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Ein Prätendent aus dem 19. Jahrhundert. (Naundorff.)

Es giebt zwei Klassen von Prätendenten. Bei den einen ist über die Persönlichkeit kein Streit oder Zweifel. Sie sind die Menschen, für die sie sich ausgeben. Aber ihr Recht ist streitig, oder wenn es auch an sich nicht streitig ist, so sind sie doch aus dem Besitz gesetzt, der im öffentlichen Recht noch viel wichtiger ist als im Privatrecht. An solchen Prätendenten, ja an Souveränen de jure, die es nicht auch de facto waren, hat es in unserm Jahrhundert nur zu wenig gemangelt. Dagegen sind die andern Fälle, wo jemand sich für eine für tot gehaltene oder sonst auf eine mit manchem Rätselhaften umringte Weise verschwundene Person ausgiebt, unter dem Einfluß unserer Öffentlichkeit und unserer Rechtsformen, aus naheliegenden Gründen, in den gebildeten Staaten äußerst selten geworden. Dennoch hat es sich noch in unserer Zeit zugetragen, daß eine Reihe von Menschen aus dunkeln Verhältnissen hervortraten und sich für den für tot gehaltenen Thronerben eines der größten und berühmtesten europäischen Reiche ausgaben. Und auch das ist ein bezeichnender Zug, daß, während es keinem von diesen gelungen ist, auf seinen Anspruch wenigstens einen zeitweisen Besitz zu gründen, wie der Rätselhafteste von allen, der Pseudo-Waldemar, oder wie der Pseudo-Demetrius, so doch auch gegen keinen so ernst und hart verfahren, gegen keinen solche äußerste Mittel für nötig gehalten worden sind, wie sie vor Zeiten z. B. gegen die Pseudo-Sebastiane, die Pseudo-Warwicks, die Pseudo-Peters in Anwendung gebracht worden. Man hat sie teilweise fast unangefochten gelassen, teilweise im zuchtpolizeilichen Verfahren abgethan, und sichtbar danach gestrebt, in einer möglichst geringschätzigen und herabsetzenden Behandlung das beste Schutzmittel gegen ihre Ansprüche zu finden; was denn auch ganz klug gewesen sein mag.

Das überhaupt die Erscheinung noch in unserer Zeit und in solchem Falle möglich war, wird allerdings durch den Ausnahmecharakter der Zeit und der Umstände erklärt, in welche der Tod der Person, um die es sich handelt, versetzt ward. Nur im Laufe der furchtbarsten Revolution und unter den besondern Wendungen und Richtungen, welche die erste französische Revolution annahm, konnte ein Zweifel darüber erhoben werden, ob der einzige Sohn eines Königs von Frankreich, mitten in Paris, der Hauptstadt des Reichs seiner Väter, zu einer bestimmten Zeit gestorben sei oder nicht. Und auch so sind die meisten, und darunter die achtungswertesten Geschichtschreiber, geneigt, diesen Zweifel von Haus aus für völlig lächerlich und allen und jeden Anhalts ermangelnd zu halten. Das ist er denn doch nicht so ganz. Obwohl wir keineswegs geneigt sind, diesen Zweifel selbst mit Bestimmtheit zu hegen, so müssen wir doch gestehen, daß uns die Unmöglichkeit, an dem Tode Ludwigs XVII., Ludwig Karl (oder Karl Ludwig?) wurde dem König Ludwig XVI. von Frankreich von dessen Gemahlin, Marie Antoinette von Östreich, am 27. März 1785 zu Versailles geboren und führte anfangs den Titel eines Herzogs von der Normandie. Da sein älterer Bruder am 4. Juni 1789 starb, so wurde er Dauphin. Er wird als ein Knabe von blühender Gesundheit und munterm, lebhaftem Wesen geschildert, welcher schöne Hoffnungen geweckt, auch während seiner Gefangenschaft, solange er nicht von seiner Familie getrennt wurde, durch die Umstände gereifte Urteilskraft und Selbstbeherrschung bewährt habe. Er folgte seiner Familie in die Tuilerien, nach Varennes und in den Tempel. 3. Juli 1793 wurde er von seiner Mutter getrennt und den rohen Händen des jakobinischen Schusters Simon übergeben. Von dessen Mißhandlungen wurde er zwar Jan. 1794 durch seine Enthebung von dem Amt eines Kerkermeisters befreit, aber es war, nach der gewöhnlichen Annahme, zu spät, und er starb, physisch und geistig verkümmert, am 8. Juni 1795. Sein Leichnam soll auf dem Margaretenkirchhofe in die gemeinschaftliche Grube gelegt und mit Kalk bedeckt worden sein. Jedenfalls hat man seine Reste 1815 nicht wieder auffinden können. Vgl. Eckard, Mémoires historiques sur Louis XVII (Paris 1817. 3. Aufl. 1818); Cléry, Journal de ce qui s'est passé à la tour da Temple pendant la captivité de Louis XVI. (London 1798 und öfter.) und daß derselbe am 8. Juni 1795 im Tempel zu Paris erfolgt sei, zu zweifeln, nicht ganz sicher bewiesen scheint.

