Laurids Bruun
Van Zantens törichte Liebe
Laurids Bruun

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Die Tage vergingen, Monsune wechselten. Auch in Pieter Adrians Kontor, hinter Woodfords Glastasten, lag Veränderung in der Luft. Die sechzehn Angestellten, mit denen Pieter zusammensaß, hatten sich schon längst daran gewöhnt, Junior als einen langweiligen Patron zu betrachten.

Ruyter hütete seine Zunge, wenn er mit ihm sprach; er wollte vermeiden, daß seine freundschaftlichen, aber vielleicht ein wenig gewagten Ratschläge später gegen ihn ausgespielt würden. Denn für solche Pflichterfüllung gab es nur eine Erklärung: man wollte die anderen so schnell wie möglich überflügeln, man war ja nicht umsonst Junior. Ein Mensch, der hinter dem Rücken seiner Kameraden einen Handelskursus besuchte, während andere Billard spielten und im Klub Feste feierten, war natürlich sehr verdächtig.

Als auch noch das Gerücht auftauchte, Junior verbringe seine Abende in der Bibliothek, stand man vollkommen ratlos. Jemand hatte gehört, Junior sei »literarisch«. Man war sich nicht ganz klar darüber, was das bedeutete, von jetzt ab aber hielt man Pieter für einen komischen Kauz und zog sich von ihm zurück. Sobald er ins Zimmer trat, verstummte das Geschwätz von Pult zu Pult.

Anfangs ärgerte Pieter sich, versuchte von neuem Anknüpfung, sah aber bald ein, daß alle sich gegen ihn verschworen hatten; und da kam sein angeborener Trotz zum Ausdruck, und es ging hart auf hart.

Auch Woodford hatte von Pieters Besuchen in der Bibliothek erfahren, und eines Tages nahm er den Stier bei den Hörnern, rief Pieter herein und sagte, er habe im Klub davon gehört. Er lobte Pieters Fleiß und Interesse für ernste Dinge – warum aber sollte es ein Geheimnis sein? Allerdings habe er nicht das Recht, sich zu beklagen, da nicht einmal Mijnheer, Pieters Onkel und Chef, eingeweiht sei.

Pieter errötete bis über beide Ohren.

Er habe es Mijnheer sagen wollen, aber noch immer keine Gelegenheit dazu gefunden. Ob es nicht auch zu unbescheiden sei, wenn er von seinen eigenen Angelegenheiten sprach, um möglicherweise ein Lob herauszufordern?

Pieter suchte in aller Eile alles das hervor, was zu seiner Entschuldigung dienen konnte. Tatsächlich hatte er in seinem blinden Eifer alles andere vergessen und nur an Lydia und sein eigenes geheimes Ziel gedacht.

Wie gesagt, er habe keine Gelegenheit gefunden, und während der Regenzeit käme er ja auch nicht so oft zum Landsitz hinaus.

»Ei sieh da, ich glaubte, Sie hätten die Damen recht häufig durch Vorlesen von Dichterwerken erfreut?«

Pieter errötete von neuem. Er hatte das Gefühl, als ob Woodfords lebhafte schwarze Augen geradeswegs durch ihn hindurchsahen. Er stammelte, es würde ihn freuen und sicher die Damen auch, wenn Herr Woodford gelegentlich den Abenden beiwohnen wollte.

Die falschen Worte aber blieben ihm im Halse stecken. Er fühlte sich wie ein Schuljunge, der auf frischer Tat ertappt ist. Und was hatte er denn getan, daß er sich dessen zu schämen brauchte?

Seine Stimmung schlug plötzlich um:

»Lernen hat mir immer Freude gemacht!« sagte er und warf den Kopf in den Nacken. »Und für Literatur interessiere ich mich sehr!« fügte er noch hochmütiger hinzu; als er aber in Woodfords Augen las, daß er die Grenze des Komischen erreicht hatte, wurde er wieder rot.

Woodford war barmherzig oder klug genug, ihn nicht zum Äußersten zu treiben, und ging mit unveränderter Freundlichkeit zu etwas anderem über. Doch wußte er jetzt, was er wissen wollte, und kam in Gedanken häufig darauf zurück.

