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Den Entwicklungsgang der Völker Südamerikas zu Nationen begleiten Ströme von Blut. Es war noch kaum gelungen, das spanische Joch abzuschütteln, als die siegreichen Heerführer bereits begannen, sich untereinander zu befehden und mit einem Fanatismus gegenseitig zu verfolgen, der von der Inquisition nicht übertroffen werden kann. Erst an der Leiche machten sie Halt. Aber sie begnügten sich nicht damit, ihre Gegner wie gemeine Verbrecher hinrichten zu lassen oder nicht selten dem Dolche des verschwenderisch bezahlten Meuchelmörders zu überliefern, sondern mit Stumpf und Stiel suchten sie auch ihren Anhang auszurotten, und wo das nicht anging, pferchten sie Hunderte in einen Schiffsrumpf und »
fort nach Juan Fernandez!« war die Losung.
Derselbe erste Diktator Chiles, welcher die spanische Deportationsinsel als Schandfleck des Stillen Ozeans entvölkert hatte, stellte sie als chilenische wieder her, ja, er ließ jene wassertriefenden Höhlen für seine politischen Gegner mit neuen Eisen ausrüsten.
Auf autokratische Präsidenten folgte der Despotismus der Parteien. Alle möglichen Richtungen lösten einander ab, aber alle stimmten darin überein, sich ihrer Widersacher nach der Robinsoninsel zu entledigen.
Bewacht durch Soldaten, die aus einer Meuterei in die andere fielen, von Hunger und grenzenloser Langweile geplagt, verhetzt und verwirrt von Rachegelüsten, verwandelten sich auch die besten der Verstoßenen in wüste Männer, die einander erschlugen, erschossen und erstachen, wie es die Gelegenheit mit sich brachte. Fehlte noch etwas, ihre Zügellosigkeit ins Maßlose zu steigern, so sorgte der Alkohol dafür, denn an Wein war Überfluß. – So düngten die Insel Blut und Leichen, so wurde das paradiesische Eiland die Stätte entsetzlichster Orgien, aus deren Finale die Schreie abgeschlachteter Landsleute zum Himmel gellten.
Erst gegen Ausgang der Dreißiger des verflossenen Jahrhunderts, mit der Ermordung des Tyrannen Diego Portales, welcher, wie der Sultan von Marokko, seine Feinde in eiserne Käfige setzte, wurden die letzten Deportierten erlöst. Juan Fernandez sank in menschenleere Einsamkeit zurück. Die Natur konnte wieder Atem holen, die verwüsteten Wälder aus unzugänglichen Höhen vordringen und die dezimierten Ziegenherden ungestört sich mehren. Freilich war die Insel ihres köstlichsten Juwels durch die Unersättlichkeit etlicher Kommandanten fast beraubt worden: des Sandelbaumes, der von den Habgierigen in Hunderten von Zentnern europäischen Schiffern für einen Spottpreis verkauft wurde. –
Da, um 1840 herum, wurde eines Tages aus einem englischen Walfischfänger ein Matrose in die Wildnis der öden Insel hinausgestoßen. Ein verderbtes Subjekt, dessen sich seine Genossen ohne viel Aufhebens entledigen wollten. Archibal Osborn hieß es und stammte, wie Alexander Selkirk, aus Schottland. Indessen war er von Anfang an viel besser ausgerüstet als sein geduldig ergebener, mystisch-träumerischer Landsmann, denn man gab ihm Waffen und reichlich Munition, Zeug, Tabak und Pfeifen, einen eisernen Kochtopf und selbst einige Rasiermesser mit. Dieser neue Robinson blieb nicht lange allein, sondern erfreute sich bald der Gesellschaft eines freundlichen Knaben, von dem man nur noch weiß, daß er englischer Herkunft war und Juanito, Hänschen, gerufen wurde. Ob er verschlagen, oder ob ihn der listige und, wenn es darauf ankam, beredte Osborn irgendeiner Bark abspenstig gemacht hatte, steht dahin. Man möchte das letztere vermuten. Aber das seltsame Paar wurde schon nach kurzer Frist unliebsam aufgescheucht durch ein chilenisches Schiff, welches mit zwölf Personen nebst allerhand Vieh zielbewußt in die Cumberlandbai steuerte. Es war eine Familie Maurelio nebst zwei Knechten aus Talcahuano in Südchile, welche sogar mit Rechtsansprüchen an die Insel kam und die von Osborn vertretene Herrenlosigkeit derselben durchaus nicht gelten lassen wollte. Denn ihr Haupt, der betagte Franziskus Javier Maurelio war in Juan Fernandez geboren worden, wie er dokumentarisch beweisen konnte, und damit betrachtete er sich von Gott und Rechts wegen als Erbe seiner liegenden und beweglichen Schätze.
