Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Wiesen dampfen

Amtsvorsteher Knud Hjarmer wanderte auf dem grünen großgeblümten Teppich hin und her, während er mit seinen weißen, wohlgeformten und gepflegten Händen das seidene Tuch um den Hals legte und die Enden sorgfältig unter seinem blonden Vollbart kreuzte.

»Es wird wohl nichts als eine heftige Erkältung sein – nicht wahr?« sagte er, während er ängstlich zu seiner Frau hinübersah, die in einem grünen Plüschsessel zwischen dem Wohnstubentisch und dem Kamin saß, dessen Öffnung jetzt zur Sommerzeit von einem mit chinesischen Ornamenten bestickten Ofenschirm verdeckt war.

»Kinder bekommen ja so leicht Halsschmerzen,« sagte Frau Helwig Hjarmer und schaute mit ihren dunkelgrauen, etwas müden Augen von dem cremefarbenen Halskragen, an dem sie stickte, auf.

Dann legte sie die Stickerei vor sich auf den Tisch, strich mit ihrer schmalen Hand glättend darüber hin und machte Miene aufzustehen.

»Ich will mich zu ihr ans Bett setzen, wenn es dich beruhigt.«

»Liebste – nein!« Der Amtsvorsteher, der jetzt im Begriff war, seinen Paletot anzuziehen, machte eine abwehrende Bewegung. »Du hast dir's dort gerade so bequem gemacht; und sie soll ja jetzt eigentlich schlafen.«

In diesem Augenblick kam Fräulein Sindal vom Garten herein, die Arme voll von frischgepflückten Syringen.

Sie ging geradeswegs auf den Amtsvorsteher zu und reichte ihm ein Paar Handschuhe, indem sie lächelnd den Kopf schüttelte, so daß die schwere Stirnlocke ihres reichen, aschblonden Haares ihr über die linke Augenbraue hereinfiel.

»Ach, da sind sie ja!« sagte der Amtsvorsteher und lächelte ebenfalls mit seinen blassen, nervösen Augen. »Ich habe sie gerade gesucht.«

»Sie lagen auf dem Tisch im Treibhaus.«

»Besten Dank, Fräulein! Ich bin so zerstreut.«

Während er die Handschuhe anzog, wandte er sich wieder an seine Frau.

»Vielleicht bekommt sie einen Backenzahn. Das Zahnfleisch tut ihr ja auch so weh.«

»Ja, das ist wohl möglich!« sagte Fräulein Sindal. »Ich werde mich gleich zu ihr setzen, bis sie einschläft.«

Frau Hjarmer machte von neuem Miene, sich aus dem welchen, breiten Sessel zu erheben; der Amtsvorsteher aber wehrte wieder ab.

»Nein, nein! Bleib du nur ruhig sitzen. Fräulein Sindal geht ja doch bald nach oben, nicht wahr?«

»Ich will nur noch diese Blumen in Wasser stellen. Sind sie nicht herrlich?« Fräulein Sindal hielt die Syringen von sich ab und betrachtete sie liebevoll. »So frisch und so voll!«

»Aber Sie scheinen ja den ganzen Baum geplündert zu haben!« sagte der Amtsvorsteher und schüttelte lächelnd den Kopf.

»Was schadet das? Wenn Frau Hjarmer sie nun einmal so gern hat. Ich pflückte, was ich nur irgend erreichen konnte.«

»Das ist lieb von Ihnen!« sagte Frau Hjarmer und streckte ihr die Hand entgegen, während der Amtsvorsteher ins Kontor ging, um seinen Hut zu holen, wobei er die Tür hinter sich offen stehen ließ.

»Nehmen Sie die hohen Kristallgläser drinnen vom Büfett. Dann setzen wir das eine hierher und das andre auf meinen Schreibtisch.«

Mit halbgeschlossenen Augen und das feine, blasse, längliche Gesicht etwas zurückgeneigt, atmete Frau Hjarmer wohlig den starken Syringenduft ein.

»Das Zimmer ist schon voller Duft!« sagte sie, während die feinen Nasenflügel die würzige Luft einzogen.

Fräulein Sindal strich sich die aschblonde Locke aus der Stirn und atmete tief auf.