Am folgenden Mittwoch holte Sam Saj Miß Ball in ihrer bescheidenen Wohnung am äußersten Ende von Nordwijk mit dem Ponywagen ab und nahm Pieter Adrian unterwegs auf, dort, wo der Weg vom Military Hospital in die Königstraße mündete.

Es war ein stiller und verhältnismäßig kühler Abend, kurz nach dem Monsun.

Frühlingsblumen sprossen bereits am Wegsaum, die Reisfelder standen unter Wasser, und die Eingeborenen mit ihren großen, flachen Strohhüten trippelten durch den blanken Spiegel und säten den neuen Reis. Der Himmel war wie ein ungeheures Blütenblatt einer blaßroten Rose.

Die Ponys trabten munter dem Stall entgegen, und Sam Saj, mit gekreuzten Armen, den rotweißblauen Turban in die schwarzen Brauen gedrückt, saß neben dem Kutscher und sah aus, als ob er in dem stillen Abendfrieden auf das große Wunder wartete.

Lydia und Mevrouw pflegten an schönen Abenden von dem Wohnzimmer, wo die Lampen bereits brannten, auf die Veranda hinauszugehen, wenn sie die Schellen der Ponys hörten, und Pieter konnte dann von seinem Platz durch einen Ausschnitt im Gebüsch Lydias helles Kleid sehen und ihren fröhlichen Abendgruß hören, bevor sie vorm Hause hielten.

Heute abend ließ sich kein weißes Kleid blicken, aber er hörte Stimmen, dazwischen einen dröhnenden Baß, und als der Wagen vor der Tür hielt, wer stand breit und wuchtig unter der Türmatte? Ein väterlich wohlwollendes »Guten Abend« klang ihnen entgegen, und als Pieter Adrian herabgesprungen und Sam Saj Miß Ball beim Aussteigen behilflich war, erschienen auch Mevrouw van Ermelo und Lydia auf der Treppe.

Es war das erstemal seit seiner Unterhaltung mit Woodford, daß Pieter Onkel Mijnheer wiedersah. Das Herz klopfte ihm, als er die Treppe mit erzwungener Ruhe hinaufstieg, und es nützte nichts, daß er sich selbst sagte, daß er ja nichts Böses verbrochen habe. Onkel Clement wollte ihm einen Schabernack spielen, das konnte er merken. Und richtig, nachdem Mijnherr Miß Ball begrüßt hatte, machte er Pieter eine tiefe Verbeugung.

»Ah, sieh da, guten Abend, Her Professor und königlicher Kammervorleser! Welch eine Ehre für mein geringes Haus!« sagte er mit seinem dröhnenden Baß. »Ich habe bereits von dem großen Genuß erfahren, den Euer Hochwohlgeboren meinen Damen zu bereiten geruhen, und ich gebe mich der Hoffnung hin, daß auch ich Unwürdiger an der Andachtsstunde teilnehmen darf.«

»Laß ihn doch!« bat Mevrouw und legte ihre Hand auf Miinheers Arm.

Onkel Clement lachte schallend und ließ seine große Tatze so schwer auf Pieters Schulter fallen, daß er fast in die Knie gesunken wäre.

»Du Geheimniskrämer!« rief er. »Macht man sich Sorgen, daß Monsieur in schlechte Gesellschaft geraten ist, weil man rein gar nichts über sein Privatleben hört, und dabei zeigt es sich, daß er sich in aller Stille als ein Tugendmuster ausbilden läßt. Literarisch ist Monsieur auch geworden, im Klub wird davon geflüstert, daß er heimliche Besuche in der Bibliothek macht, obgleich man glaubt, daß er ganz anderen Göttern huldigt.«

Es wurde pflichtschuldigst gelacht, Pieter stimmte mit ein, obgleich er sich höchst ungern als Gesprächsthema sah.

