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Vor Tagesanbruch

Frau Helwig ging zwischen Tisch und Flügel hin und her, während sie bei jeder Wendung den Kopf den Fenstern zudrehte, als erwarte sie, daß jemand vom Garten hereinkommen solle.

Hjarmer saß noch immer auf dem Sessel am Rauchtisch. Ab und zu griff er sich der heftigen Schmerzen wegen an den Kopf. Schließlich sagte er erregt: »Liebste, kannst du dich nicht setzen! – Du gehst ja unablässig hin und her?«

Frau Helwig setzte sich schweigend auf die Armlehne des Sessels und starrte hilflos ins Mondlicht, dessen schiefe Vierecke jetzt nur noch bis zur Eßzimmertür reichten.

Hjarmer atmete schwer.

»Solche Nacht habe ich noch nie erlebt!« seufzte er. »Alles stürzt über uns zusammen.«

Es erfolgte keine Antwort, und er fuhr mit sich selbst redend fort: »Sie war die letzte, von der ich so etwas geglaubt hätte! – Mit ihren treuherzigen Augen und ihrer guten Stimme hat sie uns von früh bis spät betrogen – nicht, Liebste?«

»Betrogen!« kam es unwillig. »Schuldet sie uns Rechenschaft über ihre Gefühle?«

»Aber, Liebste!« Hjarmer richtete sich empört in seinem Sessel auf. »Nennst du das Gefühle, wenn ein gebildetes, junges Mädchen ein heimliches Verhältnis hat – einen Geliebten?«

Er erhob sich und sah seine Frau an.

»Ich begreife nicht, wo du deine Augen gehabt hast!«

»Ich?« Frau Helwig wandte sich zu ihm um.

»Ja, du – Liebste! – Du hättest doch etwas merken müssen, da du sie den ganzen Tag um dich hattest!«

»Was hätte ich merken sollen?«

»Etwas Verstecktes – Leichtfertiges.«

»Leichtfertig?« kam es hart.

»Ihr standet doch so vertraulich miteinander! – Etwas in ihrer Rede, wenn ihr allein waret, meine ich – etwas Freies – Unanständiges, das darauf gedeutet hätte.«

Frau Helwig richtete sich auf und sah ihren Mann erstaunt und unwillig an: »Du meinst also – daß – wenn sie eine Liebe gehabt hätte? …«

Hjarmer blickte ärgerlich auf.

»Nennst du das Liebe?« sagte er unwillig. »Ein junges Mädchen, das einen heimlichen Liebhaber hat? – Das Wort ist wirklich zu gut dafür!«

Er legte die Hände auf den Rücken und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Und noch dazu einen Bastard! – Einen simplen Menschen! – Einen, der Wechsel fälscht!«

Frau Hjarmer konnte es nicht mehr ertragen. »So schweig doch!« rief sie und warf den Kopf in den Nacken.

»Ja, Liebste!« Hjarmer blieb stehen und sah sie mit seinen blassen, nervösen Augen streng an. »Wenn man ein junges Mädchen im Hause hat, hat man eine Verantwortung!«

Er sah wieder weg und fügte hinzu: »Ich begreife nur nicht, wo sie seine Bekanntschaft gemacht hat!«

Frau Helwig verzog die Oberlippe zu einem spöttischen Lächeln: »Mich dünkte, du kamst ihm selbst sehr liebenswürdig entgegen!«

Hjarmer wurde eifrig: »Er war mir persönlich sehr unsympathisch – sein unbehagliches, kurzangebundenes Wesen war mir gleich zuwider! Es kostete mich große Überwindung, freundlich gegen ihn zu sein, das kann ich dir sagen. Aber er ist der reichste Mann des ganzen Amtsbezirkes! – Und was tut man nicht alles für ferne Zukunft und für seine Familie! – Hätte ich geahnt, daß er ein unschuldiges, junges Mädchen verführt hat – daß er durch und durch ein schlechter Mensch sei, dann …«

Er hielt in plötzlichem Nachdenken inne: »Vielleicht war es verkehrt, daß ich ihn laufen ließ! – Die Sache ist ja noch lange nicht aufgeklärt. – Wie hat er das Geld von dem Alten bekommen, der ihn doch nicht wieder vor Augen sehen wollte?«

»Ja, nicht wahr? – Das war eine große Enttäuschung!« sagte Frau Helwig mit bitterer Ironie.

Hjarmer war zu sehr von sich selbst in Anspruch genommen, als daß er den Spott in ihrem Tone bemerkt hätte.

»Kaum glaubt man, daß man den Kerl hat – noch in der Mordnacht! – Und plötzlich hat man das Nachsehen! – Die Zigarette – die Scheine – beide Spuren wertlos!«

»Und das Avancement, du Ärmster!«

Wieder überhörte er den verborgenen Spott.

»Ja, das Avancement!« Er griff sich nervös an den Kopf; dann fand er Trost in der Liebe zu seinem Kinde.

»Ach, es ist ja alles gleichgültig, wenn nur Ellen …«

»Ja, ja!« Frau Hjarmer schaute nach der Eßzimmertür.

»Wie lange es dauert!« Dann fügte sie hinzu, halb zu sich selbst: »Wenn ich nur wüßte! …«

»Was, Liebste?«

»Ach, nichts!«

Sie trat zu ihm und legte ihre Hand auf seine Schulter.

»Nicht wahr,« sagte sie mit großen, ernsten Augen, »alles könntest du entbehren, nur nicht sie!«

Es zuckte um seine Lippen, und in seine Augen traten Tränen: »Ja, wenn nur Ellen –«

»Ihr beide könntet glücklich miteinander sein!« sagte sie mit einem schmerzlichen Lächeln. »Du und sie!«

»Ach, Liebste!«

Hjarmer wendete den Kopf weg und wischte sich die Augen.

 

Die kurzen, schweren Schritte des Arztes klangen aus dem Eßzimmer.

Er riß die Tür auf. Die kleinen, scharfen Augen strahlten Helwig und Hjarmer entgegen, die beide auf ihn zustürzten: »Die Heiserkeit ist im Abnehmen – die Atemnot ist vorüber. Es ist nicht Diphtherie!«

Hjarmer preßte seine Hände, während ihm Tränen über die blassen Wangen liefen: »Gott segne Sie! – Gott segne Sie!«

Frau Helwig wagte es kaum zu glauben.