Bekanntlich war dieser Prinz, oder wie wir sagen möchten, dieser König, namentlich seit dem 3. Juli des Jahres 1793, wo er auch von seiner Mutter getrennt wurde, gänzlicher Vernachlässigung preisgegeben. Niemand kümmerte sich um ihn, außer die um ihn bekümmerten Freunde, denen der Zugang zu ihm verwehrt war. Niemand hatte Zutritt zu ihm, außer Personen der rohesten, unwissendsten Klasse, die ihn plagten und mißhandelten. So stand es jahrelang, mag nun die Ursache der Vernachlässigung in Sorglosigkeit und darin gelegen haben, daß man über den Stürmen der Revolution den Knaben vergaß, oder mag eine republikanische Ostentation etwas darin gesucht haben, den jüngsten Sprossen einer Dynastie, die ein Jahrtausend alt war, und deren Namen und Banner das edelste französische Blut begeistert hatten, wie einen Waisenknaben aus der Hefe des Volks zu behandeln, oder mag man endlich denen beistimmen müssen, die den herrschenden Jakobinern, oder auch verborgenen Anstiftern, denen diese für ganz andere Zwecke zu unbewußten Werkzeugen dienten, den teuflischen Plan zur Last legen, den Prinzen, den man direkt zu ermorden sich schämte, physisch und geistig zu Grunde zu richten. Seit dem Sturze der Schreckensherrschaft wurde er nicht mehr gemißhandelt, vielmehr nach einem Besuche von seiten einiger Mitglieder des Konvents, worunter Barras, Graf Paul von Barras, geb. 1755, stimmte als Mitglied des Konvents für den Tod des Königs, spielte dann bei dem Sturz Robespierres am 9. Thermidor (27. Juli 1794) eine Hauptrolle und wurde bald eine der einflußreichsten Persönlichkeiten, namentlich seitdem er am 28. Okt. 1795 zu einem der 5 Direktoren gewählt war, die seitdem die Regierung Frankreichs leiteten. Seine Memoiren, die vielleicht einiges Licht verbreiten könnten, harren noch der Veröffentlichung, doch hat Chantelauze sie bereits in seinem in dem Vorwort citierten Werk benutzt. G. einiges in seiner Lage gebessert. Täglich kam ein Civilkommissar in den Tempel, was aber unter 248 Personen abwechselte. Einsam, ohne Mittel der Unterhaltung oder Belehrung gelassen, fast mit keinem menschlichen Wesen in Verkehr tretend, so gut wie aller Pflege beraubt, soll der Prinz nun hier in gänzliche körperliche und geistige Verkümmerung verfallen sein. Seine Schwäche habe schon den höchsten Grad erreicht gehabt, als man im Februar 1795 den Pariser Gemeinderat von der Krankheit des Prinzen in Kenntnis setzte. Dieser habe den berühmten Arzt Desault zu ihm geschickt, Dies ist aber, nach dem am 9. Juni von Sévestre im Namen des Sicherheitsausschusses dem Konvent erstatteten Bericht, erst nach dem 20. April geschehen. Es heißt in diesem Bericht: »Depuis quelque temps le fils de Capet était devenu incommodé par une enflure au genou droit et au poignet gauche; le 15 Floréal (20 Avril) les douleurs augmentèrent, le malade perdit l'appétit et le fièvre survint. Le fameux Desault, officier de santé, fut envoyé pour le voir et pour le traiter etc.« der letztere aber erklärt, daß jede Hilfe zu spät komme.

Hier tritt nun aber gleich ein Umstand ein, der von denjenigen, welche an der Krankheit und dem Tode des Prinzen zweifelten, ausgebeutet worden ist. Desault starb am 1. (nach andern am 2., nach noch andern am 4.) Juni desselben Jahres, vor dem angeblichen Todestage des Prinzen, und am 9. Juni folgte ihm sein vertrauter Freund, der Apotheker Choppard. Beide starben plötzlich und unter Umständen, die den Verdacht der Vergiftung erweckten. Daß dieser Verdacht bestanden, wird von vielen Schriftstellern, ohne allen Zusammenhang mit der Prätendentenfrage behauptet. Es soll auch eine Exploration der Leichen stattgefunden haben, die ihn nicht bestätigt habe. Dies würde, sobald man annimmt, daß die Vergiftung auf Anordnung der Machthaber verfügt wurde, wenig beweisen; wohl aber bewiese es das Verdachterregende jener Todesfälle. Viele legitimistische Schriftsteller haben den Verdacht in dem Sinne ausgebeutet, daß sie behaupteten: Desault sei vergiftet worden, weil er sich geweigert, den Prinzen zu vergiften, oder umgekehrt, man habe ihn beseitigt, nachdem er den Prinzen vergiftet habe, oder wieder, er habe seinen Unwillen über die schlechte Behandlung des Prinzen zu laut ausgesprochen. Eine ganz andere Version aber läßt ihn gegen seinen Freund Choppard die Äußerung gethan haben: das Kind, das ihm als der Dauphin gezeigt worden, sei dieser nicht, sei ein untergeschobenes. Deshalb hätten beide sterben müssen. Ein Herr Estier, welcher früher in New York gelebt, soll am 22. Mai 1843 Gruau de la Barre, Intrigues dévoilées, ou Louis XVII. dernier roi légitime de France (Rotterdam 1846–48, 4 Vol.), I, 527–528. in London eine Erklärung ausgestellt haben, wonach ihm ein dortiger Dr. Abeillé erzählt habe: er sei Eleve des Dr. Desault gewesen und wisse, daß derselbe in dem ihm im Tempel vorgezeigten Kinde den Dauphin In der Erklärung wird er als Herzog von der Normandie bezeichnet, wie er genannt wurde, bevor er durch den Tod seines Bruders Dauphin ward. Es liegt etwas in diesem kleinen Umstande, was uns die Echtheit der Erklärung glaubhafter macht. Wäre sie eine rein erdichtete, so würde der Fehler vermieden worden sein. nicht erkannt, seinen desfallsigen Verdacht einem Freund mitgeteilt habe, und tags darauf vergiftet worden sei. Er, Abeillé, habe es infolge davon für geraten gefunden, nach Amerika überzusiedeln.