Mevrouw hatte mittlerweile das Buch gebracht, das ihrer Obhut anvertraut war – einen wundervollen Roman von dem alten Vater Hildebrand –, und den Lehnstuhl an den ovalen Tisch gerückt, wo die Handarbeiten schon bereit lagen. Miß Ball schlug vor, daß Lydia zuerst ihre Sonate zum besten geben sollte, da man die seltene Ehre und Freude von Mijnheers Anwesenheit genoß. Lydia aber wehrte sich; man war gerade zu einer so spannenden Stelle in dem Roman gelangt, sie könne unmöglich länger auf die Fortsetzung warten.

Es wurde also für Mijnheer Platz gemacht, und er setzte sich mit der Miene eines strengen Richters, indem er sich den Spaß machte, dem Vorleser gerade ins Gesicht zu starren, als ob er sich keinen einzigen seiner künstlerischen Kniffe entgehen lassen wollte.

Pieter schwitzte. Er räusperte sich und wollte dem neuen Zuhörer den Inhalt der vorhergegangenen Kapitel erzählen.

»Das kannst du dir sparen«, sagte Onkel Clement, indem er es sich im Stuhl bequem machte, »falls ich etwas nicht verstehe, werde ich fragen. Marsch, los!«

Pieter Adrian entfaltete alle Kunst, die ihm zu Gebote stand. Er gab den Sätzen den nötigen Schwung und veränderte seine Stimme, wenn er oder sie sprach, denn er las gerade eine Szene zwischen zwei Liebenden vor.

Es war eine sehr schwierige Aufgabe; denn während er sein Bestes als Vorleser gab, mußte er gleichzeitig verbergen, daß seine Gedanken die ganze Zeit bei Lydia waren, ja, daß jedes Wort des Liebhabers an sie persönlich gerichtet war.

Er fühlte Lydias und Onkel Clements Augen die ganze Zeit auf sich gerichtet und würde viel darum gegeben haben, hätte er erfahren können, ob Onkel Clement den richtigen Zusammenhang ahnte.

Als der Held des Buches sich gerade verbeugte, um einen Kuß auf die weiße Hand der Geliebten zu drücken, erklang plötzlich ein Geräusch aus der Richtung, wo Mijnheer saß.

Pieter stand das Herz still. Onkel Clement schien sich auf dem Stuhl umgedreht zu haben, wahrscheinlich beobachtete er Lydia, die etwas hinter ihm saß.

Pieter klopfte das Herz so sehr, daß er eine kleine Pause machen mußte. Als er einen verstohlenen Blick zur Seite warf, stellte er fest, daß nur Mijnheers Bärentatze von der Armlehne auf seine Knie herabgefallen war. Kaum aber hatte Pieter wieder zu lesen angefangen, als er ein Stöhnen hörte. Oder war es ein Seufzer, den die rührseligen Worte Mijnheers breiter Brust entlockt hatten? Pieter spürte, daß auch Lydia bis ins Innerste bewegt war. Er hob den Blick, dankbar über Mijnheers Teilnahme an der Herzensnot der beiden Liebenden –

Da sah er, wie Onkel Clements Kopf zur Seite geneigt war, die Augen waren geschlossen, und durch die geöffneten Lippen atmete er ruhevoll, wenn auch nicht gerade geräuschlos.

Tief enttäuscht las Pieter weiter; als die Seufzer nach und nach zu einem nicht mißzuverstehenden Schnarchen wurden, griff Mevrouw ein. Mit ihrer sanften Hand weckte sie Onkel Clement und sagte: »Lieber Vetter, du hast heute wohl viel zu tun gehabt.«

Mijnheer riß die Augen auf, blickte sich erstaunt um und faßte sich dann.

»Sehr hübsch, sehr hübsch, so angenehm altmodisch, und du hast wie ein Hofschauspieler vorgelesen. Schade, daß ich das Vorhergegangene nicht kenne, aber ich werde es nachlesen, damit ich das nächste Mal den richtigen Genuß davon habe. Ja, liebe Kusine, es war ein heißer Tag für mich. Ich will lieber in mein Zimmer gehen und ein wenig ruhen, bis Sam Saj mit dem Tee kommt.«

Er erhob sich geräuschvoll, verschwand hinter der Portiere und ließ sich nicht mehr sehen. Für Pieter aber wurde es noch ein herrlicher Abend.