»Ist sie gerettet, Doktor?« fragte sie bebend.,

»Sie ist außer Gefahr!« sagte er. »Es ist nur eine bösartige Halsentzündung.«

»Gott sei Lob und Dank!«

Sie schlug die Hände zusammen, und ihre großen, grauen Augen strahlten. »Dann kann noch alles gut werden!« fügte sie zu sich selbst hinzu.

Doktor Sylt setzte seinen eigenen Gedankengang fort. »Krank ist sie, das versteht sich. Aber bei so einer Pflege wie die von Fräulein Sindal wird sie in einer Woche alles überwunden haben!«

Hjarmers Gesicht nahm wieder den leidenden Ausdruck an.

»Fräulein Sindal –« sagte er.

»Ja – wo ist sie?« Doktor Sylt richtete seine kleinen, scharfen Augen auf ihn. »Sie war nicht bei Ellen!«

Hjarmer nahm sich zusammen. Er rieb seine weißen Hände gegeneinander und sagte kurz: »Fräulein Sindal packt ihre Sachen!«

»Was soll das heißen?« kam es rauh. »Reist sie fort?«

Hjarmer sah ein, daß es unmöglich sei, das Geschehene zu verbergen. Darum machte er kurzen Prozeß und sagte hart: »Sie ist bei einem unzüchtigen Verhältnis ertappt worden!«

»Fräulein Sindal?« Der Doktor starrte ihn mit offenem Mund an.

»Ach, das ist nicht wahr!« sagte Frau Helwig zitternd vor Unwillen.

»Nenn' es, wie du willst! – Sie hat einen Geliebten, der sie heimlich bei Nacht besucht!«

Doktor Sylt schlug die dicken, behaarten Hände zusammen und beugte sich zu ihm hin.

»Und das nennen Sie ein unzüchtiges Verhältnis?« fragte er ärgerlich.

Hjarmer sah ihn unsicher von der Seite an.

»Hier,« sagte er, »in unserm Hause! – Zur Nachtzeit?«

»Na, und? – Die Nacht gehört doch wohl nicht Ihnen!«

»Während sie Ellen pflegte?«

»Glauben Sie vielleicht, daß das dem Kinde geschadet hat?«

Die kleinen, scharfen Augen ruhten höhnisch auf dem blassen, leidenden Gesicht.

»Wie meinen Sie das?« fragte Hjarmer unsicher.

»Ich meine, daß Sie Ihrem Kinde keine bessere Pflege angedeihen lassen können als Fräulein Sindals!«

»Ja, nicht wahr?« sagte Frau Helwig warm.

»Das habe ich auch stets geglaubt!« sagte Hjarmer und seufzte.

Jetzt aber wurde der Doktor heftig. Er warf den runden Kopf in den Nacken, so daß das dicke Haar sich bewegte; und seine kleinen, scharfen Augen blickten Hjarmer an. »Und wenn sie auch jede einzige Nacht im Jahr ein unzüchtiges Verhältnis, wie Sie es nennen, gehabt hatte, so ist sie doch der einzige Mensch mit gesunden, unverdorbenen Instinkten hier im Hause! – Dafür steh' ich ein, der ich euch allesamt in- und auswendig kenne! – Gute Nacht!«

Er trat an den Flügel und nahm seinen Hut.

»Aber, lieber Doktor!« – bat Hjarmer und folgte ihm mit ausgestreckter Hand.

Sylt wandte sich zornig um.

»Und solch ein Geschöpf jagen Sie davon!« sagte er, die Hände in die Seiten gestemmt. – »Sie wissen ja selbst nicht, was Sie tun!«

Es bebte um Hjarmers Mund, er blickte zur Seite und flüsterte tief bewegt: »Wenn Sie wüßten, wie es mich geschmerzt hat!«

Der Doktor sah ihn eine Weile an. Dann sagte er in milderem Ton: »Das ist Ihre einzige Entschuldigung, Hjarmer! Wenn Sie nicht soviel von ihr hielten – dann wäre Ihre sittliche Entrüstung kaum so groß!«

»Nein – das ist es eben!« sagte Frau Helwig stark und warm.

»Aber das wissen Sie selbst nicht!« fuhr der Doktor fort, ohne ihren Einwurf zu beachten. »Sie kennen überhaupt Ihre eigenen Gefühle nicht! – Denn ich sage Ihnen, Sie haben feine natürlichen Instinkte. Und die, mit denen Sie geboren wurden, sind in der Entwicklung erstickt worden, erst durch Lehrbücher und Schulzwang und später durch das, ›was sich schickt‹, durch Ordnung und Gesetz und Sitte und was der Teufel sonst noch alles erfunden hat!«

Er hielt einen Augenblick inne, um Luft zu schöpfen. Dann schlug er die dicken, behaarten Hände zusammen und fuhr fort: »Und solche Leute wie Sie macht man zu Richtern über das lebendige Leben natürlicher Menschenkinder! – Nein, wir bitten um Selbsthilfe! – Selbsthilfe im weitesten Maßstab; und Sie sollen sehen, wie tadellos Natur und gesunde Vernunft dann das Ganze regulieren werden.«

 

Es klopfte.

Frau Helwig sah sich hastig um.

»Hat es nicht geklopft?«

Alle lauschten. Da klopfte es wieder – ein merkwürdig unbestimmtes, hilfloses Klopfen.

»Es war an der Verandatür!« sagte Doktor Sylt und trat ans Fenster.

Der Mond stand nun im Nordwesten; er reichte nicht mehr ins Zimmer hinein, aber draußen im Garten lag noch sein flimmerndes Licht.

Als Doktor Sylt den Erker erreichte, tauchte eine dunkle Gestalt hinter der Glastür auf und verdeckte das Mondlicht.

Frau Helwig fuhr zusammen.

»Da!« – sagte sie und zeigte auf die Glasscheibe.

Hjarmer trat ein paar Schritte vor: »Wer ist da?«

Im selben Augenblick öffnete Doktor Sylt die Tür.

»Kasper!« rief Frau Helwig und sah starren Blicks nach der Tür.

Kasper blieb in der Türöffnung stehen und stützte sich gegen den Pfosten, als könne er sich kaum aufrecht halten. In der einen Hand hielt er Stock und Mütze, und in der andern einige Papiere, die stark zerknittert waren. Das graue, verstaubte und zusammengeklebte Haar hing ihm über die mit zahllosen Furchen durchzogene Stirn, und die kleinen braunen Augen starrten matt aus dem verzerrten Gesicht mit dem fleischigen Kinn.