»Oh – ist das eine Nacht – so hell und so still!« Und ihre großen blauen Augen leuchteten wie vom Widerschein des tiefen Nachthimmels draußen überm Garten.

»Es ist jammerschade, sich im Zimmer einzusperren!« fügte sie ärgerlich hinzu, während sie mit den Syringen im Arm auf die Tür des Eßzimmers zuging, um die Kristallgläser zu holen.

»Finden Sie?«

Frau Hjarmer sah ihr mit einem Lächeln auf der kurzen, weichen Oberlippe nach; denn wenn Fräulein Sindal ärgerlich wurde, klang unwillkürlich etwas von ihrer ländlichen Aussprache durch ihre Worte: »Ach, ich wollte, ich dürfte jetzt über Land fahren.«

Der Amtsvorsteher, der im selben Augenblick wieder aus dem Kontor kam, hörte ihren Seufzer.

»Na, ich kann Ihnen versichern, Fräulein,« sagte er, »wenn ich dem Amtsgehilfen nicht Urlaub gegeben hätte, würde ich mein behagliches Heim wahrlich nicht um diese Zeit verlassen, nur weil eine alte Brauerswitwe im Sterben liegt und ihr Testament machen will.«

»Vergiß nicht das Notariatsprotokoll, Knud,« sagte Frau Hjarmer, während Fräulein Sindal ins Eßzimmer ging.

»Nein, ich habe es extra dort hingelegt, um es nicht zu vergessen!«

Damit sah der Amtsvorsteher zum Rauchtisch hinüber, ob das Protokoll auch richtig dort lag.

Im selben Augenblick hörte man das Rollen eines Wagens auf dem holprigen Pflaster des Hofes.

»Da ist Anders!«

Der Amtsvorsteher hatte es plötzlich eilig. Er knöpfte seinen Überzieher zu und trat hinter den Stuhl, wo seine Frau saß. Dann beugte er sich über die Lehne vor.

»Gute Nacht, meine Liebe! Du darfst nicht auf mich warten. Ich weiß ja gar nicht, wann ich wieder hier sein kann.«

»Welchen Weg willst du fahren?« fragte Frau Hjarmer, indem sie den Kopf ein wenig zu ihm aufhob.

»Das muß ich Anders überlassen. Ich denke, der nächste Weg geht am Ziegelhof vorbei?«

Der Amtsvorsteher beugte sich herab, um seine Frau zu küssen, doch im selben Augenblick fiel ihm etwas ein.

»Das ist richtig – ich wußte ja, daß ich dir noch etwas sagen wollte – wir bekommen doch Milch vom Ziegelhof, nicht wahr?«

»Ja, weil sie so besonders gut ist.«

»Heute war aber der Tierarzt im Kontor und brachte einen Fall von Maul- und Klauenseuche von dort zur Anzeige. Er sagte, der alte Hilsöe sei wütend gewesen. Er habe ihm gedroht, daß er ihm die Praxis entziehen wolle.«

»Das sieht ihm ähnlich, dem geizigen Krakeeler!«

Der Amtsvorsteher richtete seine schmächtige Gestalt auf, während er das Halstuch unter dem hohen Kragen strammer zog. »Wir werden sehen! – Es ist ja in den paar Jahren, die ich hier als Amtsvorsteher fungiere, nicht das erstemal, daß sich der alte Selbstherrscher vor Recht und Gesetz beugen muß!«

Dann neigte er sich wieder über das reiche, seidenfeine Haar seiner Frau, dessen Farbe wie dunkle Bronze schimmerte und in kunstvollen Locken aufgesteckt war.

»Also, wie wird's mit der Milch?«

»Anders kann sie ja von morgen an in der Stadt holen.«

»Das ist gut! – Vergiß es aber nicht! – Auf Wiedersehen, meine Liebe!«

Er küßte seiner Frau die Wange, die sie ihm hastig zugekehrt hatte, während sich eine ganz feine Falte von der Nasenwurzel über ihre hohe, elfenbeinweiße Stirn hinaufzog.