Der Monsun wechselte; Pieter Adrian bekam einen ernsten Anfall von Klimafieber. Vierzehn Tage lag er krank im »Garden of Health«, von Mevrouw und Sam Saj gepflegt eine Zeit, die er nie vergessen würde.

Wieder wechselte der Monsun, wieder kam die Regen- und Winterzeit und wieder grünte und keimte es. Pieter saß in strahlenden Sternennächten hinter der Fenstermatte über Bücher und Hefte gebeugt und hatte kaum Zeit, dem Gesang der Zikaden in der Frühlingsnacht zu lauschen.

Der Tag der Prüfung kam, es war der 29. Mai des Jahres 1864. Bereits vormittags hatte Pieter vor der hohen Handelskommission der Stadt seine Prüfung abgelegt und hatte das Diplom in der Tasche, das allen und jedem verkündete, er besäße die Reife eines perfekten Handelsgehilfen in der königlichen Residenzschaft Batavia mit der Hauptstadt gleichen Namens und in sämtlichen niederländisch-ostindischen Kolonien.

Mijnheer hatte Pieter im Klub zum Essen eingeladen, und die älteren Herren beglückwünschten ihn und stellten ihn als Beispiel für die Jungen auf. Auch Woodford sparte nicht mit Anerkennung und machte beim Kaffee eine versteckte Anspielung, was die nächste Zukunft wohl für den tüchtigen jungen Handelsgehilfen in Bereitschaft habe.

Trotz seiner Würde aber war Pieter noch immer nicht Herr über sein dummes Erröten, denn als ein Eilboote vom Landsitz eintraf – Sam Saj in höchsteigener Person, atemlos nach dem hastigen Ritt – und einen wundervollen Strauß von Mevrouw und Lydia ablieferte, wurde Pieter puterrot, so daß alle Welt erraten konnte, was sich in seiner Seele rührte. Natürlich macht Woodford sich über mich lustig, dachte Pieter erbittert. Er legte den Strauß neben sich, ohne die Karte zu lesen, die daran befestigt war. Als er aufblickte, sah er Mijnheers gutmütigen Blick lächelnd auf sich gerichtet, als ob er wie in einem offenen Buch in ihm läse.

Am selben Tag sollte auf dem Landsitz ein Gartenfest stattfinden. Das war die erste Enttäuschung, die dieser Tag Pieter brachte. Er hatte sich ausgemalt, wie er im engsten Familienkreis mit seinem Diplom herausrücken und in Ruhe beobachten wollte, welchen Eindruck es auf Lydia machte. Das Gartenfest schien improvisiert zu sein, denn weder Mijnheer noch Mevrouw hatten etwas darüber geäußert. Mit seinem Examen konnte es jedenfalls nicht zusammenhängen, denn er hatte ja ein Geheimnis daraus gemacht. Oder sollte Lydia etwas geahnt und eine Hand mit im Spiel gehabt haben? War das Fest vielleicht nur als improvisiert dargestellt – mit ausgesucht weiblichem Takt, damit, falls er durchgefallen wäre, sie ihm die Schande ersparen wollte?

Dieser Gedanke war zu schön, darein wollte er sich lieber nicht vertiefen! – Und leider zeigte es sich später auch, daß es ein Trugschluß war.

Denn als Pieter, weil er fürchtete, in seiner Ungeduld zu früh zu kommen – das war ihm schon einmal passiert, als er noch nicht ganz auf der Höhe der batavischen Form war –, erst eintraf, als die meisten Gäste bereits versammelt waren, erlebte er die zweite Enttäuschung des Tages, das Fest hatte seinen Anfang genommen, bevor der eingebildete Ehrengast eingetroffen war.

Er kam gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Woodford, der wie gewöhnlich Maitre de plaisir war, der Musik, die auf einer Estrade in der einen Ecke des Saales saß, ein Zeichen gab und dann mit Lydia, einer rosa Zephirwolke mit blitzenden Goldpailletten und veilchenblauen Augen, zu den Klängen eines pompösen Marsches den Ball eröffnete, nachdem er Mijnheer und Mevrouw, die mit den älteren Herrschaften an der Wand saßen, eine Verbeugung gemacht hatte.