»Ziehen Sie Ihre Holzschuhe aus,« sagte Doktor Sylt, »und dann kommen Sie herein.«

Der Soldaten-Kasper entledigte sich umständlich seiner Schuhe. Dann machte er einige Schritte ins Zimmer hinein und versuchte vergebens den Rücken zum Honneurmachen aufzustrammen.

»Was wollen Sie hier – zu dieser Zeit?« fragte Hjarmer.

»Mich beim Amtsvorsteher melden!« brachte er mühsam hervor, während alle Falten seines Gesichtes in Bewegung gerieten.

»Hätten Sie damit nicht bis morgen warten können?« fragte Hjarmer ärgerlich.

Kasper antwortete nicht. Er stützte sich auf seinen Stock, um sich aufrecht zu halten, während sein Kopf auf die Brust herabsank.

»Was haben Sie denn ausgefressen, Sie Nomade!« fragte Doktor Sylt und schlug ihm ermunternd auf die Schulter. »Heraus mit der Sprache, Mann!«

»Ich habe den alten Hilsöe erschlagen und ihm seine Brieftasche geraubt,« sagte er, ohne aufzusehen.

»Sie haben –«

Der Doktor zog sich unwillkürlich einige Schritte von ihm zurück. Frau Helwig aber, die kein Auge von dem schlaffen, verzerrten Gesicht verwandt hatte, beugte sich vor und fragte: »Wer hat Ihnen Branntwein gegeben?«

Jetzt erst schaute Kasper auf. Seine matten Augen richteten sich mit dem hilflos demütigen Blick eines totkranken Hundes auf sie.

»Es war nicht der Branntwein! – Denn Stine hat mir nur drei kleine Schnäpse gegeben.«

Dann gelang es ihm schließlich, sich zusammenzunehmen; er wandte sich zu Hjarmer und reichte ihm die Papiere, die er in der linken Hand hielt.

»Bitte, Herr Amtsvorsteher!«

»Was ist das?«

»Das ist die Brieftasche!«

»Aber das ist ja gar keine Brieftasche!« erwiderte Hjarmer, indem er zögernd die Papiere entgegennahm.

»Nee – die hab' ich fortgeworfen! – Aber es ist das, was drinnen lag.«

»Warum haben Sie denn den alten Hilsöe umgebracht?« fragte Hjarmer, indem er sich wieder an den schmerzenden Kopf griff.

Kasper zögerte einen Augenblick. Doch plötzlich gerieten alle seine Gesichtsmuskeln in Bewegung: »Wegen einer alten Liebe!«

»Was soll das heißen?« fragte Hjarmer scharf. Er betrachtete erstaunt die elenden, verkommenen und vom Trunk verheerten Züge.

»Es war der unerforschliche Wille des Schicksals, daß er schließlich an seinen Schandtaten zugrunde gehen sollte.«

»Was hat er Ihnen getan?«

Es flammte auf in den matten Augen. Kasper richtete sich auf, und die heisere Stimme kam in Fluß, während er die linke Hand wie zu feierlicher Bekräftigung in die Höhe hob.

»Ja, jetzt will ich mein Herz öffnen und bekennen, wie das unerforschliche Schicksal mich zum Trunkenbold gemacht hat.«

»Nein, wir danken dafür!« unterbrach Hjarmer ihn ungeduldig. »Aber der Mord – warum haben Sie ihn erschlagen?«

»Weil er mir Christine Hansen weggenommen hat, als ich auf dem Hof diente!«

»Mamsell Berg?« fragte der Doktor.

»Nee! – Sie heißt gar nicht Mamsell Berg – sie heißt Christine Hansen. Und sie war meine Braut, und wir sollten zu Michaeli Hochzeit haben. Aber da warf er seine Augen auf sie. Und er war ja der Gutsherr, und ich hatte schon mal wegen Gewalttätigkeit gesessen. Und da wurde sie mir untreu des Geldes und des Ansehens wegen – und was es sonst an Übel gibt!«

Kasper atmete tief auf. Jetzt, da ihm endlich die Lippen geöffnet waren, ließ er sich nicht länger Einhalt gebieten. Er mußte alles bis aufs letzte sagen. Trotz seiner Schlaffheit empfand er es wie eine Linderung, alles zu bekennen – das Böse wie das Gute. Es war, als ob ein altes, verhärtetes Geschwür aufgebrochen sei – es schmerzte und linderte zugleich, die ganze Not aus seinem Herzen herauszudrücken. Und wie er so dastand, den Kopf vornübergebeugt, ohne etwas zu sehen, hörte er seiner eigenen Erzählung zu, als sei er ein Fremder, der sie zum besten gäbe.

»Und dann fing ich an zu trinken. Und dann ging ich als Soldat nach Westindien, weil ich Angst hatte, daß ich ihn niederschlagen würde, wenn ich ihn mit ihr zusammen sähe. Und drüben trank ich, und so wurde ich krankheitshalber als versorgungsbedürftig wieder nach Hause geschickt. Und gleich als ich ihn wiedersah, bekam ich Angst, daß ich ihn erschlagen würde. Denn ich gönnte es ihm sozusagen nicht, daß es mir so schlecht gehen sollte. Darum lief ich mit den Nomaden fort – und wurde selbst ein Nomade – und es ging mir sehr gut da draußen in der Welt – wenn wir von Stadt zu Stadt streiften. Aber dann starb der Häuptling. Er trank sich den Hals ab – und wir wurden aufgelöst, und ich wurde wieder von Hamburg aus nach Hause geschickt.«

»Armer Mensch!« Frau Helwig betrachtete voller Mitleid das unablässige Mienenspiel in dem verheerten Gesicht.

»Bedauernswerter Kerl!« sagte Doktor Sylt. »Und nun hast du ihn schließlich doch erschlagen?«

»Ja … Es war der unerforschliche Wille des Schicksals!«

»Wie ist es zugegangen?« fragte der Amtsvorsteher, dessen Gedanken beständig um die volle Aufklärung des Mordes kreisten.

