniß zu prahlen . Ja,ich gebe Ihnen das Versprechen – den Brief, den Brief!«

Der Doctor legte denselben in Leonard's rechte Hand und befühlte mit seinem Zeigefinger und dem Daumen das Gelenk der linken Hand, wie es die Aerzte machen sollen, wenn ein Opfer auf der Folterbank liegt.

»Der Puls geht langsamer,« murmelte er; »ein wunderbares Ding, dieses Aconit!«

Während dem las Leonard die folgenden Zeilen mit ihren orthographischen und andern Fehlern .

»Doctor Morgan!

Sir, – ich habe Ihren werthen Brief empfangen und freue mich, zu erfahren, daß der arme Junge sich in Sicherheit befindet und gesund ist. Er hat sich aber schlecht und undankbar gegen meinen guten Sohn Richard benommen, der der ganzen Familie zur Ehre gereicht und sich selbst zu einem Gentleman emporgeschwungen hat und auch sehr freundlich und gut gegen den Jungen war, ohne daß er wußte, wer und was er ist. Gott verhüte das! Ich wünsche ihn nie wieder zu sehen – den Jungen. Der arme John war einige Tage nachher krank und unruhig. John ist jetzt ein armes Geschöpf und hat mehrere Schlaganfälle gehabt. Und er sprach von nichts als von Nora – und daß die Augen des Knaben denjenigen seiner Mutter so ähnlich seien. Ich kann – ich kann das Kind der Schande nicht mehr sehen! Er darf nicht hieher kommen – verlangen Sie es um Gottes willen nicht, Sir – er darf nicht! Wir waren immer achtbare Leute – und eine solche Schande! Ein Bastard! Ein Bastard! Behalten Sie ihn, wo er ist; geben Sie ihn in die Lehre, ich werde alles bezahlen, Sie sagen, Sir, er sei aufgeweckt und lerne leicht; das sagte auch Pfarrer Dale und wünschte, daß er auf die Universität gehen und eine Rolle spielen sollte. – Dann würde aber alles herauskommen. Es würde mein Tod sein, Sir; ich würde in meinem Grabe nicht schlafen können, Sir. Und Nora, auf die wir Alle so stolz waren! Wir sind Alle sündige Geschöpfe! Nora's guter Name, den wir jetzt gerettet haben, wäre verloren, verloren! Und Richard, der jetzt so vornehm ist und die arme Nora so lieb hatte! Er würde sein Haupt nicht wieder empor heben. Lassen Sie ihn keine Rolle in der Welt spielen; lassen Sie ihn einen Kaufmann werden, wie wir es vor ihm waren; lassen Sie ihn irgend ein Gewerbe ergreifen, zu welchem er Lust hat, und lassen Sie ihn uns nicht mehr in den Weg kommen, solange er lebt. Dann werde ich für ihn beten und wünschen, daß er glücklich werde. Und haben wir nicht genug davon gehabt, daß wir Kinder über ihren Stand erzogen? Nora, von der ich zu sagen pflegte, sie sei wie die erste Dame des Landes – ach, wir sind mit Recht dafür bestraft worden! So überlasse ich denn Ihnen, Sir, alles und werde alles bezahlen, was Sie für den Jungen brauchen. Und sorgen Sie dafür, daß das Geheimniß bewahrt werde; denn wir haben nie etwas vom Vater gehört; und es weiß wenigstens Niemand, daß Nora einen lebenden Sohn hat, außer mir und meiner Tochter Jane und Pfarrer Dale und Ihnen und Sie Beide sind brave Gentlemen, und Jane wird ihr Wort halten, und ich bin alt und werde bald in meinem Grabe sein; aber ich hoffe, es wird nicht geschehen, so lange der arme John mich nöthig hat. Was sollte er ohne mich thun? und wenn das bekannt würde, das würde mich auf der Stelle tödten, Sir! der arme John ist ein hülfloses Geschöpf; Gott sei mit ihm! Also nichts weiter von Ihrer ergebenen Dienerin

M.  A v e n e l.«

Leonard legte den Brief ruhig hin und, ein leichtes Wogen der Brust, sowie eine tödtliche Blässe der Lippen ausgenommen, merkte man nichts von seiner innern Aufregung. Und welch' vortreffliches Herz er besaß, das bewiesen die ersten Worte, die er sprach, und die lauteten: »Dem Himmel sei Dank!«

Der Doctor hatte eine solche Danksagung nicht erwartet und war darüber so erstaunt, daß er ausrief: »Wofür?«

»Bei der Frau, die ich als meine Mutter kannte und ehrte, habe ich nichts zu bemitleiden oder zu entschuldigen. Ich bin nicht ihr Sohn – ihr –«

Er brach kurz ab.

»Nein; aber seien Sie nicht hart gegen Ihre wahre Mutter – die arme Nora!«

Leonard wankte und brach dann in einen Strom von Thränen aus.

»O meine Mutter! – meine todte Mutter! Du, für welche ich eine so geheimnißvolle Liebe gefühlt – du, von welcher ich diese meine poetische Seele empfangen – verzeihe mir, verzeihe mir! Hart gegen dich! O, möchtest du noch leben, daß ich dich trösten könnte! Wie viel mußt du gelitten haben!«

Diese Worte schluchzte er in abgerissenen Lauten aus der Tiefe seines Herzens hervor. Dann ergriff er wieder den Brief, und als seine Augen auf die Zeilen der Schreiberin fielen, in welchen sie von der Schande und gleichsam von der Furcht sprach, die sie vor seiner Existenz empfand, da nahmen sofort seine Gedanken eine andere Richtung. All' sein angeborener Stolz lehrte zurück. Er erhob den Kopf, und seine Thränen hörten auf zu fließen.

»Sagen Sie ihr,« sprach er in ernstem, festem Tone, »sagen Sie Mrs. Avenel, daß ich ihr gehorchen werde, daß ich niemals ihr Dach aufsuchen, ihr niemals in den Weg treten und niemals ihrem reichen Sohne Schande bringen werde. Sagen Sie ihr aber auch, daß ich mir selbst meine Lebensbahn wählen, und daß ich mich nicht von ihr bestechen lasse für das Bewahren des Geheimnisses. Sagen Sie ihr, daß ich keinen Namen habe, mir aber einen schaffen werde.«

Einen Namen! war das nur eine leere Prahlerei, oder war es einer jener Blitze der Ueberzeugung, die uns nie belügen, die einen Augenblick ein helles Licht auf unsere Zukunft werfen und dann im Dunkeln verschwinden?

»Ich bezweifle es nicht, mein braver Junge,« sagte Doctor Morgan, indem er in seiner Aufregung im schlimmsten wälischen Dialecte sprach: »und vielleicht finden Sie einen Vater, welcher –«

»Vater – wer ist er? Was ist er? Er lebt also! Aber er hat mich verlassen –er muß sie betrogen haben! Ich brauch ihn nicht. Das Gesetz gibt mir keinen Vater.«

Die letzten Worte sprach Leonard wieder mit großer Bitterkeit; dann fuhr er in einem ruhigeren Tone fort: »Ich sollte aber doch wissen, wer er ist – ein Weiterer, dem ich aus dem Wege zu gehen habe.«

Doctor Morgan blickte verlegen vor sich hin und besann sich eine Weile. »Nun,« sagte er endlich, »da Sie schon so viel wissen, so ist es sicherlich am besten, wenn Sie alles erfahren.«

Der Doctor ging alsdann nach einigen Umschweifen auf die Einzelheiten über, die wir hier in Kürze wiederholen wollen.

Nora Avenel verließ als ganz junges Mädchen ihr heimathliches Dorf, oder vielmehr das Haus der Lady Lansmere, bei welcher sie erzogen worden war, um eine Stelle als Gesellschafterin in London zu übernehmen. Eines Abends stellte sie sich plötzlich im Hause ihres Vaters ein und fiel beim ersten Blick auf das Antlitz ihrer Mutter bewußtlos zu Boden. Sie wurde zu Bett gebracht, und man ließ Doctor Morgan, der damals der erste praktische Arzt des Ortes war, holen. In jener Nacht kam Leonard zur Welt, seine Mütter aber starb, ohne mehr zur Besinnung zu kommen. Sie sprach von dem Augenblick an, da sie das Haus betrat, kein verständliches Wort mehr.

»Und so nannte sie nie den Namen Ihres Vaters,« schloß Doctor Morgan. »Wir wußten nicht, wer er war.«

»Und wie,« rief Leonard heftig – »wie hat man sich unterstehen können, diese todte Mutter zu verleumden? Wie konnte man wissen, daß ich – nicht – nicht – nicht ein rechtmäßiges Kind sei?«

»An Nora's Finger befand sich kein Trauring – niemals hatte man etwas von ihrer Ehe gehört – ihr seltsames und plötzliches Erscheinen im Hause ihres Vaters – ihre Aufregung, als sie eintrat, so unähnlich derjenigen einer jungen Frau bei der Ankunft im Hause ihrer Eltern: Das sind alle Beweise, die man gegen sie hat. Aber Mrs. Avenel hielt sie für gewichtig – und ich ebenfalls. Sie haben ein Recht, zu denken, daß wir zu vorschnell geurtheilt haben – vielleicht thaten wir es.«

»Und man hat keine Nachforschungen angestellt?« sagte Leonard in traurigem Tone, nachdem er lange geschwiegen hatte. »Keine Nachforschungen, um zu erfahren, wer der Vater des mutterlosen Kindes sei?«