Es wurden nun die Herren Pelletan und Dumangin zu Ärzten des Gefangenen ernannt (5. Juni); aber am 8. starb er. Diese beiden Herren hatten den Dauphin niemals vorher gesehen. Am 9. Juni berichtete Sévestre, im Namen des Sicherheitsausschusses, Von den zahlreichen Ausschüssen, die durch Konventsbeschluß vom 2. Okt. 1792 eingesetzt wurden, waren die wichtigsten der sog. Wohlfahrtsausschuß (comité de salut public), und der Sicherheitsausschuß (comité de sûreté générale), die allmählich die ganze Regierungsgewalt an sich rissen und oft gemeinsame Sitzungen abhielten. G. dem Konvent über die Krankheit und den Tod des »Sohnes des Capet«. Außer dem schon oben in einer Anmerkung Beigebrachten spricht er noch von der Ernennung der beiden genannten Ärzte und fügt dann hinzu: »Ihre gestrigen Bulletins, von 11 Uhr des Morgens, kündigten Symptome an, die für das Leben des Kranken besorgt machten, und um ein Viertel auf 3 Uhr nach Mittag erhielten wir die Nachricht von dem Tode des Sohnes des Capet. Der Sicherheitsausschuß hat uns beauftragt, Sie davon zu benachrichtigen. Alles ist konstatiert. Die Protokolle werden im Archiv niedergelegt werden.« Ein kleiner Widerspruch zeigt sich hier, indem nach dem Protokoll der Leichenschau der Tod gegen 3 Uhr des Nachmittags erfolgt sein soll, während der Sicherheitsausschuß die Nachricht davon schon ein Viertel auf 3 Uhr in seinem vom Tempel ziemlich entfernten Lokal in den Tuilerien empfangen haben will.

Die Besichtigung der Leiche wurde von den Herren Dumangin, Pelletan, Jeanroy und Lassus vorgenommen, vier angesehenen Ärzten und resp. Chirurgen, an Hospitälern oder als Professoren wirkend, aber sämtlich mit der Person des Prinzen unbekannt. Sie sagen in ihrem Protokoll ausdrücklich und in allerdings auffälliger Weise: »sie hätten auf einem Bett die Leiche eines Kindes gefunden, was ihnen als ungefähr zehnjährig erschienen wäre, von welcher Leiche ihnen die Kommissare gesagt hätten, daß sie die des Sohnes des verstorbenen Ludwig Capet gewesen sei, und worin zwei von ihnen das Kind erkannt hätten, was sie seit einigen Tagen behandelt«. Das wäre denn so gut wie gar kein Beweis, daß die Leiche wirklich die Ludwigs XVII. gewesen. Im übrigen verbreitet sich das Aktenstück über den Befund der Leiche, wobei wir hervorheben, daß sie das Gehirn und dessen Zubehör in vollständiger Gesundheit fanden, Es würde das einigermaßen gegen die gewöhnliche Behauptung sprechen, daß der Prinz durch Simons Mißhandlungen und durch die Ausschweifungen, zu denen Simon und dessen Frau das unreife Kind verführt hätten, in solche Schwäche versunken sei, daß er Geisteskraft und Sprache verloren habe. und sagt am Schlusse, die im einzelnen angeführten Gebrechen seien offenbar die Wirkung eines seit langer Zeit bestehenden skrophulösen Übels, dem man den Tod des Kindes zuschreiben müsse. Das letztere erscheint auch etwas befremdend, indem teils die Berichte über die frühern glücklichen Jahre des Prinzen ihn als ein vollkommen gesundes, rüstiges, blühendes Kind schildern, er sich auch völlig wohl befand, solange er bei seinen Eltern war, und auch Berichte aus spätern Zeiten noch nichts von dem Übel erwähnen, welches hiernach schon lange bestanden haben müßte. Nach dem Tode Robespierres (28. Juli 1794) besuchten Mitglieder der Nationalversammlung den Tempel, wobei zwar erwähnt wird, daß sie mit der Verwahrlosung des Dauphins Mitleid hatten und eine bessere Behandlung empfahlen, eines krankhaften Zustandes desselben aber mit keinem Worte gedacht wird. Gruau de la Barre, a. a. O., S. 521–24. (Dieser Besuch fand 31. Juli 1794 statt. Nach A. de Beauchesne: Louis XVII. Bd. 2, S. 207 (Paris 1852) fanden die Deputierten das Kind allerdings schon in einem bejammernswerten Zustande: »Ses lèvres décolorées et ses jones creuses avaient dans leur pâleur quelque chose de blafard. Sa tête et son cou étaient rongés par des plaies purulentes.« Auf ihre Veranlassung wurde von da an dem Dauphin eine etwas menschlichere Behandlung zu teil. G. Am 19. Dezember 1794 besuchten die Mitglieder des Sicherheitsausschusses, sowie die Deputierten Harmand de la Meuse, Mathieu und Reverchon den Tempel, in der speciellen Absicht, die Lage des Prinzen zu erkunden. Die Veranlassung dazu sollte, wie sie ihm selbst sagten, der Umstand gegeben haben, daß die Regierung »zu spät« von dem übeln Zustande seiner Gesundheit sowie davon unterrichtet worden sei, daß er sich weigere, sich Bewegung zu machen und auf die an ihn gerichteten Fragen zu antworten. Sie fanden ihn (oder das Kind, was ihnen als der Dauphin vorgestellt wurde) gut gekleidet und in einem hellen und reinlichen Zimmer, mit Karten spielend. Ihr Eintreten machte nicht den mindesten Eindruck auf ihn. Auf die freundlichsten Fragen, die an ihn gerichtet wurden, auf das Aufzählen aller für ein Kind ansprechenden Gegenstände, gab er mit keinem Worte oder Zeichen die mindeste Antwort, während er die Redenden mit dem gespanntesten Blick der Aufmerksamkeit ansah. Erst als man dicht an ihn herantrat und in stärkerm, mehr befehlendem Tone das Vorzeigen der Hände und Füße und das Gehen verlangte, gehorchte er. Man fand an den Ellbogen, Handgelenken und Knieen Anschwellungen, die jedoch nicht schmerzhaft schienen. Sein ganzes Aussehen sei rhachitisch gewesen; Schenkel und Beine lang und dünn, Arme ebenso, der Rumpf sehr kurz, die Brust erhaben, die Schultern dünn und zusammengezogen, der Kopf sehr schön, der Teint hell, aber farblos, die Haare lang und schön, wohlgehalten, hellkastanienbraun. Eine Antwort, auch nur ein Zeichen des Verstehens war weiterhin nicht von ihm zu erlangen. Man dachte aber damals nicht im mindesten daran, dieses Schweigen einer physischen oder geistigen Schwäche zur Last zu legen, es überhaupt für ein Unvermögen zu halten, sondern schrieb es einem entschiedenen Willen des Prinzen zu, den er von dem Augenblick an gefaßt habe, wo ihn Hébert und Simon gezwungen hätten, eine schimpfliche Aussage gegen die Königin zu unterzeichnen (5. Oktober 1793). Die oben gegebene Schilderung seines Äußern soll nicht im mindesten auf den Prinzen passen. Das leitende Mitglied jener Kommission, das sich sehr teilnehmend erwiesen, wurde wenige Tage nachher nach Brest geschickt, und kehrte erst nach dem Tode des Gefangenen zurück. Gruau de la Barre, a. a. O., S. 505-509. Weit vorgeschritten kann übrigens damals die Krankheit des Prinzen nicht gewesen sein, da man ihm erst vier Monate später einen Arzt schickte. Letzteres ist wohl infolge eines Besuchs geschehen, den ein Beamter am 16. März 1795 bei ihm machte. Hier zeigte er sich wieder anders, sah niemand an, starrte vor sich hin, antwortete aber wenigstens mit Ja. Er aß und trank mit Appetit, spielte mit einem kleinen Hunde des Besuchenden, hielt sich viel am Fenster auf, zeigte sich übrigens höchst phlegmatisch, niedergeschlagen und entmutigt. A. a. O., S. 501–502.