»Das will ich jetzt offen und ehrlich bekennen!« kam es feierlich. »Sehen Sie, es meldet sich ja immer, wenn Vollmond ist.«

»Was?«

»Der Indstik – der Ingstink – daß ich trinken muß! – Und ich hatte ja nur drei kleine Schnäpse bekommen – und darum lag ich hinter der Gartenhecke des Ziegelhofes im Mondschein und dachte darüber nach, wie ich zu Geld kommen könnte. Da sah ich einen Mann auf dem Feldweg daherkommen und dicht neben mir durch die Gittertür gehen. Ich dachte nicht anders, als daß er zum Hof gehöre. Aber gleich nachher hörte ich des Alten Stimme hinter der Hecke. Und er war fuchswild – und der andre, der bei ihm war, war ebenso wütend; und der Fremde sagte, daß der alte Hilsöe sein Leben vernichtet habe. Das können noch andre von sich sagen, dachte ich … Und dann hörte ich, daß sie von Geld sprachen – und von großen Summen. Und ich richtete mich auf und guckte durch die Büsche. Und da sah ich, daß er die Brieftasche aus dem Rock riß und dem Fremden einige große Scheine mit einem Schwall von Schimpfworten hinreichte. – Dann gingen sie auseinander – fuchswild alle beide. Und dann sah ich den Fremden wieder durch die Gittertür kommen und den Feldweg zurückgehen, den er gekommen war.«

»Und dann erhoben Sie sich und liefen zum Alten in den Garten hinein?« fragte Hjarmer ungeduldig.

Kasper atmete schwer und stöhnte.

»Da war es der unerforschliche Wille des Schicksals,« fuhr er feierlich und geheimnisvoll fort, »daß der Böse in mich fuhr … Sieh den an, dachte ich, der ist klug, er verlangt Geld von ihm, weil er sein Leben vernichtet hat. Und der Alte wagt nicht, es ihm zu verweigern. Das solltest du auch tun, dachte ich, denn dein Leben hat er auch zugrunde gerichtet. Ja, jetzt soll er es büßen, dachte ich, entweder mit Geld oder mit dem Leben. Und ich fühlte mich so stark auf den Beinen wie seit Jahren nicht. Ich stand auf und schlich mich durch die Pforte und die Gartenwege entlang. Ich kenne mich ja von früher aus. Und ich wußte, daß Herr Hilsöe schwach auf den Beinen war und die Verandatreppe nicht vor mir erreichen würde. Ich versteckte mich im Syringengebüsch. Gott, wie dufteten die schönen, weißen Blumen, während ich da wartete! – Und dann – als er kam – da trat ich vor und bat um ein paar Groschen zu Branntwein.«

»Ach, du armer Kerl!« Doktor Sylt schüttelte den Kopf. »War das alles?«

»Was sagten Sie zu ihm?« fragte Hjarmer.

»Das weiß ich nicht mehr. Aber er antwortete ebenso grimmig, wie er immer gewesen ist – daß ich mich zum Garten hinausscheren solle, sonst würde er den Hund auf mich hetzen. Aber sehen Sie, ich wußte ja, daß der Hund im Frühjahr gestorben war.«

»Woher wußten Sie das?«

»Ich kam ja hin und wieder mal in die Küche.«

»Zu Mamsell Berg?« fragte Sylt interessiert.

»Nicht zu ihr selbst! – Davon durfte ja niemand etwas wissen! – Aber die Köchin gab mir ab und zu was zu essen – und dann bekam ich des Herrn abgelegte Stiefel – weil Christine wußte, daß wir Nomaden so viel herumtraben, und die Stiefel paßten mir gerade; – und an Feiertagen gab's auch 'n bißchen Geld.«

»Was geschah dann weiter?«

»Ja, sehen Sie, ich hatte also das Gewehr parat!«

»Das Gewehr?« Hjarmer sah überrascht auf.

»Er meint seinen Stock!« erklärte Frau Helwig.

»Du hattest also deinen Knüppel parat!« sagte der Doktor.

»Ja – und da versetzte ich ihm eins über den Schädel, daß er den Hut verlor und hinstürzte – mausetot!«

Niemand sprach ein Wort. Kasper sank zusammen und starrte vor sich hin, als sähe er den Alten mit dem Loch im Kopf vor sich liefen.

»Und was weiter?« fragte Hjarmer.

»Da fuhr der Böse in mich – denn ich dachte nur an das, was ich haben mußte.«

»Was war das?«

»Branntwein! – Und da raubte ich die Brieftasche, die ich vor kurzem in seiner Hand gesehen hatte. Sie war groß und schwer; und als ich wieder an die Gartenhecke zurückkam, nahm ich heraus, was drin war, die Tasche aber warf ich fort, damit sie mich nicht verraten sollte.«

»Und was weiter?«

»Da lief ich mit all dem schönen Geld zu Jesper.«

»Wer ist das?«

»Ach, das ist der in der Winkelschenke, das wissen Sie doch wohl, Herr Amtsvorsteher! – Aber er wollte mir nichts verkaufen. – ›Das Geld hast du gestohlen!‹ sagte er, als er den großen Schein sah. Da rannte ich davon, damit er mich nicht festnehmen könnte, lief bis in den Wald und legte mich da auf einen Abhang im Mondschein. Ich war so müde, und meine Hände zitterten so furchtbar, daß ich die Papiere kaum halten konnte.«

»Warum zitterten Sie denn?«

»Weil ich nur drei kleine Schnäpse bekommen hatte. Aber als ich dann so dalag und nachdachte, kam ich auf den Gedanken, die Papiere durchzusehen und die Scheine zu zählen, und da …«

Die Stimme schlug über in plötzlicher Rührung.

»… da fand ich ein großes Stück Papier, das viermal zusammengelegt war.«

Hjarmer suchte zwischen den Papieren, die er in der Hand hielt.

»Dieses hier?« fragte er.

»Ja. Und ich las es in dem hellen Mondschein« – Kaspers Stimme wurde leise vor Rührung – »und da sah ich, daß es ein Testament war.«

»Ein Testament!« Der Amtsvorsteher entfaltete hastig das Papier.

»Das Testament?« sagte Frau Helwig in größter Spannung.

»Einer sollte drin enterbt werden.«

Frau Helwig griff sich eines plötzlichen Stiches wegen ans Herz, und sie rief halblaut: »Arm wie vorher!«

»Und da war Geld sowohl für die Stadt wie für das Kirchspiel. Und zuletzt stand Christine Hansens Name da!«

Kasper atmete schwer. Dann setzte er mit zunehmender Rührung fort, während die Worte fast unverständlich wurden: »Und sie sollte zweitausend Kronen im Jahr haben, solange sie lebte!«

Er wischte sich die Nase und trocknete sich die Augen mit seiner zitternden Hand.