»Nachforschungen! Mrs. Avenel wäre lieber gestorben. Ihre Großmutter ist von Natur sehr streng. Und wäre sie von Fürsten, ja von Cadwallader Mythischer walisischer König von Gwynedd (im Nordwesten von Wales), um 655 bis 682.selbst abgestammt,« sagte der Walliser, »so würde sie nicht mehr Furcht vor dem bloßen Gedanken an eine Unehre haben fühlen können. Selbst bei der Leiche ihres todten Kindes, des Kindes, welches sie am meisten geliebt, hatte sie nur Einen Gedanken, nämlich den, den Namen und das Andenken dieses Kindes vor Verdacht zu schützen. Glücklicherweise befand sich kein Diener im Hause, sondern nur Mark Fairfield und seine Frau, die Schwester Nora's. Sie waren an demselben Tage auf Besuch angekommen. Mrs. Fairfield hatte damals ihr eigenes Kind an der Brust, welches zwei oder drei Monate alt war; sie nahm Sie als Pflegekind an; Nora wurde begraben und das Geheimniß bewahrt. Niemand außerhalb der Familie wußte etwas davon, als ich und der Pfarrer des Ortes, Mr. Dale. Am Tage nach Ihrer Geburt zog Mrs. Fairfield, um einer Entdeckung vorzubeugen, nach einem etwas entfernteren Dorfe. Dort starb ihr Kind, und als sie nach Hazeldean zurückkehrte, woselbst ihr Mann ansässig war, galten Sie für den Sohn, den sie verloren hatte. Mark benahm sich, das weiß ich, wie ein Vater gegen Sie, denn er hatte Nora sehr lieb gehabt, sie waren Kinder zusammen gewesen.«

»Und sie kam nach London – London ist mächtig und grausam,« murmelte Leonard. »Sie war ohne Freunde und wurde betrogen. Ich sehe Alles – ich wünsche nichts mehr zu wissen. Dieser Vater muß fürwahr gleich denen gewesen sein, von welchen ich in Büchern gelesen. Sie zu lieben, sie zu kränken – das kann ich begreifen; aber sie dann aufzugeben und zu verlassen, ihr Grab nicht zu besuchen – keine Gewissensbisse – keine Nachfrage nach seinem eigenen Kinde. Gut, gut; Mrs. Avenel hatte Recht. Lassen Sie uns nicht mehr an ihn denken.«

Der Diener klopfte an die Thüre und streckte seinen Kopf herein. »Sir, die Damen werden sehr ungeduldig und sagen, daß sie gehen wollen.«

»Sir,« sagte Leonard, indem er mit seltener Ruhe die Gegenwart wieder in das Auge faßte, »ich bitte Sie um Verzeihung, daß ich Ihre Zeit so lange in Anspruch genommen habe. Ich gehe jetzt. Ich werde weder gegen meine Mut– gegen Mrs. Fairfield meine ich – noch gegen irgend sonst Jemanden Das, was ich erfahren habe, erwähnen. Ich werde mir auf irgend eine Weise mein Fortkommen verschaffen. Wenn Mr. Prickett mich behalten will, so werde ich für jetzt bei ihm bleiben; aber ich wiederhole es, ich kann nicht Mrs. Avenel's Geld annehmen und mich in die Lehre bringen lassen. Sir, Sie sind gütig und geduldig gegen mich gewesen – der Himmel lohne es Ihnen!«

Der Doctor war zu bewegt, um antworten zu können. Er drückte Leonard die Hand, und eine Minute darauf schloß sich die Thüre hinter dem namenlosen Jüngling. Er stand allein in London's Straßen, und die Sonne blitzte gleich dem Auge eines Feindes roth und drohend auf ihn herab!


Neunzehntes Kapitel.

Leonard erschien an jenem Tage nicht in Mr. Prickett's Laden. Es ist unnöthig, zu sagen, wohin er wanderte, was er litt, was er dachte, was er fühlte. Alles in seinem Innern war in Aufruhr. Abends spät kehrte er in seine Wohnung zurück. Auf dem Tische stand Helenen's Rosenstock, den er seit dem Morgen vernachlässigt hatte; er sah trocken und welk aus. Sein Herz machte ihm Vorwürfe. Er begoß die arme Pflanze – vielleicht mit seinen Thränen.

Mittlerweile hatte Doctor Morgan bei sich selbst überlegt, ob er Mrs. Avenel von Leonard's Entdeckung und Auftrag in Kenntniß setzen sollte; er beschloß jedoch, ihr eine Unruhe und Aufregung zu ersparen, die an sich unnöthig war und ihrer Gesundheit schädlich werden konnte, und antwortete daher kurz, sie brauche nicht zu befürchten, daß Leonard ihr Haus betreten werde; er habe keine Lust, irgendwo in die Lehre zu gehen, für den Augenblick sei aber für ihn gesorgt; wenn Doctor Morgan durch den Kaufmann, bei welchem er beschäftigt sei, mehr von ihm höre, dann werde er von Deutschland aus an sie schreiben. Hierauf ging er zu Mr. Prickett, bat den bereitwilligen Buchhändler, den jungen Mann einstweilen zu behalten, freundlich gegen ihn zu sein, auf seine Gewohnheiten und sein Betragen ein wachsames Auge zu haben, und dann dem Doctor nach seiner neuen Heimath am Rhein Mittheilung zu machen, für welchen Beruf er glaube, daß Leonard am besten passe, und zu welchem er am meisten geneigt sei. Der wohlwollende Walliser übernahm die Hälfte des Gehalts, welchen der Buchhändler an Leonard zu bezahlen hatte, und entrichtete ihm dieselbe für ein Vierteljahr voraus. Freilich wußte er, daß er das Geld zurückerhalten würde, wenn er sich an Mrs. Avenel wandte; da er aber selbst ein Mann von unabhängigem Charakter war, so sympathisirte er so sehr mit den gegenwärtigen Gefühlen Leonard's, daß es ihm vorkam, als wenn er den jungen Mann herabwürdige, falls er ihn, wenn auch nur im Geheimen, von dem Gelde Mrs. Avenel's unterhalten würde – von einem Gelde, welches dazu bestimmt war, ihn im Leben nicht vorwärts zu bringen, sondern niederzuhalten. Im schlimmsten Falle war es eine Summe, die der Doctor aufwenden konnte, und überdies hatte er ja den Knaben zur Welt gebracht.

Nachdem der Doctor auf diese Weise nach seiner Ansicht für seine beiden jungen Schützlinge gut gesorgt hatte, widmete er sich den schließlichen Vorbereitungen zu seiner Abreise. Bei Mr. Prickett hinterließ er ein paar Zeilen für Leonard, welche einige kurze Rathschläge und freundliche Ermunterungen, sowie ein Postscriptum enthielten, des Inhalts, er habe Mrs. Avenel nicht von den Aufschlüssen in Kenntniß gesetzt, die Leonard erhalten, und er erachte es für das Beste, sie in ihrer Unkenntniß davon zu lassen. Sodann lagen sechs kleine Pulver bei, die in Wasser aufzulösen seien und von welchen alle vier Stunden ein Theelöffel voll genommen werden solle – »Hauptmittel gegen heftige Aufwallung und düstere Gedanken,« schrieb der Doctor.

Am Abend des nächsten Tages befand sich Doctor Morgan in Gesellschaft seines Lieblingspatienten mit dem chronischen Gesichtsschmerz, den er überredet hatte, mit ihm zu gehen, auf einem Dampfboot, das nach Ostende fuhr.

Leonard ging wieder an seine Arbeit bei Mr. Prickett; die Verwandlung, die mit ihm vorgegangen, konnte jedoch dem Buchhändler nicht entgehen. Sein ganzes freimütiges, einfaches Wesen war von ihm gewichen. Er war sehr zurückhaltend und sehr schweigsam und schien viel älter geworden zu sein.

Ich werde es nicht versuchen, diese Umwandlung metaphysisch zu analysiren. Mit Hülfe der Worte, welche Leonard selbst gelegentlich fallen lassen mag, wird der Leser einen Blick in das Herz des Jünglings werfen können und sehen, wie dort die Umwandlung gearbeitet hatte und noch fort und fort arbeitete. Das glückliche, träumerische Dorfgenie, welches mit ungetrübten, ungeblendeten Augen nach dem Ruhme blickte, existirt nicht mehr. Er ist ein Mann, bei welchem die alten, heiligen Bande des häuslichen Lebens plötzlich abgeschnitten worden, der sich großer Kraft bewußt ist, aber von allen Seiten mit eisernen Schranken umgeben sieht – allein mit der rauhen Wirklichkeit in dem alles geringschätzenden London. Wirft er aber einen Blick auf den verlorenen Helikon Siehe Anm. 226., so sieht er dort an der Stelle der Muse einen bleichen, traurigen Schatten, der aus Scham sein Gesicht verhüllt – den Geist seiner trauernden Mutter, deren Kind in der Familie der Menschen nicht einmal den geringsten Namen besitzt.

Als am zweiten Abend nach Doctor Morgan's Abreise Leonard eben im Begriff war, den Laden zu verlassen, trat ein Kunde mit einem Buch in der Hand ein, welches er dem Ladendiener, der Abends die Bücher aus der Bude vor der Thüre entfernte, rasch weggenommen hatte.

»Mr. Prickett, Mr. Prickett!« sagte der Kunde, »ich schäme mich Ihrer. Sie unterstehen sich, für dieses Werk in zwei Bänden eine Summe von acht Schillingen zu verlangen.«

Mr Prickett trat aus dem cimmerischen Dunkel Die Kimmerer waren ein indogermanisches Reitervolk der Antike, das nach griechischen Autoren ursprünglich am Kimmerischen Bosporus und im nördlichen Kaukasus ansässig war. In der Odyssee beschreibt Homer das Land und die Stadt, die im äußersten Rand des tiefen Okeanos, nahe am Eingang des Hades, lägen. In ihrem Gebiet herrschten stete Nacht und Nebel (»kimmerische Finsternis«). irgend einer Vertiefung seines Ladens hervor und rief: »Was, Mr. Burley, sind Sie es? Ich erkenne Sie aber nur an Ihrer Stimme.«

»Der Mensch ist einem Buche ähnlich, Mr. Prickett: Der gewöhnliche Mann beurtheilt nur nach dem Einband. Ich bin allerdings besser gebunden.«

Leonard warf einen Blick auf den Sprecher, welcher jetzt unter der Gaslampe stand, und glaubte seine Züge wieder zu erkennen. Er blickte ihn noch ein Mal an. Ja. es war der Barschfischer, mit welchem er an den Ufern des Brent zusammen getroffen war, und der ihn mit dem verlorenen Fisch und der abgerissenen Angelschnur gewarnt hatte.