Als Mevrouw Pieter in der Tür stehen sah, ging sie ihm entgegen und beglückwünschte ihn; bevor er aber noch Zeit gehabt hatte, für den Strauß zu danken, führte sie ihm eine hellblaue Dame zu, in der er die Tochter des Steuererhebers, eine Freundin von Lydia, erkannte.

Als der Zug durch den Saal marschierte, entdeckte Lydia bei einer Biegung Pieter, der mit seiner Dame als letztes Paar schritt, winkte ihm zu und rief: »Ich gratuliere!«

Im selben Augenblick beugte Woodford sich zu ihr hinab, sie wandte ihr Gesicht zu ihm, er legte den Arm um sie, und Pieter sah, wie sie als erstes Paar durch den Saal tanzten, festlich, vornehm – und der ganze Abend war ihm verdorben, er nahm sich zusammen, verbeugte sich vor seiner Dame und gab sich eifrig dem Tanz hin; Lydia sollte nicht sehen, daß ihm die Suppe versalzen war.

Seine Dame ließ sich in der Einfalt ihres Herzens von seinem angeblichen Temperament mitreißen. Ihre Augen strahlten, ihre Hand ruhte so hingebungsvoll auf Pieters Rockärmel, daß der Steuererheber und seine kleine, kugelrunde Ehehälfte, die dem Paar nachsahen, einen Blick miteinander wechselten.

Pieter hatte ein Gefühl, als ob er sich im Bodenlosen verlieren würde, wenn er die Hellblaue, die Mevrouw ihm zugeführt hatte, losließe. Er zeigte sich mit ihr vor Lydia, so oft er konnte, und merkte gar nicht, daß seine Kusine so stark in Anspruch genommen war, daß sie seiner gar nicht achtete.

Lydia und Woodford glitten dicht an ihm vorbei, und Pieter sah, wie sieghaft er sie durch den Saal führte. Er biß sich in die Lippe, er mußte Luft haben und führte die Hellblaue in den Garten hinaus. »Die Hitze, nicht wahr?« – »Ja, entsetzlich!« – Er konnte es nicht ertragen, Lydia in Woodfords Armen zu sehen, war es auch nur für die Zeit einer Masurka, eines neumodischen Tanzes, den Pieter noch nicht gelernt hatte.

Die Hellblaue wurde von der Hitze in Pieters Blut angesteckt. Der Druck seines Armes verursachte ihr eine süße Unruhe, sie girrte sanft, während sie seinen Blick suchte, denn sie wußte, daß ihr großer naiver Blick ihre größte Schönheit war.

War es dieser Blick oder war es ein Seufzer, der ihr entschlüpfte und den sie nicht zu verbergen suchte, plötzlich wurde es Pieter klar, daß eine Dame an seinem Arm hing, die Lydia zu verdrängen versuchte. Er stammelte einige Worte und kehrte ihr den Rücken. Er mußte Lydia sehen, der Masurka und Hitze zum Trotz. Er ließ die Hellblaue neben dem Gebüsch mit den bunten Lampions stehen und eilte zu dem strahlenden Saal zurück, wo die Tanzenden sich unter der Krone mit den flackernden Kerzen drehten.

Am Eingang des Saales begegnete er Lydia – sie ging mit Woodford und seinem Freund Jonkheer van Heltz, dem Sekretär im Verwaltungsamt, dem besten Reiter und verwöhntesten Junggesellen der Stadt, um eine Erfrischung auf der Veranda einzunehmen.

Lydia strahlte, sie ließ sich bewundern und beneiden, fühlte sich als Mittelpunkt und spielte die Erwachsene, um den beiden Salonlöwen ebenbürtig zu sein.

»Amüsierst du dich, Pieter?« rief sie ihm im Vorbeigehen gnädig zu; von Triumph berauscht, gönnte sie auch ihm das Beste.