»Und was dann?« fragte Hjarmer.

»Da dachte ich,« fuhr er schluchzend fort, »es wäre zu schade, wenn sie alles umsonst getan haben sollte.«

»Was denn?«

»Erst war sie ihrer Liebe des Geldes und Ansehens wegen untreu geworden – und nun sollte sie auch um den Kaufpreis betrogen werden und auf ihre alten Tage arm wie eine Kirchenmaus dastehen. Denn wenn das Testament nicht da war, würde ihr sicherlich keiner einen Pfennig geben. Und da dachte ich, daß es der unerforschliche Instik des Schicksals sei, daß ich den Alten erschlagen solle, damit sie als Witwe ihr gutes Auskommen habe. Und das hat sie nun schließlich doch ihrer Jugendliebe zu verdanken, obgleich sie sie so schändlich betrogen hat.«

»Und deshalb hast du dich gemeldet, Kasper?«

»Ja, damit sie kriegen kann, was ihr rechtlich zukommt!«

»Aber Sie selbst?« fragte Hjarmer und sah ihn ernst an. »Haben Sie daran gedacht, was Ihrer wartet?«

Kasper richtete den Kopf auf und atmete tief und stöhnend, während alle Gesichtsmuskeln wie in lautlosem Weinen zitterten. Dann brach es aus der Tiefe seines Herzens hervor, stark und schwer und erlösend: »Ja, dann wird dieses böse Leben wohl ein Ende haben!«

»Wollen Sie morgen bei einem Verhör bekräftigen, was Sie hier gesagt haben?«

»Jedes einzige Wort!«

Hjarmer legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Nun, dann sind Sie jetzt also verhaftet, Kasper!«

»In Jesu Namen – das bin ich wohl!«

»Folgen Sie mir!« sagte Hjarmer und ging auf die Kontortür zu.

Kasper folgte ihm einige Schritte. Dann blieb er stehen und sah sich nach den andern um, als wolle er bei ihnen Hilfe suchen.

»Was ich noch sagen wollte –« begann er und strich sich mit der linken Hand über den Rock.

Hjarmer wandte sich um.

»Was haben Sie noch auf dem Herzen?«

»Kann ich nicht einen oder zwei Schnäpse bekommen?« kam es leise, fast wimmernd.

»Weshalb?«

Er blickte mit seinen matten, braunen Augen stehend von einem zum andern und sagte in demselben wimmernden Ton: »Ich hab' immer gehört, wenn Verbrecher ihr Herz öffnen und bekennen, dann kriegen sie Branntwein und Bier und Festtagsessen für ihre Willigkeit.«

Der Doktor legte ihm die Hand auf die Schulter und versuchte seinen matten Blick mit seinen scharfen Augen festzuhalten.

»Es wäre unrecht, dich darum zu betrügen, Kasper!« sagte er. »Denn als du auf dem Abhang saßest und überlegtest, da dachtest du wohl, daß du Branntwein zur Belohnung bekämst, wenn du dich selbst melden würdest?«

Kasper sah zu ihm auf und nickte treuherzig. »Das ist wahr, Herr Doktor! Das wird man dir nicht abschlagen, dachte ich, wenn du wahrheitsgemäß bekennst.«

»Du sollst so viel Schnäpse bekommen, wie du haben willst! – Dafür stehe ich ein, Kasper!«

»Aber, bester Doktor!« Hjarmer sah erschreckt mit seinen hellen Augen zu ihm auf.

Der Doktor zog ärgerlich die Hose hinauf und sagte: »Können Sie denn nicht sehen, daß der Mann mir überlassen werden muß? – Er ist kein Verbrecher. Er ist krank – krank, weil er sein ganzes Leben hindurch gegen gesunde, natürliche Instinkte, die die öffentliche Moral verurteilt, hat ankämpfen müssen. Die Natur aber läßt sich nicht knechten. Was keine Daseinsberechtigung haben darf, was beständig niedergedrückt wird – das gräbt sich tiefer ein, versumpft und vergiftet die ganze Konstitution. – Trunksucht, Geisteskrankheit, Monomanie! – Und eines schönen Tages geht das Geschwür auf. Nur ein Nadelstich – Gelegenheit gibt's genug! – Glauben Sie mir, hätte er heute abend so viel Schnäpse bekommen, wie er nötig hatte – dann wär' der alte Hilsöe nicht ermordet worden. Und darum ist sein Platz im Krankenhaus!«

Doktor Sylt richtete sich auf und sah zur Kontortür hinüber.

»Der Schutzmann ist draußen – nicht wahr?« fragte er.

»Ja, er sitzt im Flur!« antwortete Hjarmer.

»Gut! – Dann können wir uns zusammen seiner annehmen!«

Er legte die Hand auf Kaspers Schulter: »Komm nur mit, Kasper! – Du sollst so viel Schnäpse bekommen, wie du verdienst!«

Die matten, braunen Augen flammten in plötzlicher gieriger Freude auf.

Er machte einen mißglückten Versuch, den Rücken zum militärischen Gruße zu strammen, während er doch in der Aussicht auf die Schnäpse am ganzen Körper zitterte.

Der Doktor schob ihn vor sich her und durchs Kontor hinaus.

 

Hjarmer griff sich an die Stirn und lächelte mit seinen müden, nervösen Augen.

»Ach Liebste!« sagte er. »Wie ist doch das alles so sonderbar! Es ist wie ein Märchen! Vorhin war alles düster, und jetzt ist wieder alles hell und lächelnd!«

Frau Helwig stand am Flügel und sah in tiefen Gedanken vor sich hin.

»Und Fräulein Sindal?« fragte sie.

»Ach, erinnere mich nicht an sie!« – Ein plötzlicher Schmerz jagte über sein müdes Gesicht. – »Ich will sie zu vergessen suchen!«

Helwigs große graue Augen ruhten forschend auf den seinen. Dann strich er sich über die Stirn und sagte: »Ich will nur daran denken, daß Ellen gerettet und der Mörder gefunden ist. Ist es nicht wie eine Vorsehung? Erst diese Angst – und das Kind wird gerettet! Dann die Enttäuschung nach der Hoffnung! Und trotzdem kommt der Mörder im Mondschein anspaziert und gibt sich selbst in meine Hand! Ist das nicht wie eine Prüfung?«

Frau Helwig richtete sich auf und ging auf ihn zu. Jetzt endlich hatte sie einen Entschluß gefaßt.