Mr. Burley (fortfahrend). – »Aber ›die Kunst zu denken!‹ – Sie verlangen acht Schillinge für ›Die Kunst, zu denken.‹«

Mr. Prickett. – »Das ist wohlfeil genug, Mr Burley, für ein so gut erhaltenes Exemplar.«

Mr. Burley. – »Sie sind ein Wucherer! Ich verkaufte es Ihnen für drei Schillinge. Das ist mehr als fünfzig Procent, die Sie jetzt an meiner ›Kunst des Denkens‹ profitiren wollen.«

Mr. Prickett (stotternd und einen Schritt zurückweichend). – » Sie haben es mir verkauft! Ach, jetzt erinnere ich mich dessen. Aber es war mehr als drei Schillinge, was ich Ihnen gab. Sie vergessen – zwei Gläser Cognac und Wasser.«

Mr. Burley. – »Auf die Gastfreundschaft, Sir, darf man keinen Preis setzen. Wenn Sie Ihre Gastfreundschaft verkaufen, so verdienen Sie nicht meine ›Kunst des Denkens‹ zu besitzen. Ich nehme sie wieder zurück. Da haben Sie drei Schillinge und noch einen Schilling Zinsen. Nein, nicht. Statt des Schillings will ich Ihnen Ihre Gastfreundschaft zurückgeben, und das erste Mal, daß wir uns wieder treffen, sollen Sie Ihre zwei Gläser Cognac und Wasser haben.«

Die Sache schien Prickett nicht sehr zu gefallen, aber er machte keine Einwendung, und Mr. Burley steckte das Buch in seine Tasche, worauf er die Büchervorräthe zu durchstöbern begann. Er kaufte ein altes Buch von scherzhaftem Inhalt, einen einzelnen Band von den Luftspielen Destouche's Philippe Néricault Destouches (1680-1754), französischer Lustspieldichter., bezahlte es, steckte es ebenfalls in seine Tasche und war eben im Begriff, hinauszuschlendern, als er Leonard bemerkte, welcher jetzt am Ausgange stand.

»Hm! wer ist das?« fragte er flüsternd Mr. Prickett.

»Ein junger Gehülfe von mir, und das ein sehr gescheidter.«

Mr. Burley warf einen prüfenden Blick auf Leonard vom Kopf bis zu den Füßen.

»Wir haben uns schon früher getroffen, Sir. Aber Sie sehen aus, als ob Sie an die Ufer des Brent zurückgekehrt wären und nach meinem Barsch gefischt hätten.«

»Es ist möglich, Sir,« antwortete Leonard. »Aber meine Angelschnur ist dauerhaft und noch nicht gebrochen, obgleich der Fisch sie unter die Wasserpflanzen gezogen hat und sich in dem Schlamme verbirgt.«

Er lüpfte den Hut, verbeugte sich leicht und ging weiter.

»Er ist gescheidt,« sagte Mr. Burley zu dem Buchhändler; »er versteht ein Gleichniß.«

Mr. Prickett. – »Der arme junge Mensch! Er kam nach der Stadt mit der Idee, ein Schriftsteller zu werden. Sie wissen, was das bedeutet, Mr. Burley.«

Mr. Burley (mit einer Miene erhabener Würde). – »Ja, Sie Buchhändler! Ein Schriftsteller ist ein Mittelding zwischen Göttern und Menschen, den man in einen Palast einlogiren und auf öffentliche Kosten mit Ortolanen Vogelart aus der Familie der Ammern; zur »Fettammer« gemästet gilt er bis heute Gourmets als Delikatesse, obwohl lt. EU-Richtlinien der Fang von Singvögeln illegal ist. und Tokayer Die Weine aus der ungarischen Region um die Stadt Tokaj werden seit Jahrhunderten von Weinkennern als kostbare Edelweine und Klassiker der Weinwelt geschätzt. nähren sollte. Man sollte ihn in Eiderdaunen einwickeln und mit seidenen Vorhängen gegen die Sorgen des Lebens schützen; er sollte nichts zu thun haben, als Bücher zu schreiben auf Tische von Cedernholz, und Barsche zu fischen, in einem vergoldetem Boote sitzend. Und das wird einst geschehen, wenn die Zeiten der Barbarei vorüber sind und die Menschheit ihre Wohlthaten kennt. Unterdessen, Sir, lade ich Sie ein, in meine Wohnung zu kommen, wo ich Sie mit Cognac und Wasser solang regaliren werde, als ich bezahlen kann; und wenn ich es nicht mehr kann, dann regaliren Sie mich, Sir.«

»Das wäre in der That ein sehr schlechtes Geschäft,« brummte Mr. Prickett, als Mr. Burley, den Kopf in der Höhe, in die Straße hinausschritt.


Zwanzigstes Kapitel.

Anfangs war Leonard immer durch die besuchtesten Straßen nach Hause zurückgekehrt; denn die Berührung mit der Menschenmenge hatte seinen Geist erheitert. In den zwei letzten Tagen aber, seit er das Geheimniß seiner Geburt entdeckt hatte, nahm er den Weg durch das verhältnißmäßig unbevölkerte New-Road.

Er hatte gerade denjenigen Theil dieser Gegend erreicht, wo die Bildhauer und Grabsteinmeister die düsteren Producte ihrer Kunst ausstellen – Monumente, die für Gärten so gut wie für Gräber paßten – und blieb eben stehen, um eine Säule zu betrachten, auf welcher eine halb mit einem Trauermantel bedeckte Urne stand, als seine Schulter leise berührt wurde und er, sich rasch umdrehend, Mr. Burley hinter sich stehen sah.

»Entschuldigen Sie, Sir, aber Sie verstehen sich auf das Barschfischen, und so möchte ich genauer mit Ihnen bekannt werden. Ich hörte, daß Sie einst den Wunsch hegten, Schriftsteller zu werden. Ich bin ein solcher.«

Leonard hatte seines Wissens noch nie zuvor einen Schriftsteller gesehen, und ein trauriges Lächeln schwebte auf seinen Lippen, als er den Barschfischer betrachtete.

Mr. Burley war in der That ganz anders gekleidet, als da sie sich an dem kleinen Bache getroffen hatten. Er sah weniger wie ein Schriftsteller und vielleicht mehr wie ein Barschfischer aus. Er trug einen neuen weißen Hut, der etwas schief auf dem Kopfe saß, einen neuen grünen Ueberrock, neue graue Beinkleider und neue Stiefel. In seiner Hand schwang er ein Fischbeinstöckchen mit einem silbernen Griff. Es konnte nichts Vagabundenmäßigeres und Nachlässigeres geben, als sein ganzes Aussehen. Er selbst aber erschien ungeachtet seines gemeinen Aufzuges durchaus nicht gemein – eher excentrisch. Er machte den Eindruck eines Menschen, der sich nicht um die gewöhnlichen Gesetze der abgeblaßten, conventionellen Formen kümmert. Sein Gesicht sah blässer und aufgedunsener und seine Nasenspitze röther aus als früher; aber der Glanz seiner Augen war lebhafter, und Selbstzufriedenheit leuchtete aus seinen humoristischen Mundwinkeln.

»Sie sind ein Schriftsteller, Sir,« wiederholte Leonard. »Nun, was haben Sie mir über diesen Beruf mitzutheilen? Die Säule dort unten stützt eine Urne; die Säule ist schlank und die Urne anmuthig, aber es scheint, als wenn sie hier am Wege nicht auf dem richtigen Platze stünde. Was sagen Sie dazu?«

Mr. Burley. – »Sie würde sich besser auf einem Kirchhofe ausnehmen.«

Leonard. – »Das war auch mein Gedanke. Und Sie sind ein Schriftsteller?«

Mr. Burley. – »Ah, ich sagte ja, daß Sie für Gleichnisse eine schnelle Auffassungsgabe besitzen! Sie glauben also, daß ein Schriftsteller sich besser auf einem Kirchhofe ausnimmt, wenn Sie ihn in der Gestalt einer verhüllten Urne im Mondscheine erblicken, als wenn er unter einer Gaslampe im weißen Hut und mit einer rothen Nasenspitze steht. An sich haben Sie Recht. Aber der Schriftsteller würde mit Ihrer Erlaubniß doch lieber da bleiben, wo er ist. Lassen Sie uns weiter gehen.«

Die beiden Männer fühlten sich gegenseitig angezogen und gingen eine Weile schweigend weiter.

»Um auf die Urne zurückzukommen,« sagte Mr. Burley, »so denken Sie, wie es scheint, an Ruhm und Kirchhöfe. Es ist ziemlich natürlich, daß man dies thut, bevor die Illusion dahin stirbt; ich aber denke an den Augenblick – an die Existenz – und lache über den Ruhm. Ruhm, Sir, ist nicht ein Glas Wasser werth! Hat man aber ein Glas Cognac mit Zucker und fünf Schillinge in der Tasche, die man verwenden kann, wie man will – was wäre dann in der ganzen Westminster-Abtei zu finden, das sich damit vergleichen ließe?«

»Fahren Sie fort, Sir, ich möchte Sie weiter sprechen hören. Lassen Sie mich zuhören, und den eigenen Mund halten.«

Leonard zog seinen Hut über die Stirne herunter und suchte seinen zweifelsüchtigen und aufgeregten Geist zu beruhigen, um seinem Bekannten volle Aufmerksamkeit zu schenken.

Und John Burley sprach weiter. Seine Rede war gefährlicher und bezaubernder Natur; es war die Rede eines großen gefallenen Geistes, eine Schlange, die sich auf dem Boden hinwindet, in allen möglichen glänzenden Farben schillernd – aber eine Schlange ohne die Falschheit derselben. Wenn John Burley täuschte und zum Versucher wurde, so war das nicht seine Absicht – er schlich und glitzerte offen und ehrlich; keine Taube konnte mehr Einfalt besitzen.