»Glänzend!« erwiderte er so heftig, daß sie stutzte.

Jonkheer van Heltz' überlegene Liebenswürdigkeit und Woodfords herablassende Aufforderung: »Kommen Sie, Junior, und trinken Sie ein Glas mit uns!« schnitt Pieter wie ein Messer durchs Herz. Ihm war, als ob ein anderer für ihn antwortete:

»Danke, ich bin verabredet.«

Er eilte in den Saal zurück und drängte sich mit großen, zornigen Augen durch die Paare. Am anderen Ende des Saales stieß er auf Mevrouw, die um Platz für Sam Saj bat, der – an der Spitze der anderen festlich gekleideten Boys, die Sandwiches, Salate und Backwerk brachten – hoch über seinem Kopf ein mächtiges Tablett mit Gläsern trug, in denen der kühle Arrakpunsch perlte, eine Spezialität des Hauses. Die Erfrischungen sollten draußen auf der Veranda an kleinen Tischen eingenommen werden, während die Musik pausierte.

Im Salon oben – dem teuren Ort, wo Pieter so viele glückliche Mittwochabende verlebt hatte – saßen die prominenten und beleibten Herren, rauchten Mijnheers berühmte Ceruts, tranken seinen Arrakpunsch und spielten Ekarté und Whist. Lärm und Gelächter erklangen von dort, und Mijnheers dröhnende Stimme gab einen Widerhall auf den Instrumenten, die während der Pause gegen die Wand lehnten.

In Mevrouws Zimmer saßen die älteren Damen, nippten an den delikaten Süßigkeiten des Hauses, spielten Whist und erörterten zwischendurch Haushaltungsfragen, Kindererziehung und die letzten Moden aus Amsterdam. Mit halblauten Stimmen vertrauten sie sich Klatschgeschichten aus der Stadt an und was aus dem Palast des Generalgouverneurs herausgesickert war, wo das große Gartenfest der Saison und der darauffolgende intime Empfang für die Auserwählten der Gesellschaft in Vorbereitung war; eine der Damen wollte wissen, daß in diesem Jahre der junge Jonkheer van Heltz – man konnte ihn auch heute abend hier sehen – als Festarrangeur beauftragt war.

Mevrouw bemerkte im Vorbeigehen Pieters zornigen Blick und legte ihre Hand auf seine Schulter, als wolle sie ihm ein Wort des Trostes sagen. Pieter aber wandte sich hastig ab, damit sie seine Verstimmung nicht sehen sollte; geschickt griff er nach einem Glas auf Sam Sajs Tablett, und Mevrouw drohte ihm lächelnd.

Sam Saj erhob jetzt seine Stimme und verkündete den Gästen, was ihrer auf der Veranda an den kleinen Tischen wartete, wo kleine Lampen mit gelben Schirmen ein sanftes Licht ausströmten.

Die Tanzenden ließen es sich nicht zweimal sagen und folgten Sam Saj auf den Fersen. Es entstand ein Gedränge an den Türen, und Mijnheer, der oben auf der Balustrade stand, die um den Saal herumführte, rief mit dröhnendem Baß herunter:

»Herrschaften – nicht drängeln!«

Man winkte und lachte zu ihm herauf; Mijnheer stand breit und wuchtig da, das gutmütige Gesicht unter dem grauen Haarschopf strahlte, während er lächelnd nickte und drohte. Neben ihm stand sein guter Freund und Duzbruder, der Hauptkassierer an der Javaschen Bank, der wegen seines Witzes bekannt war; er konnte die gewagtesten Dinge sagen, ohne sein Gesicht zu verziehen, das wie aus Holz geschnitzt war. Er hatte gesehen, wie Pieter das Glas von Sam Sajs Tablett genommen hatte und machte Mijnheer darauf aufmerksam, der den erglühenden Jüngling mit dem blauen Rock und der weißen Weste anrief.