»Eine Prüfung, die bestanden sein will!« sagte sie.

Hjarmer fiel ihr feierlicher Ton nicht auf.

»Ja,« sagte er, »und wir haben sie bestanden! Und jetzt ist alles wieder gut.«

»Nein, die Prüfung fängt jetzt erst an!«

Diesmal merkte er, daß ihre Stimme zitterte.

»Was meinst du damit?« fragte er und sah ihr in die Augen, die so seltsam tief in ihrem blassen Antlitz leuchteten.

»Das Schwerste kommt noch!«

»Ich verstehe dich nicht!« sagte er, durch den feierlichen Ernst ihrer Stimme beunruhigt.

»Hast du in dieser Nacht nicht etwas gelernt?«

»Was willst du damit sagen?«

Wieder sah er sie erstaunt und ängstlich an; so hatte er sie noch nie gesehen.

»Ich wünschte, du hättest nur halb so viel gelernt, wie ich gelernt habe, seit die Sonne untergegangen ist.«

Es ging plötzlich wie ein Schimmer der Freude über ihr Gesicht, während die großen Augen sich mit klaren Tränen füllten.

Er starrte sie mit offenem Mund an: »Liebste – weshalb bist du so bewegt?«

Ihre Augen strahlten durch Tränen, und die Oberlippe hob sich zu einem schmerzlichen Lächeln.

»Oh – ich bin so unsagbar glücklich in diesem Augenblick, obgleich ich dir einen großen Kummer bereiten muß!«

»Helwig?« bat er angstvoll und streckte die Hand abwehrend gegen sie aus.

Sie ging auf ihn zu und nahm seine Hand in ihre beiden.

»Ach mein Freund!« sagte sie leidenschaftlich. »Wenn du mit meinem Herzen fühlen, wenn du mit meinen Augen, die jetzt geöffnet sind, sehen könntest – dann würdest du dich mit mir freuen, daß ich endlich, endlich den Mut gefunden habe –«

»Wozu?« sagte er atemlos.

»Ein ehrlicher und natürlicher Mensch zu sein! Ach, nimm dich zusammen, Knud! Vergiß einen Augenblick deine Stellung, dein Amt, Geld, Ansehen, Gesellschaft und alles miteinander.«

Hjarmer zog seine Hand aus der ihren.

»Zieh dich nicht zurück!« bat sie leise. »Es steht so viel für dich und für mich und für uns alle auf dem Spiel!«

»Ich versteh' dich nicht! Weshalb soll ich vergessen?«

Sie bemächtigte sich wieder seiner Hand und hielt sie fest zwischen ihren beiden.

»Lebe einen Augenblick mit deinem Herzen allein! Sei einen Augenblick der gute, gerechte Mensch, der du in deinem Innern bist!«

Hjarmer starrte sie in angstvoller Ahnung an.

»Helwig – was soll das alles bedeuten?«

Ihr großer schwärmerischer Blick umfaßte seine schmächtige Gestalt mit einer Macht, der er sich nicht zu entziehen vermochte.

»Versprich, daß du es versuchen willst, Knud!«

»Ja, ja!« stammelte er. Wenn sie es doch nur erst sagen würde!

»Und nun sage mir, ist jemals die lebendige Liebe zwischen uns gewesen? Die – die wie ein Schicksal ist? – – Nein, antworte mir noch nicht! – Denke nach, und denke mit deinem Herzen! – Bin ich deinem Leben jemals so notwendig gewesen, daß du meinetwegen Stellung, Name und Ehre vergessen hättest?«

Hjarmer zog seine Hand zurück und wich ihrem Blick aus; aber er antwortete nicht.

Helwig faßte ihn am Arm.

»Du weißt es!« sagte sie stark, fast drohend.

»Es ist wahr!« Hjarmer konnte sich der Macht, die aus ihrem Blick leuchtete, nicht entziehen; sie hinderte ihn daran, über die Frage nachzudenken, die sie gestellt hatte. Aber er wußte, er fühlte in der Tiefe seines Herzens, daß sie recht hatte.

Als er seinen Kopf schweigend beugte, ließ sie seine Hand los und fragte ruhig, als sei die Sache im Grunde ganz einfach und natürlich: »Weshalb wollen wir dann beieinander bleiben?«

»Aber, Liebste!« Hjarmer fuhr zusammen, als habe er einen Schlag ins Gesicht bekommen.

Frau Helwig fuhr in demselben ruhigen, natürlichen Tone fort: »Du willst doch nicht eines andern Recht und Eigentum nehmen?«

»Eines andern?« kam es bebend.

»Es gibt einen, der mich liebt – einen, der alles meinetwegen vergaß – Stellung, Namen und Ehre! Einer, der ins Zuchthaus gehen wollte, wenn es mein Glück gegolten hätte!«

Hjarmer starrte sie an, als sei sie plötzlich eine Fremde geworden. Die Stimme war eine andre, tiefer, wärmer. Einen so strahlenden Ausdruck in den großen Augen hatte er noch nie gesehen. Selbst die Haltung war wie verwandelt – stolzer und kühner.

»Und du? – Lie… du selbst?« stammelte er in seiner tiefen Verwirrung.

Sie sah ihn nicht an. Sie antwortete, als spräche sie zu einem Dritten, der unsichtbar zugegen sei.

»Eine Frau liebt den, der am höchsten bietet – den, der alles gibt! Vielleicht wissen wir es selbst nicht, denn wir haben keine natürlichen Instinkte. Eines Tages aber, wenn es zu spät ist, wenn wir in Blindheit den Weg mit einem andern gegangen sind, dann kommt es in einer hellen und stillen Sommernacht zu uns – dann wird alles das hervorgelockt, was in uns gelegen hat, ohne daß wir es selbst gewußt haben.«

Hjarmer fing an zu begreifen. Er senkte den Kopf, während ihn seine nervösen Augen von Tränen, die hervorbrechen wollten, schmerzten.

Sie merkte es nicht. Sie fuhr fort, wie sie mußte – jetzt, da der Weg endlich durchbrochen war.