Während der Amtsvorsteher jetzt eilig zur Kontortür schritt, nickte er dem jungen Mädchen zu, die im selben Augenblick mit den beiden Kristallgläsern, worin sie die Syringen geordnet hatte, zurückkam.

In der Tür blieb er noch einmal stehen und drehte den Kopf nach Fräulein Sindal um.

»Was ich noch sagen wollte – wenn sich etwas mit Ellen ereignet – Fieber oder so was – dann telephonieren Sie nur gleich an Doktor Sylt.«

»Der Doktor ist aber heute in der Stadt«, wandte Fräulein Sindal ein, »und kommt erst mit dem letzten Zug zurück, das sagte er heute morgen!«

Frau Hjarmer sah von ihrer Stickerei auf. »Er wird schon von selbst kommen, wenn er vorbeiradelt und sieht, daß hier noch Licht ist.« Sie nickte ihrem Mann, dessen Augen einen nervös gespannten Ausdruck bekommen hatten, beruhigend zu.

»Ja – nicht wahr?« versetzte er erleichtert.

Und als sie sah, daß ein neuer Gedankengang sich seiner bemächtigen wollte, fügte sie hinzu: »Aber mach' jetzt nur, daß du fortkommst! – Sonst stirbt die Brauerswitwe noch, bevor sie ihren letzten Willen kundgetan hat.«

»Adieu, Liebste! – Adieu, Fräulein Sindal!«

Der Amtsvorsteher nickte beiden zu und ging. Frau Hjarmer sah zum Rauchtisch hinüber. Ei, da lag das schwere Buch noch! »Nun hat er das Protokoll doch vergessen!«

Fräulein Sindal lief, so rasch sie konnte – sie war etwas schwerfällig in ihren Bewegungen, wenn sie sich beeilen wollte –, das schwere Protokoll in beiden Armen, durchs Kontor hinaus.

»Herr Hjarmer!« rief sie. »Das Protokoll!«

»Vielen Dank!« antwortete der Amtsvorsteher von der Haustür her; er hatte beide Türen hinter sich offen stehen lassen. Dann nahm er das Protokoll entgegen und trug es selbst in den Wagen.

»Besten Dank, Fräulein! – Ich bin so zerstreut.«

 

Während Fräulein Sindal die Tür zum Kontor schloß, erhob sich Frau Hjarmer; sie atmete tief auf, reckte vorm Kamin die zartgeformten Arme, so daß die Brust sich vorschob, und strich dann mit den Handflächen von ihrer schlanken Taille über ihre starken Hüften.

Fräulein Sindal stellte eines der Kristallgläser auf den Schreibtisch, der zwischen dem großen Fenster links und dem Erker mit den Glastüren zum Garten schräg an der Wand stand.

»Heute kommt Herr Hjarmer wieder spät zu Bett,« sagte sie, »und morgen hat er dann seine Kopfschmerzen.«

»Ja, ja.«

Frau Hjarmer beugte sich gedankenverloren über die Syringen, indem sie deren Duft mit vollen Zügen einatmete.

Fräulein Sindal trat an den Tisch.

»Soll ich Stine nicht, bevor sie nach oben geht, etwas Butterbrot streichen und es ins Kontor stellen lassen?«

Frau Hjarmer erwachte aus ihren Gedanken.

»Oh, Sie Pflegemütterchen!« sagte sie und lächelte.

»Pflegemütterchen?«

»Sie denken immer an andre; versorgen Ellen, verziehen mich und machen es Knud behaglich.«

Fräulein Sindal lächelte mit dem ganzen Gesicht, wobei alle ihre starken, weißen Zähne zum Vorschein kamen.

»Ja, und versorge außerdem die Hühner, die Enten und Tauben. – Es ist nicht so leicht, hier Haustochter zu sein!«

Frau Hjarmer setzte sich auf die Armlehne des Sessels, nahm die Stickerei zur Hand, betrachtete sie prüfend und erwiderte: »Wie sagt doch Doktor Sylt? ›Sie bekommt nichts und zahlt nichts, und doch ist sie der gute Geist des Hauses.‹«

»Ach, dieser Doktor Sylt!« Fräulein Sindal rümpfte die kurze Nase und zog die Oberlippe empor. »Der muß immer necken!«

Im selben Augenblick überkam sie ein Gähnen, aber sie schluckte es energisch hinunter; sie wußte, wenn es erst anfing, würde es kein Ende nehmen.