Mit dem Glas in der Hand bahnte Pieter sich, nach rechts und links Stöße austeilend und empfangend, einen Weg zum Kabinett hinauf. Ein Boy hatte Mijnheer und den Bankkassierer bereits mit Gläsern versehen, und sie stießen mit Pieter an, denn auch der Bankkassierer hatte im Klub von Pieters Examen gehört. Auch der Steuererheber, der Vater von Pieters hellblauer Dame, trat jetzt hinzu, und die drei älteren Kavaliere stießen feierlich, aber mit einem Schelm im Auge, mit dem perfekten Handelsgehilfen an.

Pieter mußte nach allen Regeln der Kunst mit ihnen trinken. Onkel Mijnheer führte nach altem holländischen Brauch das Kommando: Glas gegen Glas, Auge in Auge – das Glas im rechten Arm geschwungen und zurück, Glas an die Lippen, Auge in Auge und eins, zwei, drei geleert und Boden nach oben gekehrt, um zu zeigen, daß kein Tropfen mehr drin ist; zum Schluß ein feierlicher Händedruck, der von Mijnheers Seite so wohlgemeint war, daß Pieter fast vor Schmerz aufgeschrien hätte.

Pieter atmete erleichtert auf und wandte sich dem Saal zu. Von weitem begegnete ihm Woodfords lebhafter Blick, der ihm überallhin zu folgen schien: in Wirklichkeit aber suchte Pieter ihn beständig, denn er konnte das erste Bild, das ihm an diesem Abend der Enttäuschungen vor Augen gekommen war, nicht vergessen: Lydia und Woodford, die zusammen den Ball eröffneten. Jedesmal, wenn er daran dachte, stieg der Zorn in ihm auf, und dennoch konnte er sich nicht von ihnen fernhalten. Woodford hatte ihn gefragt, ob er ein Glas mit ihnen trinken wollte. Gut, der Augenblick war jetzt gekommen.

Er verbeugte sich vor den drei alten Herren und eilte dorthin, wo die rosa Zephirwolke sich in der sanften, gelben Beleuchtung der Veranda bewegte. Sie war gerade im Begriff, sich mit ihren beiden Kavalieren an einen Tisch zu setzen, der frei wurde, als Pieter hereintrat.

»Lydia«, flüsterte er und berührte die rosa Wolke.

»Aber Pieter, ich habe ja noch gar keine Gelegenheit gehabt, dir zu deinem Examen zu gratulieren!«

Sie gab ihm die Hand, er aber drückte sie so heftig, daß sie sie nach einem hastigen Blick auf sein Gesicht zurückzog. Hatte er zuviel getrunken?

»Vielen Dank für die Blumen«, murmelte er.

»Die waren ja von Tante.«

Woodford, der sie unter den Arm gefaßt hatte, zog sie mit sich, und der Junker schob sich geschmeidig zwischen sie und Pieter, damit niemand sie des kleinen Tisches, den sie sich ausgesucht hatten, berauben sollte.

»Setz dich zu uns«, sagte Lydia; Pieter aber hatte sich bereits tiefgetränkt abgewandt.

Es war Lydia, als ob ein Schatten auf den strahlenden Augenblick fiel; und während Woodford, unter dem Verwand, es ihr bequem zu machen, ihre zarte, kühle Schulter mit seiner heißen Hand berührte, rief sie Pieter nach:

»Du kommst doch Mittwoch! Die Geschichte ist gerade so spannend, und Tante hat das Buch eingeschlossen.«

Er nickte, halb zurückgewandt, vermied aber ihren Blick.

Von nun an ging er einsam und still herum, bald drinnen im Hause, bald draußen im Garten. Wo er auf einen Boy mit einem Glas stieß, trank er, um seine Enttäuschung hinunterzuspülen; es begann bereits vor seinen Augen zu wogen und in seinem Kopf zu schnurren. Ich glaube, du hast genug getrunken, dachte er bei sich, im übrigen aber war es ihm ganz schnuppe.

Während er durch den Garten schlenderte, überkam ihn plötzlich das Verlangen, in Mevrouws gute Augen zu blicken, er wollte sie im Saal suchen. Auf der Verandatreppe aber begegnete er dem Junker, der, ganz aufgelöst vor Hitze, auf dem Weg in den Garten war.