»So ist es gekommen! Und es nahm gegen meinen Willen von mir Besitz. Und nun steht es vor mir und fragt, ob ich ihm entgegenzuhandeln wage. Jetzt, da es mein Glück gilt – und sein Glück, das in meinem Herzen Heimatrecht hat – jetzt muß ich dir alles sagen. Solange Ellen noch in Gefahr war, wagte ich es nicht. Ich fürchtete – ich weiß selbst nicht was. Jetzt gibt es keine Wahl mehr!«

Sie wandte sich ihm ganz zu und richtete ihre großen Augen fest und feierlich auf ihn: »Als wir uns heirateten, Knud, da war mein Herz bei einem andern; aber ich rechnete es für nichts – ich lernte seine Macht erst später kennen; ich ahnte sie wohl hin und wieder, wenn ich allein in der Dämmerung saß; aber heute nacht habe ich sie gesehen. Jetzt weiß ich, daß ich ihr nicht mehr entschlüpfen kann, denn sie hat mich bezwungen.«

»Wen liebtest du?« fragte er und sah sie starr an.

»Werner Hilsöe!«

»Hilsöe – du?«

»Du sollst alles erfahren – all das, was ich dir schon lange hätte sagen müssen, wenn ich meinem Drang gefolgt wäre. Nur ein Zufall war schuld daran, daß ich nicht die Seine wurde, bevor ich dich kennenlernte.«

Hjarmer war überwältigt. Er setzte sich und schlug die Hände vors Gesicht.

»Das ist zu viel! – O Gott – o Gott!«

Helwig legte ihm die Hand auf seine Schulter.

»Denk' an das, was du mir versprochen hast!« bat sie schwärmerisch. »Denk' mit deinem Herzen – du hast mich ja nie geliebt, das weiß ich jetzt.«

Hjarmer nahm die Hände vom Gesicht und sagte mit bitterem Schmerz: »So sprichst du – die Mutter meines Kindes – nach vierjähriger Ehe!«

»Oh, denk' doch mit deinem Herzen!« Sie beugte sich in heftiger Erregung über ihn und faßte ihn leidenschaftlich an der Schulter. »Denk' nicht an Ehe und Stellung und all das, was der Gesellschaft angehört! – Oder glaubst du, daß das alles wirklich dein und mein Glück aufwiegen kann?«

» Mein Glück?« fragte er bitter, fast mit einem Lächeln.

»Ja – denn wenn wir uns scheiden lassen, dann bist du ja frei! – Dann kannst auch du den Fehler wieder gutmachen und das Leben leben – nicht wie deine Stellung, sondern wie dein Herz es dir gebietet.«

»Und das Kind?« kam es leise. »Ellen?«

Frau Helwig strich sich über die Schläfe, als müsse sie all ihre Kraft zusammennehmen. Dann sah sie ihn mit einem schmerzlichen Lächeln an: »Bist du ihr nicht alles? Hat sie dich nicht immer vorgezogen?«

»Mich und Fräulein Sindal!« sagte er, als dächte er laut.

»Ja – und Selma Sindal!«

Sie zögerte einen Augenblick, während sie sein müdes, blasses Gesicht betrachtete: »Denkst du nicht an sie in diesem Augenblick?«

Er antwortete nicht.

»Erinnerst du dich, wie nahe es dir ging – erinnerst du dich an die tiefe Enttäuschung vorhin?«

Ein Gedanke schoß in ihm empor – wie ein Lichtblick in der Finsternis.

»Hilsöe und du?« fragte er, indem er sich aufrichtete und alles das festzuhalten versuchte, was in dieser Nacht geschehen war. »Dann war sie es ja gar nicht! – Du warst es, die er besuchte, während ich fort war!«

Eine plötzliche Freude trieb ihm das Blut in die Wangen.

»Jetzt begreife ich! – Um dich zu decken, nahm sie die Schuld auf sich. – Gott sei Dank! Dann ist sie ja unschuldig!«

 

Es wurde an die Verandatür geklopft.

Frau Helwig zuckte in jubelnder Ahnung zusammen.

»Herein!« rief sie.

Die Glastür wurde geöffnet, und Werner Hilsöe trat herein.

»Verzeihen Sie, Frau Hjarmer!« sagte er und sah sie mit einem seltsamen Glanz in seinen dunklen Augen an. »Das Märchen führt mich in dieser seltsamen Nacht noch einmal hierher!«

»Ich wußte es,« sagte sie und griff sich ans Herz.

Hjarmer richtete sich auf, ging auf ihn zu und fragte verlegen: »Womit kann ich dienen?«

Werner sagte kalt und geschäftsmäßig, ohne ihn anzusehen: »Als ich durch den Feldweg zum Ziegelhof ging, fand ich vor der Gartenhecke im Mondlicht diese Brieftasche. Sie war leer; aber ich sehe es als meine Pflicht an, sie dem Amtsvorsteher einzuhändigen, denn sie hat meinem Onkel gehört.«

Hjarmer nahm die Brieftasche und betrachtete sie gleichgültig.

»Der Mörder hat sich selbst gemeldet,« sagte er mechanisch, »ein armer, geistesgestörter Mensch hier aus der Gegend.«

Plötzlich leuchtete es wie ein Schimmer von Schadenfreude in seinem Blick auf.

»Und ich kann Ihnen gleichzeitig die Mitteilung machen, daß sich zwischen den Papieren, die in der Brieftasche lagen, auch das Testament befand, von dem Mamsell Berg sprach.«

»Und was steht darin?«

»Lesen Sie selbst!«

Hjarmer suchte das Dokument zwischen den Papieren auf dem Rauchtisch hervor und reichte es Hilsöe.

Werner entfaltete es und las, während ihm das Blut zu Kopfe stieg. Dann legte er es zusammen und sagte, zu Frau Helwig gewandt: »Das Märchen war nur kurz, Frau Hjarmer! – Die Sage vom reichen Erbe ist schon zu Ende!«

Sie sandte ihm einen strahlenden Blick aus ihren großen grauen Augen: »Aber ein neues Märchen beginnt, Werner Hilsöe!«

Was war das? – Er sah hastig auf. »Frau Hjarmer?« kam es zweifelnd.