In der Familie Maurelio überwog – wie so häufig in den südamerikanischen – stark das weibliche Element. Vier Töchter und ein bereits erwachsener und verheirateter Sohn bildeten die Nachkommenschaft des alten Franz. Die beiden ältesten Mädchen standen in der Blüte ihrer Jugend. Die anfängliche Verstimmung zwischen dem Schotten und den Chilenen verwandelte sich allgemach in ein gutes Verhältnis. Beide Parteien halfen und unterstützten einander. Aber der ebenfalls noch jugendliche Archibald verkehrte nicht ungestraft in dem töchterreichen Hause. Sein Herz schlug heftiger, wenn sich die etwa neunzehnjährige Michaela ihm näherte, oder die noch schüchterne, aber voll entwickelte fünfzehnjährige Galia. Weshalb keine von beiden seine Neigung erwiderte, bleibt ein Rätsel, denn er soll ein stattlicher, blonder Mensch gewesen sein. Ob ihm das Kainszeichen auf der weißen Stirne stand? Man kennt die Gründe nicht, welche die chilenischen Jungfrauen verhärteten.
Wie es aber oft zu gehen pflegt, die unerwiderte Leidenschaft verwandelte sich in wilde Begierde. Osborn sann auf Gewalt. Er wollte die männlichen Beschützer vernichten. Dazu bedurfte er indes der Hilfe. Mit teuflischer Stetigkeit verfolgte er seinen Plan. Die häufig wiederkehrenden Walfischfänger führten allerhand Leute auf die Insel, die sich mit Wasser, Holz und frischem Fleisch oder etlichen Gemüsen versehen und ihre mühselige Fahrt durch eine Lustbarkeit unterbrechen wollten. – Wahrhaftig, des Chronisten Bild ist das bezeichnendste: wie die biblische Schlange näherte er sich hier und dort einem handfesten Burschen und schilderte ihm mit diabolischer Süße die Wonnen der Insel, oder suchte ihn gar in die Reize der weiblichen Maurelios zu verstricken, und ließ nicht nach in seinen Lockungen, bis er einen Deserteur an seiner Seite hatte. Vier Spießgesellen gewann er nach und nach, denn er zögerte nicht, die neuen Kameraden in seinen blutigen Plan einzuweihen.
Der Chilene ist von Haus aus mißtrauisch. Auch die Maurelios beargwöhnten schon seit geraumer Zeit den Schotten und seine Bande, und wurden nur mäßig überrascht, als einer des ränkevollen Konsortiums zum Verräter wurde. Nun aber handelten sie ohne Verzug. Eines Morgens, während Osborn mit seinen Genossen im fernen Walde Holz schlug, drangen sie in deren gemeinschaftliche Höhle, wo nur der unmündige Hans Feuer und Waffen bewachte, bemächtigten sich der Gewehre und setzten den fremden Abenteurern nach, die sich bis auf Osborn ergaben. Dieser suchte zu fliehen. Aber ein Streifschuß lieferte ihn ebenfalls in die Hände seiner rachedurstigen Feinde.
Aus eigener Machtvollkommenheit verurteilten die Maurelios den gefangenen Schotten als »Aufrührer und Ketzer« zum Tode. Richter und Henker in einer Person, erschoß ihn das Familienhaupt, der alte Franz Javier.
Archibald starb gefaßt. Als einzige Gnade erbat er einige Sekunden für ein kurzes Gebet.
Die anderen Fremdlinge blieben unbehelligt, verließen jedoch bei der nächsten Gelegenheit die Insel. Aber die Maurelios kamen nicht dazu, sich der Alleinherrschaft lange zu freuen. Die chilenische Regierung verbannte sie zur Sühne ihrer Lynchjustiz nach dem unwirtlichen Punta Arenas.