Während er sich über den Ruhm lustig machte, verweilte er doch mit beredter Begeisterung bei der Freude, welche ein Schriftsteller beim Selbstschaffen empfindet.

»Was kümmere ich mich um das, was die Menschen da draußen von den Worten sagen, die auf meinem Papiere dahin strömen,« rief er. »Wenn Sie an das Publikum, an die Urnen und an die Lorbeeren denken, während Sie schreiben, so sind Sie kein Genie – so taugen Sie nicht zum Schriftsteller. Ich schreibe, weil es mir Vergnügen macht, weil es in meiner Natur liegt. Wenn es einmal geschrieben ist, dann kümmere ich mich so wenig darum, wie die Lerche sich um den Eindruck kümmert, den ihr Gesang auf den Bauer macht, welchen sie zu seiner Pflugarbeit weckt. Wie die Lerche, so singt der Dichter von seiner hohen Warte herab. Ist das wahr?«

»Ja, sehr wahr!«

»Und was kann uns diese Freude rauben? Der Buchhändler will nicht kaufen, und das Publikum will nichts lesen. Mögen sie am Fuße der Engelsleiter schlafen – wir erklettern sie doch. Und auf diese Weise geräth man in eine so gemüthliche Luzianische Zu Lukian siehe Anm. 133. Stimmung, daß man die Menschen verachtet. Man verlangt ja so wenig von ihnen, wenn man weiß, was man selbst werth ist, und was sie werth sind. Sie sind gerade so viel werth, wie die Münzen, die man aus ihnen herausschlagen kann, um zu leben. Und dann sind wir im Stande, diejenigen Freuden, die der Welt so gewöhnlich vorkommen, zu goldenen und königlichen Freuden zu machen. Glauben Sie, Burns Siehe Anm. 289. habe, wenn er von seinen Bauern umgeben in dem Bierhause trank, gerade wie sie nur Bier und Whisky getrunken? Nein, er trank Nektar – er schlürfte seine eigenen ambrosischen Gedanken Nektar und Ambrosia sind in der griechischen Mythologie die Nahrung der Götter. und schüttelte sich vor Lachen dazu, wie die Götter. Die grobe irdische Flüssigkeit war gerade nothwendig für ihn, um seinen Geist von dem Stande zu entfesseln und von seinem irdischen Kleide zu befreien, damit er in dem wehenden Gewande des Sängers in die Wolken sich erheben konnte. Nur hierzu waren Bier und Whisky nothwendig und wurden sofort in das Getränke der Hebe Hebe ist in der griechischen Mythologie die Göttin der Jugend und, bevor sie von Ganymed abgelöst wird, Mundschenk der Götter und reicht Nektar und Ambrosia. verwandelt. Aber kommen Sie mit mir, Sie haben das Leben noch nicht kennen gelernt, Sie haben es noch nicht gesehen, kommen Sie, schenken Sie mir diesen Abend. Ich habe Geld bei mir, und ich werde es so freigebig ausstreuen, wie Alexander selbst, als er für seinen Antheil nur die Hoffnung behielt. Kommen Sie!«

»Wohin?«

»Nach meinem Throne. Auf jenem Throne saß zuletzt Edmund Kean – der gewaltige Mime Der englische Schauspieler lebte von 1787 bis 1833,. Ich bin sein Nachfolger. Wir werden sehen, ob diese wilden Söhne des Genies, die man nur citirt, um ›der Moral die Pointe zu geben und einem Märchen Prunk zu verleihen,‹ Nach V. 222 von Dr. Samuel Johnson, Vanity of Human Wishes (1748), seiner Übertragung von Juvenals 10. Satire. Gegenstände des Mitleids waren. Um einen Savage Siehe Anm. 324. und einen Morland Hier ist offenbar der englische Porträtmaler Henry Robert Morland (1716/1719-1797) gemeint, der nach einem Bankrott und unstetem Leben im Elend verstarb., einen Porson Richard Porson (1759-1808), englischer Altertumswissenschaftler, einer der Pioniere der altphilologischen Textkritik. Da er aus Gewissensgründen die Priesterweihe verweigerte, war ihm eine seiner Leistung angemessene akademische Karriere verwehrt. Er musste sein Leben von einem geringen Einkommen fristen und suchte Trost im Alkohol. und einen Burns zu beklagen, dazu muß man ein nüchterner Philister sein!«

»Oder einen Chatterton,« sagte Leonard düster.

»Chatterton war in allen Dingen ein Betrüger; er erdichtete Ausschweifungen, die er nie gekannt. Er ein Bacchant – ein Kneipgenie! Er! – Nein. Wir wollen von ihm sprechen. Kommen Sie!«


Einundzwanzigstes Kapitel.

Das Zimmer! Und der Tabaksqualm! Und der grelle Schein der Gaslichter! Die mit Kalk angestrichenen weißen Wände und die daran sich befindenden Kupferstiche, welche Schauspieler in ihren Costümen und Bühnenstellungen darstellen – Schauspieler aus einer Zeit, die so weit zurückliegt, wie ihre eigene verlorene Augustäische Aera Die Regierungszeit von Kaiser Augustus ( 63 v.u.Z. – 14), die von 31 v.u.Z. bis 14 währte, wurde im Nachhinein als »Pax Augusta« verklärt, indem der Bürgerkrieg im Römischen Reich zur Ruhe gekommen war., wo die Bühne noch einen wirklichen lebendigen Einfluß auf die Sitten und die Zeit ausübte.

Da hing Betterton in Perücke und Toga als Cato, wie er über Unsterblichkeit der Seele moralisirt und zwischen Plato und dem Dolche schwankt. Da hing ferner Woodward als »feiner Gentleman« mit dem unnachahmlichen Ausdruck eines Wüstlings, in welchem die Helden von Wycherly, Congreve und Farquhar wieder aufleben. Dort sah man den jovialen Quin als Falstaff mit seinem runden Schilde und seinem »hübschen runden Bauche.« Da hing Colly Cibber in Brokat, wie er eine Prise nimmt, den Daumen und Zeigfinger emporgehoben, mit seinem den Beifall herausfordernden Gesichte. Da war Macklin als Shylock mit dem Messer in der Hand; und Kemble in der feierlichen Trauerkleidung des dänischen Prinzen; und Kean am Ehrenplatze über dem Kamine. Schauspieler und Dramatiker (Wycherly, Congreve, Farquhar) der englischen Restaurationszeit; einige Figuren verweisen auf Shakespeare (Falstaff, Shylock, Hamlet).

Wenn wir plötzlich aus der praktischen Welt mit ihren Alltagsmenschen heraustreten vor die Portraits jener Helden, einer phantastischen und geisterhaften Welt – mit den Gewändern angethan, in welchen sie sich auf den Brettern bewegten Shakespeare, Macbeth, Akt 5, Szene 5., so liegt wahrlich in dem Anblick derselben etwas, das ein eigenes Gesicht in unserem Inneren erregt – denn wir haben Alle eine innere Ahnung von einer Existenz, verschieden von derjenigen, durch welche unser Leben abgenützt wird; einer Existenz, die fern von St. James und St. Giles, von den Gerichtshöfen und von der Börse ihren eigenen Weg einschlägt durch Schrecken oder Freude, durch Lächeln oder Thränen, durch ein unbestimmtes, magisches Land der Dichter.

Siehe dort jene Schauspieler! Dort hängen die Männer, welche ein solches Leben durchlebten; für sie war nicht unsere Welt, für sie war die eingebildete Welt die wirkliche. Und hat Shakespeare selbst während seines Lebens je den Beifall gehört, welcher rings um die Darsteller seiner luftigen Bilder donnerte? Schwankende Kinder der flüchtigsten aller Künste, fliehende Schatten auf fließendem Wasser, waret Ihr nicht glücklicher, als wir, die in der Wirklichkeit leben? Wie fremd muß es Euch vorkommen in dem großen Kreislauf, den Ihr jetzt in der Ewigkeit durchmacht! Dort gibt es keine Soufflirbücher, keine Lampen – kein Congreve und Shakespeare wird dort aufgeführt. Zu welchen Rollen im Himmel haben Eure Studien Euch befähigt? Eure endliche Bestimmung ist sehr verworrener Natur. Wir grüßen Eure Bilder und gehen weiter.

Auf den weißangestrichenen Wänden waren auch Portraits von roheren Rivalen auf der Arena des Ruhmes zugelassen; auch ihnen war ein Beifall zu Theil geworden, wärmer, als derjenige, welchen Shakespeare während seiner Lebenszeit erntete; es waren die Hauptfaustkämpfer Cribb, Molyneux und der Holländer Sam Boxer von Weltruf um 1800; Tom Cribb und Tom Molineaux traten 1810 gegeneinander an, was Cribb nach 35 Runden zum Boxweltmeister beförderte.. Mitten zwischen denselben hing ein alter Kupferstich von Newmarket in der ersten Zeit des vorigen Jahrhunderts und verschiedene Stiche von Hogarth William Hogarth (1697-1764), bedeutender sozialkritischer englischer Maler und Grafiker.. Aber Dichter – o, sie waren auch da; Dichter, von denen man annehmen durfte, daß sie gute Gesellen genug waren, um sich bei solchen Kameraden wie zu Hause zu fühlen. Natürlich befand sich Shakespeare mit seiner ruhigen Stirne dort; Ben Johnson Neben William Shakespeare der bedeutendste englische Dramatiker (1572-1637) der Renaissance. mit seinem mürrischen Blick; Burns und Byron dicht neben einander.

Das Merkwürdige aber unter allen diesen Proben der Kupferstechkunst war ein Bild William Pitt's William Pitt der Jüngere (1759-1806), bedeutender englischer Staatsmann in bewegter Zeit (Unabhängigkeitskrieg der USA, Französische Revolution); zweimal Premierminister von Großbritannien., des strengen und gebieterischen William Pitt in Lebensgröße! Was, zum Kukuk! that er dort zwischen Preiskämpfern, Schauspielern und Dichtern? Es schien eine Beleidigung gegen sein großes Andenken. Nichtsdestoweniger befand er sich dorthin sehr aufrechter Stellung und mit einem Ausdruck unaussprechlichen Ekels in seinen ausgeworfenen Nasenflügeln.