»Die Frau, die nur nach dem Sicheren und Gewissen verlangte und aller Menschen Achtung wollte –«

»Was, die –«

Sein dunkler Blick ruhte angstvoll auf ihr; er konnte nicht glauben –

»Oh, sie ist wie verwandelt!« rief sie und lächelte durch Tränen. »Das Märchen kam zu ihr in einer Sommernacht und öffnete ihr die Augen!«

»Ist es Ihr Ernst?« fragte er leise und bebend.

»Sie ist ein natürlicher Mensch geworden!« sagte Helwig und streckte ihm beide Hände entgegen.

»Helwig Lönfeldt!« Es klang fast wie ein Schluchzen, während er ihre Hände ergriff und sie so heftig preßte, daß ihr Antlitz sich verzog; aber sie achtete des Schmerzes nicht.

»Als der Mörder von dem Testament erzählte,« sagte sie, »als ich hörte, daß du dennoch arm seiest – wie an jenem Abend, als du mich hättest zu eigen nehmen sollen, wie ein Mann die Frau in seine Arme nimmt, die die Seine ist – da wußte ich, daß eine Verwandlung in mir vorgegangen sei. Da war ich nicht mehr verzagt, da war ich von Freude und Sehnsucht erfüllt, denn nun wußte ich, daß es sich dennoch erfüllen solle –«

»Was?« fragte Werner in atemloser Spannung.

»Daß ich für Liebe und Glück kämpfen solle – Hand in Hand mit dir!«

Werner beugte sich herab und küßte ihre lieben Hände.

Dann erinnerte er sich, wer zugegen sei. Er wandte sich an Hjarmer und versuchte in dessen Gesicht zu lesen, was in ihm vorging. »Aber dein – aber der Herr Amtsvorsteher?« fragte er zögernd.

Frau Helwig versuchte Hjarmers Blick zu fangen, wie er dort stand, bleich und müde, und gebeugten Hauptes vor sich hinstarrte.

»Knud kennt jetzt mein Herz,« sagte sie schließlich, »und dein Recht!«

 

Die Tür zum Eßzimmer wurde geöffnet, und Selma Sindal trat still herein.

Sie hatte Hut und Mantel an und trat langsam näher, in ihren großen, blauen Augen glänzten Tränen.

Als sie Werner Hilsöes ansichtig wurde, blieb sie überrascht stehen. Als sie sah, daß er Frau Helwigs Hand in der seinen hielt, stieg ihr das Blut in die Wangen, und ihre Lippen verzogen sich in heftigem Schmerz, während sie sich nach Hjarmer umschaute, der hastig den Kopf wegwandte.

Da ging ihr Herz mit ihr durch. Sie stürzte auf Frau Helwig zu und fragte aufs tiefste bewegt: »O Frau Hjarmer – was haben Sie getan?«

Frau Hjarmer aber sah sie strahlenden Blickes an: »Was recht war, und was ich tun mußte!«

Fräulein Sindal überlebte ihre Worte nicht mehr. Sie sagte warm und offen, wie ihr Herz es ihr eingab: »Wie konnten Sie ihm das antun?«

Da wandte Hjarmer sich langsam um. Er richtete seine blassen, müden Augen auf sie und fragte bewegt: »Fräulein Sindal – warum hatten Sie eine so große Schuld auf sich genommen?«

Sie errötete über und über, während ihre Finger mit den Handschuhen, die sie in der Hand hielt, spielten.

Hjarmer trat zu ihr.

»War es, um Helwigs Schuld zu decken?« fragte er.

Sie schlug die Augen nieder und biß sich in die Lippe, antwortete aber nicht.

»Oder war es, um mich zu schonen?« kam es leise und bebend.

Ihre großen, blauen Augen streiften hastig die seinen. Dann beugte sie den Kopf, ohne etwas zu sagen.

Er stand einen Augenblick regungslos und sah sie an.

Schließlich fand er Worte: »So viel konnten Sie geben! – Und so schnell glaubte ich Schlechtes von Ihnen! Verzeihen Sie mir!« bat er leise.

Frau Helwig nahm Selmas aschblonden Kopf zwischen ihre Hände.

»Sie liebe – liebe Freundin,« sagte sie mit tränenerstickter Stimme. »Sie waren Ellen eine bessere Mutter, als ich es jemals werden könnte! Wenn ich nun fortgehe, werden Sie bei ihr bleiben!«

Selma schwankte einen Augenblick, als wüßte sie nicht, wohin sie sich wenden solle.

Dann wurde sie von einer tiefen Bewegung übermannt.

»O Frau Hjarmer,« sagte sie weinend, indem sie den Kopf an deren Schulter lehnte.

 

Doktor Sylt stand in der offenen Glastür und zeigte gen Nordost, wo der Himmel hell zu werden begann.

»Sehen Sie dorthin!« sagte er begeistert mit seiner tiefen, etwas heiseren Stimme. »Jetzt dämmert der Morgen herauf! – Die Elfen gehen zur Ruhe. Die Schlange verbirgt ihren Kopf zwischen den weißen Syringen, und Pan flüchtet scheu in seine Wälder zurück.«

Dann wendete er sich vom Garten ab und trat tiefer ins Zimmer.

»Wir armen Menschen aber beginnen einen neuen Tag; und keiner weiß, was er uns bringen wird!«

Da schaute Frau Helwig auf und sagte laut und jubelnd: »Doch, Doktor – jetzt wissen wir's!«

Er blieb mitten im Zimmer stehen und umfaßte alle mit einem raschen Blick seiner kleinen, scharfen Augen, in denen es von verborgener Munterkeit blitzte.

Dann schlug er die dicken, behaarten Hände zusammen und rief: »Das hab' ich mir doch gedacht! – Ich hab' es doch gewußt!«

»Gott segne euch allesamt, ihr lieben Kinder!« sagte er und ging mit ausgebreiteten Armen auf sie zu.

Unterwegs blieb er stehen und suchte nach einem festlichen Ausdruck für seine Freude.

»Gibt es nicht etwas Whisky?« fragte er und sah sich um.

Fräulein Selma zeigte durch Tränen lächelnd auf den Tisch: »Da steht Ihr böser Instinkt, Herr Doktor!«

Er rieb sich vergnügt die Hände, trat an den Tisch und schenkte in die vier Gläser ein.

»Ja,« sagte er, indem er seines in die Höhe hielt, »hab' ich es nicht immer gesagt! – Die Instinkte sollen leben – die guten wie die bösen!«

 


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