Der eigentliche Totenschein beweist gar nichts. Er beruht auf dem Zeugnisse des Tempelwächters Stephan Lasne, Stephan Lasne, geb. 1757 in Dampierre-sur-Doubs, hatte lange in der französischen Garde gedient. Er wurde 1791 Hauptmann der Nationalgarde und trat 31. März 1795 als Gehilfe Gomins, der seit dem 8. November 1794 die Aufsicht über den Prinzen hatte, in den Temple ein. Er starb 1841 in Paris. G. der sich als »Nachbar«, und eines Employé Remi Bigot, der sich als »Freund« des Verstorbenen meldet. Die Akte ist vom 12. Juni, vier Tage nach dem angeblichen Tode des Prinzen, drei Tage nach der Sektion des Leichnams. Welche Bürgschaft giebt es, daß dieser Bigot, von dem man gar nichts weiß, den Prinzen auch nur jemals gesehen? In betreff Lasnes aber, welcher 1834 noch lebte, gegen einen Prätendenten (Richemont) als Zeuge auftrat und bezeugte, daß der Prinz in seinen Armen gestorben sei, wird von der Gegenseite behauptet, er sei erst vierzig Tage vor dem Todesfall in den Tempel gekommen und habe den Prinzen vorher bloß einmal im Garten spielen sehen. Auch soll er behauptet haben, daß das Kind, wie er in den Tempel gekommen, sich ganz wohl befunden habe, während es notorisch seit Monaten völlig siechte und schon im April ein Arzt zu ihm gesendet wurde, die Krankheit aber seitdem sich immer verschlimmerte. So mangelhaft steht es mit den Zeugnissen über einen Todesfall, dessen Konstatierung schon wegen der schwebenden Unterhandlungen mit der Bendée und dem Auslande so wichtig war!

Es ist ferner gewiß, daß gleich bei dem (behaupteten) Tode des Prinzen Gerüchte verbreitet waren, er sei nicht gestorben, sondern entflohen, und wenn man auch annehmen mag, daß diese Gerüchte zunächst in dem Enthusiasmus ergebener Anhänger der Dynastie ihren Grund hatten, so scheinen sie doch durch einzelne Maßregeln der Regierung bestärkt worden zu sein. Ein Herr Morin de la Guérivière reiste, als er ungefähr zehn Jahre alt war, unter dem Schutze eines Herrn Jenais-Ojardias. In Thiers vertraute Ojardias, weil er noch eine Reise vorhatte, auf die er den Knaben nicht mitnehmen wollte, diesen einem Freund, Namens Barge-Real, an. Die Gendarmen, die den Knaben vom Aussteigen aus dem Wagen an umgeben und bis an sein Quartier begleitet hatten, hörten Barge-Real sagen, er betrachte das Kind als ein dépôt sacré. Sogleich werden die Behörden unterrichtet, finden sich ein, nehmen ein Protokoll auf und machen Herrn Barge-Real für das Dableiben des Knaben verantwortlich. Sobald Ojardias zurückgekehrt ist und sich ausgewiesen hat, wird die Maßregel durch einen noch vorhandenen Gruau de la Barre, a. a. O., S. 533. vom 10. Juli 1795 datierten Befehl des Konventsdelegierten Chazal aufgehoben, und darin heißt es ausdrücklich: »Je vous autorise à lever les ordres qui retenaient l'enfant dans la maison de Barge-Real, ainsi que ceux qu'on aurait. pu douner contre la liberté d'Ojardias.« Ein Beweis, daß die Maßregel hauptsächlich gegen den Knaben gerichtet war. Diese Verhaftung läßt sich sehr wohl auf den Übereifer eines Unterbeamten zurückführen; die baldige Freilassung der Verdächtigen läßt auch darauf schließen, daß die Maßregel nicht von den oberen Behörden ausgegangen war. G. Morin ist später ein feuriger Anhänger eines falschen Dauphins, des Richemont, geworden, und wahrscheinlich hat sein eigenes Erlebnis den Grund zu dieser seiner Richtung gelegt. Weiter soll noch im Jahre 1800 ein Knabe, den man für den Dauphin gehalten, in Chalons verhaftet und nach Vire gebracht worden sein. A. a. O., S. 536. Sollte das nicht ein Betrüger gewesen sein? Etwa Hervagault, dessen Treiben in jene Zeit fällt? Ein angebliches Signalement desselben, was vom 10. September 1800 datieren soll, bezeichnet ihn direkt als Louis-Charles de France, und versichert, er habe auf dem rechten Schenkel eine Art eingedrückten Wappens gehabt, worin drei Lilien gewesen wären, darüber die Königskrone und um dasselbe die Anfangsbuchstaben seiner Taufnamen, seines Vaters, seiner Mutter, seiner Tante Elisabeth. Ferner soll auch ein Herr Léon-Louis Maillard, der noch 1840 gelebt hat um die Zeit des angeblichen Todes des Prinzen, auf Befehl des Sicherheitsausschusses verhaftet worden sein, weil man ihn für den Dauphin gehalten. Auch soll sich in den Archiven des Gerichtshofes von Angoulême eine gerichtliche Entscheidung befunden haben, welche, lange nach dem 8. Juni 1795, die Freilassung eines verhafteten Kindes verfügt habe, weil erwiesen worden, daß es nicht der Dauphin sei. Alle diese unbestimmten, unbeglaubigten Gerüchte haben selbstverständlich gar keine historische Beweiskraft. Weniger Gewicht wollen wir darauf legen, daß die Proklamationen und sonstigen Manifestationen der Vendée noch einige Zeit nach der Bekanntmachung des Todes Ludwigs XVII. denselben ignorieren und von der Voraussetzung seines Lebens ausgehen.