»Jetzt muß das Pflegemütterchen wohl zu der Kranken hinauf!« sagte sie und reichte ihre volle Hand mit den kleinen, runden Fingern über den Tisch hinüber. »Gute Nacht, Frau Hjarmer.«

Frau Hjarmer behielt Fräulein Sindals Hand in der ihren und sah sie an. »Ellen schläft, sonst hätte Stine sie ja gehört. Leisten Sie mir noch ein wenig Gesellschaft!«

»Aber, Frau Hjarmer, Sie sollten auch lieber zu Bett gehen, anstatt aufzubleiben und zu sticken.«

Frau Hjarmer zog ihre Hand zurück, während eine feine Falte an der Nasenwurzel sichtbar wurde und die weiche Oberlippe sich ganz leise kräuselte, als hätte sich etwas Bitteres auf die Zungenspitze gelegt.

»Oh, ich finde, hier im Hause wird genug geschlafen!« sagte sie hart, wurde aber im selben Augenblick selbst auf den harten Klang aufmerksam und stand von dem Sessel auf, den Halskragen noch in der Hand.

»Er soll zu meinem Geburtstag fertig sein!« sagte sie. »Kommen Sie, wir wollen ihn probieren.«

Sie wandte sich zum Spiegel, knöpfte die obersten Knöpfe ihres Kleides auf und bog den Halskragen zurück, so daß ihr blendend weißer Hals unter dem Nackengelock zum Vorschein kam.

Fräulein Sindal kam herbei und half ihr den Kragen mit Stecknadeln festzuheften. Dann trat sie zurück, um besser zu sehen. »Großartig!« sagte sie und fügte kurz darauf hinzu: »Wer solchen Hals und solche Schultern hätte!«

»Was dann?« fragte Frau Hjarmer und blickte sich mit einem Lächeln um.

»Dann wäre man hübsch!«

Frau Hjarmer kehrte sich wieder dem Spiegel zu.

»Was soll man damit, wenn niemand es sieht und sich daran erfreut!«

»Niemand?« Fräulein Sindal lächelte ein kleines, neugieriges und verstohlenes Lächeln.

»Knud, ja!« sagte Frau Hjarmer zögernd, und eine ganz leichte Röte stieg ihr zum flaumigen Ohr empor. Dann kräuselte sich ihre Oberlippe wieder wie vorhin, während sie den Kopf vorbeugte und sich von der Seite im Spiegel betrachtete. »Aber nie ein strahlendes Fest, meine ich, niemals eine glänzende Toilette!«

Fräulein Sindal war in Bewunderung versunken, was häufig vorkam.

»Wenn Sie so dastehen und zur Seite sehen,« sagte sie feierlich, »dann neigen Sie den Kopf wie ein vornehmes Rassepferd.«

Eine hastige Röte stieg in Frau Hjarmers Wangen, und in ihren Augen glimmte es düster auf. Eine Weile stand sie schweigend da; dann sagte sie: »Sie, Selma, das hat mal einer zu mir gesagt, als ich jung war – als ich noch unverheiratet war, meine ich – und dann küßte er mich auf die Schulter – gerade da beim Halsansatz.«

Fräulein Sindal trat eifrig dicht zu ihr hin.

»Was taten Sie da?«

»Nichts. Was sollte ich tun?«

»Dann waren Sie in ihn verliebt!«

»Warum denn?«

»Sonst hätten Sie ihm doch eine Ohrfeige gegeben.«

Frau Hjarmer wandte den Kopf vom Spiegel weg. »Ja, ich war verliebt,« sagte sie und sah mit dem dunklen Glanz im Auge über den Tisch hinweg starr geradeaus.

Dann war es, als werde sie plötzlich von einer heftigen Erinnerung übermannt.

»Oh, ich hätte« – sie ergriff das Kristallglas mit beiden Händen, hob es zu sich empor, drückte ihr Gesicht leidenschaftlich in die Syringen und erstickte den Satz in den Blüten.