Die Portraits an den schmutzigen Wänden glichen sehr dem Reimspiel gewöhnlicher Leute; sie sahen den bunten Bildern sehr ähnlich, welche du, o mein Publikum, in deinen Besuchszimmern hängen hast – Schauspieler und Preiskämpfer, Dichter und Staatsmänner ohne irgend einen Zusammenhang, und ohne daß sie zu einander passen, die du einen Augenblick zu sehen oder zu hören Gelegenheit gehabt hast, und die in den Zeitungen eine hervorragende Rolle gespielt haben.

Und die Gesellschaft? Sie ist nicht zu beschreiben! Schauspieler ohne Engagement; bleiche Jünglinge mit eingefallenen Wangen, wahrscheinlich Söhne von achtbaren Handwerkern, die ihr Möglichstes zu thun versuchen, das Herz ihrer Väter zu brechen; hie und da die markirten Züge eines Juden; dann und wann das neugierige, verlegene Gesicht eines Gelbschnabels aus der Umgegend außerhalb der Stadt, oder vielleicht ein Cambridger Student; auch Männer in vorgerücktem Alter und mit grauen Haaren befanden sich dort, und unter denselben waren verhältnißmäßig wunderbar viele Gesichter mit Carbunkeln und mit vom Trunke aufgedunsenen Nasen.

Als nun John Burley eintrat, brach ein solches Jauchzen aus, daß William Pitt in seinem Rahmen zitterte. Es entstand ein unbeschreibliches Stampfen, Hallo und Hurrahgeschrei für »Burley John;« der Gentleman, welcher in seiner Abwesenheit den Sitz in dem hohen ledernen Stuhle eingenommen hatte, trat denselben an John Burley ab, und Leonard mit seinem ernsten, beobachtenden Auge und mit einem halb traurigen, halb verächtlichen Ausdruck auf seinen Lippen nahm Platz neben Demjenigen, der ihn eingeführt hatte.

In der Versammlung herrschte eine namenlose, erwartungsvolle Unruhe, ähnlich der im Parterre des Opernhauses, wenn irgend ein großer Sänger an die Lampen herantritt und beginnt: » Di tanti palpiti« Aus »Tancredi« (1813), einer Oper von Gioachino Rossini, Akt I, Szene 5; der Held bekundet seine ersehnte Rückkehr in sein Vaterland und spürt, wie sein Herz dabei schlägt, auch wegen der Wiedersehens der Geliebten.. Die Zeit verstreicht. Blicken wir nach der holländischen Uhr über der Thüre. Eine halbe Stunde? John Burley fängt an, warm zu werden. Seim Augen beginnen noch lebhafter zu leuchten, und seine Stimme nimmt einen weichen, süßlichen Ton an.

»Er wird heute Abend groß sein,« flüsterte ein schmächtiger Mann, der wie ein Schneider aussah und auf der andern Seite von Leonard saß.

Die Zeit verstreicht – eine Stunde! Wir blicken wieder nach der holländischen Uhr. John Burley ist jetzt groß; er ist in seinem Zenith, auf seinem Kulminationspunkt. Welch' prachtvolle Witze! Welch' üppiger Humor! Wie dieser Rabelais François Rabelais (ca. 1494-1553), französischer Schriftsteller der Renaissance; von weltliterarischer Bedeutung durch seinen sprachmächtigen Romanzyklus um die beiden Riesen »Gargantua« und »Pantagruel«, in dem er auf der Stilebene spielerische Ironie und Sarkasmus, derben Witz und pedantische Gelehrtheit, Wortspiele und komisch verwendete echte und fiktive Zitate vermischte. in seinem Lehnstuhl vor Lachen sich schüttelt! Und während des Wogens und Brausens seiner Witze (mit welchen anderen Worten soll man es bezeichnen?) ist der Verstand des Mannes klar, wie Goldsand auf dem Grunde eines Flusses. Wie viel Humor und wie viel Wahrheit darin, und zuweilen welche Fluth geistreicher Beredsamkeit! Alles ist jetzt Ohr, alles stille, ausgenommen, wenn Beifall gespendet wird.

Und auch Leonard lauscht, aber nicht, wie er einige Abende früher gethan haben würde, mit dem Gefühle unschuldiger und unbefangener Freude. Nein, seit jener Zeit haben große Sorgen und große Leidenschaften seinen Geist bewegt, und derselbe brütet nun unruhig und fragend selbst über die Freude, wie über ein Problem.

Und die Gläser machen die Runde, und die Gesichter verändern sich, und es beginnt ein Plaudern und Schwätzen, und Burley's Kopf sinkt herab auf seine Brust, und er verstummt. Und jetzt ertönt ein wildes, zügelloses Bacchantenlied für sieben Stimmen; und der Tabaksqualm wird immer dicker und dicker, und das Gaslicht scheint immer trüber durch den Qualm; und John Burley's Augen sind verschwommen.

Blicken wir von Neuem auf die holländische Uhr.

Zwei Stunden sind verstrichen. John Burley hat sich wieder aus seinem Schweigen herausgerissen, seine Stimme ist dick und undeutlich, sein Lachen klingt wie ein zersprungener Topf, und Ihr Götter! welch unzusammenhängendes, zotenhaftes Zeug spricht er! Und die Zuhörer brüllen laut dazu und finden es geistreicher, als das, was er vorher gesagt.

Und Leonard, der sich bisher im Geiste mit dem Riesen verglichen und bei sich gedacht hat, »sein Flug geht so hoch, daß ich ihm nicht folgen kann,« findet, daß der Riese kleiner und kleiner wird, und spricht bei sich selbst: »Er ist zuletzt doch nur von gewöhnlicher menschlicher Größe!«

Noch ein letzter Blick auf die holländische Uhr. Es sind nun drei Stunden dahin geschwunden. Ist John Burley auch jetzt noch eine menschliche Größe? Der Mensch selbst scheint von dem Schauplatze gewichen zu sein; seine Seele ist ihm gestohlen, seine Gestalt verschwunden in dem Tabaksqualm und dem ekelerregenden Dampf aus der feurigen Bowle.

Und Leonard blickte um sich und sah nur die Schweine der Circe Auf seinen Irrfahrten stößt Odysseus mit seiner Mannschaft auf die Insel Aiaia, die von der verführerischen Zauberin Kirke beherrscht wird. Dabei verwandelt sie einen Voraustrupp in Schweine, was Odysseus später wieder rückgängig machen lässt. – einige lagen auf dem Boden, einige tappten an den Wänden umher, andere wieder umarmten sich auf den Tischen, und wieder andere kämpften, schrieen und weinten. Der göttliche Funke war von dem menschlichen Gesichte entflohen, und die thierische Natur kam immer mehr und mehr zum Vorschein bei Denjenigen, welche Menschen gewesen waren.

Und John Burley, noch unbesiegt, aber seiner Sinne nicht mehr mächtig, hält sich für einen Prediger und stößt in schleppendem Tone eine Trauerrede über die Kürze des menschlichen Lebens hervor, wie sie noch nie ein Sterblicher gehört, während er sie mit einem salbungsvollen Schluchzen begleitet und dann und wann eine so prachtvolle Sentenz durchblitzen läßt, daß Jeremias Taylor Jeremy Taylor (1613-1667), Geistlicher der englischen Hochkirche, erwarb Ruhm als Autor in Cromwells Protekoratszeit. Bisweilen wird er wegen seines kraftvollen poetischen Stil als »Shakespeare der Gottgeweihten« bezeichnet und häufig als einer der bedeutendsten Prosaschriftsteller englischer Sprache genannt. ihn darum beneidet haben würde; dann aber faselt er wieder ärger als zuvor und sinkt zu einer Rhetorik herab, die noch unter der eines Muggletonianers Lodowicke Muggleton (1609–1698) war ein englischer religiöser Denker, von dem sich der Muggletonianismus, eine protestantische Sekte, ableitet. steht; und die Kellner stellen sich dicht gedrängt horchend und lachend an der Thüre auf, bereit, Droschken und Wagen zu rufen, und plötzlich dreht Jemand das Gas zu, und alles ist finster; ein Geheul und Gelächter gleich dem der Verdammten erschallt durch das Pandämonium Versammlungsort aller bösen Geister..

Und der Dichterjüngling tritt aus der schwarzen Atmosphäre heraus und sieht die ruhigen Sterne, wie sie herniederblicken auf die schmutzigen Häusergiebel.


Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Nun, Leonard – zum ersten Mal hast du gezeigt, daß du in dir das Eisen birgst, aus welchem die wahre Männlichkeit geschmückt und geformt wird. Du hast die Kraft gehabt, zu widerstehen. Nüchtern und unbefleckt kommst du von der Orgie, wie jener Stern rein und klar über deinem Haupte aus den Wolken hervortritt.

Er hatte einen Hausschlüssel bei sich. Er schloß sich selbst auf und stieg leisen Schrittes die krachende, hölzerne Treppe hinauf. Der Morgen dämmerte bereits; er trat an sein Fenster und öffnete es. Der grüne Ulmenbaum sah in dem Hofe des Zimmermanns so frisch und schön aus, als ob er an einer einsamen Stelle, weit entfernt von dem Rauche Babylon's Die Identifizierung der Metropole, hier Londons, mit dem sündigen »Babel« ist ein Topos, ein literarischer »Gemeinplatz«, bis in die Gegenwart., wurzelte.

»Natur, Natur!« murmelte Leonard, »ich höre jetzt deine Stimme. Sie beruhigt, sie stärkt mich. Aber der Kampf ist ein furchtbarer. Auf der einen Seite Verzweiflung am Leben – auf der anderen Glaube an das Leben. Die Natur denkt weder an das eine, noch an das andere und lebt heiter dahin.«

Bald schlüpfte ein Vogel sachte aus der Krone des Baumes hervor und ließ sich auf den Boden hinab. Leonard hörte das Gezwitscher des Thierchens. Es weckte seine Kameraden; die kleinen Flügel begannen in der Luft zu glänzen, und die Wolken gegen Osten rötheten sich.