Unter den mehrfachen Personen, welche sich für Ludwig XVII. ausgegeben haben, ist jedenfalls der Uhrmacher Naundorff diejenige, hinsichtlich deren am wenigsten und eigentlich juristisch gar nicht konstatiert ist, daß sie sich diese Eigenschaft betrügerisch anmaßte, um deren ganzes Wesen und Treiben vielmehr ein ungelöstes Rätsel sich verbreitet. Es scheint gewiß, daß es, ungeachtet wiederholte genaue Untersuchungen über seine Lebensverhältnisse gerichtlich angestellt worden, unmöglich gewesen ist, seine Schicksale wesentlich weiter als etwa bis zu dem Jahre 1812 zurückzuverfolgen. Über die zwei Jahre vorher, wo er in Berlin gewesen sein will, ist wenigstens nichts Bestimmtes nachgewiesen worden. Damals siedelte er von Berlin nach Spandau über und wurde hier zum Bürger aufgenommen, ohne daß die gesetzlich vorgeschriebene Erkundigung nach seiner Herkunft und seinen frühern Verhältnissen stattgefunden zu haben scheint. Ebenso soll er ohne solchen Nachweis getraut worden sein. Daß französische Regierungsorgane zweimal haben behaupten wollen, die Herkunft Naundorffs aus untergeordneten Verhältnissen sei in Preußen konstatiert worden, stellt die Sache gerade nur günstiger für ihn. Denn einmal werden diese Angaben dadurch aufgehoben, daß sie einander selbst widersprechen. Nach der einen Angabe nämlich wäre »Karl Wilhelm Naundorff« der Sohn des Schlossers Karl Naundorff gewesen und 1786 zu Neustadt-Eberswalde geboren worden, hätte frühzeitig die Uhrmacherkunst erlernt und diese bis 1806 betrieben. Bei der Einnahme Spandaus durch die Franzosen wäre er in ein Freicorps getreten, welches diese daselbst organisiert hätten (?). Hier hätte er die Bekanntschaft eines Offiziers, Namens Maressin, gemacht, der ihn glauben zu machen gesucht hätte, daß er der Dauphin oder doch mit demselben sehr genau bekannt gewesen sei. Mit diesem sei er 1810 wieder nach Spandau gegangen, wo er sein Gewerbe wieder aufgenommen habe. Maressin habe ihn beredet, sich für Ludwig XVII. auszugeben, habe ihm die nötige Lokalkenntnis beigebracht und sei ihm dann nach Frankreich vorausgeeilt, um ihm den Weg zu bahnen. Inzwischen sei Naundorff in Spandau geblieben und habe daselbst 1812 das Bürgerrecht erlangt. Nach der andern, sich gleichfalls für authentisch gebenden Erzählung wäre Naundorff einer in dem preußischen Polen lebenden jüdischen Familie entsprossen. Im Jahre 1810 sei er nach Berlin gekommen und daselbst zwei Jahre geblieben. Er sei mit Holzuhren hausieren gegangen, und habe die Witwe eines Soldaten, Christine Harfert, fälschlich für seine Frau ausgegeben. Im Jahre 1812 sei er nach Spandau gezogen und Bürger daselbst geworden. Bei seiner Verheiratung im Jahre 1818 habe er angegeben, daß er der Augsburgischen Konfession angehöre und 43 Jahre alt, also 1775 geboren sei. Diese letztere Angabe stimmt allerdings überein mit der Trauurkunde in dem Kirchenbuche der Nikolaikirche in Spandau, die der Herr Oberpfarrer Reine mir mitzuteilen die Güte hatte. Sie lautet: »Herr Karl Wilhelm Naundorf, Bürger und Uhrmacher allhier, des verstorbenen Bürgers und Fabrikanten, auch Gutsbesitzers bei Weimar, Herrn Gottfried Naundorf einziger nachgelassener Sohn, 43 Jahre alt, verheirathet gewesen, die Ehe ist durch den Tod seiner Ehefrau getrennt, und Jungfrau Johanne Friederike Eunert, des zu Havelberg verstorbenen Bürgers und Pfeiffenmachermeisters Herrn Friedrich Eunert einzige nachgelassene eheliche Tochter, 16 Jahr alt, sind am 19. November 1818 in Spandau getraut worden.«

Eine Anfrage in Weimar hat allerdings ein negatives Resultat ergeben. Der Name Naundorf kommt in den Taufregistern der beiden dortigen evangelischen Kirchen nicht vor. Wenn also Naundorfs Vater später wirklich in Weimar gewohnt hat, so ist der Prätendent doch jedenfalls nicht dort getauft worden. G.