»Pardon«, sagte er. Und als er sah, daß es Pieter war, legte er ihm den Arm um den Nacken. »Kommen Sie mit in den kühlen Garten!« schlug er vor und fächelte sich mit seinem rotseidenen Taschentuch. Pieter folgte ihm schweigend.

Der Junker hatte reichlich getrunken und schwatzte wie ein großer, vergnügter Junge, während sie zusammen durch den Garten gingen. Er schwärmte von Amsterdam und fragte Pieter, ob etwas in der guten alten Stadt los sei, als ob Pieter soeben erst aus Holland gekommen wäre. Er lachte und gähnte abwechselnd.

»Ist es hier im Grunde nicht ziemlich langweilig?« fragte er plötzlich, indem er stehenblieb.

Pieter stimmte ihm aus ganzem Herzen bei.

Der Junker lachte vergnügt und schob seinen Arm kameradschaftlich in Pieters. »Ich mag Sie gern leiden. Sie müßten nur 'n bißchen leichtlebiger sein – so lalalala – Sie verstehen, nicht? Was wolltest du mit dem dummen Examen? Ich kann nicht begreifen, wie jemand dazu in so 'ner Hitze Lust hat! – Ach, entschuldigen Sie, Monsieur, daß ich Sie geduzt habe. Und Sie haben es doch gar nicht nötig! – Sagen Sie mal, finden Sie es hier nicht furchtbar langweilig?« fragte er wieder, als ob es das Wichtigste von der Welt sei. Er sah zu dem erleuchteten Saal hinüber und drückte sein Monokel ins Auge, das ihm an einer seidenen Schnur um den Hals hing.

»Ihre Kusine ist reizend, aber sonst! Hören Sie mal, Sie und ich und Woodford – übrigens netter Kerl – wollen uns noch einen vergnügten Abend machen, nicht? – Batavia ist ein furchtbares Provinzloch, aber ich kenne es wie meine Westentasche, kenne alle Schlupfwinkel – hahahaha! – Sehen Sie nur, wie Ihr hochverehrter Onkel Mijnheer dort oben sein Glas schwingt! Famoses altes Haus, besonders wenn er seine Würde vergißt. Ich habe ihn einmal gesehen, hahaha, als er, sagen wir, ›in Zivil‹ war.«

Wie der Junker dort stand und so treuherzig und offen schwatzte, war er das ausgesprochene Gegenstück zu Woodford. Pieter fühlte sich zu ihm hingezogen. Als Jonkheer van Heltz in diesem Augenblick Sam Sajs mit den Arrakgläsern ansichtig wurde, winkte er ihm und schlug Pieter vor, daß sie Duzbrüderschaft trinken wollten.

Pieters Laune verbesserte sich. Der Junker hatte wahrhaftig recht, hier war es verflucht langweilig. Ach, aber Lydia! Pieter war drauf und dran, sich seinem neuen Duzbruder anzuvertrauen, als Woodford auf der Treppe auftauchte, vom Tanzen und der Hitze überwältigt.

»Hallo, alter Junge!« rief der Junker und schlug vor, sie wollten sich alle drei auf französisch empfehlen und irgendwo anders amüsieren.

Woodford blickte erstaunt auf die beiden. Dann lachte er und legte vertraulich einen Arm um den Hals des Junkers, einen um Pieter, so daß sie ein vergnügtes Kleeblatt bildeten; vom Davonlaufen schien er nichts gehört oder verstanden zu haben. Seine Augen suchten immer nach der rosa Zephirwolke im Saal, wo die Paare sich im Tanze drehten.

Pieter aber hielt ihn fest.

»Verflucht langweilig«, wiederholte er, um den Vorschlag seines neuen Freundes zu unterstützen. Der Junker faßte ihn bei der Hand, und als Woodford noch zögerte, schob van Heltz seinen Arm unter den seinen und zog ihn mit in den Hof, wo er sich nach seinem Boy umsah.

Fünf Minuten später rollten alle drei in van Heltz' nagelneuem Phaethon zur Stadt, während Woodfords und Pieters bescheidenere Beförderungsmittel leer folgten.


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