Leonard seufzte und verließ das Fenster. Auf dem Tische neben Helenen's Rosenstock, über den er sich sehnsuchtsvoll beugte, lag ein Brief. Er hatte denselben vorher nicht bemerkt. Er war von Helenen's Hand. Leonard hielt ihn an das Tageslicht und las ihn bei dem reinen frischen Schimmer des Morgens.

»O mein lieber Bruder Leonard, werden diese Zeilen dich wohl und – glücklicher, wage ich nicht zu sagen – aber weniger traurig finden, als da wir uns trennten? Ich schreibe knieend, so daß es mir ist, als schreibe und bete ich zu gleicher Zeit. Du mußt morgen Abend hieher kommen und mich besuchen, Leonard. Komm, komm! Wir werden zusammen in dem schönen Garten spazieren gehen; und es ist eine Laube darin, ganz mit Jasmin und Gaisblatt bedeckt, von welcher aus wir auf London hinabblicken können. Ich habe so viele, viele Male von dort aus hinab gesehen und versucht, ob ich nicht das Dach in unserer armen kleinen Straße herausfinden könnte, und habe mir eingebildet, ich könnte die liebe Ulme sehen.

Miß Starke ist sehr freundlich gegen mich; und ich glaube, daß, wenn ich dich gesehen habe, ich hier glücklich sein werde d. h. wenn du glücklich bist.

Dein dankbare Schwester
Helene             

Iwy Lodge.

P. S. – Jedermann kann dir den Weg nach unserem Hause zeigen; es liegt links in der Nähe der Spitze des Hügels an einem kleinen Heckenweg, der auf der einen Seite mit Kastanienbäumen und Lilien besitzt ist. Ich werde dich am Thore erwarten.«

Leonard's Züge wurden milder. Aus dem dunkeln Meere in seinem Herzen lächelte das sanfte Antlitz eines Kindes zu ihm empor, und die Wogen beruhigten sich, als ob ein Geist sie bezaubert hätte.


Dreiundzwanzigstes Kapitel.

» Und wer ist Mr. Burley, und was hat er geschrieben?« frug Leonard Mr. Prickett, als er nach dem Laden zurückkehrte.

Wir wollen diese Frage mit unsern eigenen Worten beantworten, denn wir wissen mehr von Mr. Burley, als Mr. Prickett.

John Burley war der einzige Sohn eines armen Geistlichen in einem Dorfe bei Ealing, welcher zusammengescharrt und gespart und gehungert hatte, um seinen Sohn nach einer guten Schule im Norden des Landes und von dort auf die Universität schicken zu können. Auf der letzteren machte sich der junge Burley im Laufe des ersten Jahres bei den nicht Graduirten durch dicke Schuhe und grobe Wäsche, bei den Vorgesetzten aber durch seinen Eifer und seine Kenntnisse bemerkbar. Die Universitätslehrer und Examinatoren hegten von ihm die größten Hoffnungen. Beim Beginn des zweiten Jahres kam seine bisher durch das Studium darniedergehaltene Lebhaftigkeit und sein frischer Lebensmuth zum Ausbruch.

Das Studiren war ihm nicht sauer geworden. Er löste seine Aufgaben mit der größten Leichtigkeit; seine Mußestunden widmete er Gelagen, die keineswegs sokratischer Natur Das Symposion, ein in Dialogform verfasstes Werk des griechischen Philosophen Platon, berichtet über ein solches »Gastmahl«, in dem (in diesem Fall über die Erotik) philosophiert wird. waren, und gerieth in eine Gesellschaft von starken Kneipbrüdern und Müßiggängern. Er zog sich allerlei böse Händel zu. Die Behörden waren in ihren Ermahnungen zuerst freundlich und nachsichtig; denn sie achteten seine Fähigkeiten und hofften noch immer, daß er eine Zierde für die Universität werden würde. Zuletzt kam er aber betrunken in ein feierliches Examen und lieferte eine Arbeit, die in aristophanischer Weise treffliche Witze über die ehrwürdigen Herrn in ihren Perücken enthielt. Die Beleidigung war um so größer und schien um so mehr eine absichtliche zu sein, als sie in griechische Sprache gekleidet war. John Burley wurde ausgestoßen.

Er kehrte zurück nach dem Hause seines Vaters als ein unglücklicher Mensch, denn bei allen seinen Thorheiten besaß er ein gutes Herz. Als er die bösen Beispiele nicht mehr vor Augen hatte, war sein Leben ein Jahr lang tadellos. Er wurde als Lehrer in derselben Schule angenommen, in welcher er selbst als Schüler Unterricht genossen. Diese Schule befand sich in einer großen Stadt.

John Burley wurde Mitglied eines Clubs, welchen die Geschäftsleute unter sich gebildet hatten, und besuchte denselben an drei Abenden in der Woche. Seine erstaunlichen gesellschaftlichen Gaben begannen an das Licht zu treten. Er wurde das Orakel des Clubs, und aus dieser nüchternsten und friedlichsten aller Gesellschaften, in welchen je ehrwürdige Familienväter ihre Pfeife geraucht und ihr Glas geschlürft hatten, wurde unter den Auspizien Mr. Burley's eine Herberge von Gelagen, die ebenso lustiger und zügelloser Natur waren, als diejenigen, in welchen das alte griechische Gaisbocklied aus trunkenen Kehlen ertönte. So konnte es nicht fortgehen. Eines Abends entstand ein großer Tumult in der Straße, und am nächsten Morgen wurde der Lehrer entlassen.

Zum Glück für das Gewissen John Burley's war sein Vater gestorben, bevor dies passirte – gestorben in dem Glauben an die Besserung seines Sohnes. Während er sein Lehramt bekleidete, hatte Mr. Burley Bekanntschaft mit dem Redakteur eines vielgelesenen Provinzialblattes gesucht und ihm einige vortreffliche, politische Artikel geliefert, denn Burley war, gleich Parr und Porson, ein guter Politiker. Der Redakteur gab ihm Empfehlungsbriefe an die Londoner Journalisten, und als John nach der Hauptstadt kam, wurde er bei einer sehr achtbaren Zeitung angestellt.

Auf der Universität hatte er, obgleich nur oberflächlich, Audley Egerton kennen gelernt; dieser Gentleman war damals im Begriffe, sich im Parlament einen Namen zu machen. Burley sympathisirte mit einigen Fragen, bei deren Discussion Audley sich ausgezeichnet hatte, und schrieb darüber einen sehr guten Artikel; ja, der Artikel war so gut, daß Egerton sich nach dem Verfasser erkundigte, und als er heraus fand, daß es Burley sei, beschloß er bei sich, für denselben zu sorgen, so bald er selbst in das Ministerium käme.

Aber Burley war ein Mann, für den man unmöglich sorgen konnte. Bald verlor er seine Stelle bei der genannten Zeitung. Erstens nämlich war er so unregelmäßig, daß man sich nie auf ihn verlassen konnte; und zweitens hatte er eine merkwürdige ehrliche und excentrische Denkweise, die sich auf die Länge mit den Gedanken einer Partei nicht vereinigen ließ. Ein Artikel von ihm, der, ohne daß man darauf Acht gegeben hatte, in die Zeitung aufgenommen worden war, hatte alle Eigentümer, Hauptredakteure und Leser des Blattes vollständig entsetzt. Derselbe war den Prinzipien, welche das Blatt vertrat, diametral entgegen gesetzt und verglich dessen Lieblingspolitiker mit Katilina Lucius Sergius Catilina (um 108-62 v.u.Z.), ein römischer Politiker, bekannt durch die von ihm angezettelte Catilinarische Verschwörung, einen misslungenen Umsturzversuch Catilinas im Jahr 63 v.u.Z., mit dem er die Macht in der römischen Republik an sich reißen wollte. Bekannt ist die Verschwörung besonders durch Ciceros Reden gegen Catilina sowie durch Sallusts De coniuratione Catilinae..

Jetzt zog sich Burley zurück und schrieb Bücher. Er schrieb deren zwei oder drei, die sehr geschickt abgefaßt waren, aber dem Geschmacke des Publikums durchaus nicht entsprachen, denn sie waren abstract und gelehrt, mit griechischen Worten gespickt und voll seltsamer Einfälle, welche der großen Menge wie Caviar vorkamen. Nichtsdestoweniger machte er sich durch dieselben etwas Geld und unter den Männern der Literatur einen großen Ruf.

Jetzt kam Audley Egerton zur Macht und schaffte ihm, obgleich mit einigen Schwierigkeiten – denn gegen den überall herumschweifenden Sohn der Musen gab es viele Vorurtheile – eine Stelle in einem Staatsbureau. Er bekleidete dieselbe ungefähr einen Monat und verzichtete dann freiwillig darauf.

»Wenn ich nur eine Brodrinde und Freiheit habe!« sprach John Burley und verschwand in einem Dachkämmerchen. Von da an bis auf die neueste Zeit hatte er – der Himmel weiß wie – sein Leben gefristet. Die Literatur ist ein Geschäft, wie jedes andere; John Burley wurde immer mehr und mehr unfähig, sein Geschäft zu betreiben.

»Er könne keine bestellte Arbeit machen,« sagte er. Er schrieb, wenn er gerade dazu gelaunt war, oder wenn er den letzten Heller in der Tasche hatte, oder wenn er sich wirklich schon im Schuldgefängniß in Fleet-Street befand – eine Wanderung, die er durchschnittlich zwei Mal im Jahre machen mußte. Gewöhnlich konnte er verkaufen, was er wirklich geschrieben hatte; aber Niemand ließ sich darauf ein, im Voraus einen Vertrag mit ihm zu schließen. Magazine und andere periodische Schriften waren sehr geneigt, seine Artikel aufzunehmen, aber unter der Bedingung, daß sie anonym erschienen; und an dem Styl konnte man sie nicht gerade erkennen, denn er hatte die Fähigkeit, denselben mit der Gewandtheit einer geübten Feder wechseln zu können.