Diese Erzählungen Gruau de la Barre a. a.  O., III, 589 und 883. wiedersprechen einander vielfach. Außerdem behaupten beide eine Herkunft, deren Nachweisung den preußischen Behörden nicht die mindeste Schwierigkeit gemacht und das ganze Beginnen Naundorffs zu einem reinen Wahnsinn gestempelt haben würde. Der zweiten Version widerspricht auch ein amtliches Schreiben des Ministers von Rochow, worin dieser unter dem 27. August 1840 erklärt, die preußische Regierung habe niemals behauptet, daß Naundorff von jüdischer Abkunft sei, und kenne auch keinen Umstand, der zu solcher Behauptung Grund geben könnte. Gewiß ist nur, daß Naundorff, nachdem er 1810–1812 in Berlin gelebt, sich 1812 nach Spandau wendete, dort das Bürgerrecht erwarb, die Urmacherprofession trieb, und solange er in Spandau lebte, ein von seinen Mitbürgern geachteter und auch in höhern Kreisen gern gesehener Ebend., besonders II, 175 fg. Handwerker war. Unter diesen Umständen bleibt seine genaue Kenntnis der französischen Sprache, Ein wichtiger Umstand würde sein, zu erfahren, wie es bei seinem ersten Auftreten in dortigen Gegenden mit seiner deutschen Sprache gestanden habe. seine Fertigkeit im Sprechen und Schreiben derselben, seine Vertrautheit mit allen Einzelheiten der Revolutionsgeschichte, seine allgemeine, sichtbar seinen Verhältnissen überlegene Bildung jedenfalls auffällig. Doch hören wir seine Geschichte, wie er sie selbst erzählt.

Wir müssen mit dem Namen anfangen. Er nennt sich Charles Louis, während der Prinz, der er zu sein versichert, allgemein Louis Charles genannt wurde. Er behauptet nun, er sei Charles Louis getauft worden; nach dem Tode seines ältern Bruders aber habe der König, um den Schmerz seiner Gemahlin etwas zu mildern, gesagt: »Le Dauphin sera toujours Louis.« Hierauf habe man die betreffenden Worte umgeändert. Er habe aber, zuerst als er aus Preußen an seine Familie geschrieben, die ursprüngliche Namenstellung wieder angenommen. Er legt eben darauf ein großes Gewicht, daß er von diesem Familiengeheimnisse gewußt habe, während seine Konkurrenten sich durch die Almanache u. s. w. hätten täuschen lassen. Der Punkt ist allerdings nicht ganz unwichtig. Ist der Prinz wirklich Charles Louis getauft und von 1785–89 genannt wotden, so würde der Prätendent allerdings eine genaue Kenntnis auch kleiner bourbonischer Familienverhältnisse an den Tag legen. Doch wäre die Sache immer kein Familiengeheimnis gewesen, und man begreift auch nicht recht, warum er von der spätem Disposition seines Vaters abgegangen. (Freilich war deren Grund jetzt weggefallen.) Ist aber seine Angabe unrichtig, so sieht sie stark wie ein unglücklicher Versuch aus, einen begangenen Fehler durch eine Notlüge zu verdecken, und zerstört eigentlich von vornherein allen Glauben. Nun ist es uns freilich bedenklich, daß uns wenigstens in allen genealogischen Handbüchern aus den Jahren 1785–89, deren Ansicht wir uns verschaffen konnten, nur die Bezeichnung Louis Charles vorgekommen ist. Freilich wäre es möglich, daß der Prätendent, der in jedem Falle die Sache nur vom Hörensagen haben konnte, sich in derselben irgendwie geirrt hätte, oder daß die genealogischen Almanache in diesem Punkt einen Fehler enthielten. Jedenfalls begreift man nicht recht, wie er darauf gekommen wäre, gerade in diesem Punkt eine so leicht zu vermeidende Ungenauigkeit zu begehen oder von der allgemeinen Meinung abzuweichen.

Seine Erinnerungen aus dem frühesten Knabenalter sind psychologisch korrekt. Sie knüpfen sich an einzelne bekannte geschichtliche Vorgänge, die aber von der Art waren, daß sie großen Eindruck machen mußten, z. B. die Flucht der königlichen Familie in den Schoß der Nationalversammlung, die Flucht nach Varennes, die geheime Unterredung der Königin mit Mirabeau, deren einziger Zeuge er gewesen, Die Flucht der königlichen Familie in die Nationalversammlung fand 10. Aug. 1792 statt, die Flucht nach Varennes 20.–22. Juni 1791, die geheime Unterredung der Königin mit Mirabeau in St. Cloud 3. Juli 1790. Ob letzteres Ereignis, von dessen Wichtigkeit der fünfjährige Dauphin keine Ahnung haben konnte, geeignet war, einen dauernden Eindruck auf ihn zu hinterlassen, möchte ich bezweifeln. G. und dann an einzelnes für die Geschichte Unerhebliche, was aber von der Art war, daß es sich wohl dem Gedächtnis eines Kindes einprägt, besonders wenn das Besinnen darauf durch äußere Umstände geweckt wird. Bei jenen größern Ereignissen erinnert er sich eben an das, was einem Kind daran besonders interessant ist. Eine gesuchte Vertrautheit mit Dingen, deren Bewahrung unwahrscheinlich wäre, legt sich nirgends dar, und diese ganzen Erzählungen sind so gehalten, daß, wenn sie erdichtet sind, die Erdichtung mit großer psychologischer Feinheit bewerkstelligt ist, ja eine Geistesstufe beurkunden würde, wie sie uns sonst in den Räsonnements des Prätendenten, in denen er sich als ein gebildeter und wohlwollender Mann, aber keineswegs als besonders scharfsinnig und geistvoll zeigt, nicht wieder begegnet. Lebhafter und zusammenhängender werden die Erinnerungen von der Haft im Tempel an, knüpfen sich aber auch hier besonders an die Vorgänge, bei denen der Prinz selbst von seinen Eltern gebraucht worden. Besonders bemerkenswert ist dabei, mit welcher Genauigkeit und wie lebensvoll er nicht nur alle Einrichtungen der von der kömglichen Familie in diesem noch in der Kaiserzeit zerstörten Gebäude bewohnten Gemächer, bis in die kleinsten Einzelheiten, wie es nur einem mehrjährigen Bewohner derselben möglich scheint, schildert, sondern auch den besondern Gebrauch, den die Bewohner von jedem Winkelchen, etwa zur Hintergehung ihrer Wächter oder sonst, gemacht hätten, angiebt. Es wird von seinem Hauptverteidiger in dieser Beziehung ein eigenes Faktum referiert, Gruau de la Barre, III, 271 fg. was wir als einen Punkt hervorheben, an den sich eine Verifizierung knüpfen könnte. Ein gewisser Bulot, ein Klempner, der von 1792–97 die Lampen im Tempel zu besorgen gehabt hatte und von irgendeinem Zweifel an dem Tode des Prinzen nichts wissen wollte, ward während des Aufenthalts des Prätendenten in Paris, in Gegenwart des Herrn Bourbon Leblanc und eines Republikaners Fougère, mit dem Prinzen zusammengebracht, ohne daß er ahnte, mit wem er zu thun habe. Das Gespräch ward auf den Tempel geleitet. Bulot erging sich in seinen Erinnerungen darin, als ihn, bei einer Unrichtigkeit, der Prätendent unterbrach und zu seinem Erstaunen berichtigte, dann aber eine so lebendige und minutiöse Schilderung des Gebäudes, wie es 1792 gewesen, begann und dabei so viele besondere Umstände anführte, daß die Augen des Alten sich mit Thränen füllten, er auf die Knie sank und schluchzend ausrief: »Vous ne pouvez être que le fils de Louis XVI.« Ist diese Geschichte wahr? Oder hat der Prätendent seine genaue Kenntnis des Tempels eben aus den Mitteilungen jenes Bulot geschöpft? Das müßte sich ausmitteln lassen, wenn besonders Fougère noch lebt. Derselbe wird als lampiste-méchanicien bezeichnet und führte den Beinamen l'oncle. Über die Zeit, während welcher er der Aufsicht des rohen Simon anvertraut war, geht er – was sich psychologisch motivieren läßt, da diese Zeit für ihn nicht bloß leidensvoll, sondern auch erniedrigend war, folglich zu denjenigen Unglückszeiten gehörte, bei denen die Erinnerung am ungernsten verweilt – rasch hinweg und sagt von ihm: »cet homme grossier m'a fait bien du mal, mais il fut moins cruel que beaucoup d'autres.« Es ist kein unfeiner psychologischer Zug, daß er nur eine verletzende Erinnerung aus jener Zeit aufbewahrt: wie er Simon mit seiner Frau in dem Bett seines Vaters habe schlafen sehen, zu dessen Füßen sein eigenes stand. Die Frau Simon war, seiner Angabe nach, bei seiner Flucht beteiligt. Diese selbst soll hauptsächlich von Josephine, Hoche, Pichegru und Frotté Daß Josephine, die spätere Gemahlin Napoleons I., damals Witwe des 23. Juli 1794 hingerichteten Generals Alexander Beauharnais, sowie die bekannten republikanischen Generale Hoche und Pichegru sich hätten veranlaßt sehen sollen, den Dauphin mit eigenster größter Lebensgefahr zu befreien, ist nicht sehr wahrscheinlich. Frotté, ein normannischer Edelmann und entschiedener Royalist, hätte wohl eher das Wagnis unternommen, doch befand er sich längere Zeit im Ausland und kehrte erst im Frühling 1795 nach Frankreich zurück, wo er an den Kämpfen der Royalisten gegen die Republik mit wechselndem Erfolge teilnahm. 1800 wurde er gefangen genommen und erschossen. G. veranstaltet worden, und das vornehmlichste Werkzeug derselben Simons Nachfolger, der Kreole Laurent, gewesen sein, dessen Anstellung Josephine durch Barras vermittelt habe. Die Rettung des Prinzen aus dem Tempel wird an sich nicht so unwahrscheinlich dargestellt; aber nach und nach, an sehr verschiedenen Stellen der Erzählung kommen Nebenumstände zu Tage, welche die Geschichte immer verworrener machen, sodaß es uns noch jetzt nicht ganz klar geworden ist, wie man eigentlich den ganzen Hergang angesehen wissen will. Der Prinz wird nämlich von seinen Rettern anfangs gar nicht aus dem Tempel hinaus, sondern bloß in ein verborgenes Gemach unter dem Dach geschafft, wo er noch viele Monate bleibt, während sie allerdings die Regierung glauben machen, er sei geflüchtet. Die Regierung will seine Flucht verbergen, und schiebt einen stummen Knaben an seine Stelle unter, welchen Josephine dem Barras verschafft. Das wäre denn der gewesen, den die Kommissare am 19. Dezember 1794 sahen. Man läßt jetzt nur eingeweihte Personen oder solche hinein, die den Prinzen nicht kannten. Gleichwohl verbreitet sich das Gerücht, der wirkliche Prinz befinde sich nicht im Tempel. Nun beschließt man, das stumme Kind sterben zu lassen, und mischt Substanzen in seine Speisen, die es krank machen. Desault giebt ein Gegengift und erklärt zugleich seinem Freunde Choppard, das Kind, was er behandle, sei nicht der Sohn Ludwigs XVI. Darüber sterben Desault und Choppard. Die Regierung aber, ängstlich geworden, vertauscht den stummen Knaben, der nicht sterben will, mit einem aus den Pariser Hospitälern genommenen, schon von Haus aus kranken. Ferner war, nach der Flucht des Prinzen, ein anderer Knabe in sein Versteck gebracht worden, den man abgerichtet hatte, seine Rolle zu spielen, und in demselben Behältnis, in welchem man diesen in den Tempel hineingebracht hatte, brachte man den stummen Knaben heraus, welchen hochgestellte Personen, gegen bedeutende Summen, einem beauftragten auswärtigen, uneingeweihten Freunde des Prinzen als diesen ausliefern ließen. So wenigstens lege ich die etwas sehr schwer zu vereinigenden Berichte bei Gruau de la Barre Tl. II, S. 497 fg. und Tl. III, S. 363 fg. aus. Der Beauftragte, Jean Paulin, bringt ihn Josephinen, die mit Schrecken den Irrtum erkennt. An die Stelle des dritten, aus dem Hotel-Dieu entnommenen Kindes, dessen Mutter eine Gärtnerin aus Versailles war, Sie soll aus Furcht nach Amerika geflüchtet