Audley Egerton fuhr fort, sein bester Beschützer zu sein; denn es gab gewisse Fragen, über welche kein anderer mit solcher Kraft schreiben konnte, wie John Burley – Fragen, die mit der Metaphysik der Politik zusammenhingen, wie z. B. diejenigen, die auf die Reform der Gesetze und auf die ökonomischen Wissenschaften Bezug hatten; und Audley Egerton war auch der einzige Mensch, welchem John Burley sich die Mühe gab in ungewöhnlicher Weise zu dienen, und um dessenwillen er ein Trinkgelage versäumte und bestellte Arbeit machte; denn John Burley war von Natur dankbar und fühlte, daß Egerton wirklich versucht hatte, ihm zu nützen.

Es war in der That richtig, was er Leonard an dem Brent mitgetheilt, daß der Minister selbst, nachdem er seine Stelle in dem Londoner Staatsbureau aufgegeben, ihm eine andere in Jamaika oder in Indien angeboten hatte; wahrscheinlich aber fesselten ihn damals andere Reize an London, als die, welche ein einäugiger Barsch ausübt. Bei all' den bedeutenden Fehlern seines Characters und seines Benehmens mangelte es John Burley doch nicht an den schönen Eigenschaften einer großartig angelegten Natur. Es ist wahr, daß er der entschiedenste Feind seiner selbst war, aber man konnte schwerlich behaupten, daß er der Feind von sonst Jemanden gewesen. Selbst wenn er irgend einen glücklicheren Schriftsteller kritisirte, war er sogar in seinen Satyren gutmüthig; es steckte weder Galle, noch Neid in ihm; und sein Vermeiden jedes boshaften Persönlichwerdens hätte allen Kritikern zum Muster dienen können.

Eine Ausnahme machte nur die Politik; denn in politischen Fragen konnte er wild und rasend werden. Er hatte eine Leidenschaft für Unabhängigkeit, die, wenn sie auch höchlichst übertrieben wurde, etwas Großartiges an sich trug. Er war kein Speichellecker, kein Schmarozer, kein literarischer Bettler, der nach Gönnerschaft jagte und mit Subscriptionslisten herumging, und wenn er mit Audley Egerton zu thun hatte, bestand er darauf, selbst den Preis für seine Arbeiten zu bestimmen. Er nahm ein Honorar, weil die von Audley verlangten Artikel viel Nachlesen erheischten und pünktlich ausgeführt sein mußten (was gar nicht nach seinem Geschmacke war), und er sich deßhalb für vollständig berechtigt hielt, etwas mehr zu fordern, als der Redakteur des Journals, in welchem die Artikel erschienen, zu geben pflegte. Aber er bestimmte selbst diesen Extrapreis, wie er das auch bei einem Buchhändler gethan haben würde; und wenn er Schulden hatte und sich im Gefängniß befand, so schrieb er, obgleich er wußte, daß eine einzige Zeile an Egerton diesen veranlaßt haben würde, ihn auszulösen, doch niemals diese Zeile an denselben. Er wollte sich nur auf seine Feder verlassen – tauchte sie dann eiligst in das Tintenfaß und krizelte sich frei.

Der schwärzeste Fleck an ihm war sicherlich das unverbesserliche Laster des Trinkens und, was gewöhnlich jenes Laster zu begleiten pflegt, die Liebe zu niedriger Gesellschaft. Zigeunerkönig zu sein, und durch seinen wilden Humor und seine phantastische Beredsamkeit die rohen und groben Naturen, die sich um ihn versammelten, zu blenden und bisweilen zu exaltiren – das war eine Königswürde, welche ihn für alles Aufgeben solider Würde entschädigte; das war eine Narrenkappe, die er nicht gegen das Diadem eines Kaisers vertauscht haben würde.

Wollte man die Talente John Burley's richtig beurtheilen, so war es nothwendig, ihn bei solchen Gelegenheiten sprechen zu hören. Als Schriftsteller war er im Ganzen nur noch zu unregelmäßigen und zufälligen Anstrengungen fähig; als Sprecher aber war er in seiner eigentümlichen, wilden Manier originell und unübertrefflich. Und die Gabe der Rede ist eine der gefährlichsten Gaben, welche ein Mensch besitzen kann – der Beifall ist so unmittelbar und wird mit so wenig Mühe gewonnen.

Tiefer und tiefer und immer tiefer war John Burley nicht allein in der Meinung aller Derer, die ihn kannten, herabgesunken, sondern er war auch in der gewöhnlichen Handhabung des Talentes zurückgekommen. Und zwar freiwillig, aus eigener Wahl. Er würde für irgend ein obskures Volksblatt, welches außerhalb des Bereiches des Gesetzes stand, für Pence geschrieben haben, wenn er auch von Journalen von hohem Range Pfunde hätte erhalten können. Er liebte es sehr, Pennyballaden zu fabriziren und dann in der Straße stehen zu bleiben, um sie absingen zu hören. Einmal gab er sich wirklich dazu her, der Dichter eines sich ankündigenden Schneiders zu werden, und das machte ihm eine außerordentliche Freude.

Aber dies dauerte nicht lange. Denn John Burley war ein Pittite – nicht ein Tory, wie er zu sagen pflegte, sondern ein Pittite, und wenn man ihn von Pitt sprechen hörte, so würde man nie gewußt haben, was man aus dem großen Staatsmann machen sollte. Er behandelte ihn, wie es die deutschen Commentatoren Shakespeare's thun, und schrieb ihm eine Menge erdichtete Ansichten und Dinge zu, welche den großen praktischen Mann in eine Sybille verwandelt haben würden.

Gut also, er war ein Pittite, der Schneider ein fanatischer Anhänger von Thelwall und Cobbet John Thelwall (1764-1834), wie Cobbett (siehe Anm. 277) ein radikalpolitischer britischer Redner und Autor.. Mr. Burley verfaßte ein Gedicht, in welchem Britannia dem Schneider erschien, ihm die größten Complimente über seine Kunst sagte, die er durch Ausschmückung ihrer Söhne an den Tag legte, und ihm einen riesenhaften Mantel übergab, indem nur er allein im Stande sei, ihn den Schultern der jetzt lebenden Menschen anzupassen. Der Schluß des Gedichtes beschäftigte sich mit den vergeblichen Versuchen Mr. Snip's, diesen Mantel für die hervorragenden Politiker der Gegenwart zurecht zu machen, und mit dem schließlichen Wiedererscheinen Britannia's, welche den verzweifelten Schneider mit der Nachricht tröstet, daß er alles gethan habe, was ein Sterblicher thun könne, und ihre Absicht nur gewesen sei, Pygmäen davon zu überzeugen, daß ihren Verhältnissen keine menschliche Kunst den Mantel William Pitt's anzupassen vermöge. Sic itur ad astra. So ruft Apollo dem jungen Krieger Ascanius zu, nachdem dieser einen Gegner getötet hat (Virgil, Aeneis IX, 641); an dieser Stelle hat das »Zu-den-Sternen-Gehen« die Bedeutung: »So erlangt man Ruhm!« Sie kehrte mit dem Mantel zu den Sternen zurück. Mr. Snip war außerordentlich empört über diesen allegorischen Erguß und zerschnitt grimmig mit seiner Scheere das Band, welches ihn an den Dichter fesselte.

Der Leser hat nunmehr, hoffen wir, einen ziemlich richtigen Begriff von John Burley – einem Exemplar seiner Gattung, die in keiner Zeit sehr gewöhnlich und jetzt glücklicher Weise beinahe ganz verschwunden ist, seitdem die Schriftsteller aller Grade an der allgemeinen Verbesserung der Ordnung, der Oekonomie und der nüchternen Anständigkeit Theil nehmen, welche jetzt zu den nationalen Sitten gehört.

Obgleich sich Mr. Prickett in die historischen Details nicht so sehr vertiefte, wie wir es gethan, so gab er doch Leonard einen ziemlich getreuen Bericht von Mr. Burley, indem er ihn als einen Mann von großen Fähigkeiten und Kenntnissen darstellte, der aber sich selbst geradezu weggeworfen hatte.

Leonard sah indessen nicht, wie große Schuld Mr. Burley sich selbst wegen der Vergeudung seines Lebens zuzuschreiben habe; er hielt es nicht für möglich, daß ein Mann von Genie sich freiwillig auf die unterste Stufe der gesellschaftlichen Leiter niederlassen sollte. Er nahm vielmehr an, daß er durch die Notwendigkeit hinabgestoßen worden sei.

Und als Mr. Prickett mit den Worten schloß: »Nun, ich sollte meinen, daß Burley noch mehr, als Chatterton, Sie von der Sehnsucht, ein Schriftsteller zu werden, heilen könnte,« da antwortete der junge Mann düster: »Vielleicht,« und wandte sich an die Büchergestelle.

Mit Mr. Prickett's Erlaubniß wurde Leonard früher, als gewöhnlich, von seiner Arbeit erlöst, und kurz vor Sonnenuntergang schlug er den Weg nach Highgate ein. Glücklicher Weise zeigte man ihm die neue Straße durch Regent-Park und weiter durch eine sehr grüne und lächelnde Landschaft. Das Gehen, die frische Luft, der Gesang der Vögel und vor allem die Einsamkeit des Weges trugen dazu bei, ihn aus seinem finsteren Brüten aufzuwecken. Und als er den schmalen, mit Kastanienbäumen beschatteten Heckenweg erreichte und plötzlich das erwartungsvolle und vor Freude strahlende Gesicht Helenen's erblickte, wie sie dort an dem Gartenthürchen im Schatten kühler, säuselnder Zweige stand, da strömte das Blut heiter durch seine Adern, und sein Herz schlug laut und dankbar.


Vierundzwanzigstes Kapitel.

Mit welch' einer wahren, kindlichen Freude zog sie ihn nicht in den Garten hinein!

Und nun sitzen sie in der Laube, in einem förmlichen Gewölbe von süßen Düften und Blüthen; unter ihnen breitet sich die verworrene Menge von Dachgiebeln und Thürmen aus; London erscheint undeutlich und stille, wie in einem Traum.