sein und eine Tochter von ihr noch vor wenigen Jahren in Martinique gelebt haben. hatte man im Hospital ein gesundes Kind untergeschoben, und es war damals in den Zeitungen als eine Art Wunder erwähnt worden, daß im Hotel-Dieu ein sehr krankes Kind in 42 Stunden geheilt worden wäre. Indes das wirklich kranke Kind, das man für den Prinzen ausgab, starb am 8. Juni, und an ihm wurde die Leichenöffnung vorgenommen, deren Bericht dem Konvent erstattet wurde. Früh am Morgen des Tags, wo die Beerdigung stattfinden sollte, nahmen die im Rettungskomplott begriffenen Personen den Leichnam aus dem Sarg und brachten den wirklichen Prinzen an dessen Stelle. Die Leiche wurde im Tempelgarten begraben, und Napoleon soll sie später ausgraben lassen und an ihrer Übereinstimmung mit dem Leichenbefund erkannt haben, daß die Sache wirklich so stehe, wie ihm Josephine erzählt hatte. Denn der Sarg, in welchem die Behörde die Leiche glaubte, wurde nach dem Margaretenkirchhof gefahren. Die Freunde des Prinzen hatten aber in der Kutsche einen mit Makulatur gefüllten Koffer angebracht. Während der Fahrt vertauschten sie den Inhalt des Sarges und des Koffers, ließen den Sarg mit der Makulatur begraben und nahmen den Koffer mit dem Prinzen wieder zurück. Dieser ward, als Mädchen gekleidet, in einen andern Wagen gebracht und nun einem Asyl zugeführt. – Außerdem kommen noch mehrere Kinder vor, welche auf Reisen geschickt wurden, um die Verfolger des Prinzen auf falsche Spur zu leiten. Aus diesen verschiedenen Werkzeugen gegenseitiger sehr verworrener Täuschungen leiten die Anhänger des Prätendenten zum Teil die falschen Prätendenten her. Wenn aber auch das alles manchen Verdacht gegen die ganze Geschichte erweckt, so muß man sich doch auch wieder sagen: daß diese Unwahrscheinlichkeiten für eine Erfindung nicht nötig waren, daß die Absicht, zu täuschen, den Hergang ganz leicht viel plausibler hätte erzählen können, und daß das Unwahrscheinliche doch durchaus nicht unmöglich ist. Es war eine Angelegenheit, wo alle einander täuschen wollten und das tiefste Geheimnis walten mußte. Da konnten allerdings Mittel und Wege eingeschlagen werden, die ihr Seltsames und unter andern Umständen Unwahrscheinliches haben. Auch die Lebensumstände des Prätendenten haben, besonders von der Zeit an, wo er die Vendée verläßt, bis zu der Zeit, wo er in Preußen auftritt, ihr sehr Abenteuerliches und einzelnes Unklare und Unwahrscheinliche; Unmögliches, als unwahr Erwiesenes nichts.

Nach der Rettung aus dem Tempel will der Prätendent erst einige Zeit in Paris bei einer Schweizerin untergebracht worden sein. Dann kam er in die Vendée auf das Schloß des Herrn Thor de la Sonde, wo er aber längere Zeit krank war. Nach seiner Genesung war der günstige Zeitpunkt vorüber. Seine Erinnerungen aus dem einsamen, aber stillheitern Aufenthalt in der Vendée sind sehr dürftig und unklar, was sich psychologisch wohl begründen ließe. General Charette besuchte ihn einmal und später ward er dem General de Frotté anvertraut. Charette, der bekannte Führer der Royalisten in der Vendée wurde 29. März 1796 erschossen. Über Frotté s. S. 55, Anm. G. Besondere Sorge für ihn trug auch der Marquis de Brizes, und bei diesem traf er ein junges Mädchen, Marie, und einen Jäger, dessen wahrer Name Graf von Montmorin, und der dann längere Jahre sein treuester Führer und Beschützer war. Aus der Vendée gingen sie nach Venedig, dann nach Triest, dann nach Rom, wo Papst Pius VI. sie in geheimen Schutz nahm. Anderm Schutz konnten sie sich nicht vertrauen, weil teils die Oheime Ludwigs XVII. von dessen Freunden für seine erbittertsten Gegner gehalten wurden, teils auch keine europäische Macht, außer höchstens das ferne Rußland, das Vertrauen erweckte, daß sie den Prinzen nicht politischer Konvenienz opfern könnte, teils endlich die Ermordung desselben besorgt ward, wenn irgendwie sein Aufenthalt bekannt würde. In Rom will der Prätendent erst in einem Kloster verborgen gewesen sein, dann mit seinen Beschützern ein einsames Landhaus bezogen haben. Hier kam auch die Schweizerin wieder zu ihnen, die inzwischen einen Uhrmacher geheiratet hatte. Dadurch lernte der Prinz deutsch und die erste Kenntnis der Uhrmacherkunst. Nach der Gefangennehmung des Papstes (1798) trafen sie Verrat und Verfolgung. Ihr Haus brannte ab; die Schweizerin und deren Mann starben plötzlich an einem Tag; der Marquis de Brizes und die junge Marie wurden vergiftet – wo und wie bleibt unklar; – der Prinz, für England eingeschifft, ward auf dem Meer gefangen, Die nähern Umstände bleiben hier ganz im Dunkeln; auch erfährt man nicht, wer bei dem Prinzen war, und wie Montmorin sich rettete., nach Frankreich gebracht und eingekerkert. Er verleugnete seine Herkunft nicht, wies aber alle Versuche zurück, ihn die Namen seiner Beschützer verraten zu machen. In ein anderes Gefängnis gebracht, soll er eine Behandlung erfahren haben, wie nur raffinierte Grausamkeit und List sie ausdenken konnte. Man habe sein Gesicht mit Instrumenten zerstochen, die einem Bündel Nadeln glichen, und als er im Blut geschwommen, habe man ihn mit einem in eine besondere Feuchtigkeit getränkten Schwamme gewaschen. Er habe davon, unter furchtbaren Schmerzen, ein dickgeschwollenes, kupfernes Gesicht bekommen und längere Jahre wie ein Mensch, der soeben die Blattern bestanden, ausgesehen. Mit der Zeit hätten sich aber die Spuren jener Unthat fast ganz verloren.


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