Sie nahm seinen Hut sanft von seinem Haupte und sah ihm mit thränenvollen, durchdringenden Augen in das Gesicht.

Sie sagte nicht: »Du hast dich verändert.« Sie sagte: »Warum, warum habe ich dich verlassen?« und wandte sich ab.

»Kümmere dich nicht um mich, Helene. Ich bin ein Mann und für ein trauriges Schicksal geboren – sprich von dir selbst. Die Lady ist also freundlich gegen dich?«

»Erlaubt sie nicht, daß ich dich sehe? O, sie ist sehr freundlich – und schau einmal hier.«

Helene deutete auf Früchte und Kuchen, welche auf einem Tische standen. »Ein Festmahl, mein Bruder.«

Und sie begann ihre Gastlichkeit in einnehmender Weise und auf eine heiterere Art, als man es bei ihr gewohnt war, ihm aufzudringen. Sie sprach dabei sehr rasch, und ihr Lachen klang zwar gezwungen, hatte aber einen silbernen Ton.

Allmälig brachte sie ihn dazu, daß er sein trübes, zurückhaltendes Wesen ablegte, und obgleich er ihr nicht den Grund seines bittersten Schmerzes entdecken konnte, so gestand er ihr doch ein, daß er viel gelitten habe. Er würde keinem andern lebenden Wesen dieses Geständniß gemacht haben. Dann lenkte er plötzlich ab, versicherte sie, daß das Schlimmste vorüber sei, und suchte sie zu unterhalten, indem er ihr von seiner neuen Bekanntschaft mit dem Barschfischer erzählte. Als er aber von diesem Manne mit einer Art widerstrebender Bewunderung sprach, die mit einer mitleidigen, aber doch düsteren Theilnahme untermischt war, und eine groteske, obgleich milde Skizze von der Szene entwarf, bei der er zugegen gewesen, da wurde Helene aufgeregt und traurig.

»O Bruder, gehe nicht wieder hin – halte dich von diesem bösen Mann ferne.«

»Böse! – nein! Hoffnungslos und unglücklich ist er; er hat zu Reizmitteln und zum Vergessen seine Zuflucht genommen; – aber du kannst diese Dinge nicht verstehen, meine kleine Predigerin.«

»Doch, doch. Was ist der Unterschied zwischen gut und schlecht? Der Gute gibt den Versuchungen nicht nach, der Schlechte aber thut es.«

Die Erklärung war so einfach und so weise, daß Leonard mehr davon ergriffen wurde, als wenn er eine schöne ausgearbeitete Predigt von Pfarrer Dale angehört hätte.

»Ich habe oft, seit ich dich verloren habe, zu mir selbst gesagt: ›Helene war mein guter Engel.‹ – So fahre fort; denn mein Herz ist mir selbst dunkel, und während du sprichst, scheint Licht darin aufzudämmern.«

Dieses Lob setzte Helene dergestalt in Verwirrung, daß es lange dauerte, bis sie dem damit verbundenen Befehle Folge leisten konnte. Aber nach und nach kam wieder Fluß in die Unterhaltung der Beiden, und er erzählte ihr die düstere Geschichte von Chatterton und harrte erwartungsvoll auf ihre Meinungsäußerung.

»Nun,« sagte er, als er sah, daß sie schwieg, »wie kann ich hoffen, da jenes mächtige Genie arbeitete und verzweifelte? Was fehlte ihm außer Stand, Vermögen, Freunde und menschliche Gerechtigkeit?«

»Betete er zu Gott?« sprach Helene und trocknete ihre Thränen.

Wieder war Leonard überrascht. Als er Chatterton's Leben las, hatte er auf den angenommenen oder wirklichen Skepticismus des Unglücklichen, welcher nach irdischer Unsterblichkeit strebte, nicht sonderlich Acht gegeben. Nun Helene die Frage an ihn richtete, fiel ihm dieser Skepticismus sofort ein.

»Warum frägst du darnach, Helene?«

»Weil wir, wenn wir oft beten, so sehr, sehr geduldig werden,« antwortete das Kind. »Vielleicht würde er, wenn er nur noch einige Monate Geduld gehabt hätte, alles gewonnen haben, wie es auch bei dir der Fall sein wird, mein Bruder; denn du betest und wirst Geduld haben.«

Leonard senkte sein Haupt und verfiel in tiefe Gedanken, aber diesmal waren sie nicht düsterer Natur; denn aus jenem schauervollen Leben schimmerte eine andere Seite hervor, die er früher nicht gehörig beachtet, sondern eher als eines der dunkelsten Räthsel in dem Schicksale Chatterton's betrachtet hatte.

Gerade um die Zeit, als der verzweifelnde Dichter sich in seinem Dachstübchen eingeschlossen hatte, um seine Seele von ihren irdischen Prüfungen zu befreien, hatte sich sein Genie einen Weg zum Glanze des Ruhmes gebahnt. Gute, gelehrte und einflußreiche Männer machten Anstalt, ihm nützlich zu werden und ihn zu retten. Noch ein Jahr – ja vielleicht nur noch ein Monat und er wäre anerkannt und hoch erhaben unter den Ersten seiner Zeit dagestanden.

»O Helene!« rief Leonard, indem er seine Stirne erhob, von welcher die Wolken verschwunden waren, »warum – ja, warum hast du mich verlassen?«

Helene fuhr jetzt ihrerseits zusammen und wurde nachdenklich. Endlich frug sie ihn, ob er wegen der Kiste geschrieben, welche ihrem Vater gehört hatte und in dem Wirthshause zurückgelassen worden war.

Obgleich sich Leonard von dieser, wie er meinte, kindischen Unterbrechung eines Themas von ernsterem Interesse unangenehm berührt fühlte, so mußte er doch zu seiner Beschämung gestehen, daß er zu schreiben vergessen habe, und meinte nun, ob die Kiste nicht an Helene unter Miß Starke's Adresse geschickt werden solle?«

»Nein, lasse sie an dich adressiren. Hebe sie auf. Ich möchte, daß etwas von meinem Eigenthum bei dir sei; und vielleicht werde ich nicht lange hier bleiben«

»Nicht hier bleiben? Das mußt du, meine theure Helene – wenigstens so lange, als Miß Starke dich behalten will und freundlich gegen dich ist. Mit der Zeit,« fügte Leonard, in seinen früheren sanguinischen Ton verfallend, hinzu, »mache ich vielleicht doch noch mein Glück, und wir werden selbst unser kleines Landhaus haben. Aber – o Helene! – ich vergaß – du hast mich verletzt – du ließest dein Geld bei mir zurück. Ich fand es erst neulich in meiner Schublade. Pfui! – Ich habe es dir hier zurückgebracht.«

»Es gehörte nicht mir – es gehört dir. Wir wollten ja miteinander theilen – du hast alles bezahlt; und wie kann ich es auch hier nöthig haben?«

Leonard blieb aber fest, und als Helene traurig das kleine Vermögen in Empfang nahm, welches ihr Vater hinterlassen hatte, zeigte sich eine hohe weibliche Gestalt am Eingange der Lande und sagte in einem Tone, der alle gefühlvollen Gedanken in die Winde zerstreute: »Junger Mann, es ist Zeit, zu gehen.«


Fünfundzwanzigstes Kapitel.

» Schon!« sagte Helene mit unsicherer Stimme, als sie sich an Miß Starkes Seite schlich, während Leonard aufstand und sich verbeugte.

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Madame,« sagte er mit jener Anmuth, welche in der geistigen Bildung ihren Ursprung hat, »daß Sie mir erlaubten, Miß Helene zu besuchen. Ich werde Ihre Güte nicht mißbrauchen.«

Miß Starke schien durch sein Aussehen und sein Benehmen überrascht zu sein und machte ein steifes Compliment. Die ganze Erscheinung der Dame machte einen erstarrenden Eindruck. Sie sah aus, wie die grimmige weiße Frau in den Ammenstubenballaden. Indessen lag in dem Umstand, daß sie dem Fremden erlaubte, ihren hübschen Garten zu betreten, ihm und ihrem kleinen Schützling Obst und Kuchen vorsetzte, offenbar eine Gutmüthigkeit, welche ihr Aeußeres. Lügen strafte.

»Darf ich mit ihm bis zur Gartenthüre gehen?« flüsterte Helene, als Leonard schon den Weg dahin einschlug.

»Das darfst du, Kind; aber halte dich nicht auf. Und wenn du zurückkommst, so schließe die Kuchen und Kirschen ein, sonst wird Patty sich darüber machen.«

Helene lief Leonard nach.

»Schreibe mir, mein Bruder – schreibe mir; und werde ja nicht der Freund jenes Mannes, welcher dich an den bösen, bösen Ort führte.«

»O Helene, ich verlasse dich stark genug, um schlimmeren Gefahren zu trotzen, als jene ist,« sagte Leonard in beinahe heiterem Tone

Sie küßten sich an der kleinen Gartenpforte und trennten sich.

Leonard wanderte im Mondschein nach Hause und blickte, als er in seine Kammer trat, zuerst nach dem Rosenstock. Die Blätter der Blüthen von gestern lagen ringsum zerstreut, aber der Stock hatte neue Knospen getrieben.

»Die Natur ersetzt immer alles wieder,« sagte der junge Mann. Er schwieg einen Augenblick und setzte dann hinzu: »Kömmt es daher, weil die Natur sehr geduldig ist?«

Sein Schlaf wurde diese Nacht nicht durch die schrecklichen Träume unterbrochen, die er in der letzten Zeit immer gehabt. Erfrischt stand er auf und ging an sein Tagewerk, schlich aber nicht durch die weniger bevölkerten Straßen, sondern wanderte mit festem Schritte durch das Menschengewühl. Sei muthig, junger Abenteurer – du hast noch mehr zu leiden! Wirst du unterliegen? Ich blicke in dein Herz und finde keine Antwort.

 

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Druck von C. Hoffmann in Stuttgart

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