Fräulein Sindal konnte sich nicht enthalten, zu fragen: »War es der Ingenieur?«

»Der Ingenieur?« Frau Hjarmer sandte ihr einen hastigen Seitenblick aus ihren dunklen Augen.

»Sie sagten neulich zu Doktor Sylt,« erklärte Fräulein Sindal, »Sie hätten Ihre Violine nicht mehr angerührt, seit Sie mit einem jungen Ingenieur gespielt hatten, der nach Amerika reiste. Darum meinte ich, daß er es vielleicht gewesen sei.«

»Und weshalb gerade der?«

Fräulein Sindal zögerte einen Moment; dann faßte sie sich ein Herz.

»Ihre Augen wurden so – so tief, als Sie es sagten – ebenso wie jetzt!«

Frau Hjarmer setzte das Glas aus der Hand. Sie hatte sich wieder ganz in der Gewalt.

»Wie das Pflegemütterchen klug ist!« Sie legte ihre linke Hand um Fräulein Sindals Nacken. »Alles sieht sie und hat doch so unschuldige Augen.«

Aber wieder schien da etwas zu sein, das Macht über sie bekam. Sie strich sich mit den schlanken Händen über die Schläfen und ging mit langen, heftigen Schritten auf die Fenster zu, durch die heller Mondschein hereinfiel: denn eben tauchte ein großer Vollmond hinter dem Kastanienbaum draußen im Garten auf.

»Ach, es ist hier so eingeschlossen – so eng!« sagte sie hart, fast klagend, während sie sich mit den Händen über die Hüften strich und tief atmend die Brust spannte. »Und hier begräbt man nun seine sechsundzwanzig Jahre. Immer dasselbe – tagaus, tagein!«

Fräulein Sindal hatte sich umgedreht und war ihr mit den Augen gefolgt.

»Das ist Ihre eigene Schuld, Frau Hjarmer!« sagte sie mit Entschiedenheit. »Da draußen liegt der herrliche Garten, aber nie sieht man Sie mit einer Gießkanne oder mit einem Spaten in der Hand. Und es ist doch Sommer!«

Frau Hjarmer blieb vor dem Fenster rechts neben dem Erker stehen und starrte gesenkten Hauptes sehnsüchtig in den Mondschein hinaus.

»Ja, und es ist ja Sommer!« sagte sie träumend, als sei sie allein.

Fräulein Sindal trat hastig näher.

»Was ist dies aber auch für eine Gartenstube?« platzte sie heraus, als müsse sie sich endlich mal das Herz erleichtern. Sie zeigte auf die dunkelgrünen Seidenvorhänge, die ein Stück auf der Erde lagen und die weißen Spitzengardinen darunter fast verdeckten. »Schwere Vorhänge – und Teppiche auf den Fußböden bis Johanni!«

Frau Hjarmer kam wieder zu sich und sagte in ergebenem Tone, indem sie auf den Flügel zuging: »Knud kann ja weder Licht noch Geräusch vertragen.«

Fräulein Sindal biß sich in die Oberlippe, was sie zu tun pflegte, wenn sie nachdachte.

»Sie entbehren Ihre Musik, Frau Hjarmer!«

Frau Hjarmer, deren Blick auf dem hohen Notenpult, worauf ein aufgeschlagenes Heft lag, geruht hatte, drehte den Kopf nach ihr um.

»Warum glauben Sie das?«

»Als ich heute morgen abstaubte und Sie nicht wußten, daß ich im Zimmer war, da blätterten Sie in den Noten und seufzten so schwer dabei, daß Sie mir ordentlich leid taten.«

Frau Hjarmer sah zum Violinkasten hinüber, der auf einem kleinen Ständer zwischen Flügel und Wand lag.

»Ja, ich entbehre meine liebe Violine!« sagte sie.

»Aber weshalb spielen Sie denn nicht?«

Fräulein Sindal machte eine energische Bewegung mit dem Kopf, so daß wieder die aschblonde Locke über ihre Augenbraue hereinfiel.

»Ach, Sie wissen ja, daß mein Mann es wegen seiner Kopfschmerzen nicht vertragen kann.«

»Aber wenn er fort ist!«

Frau Hjarmer beugte den Kopf und verfiel wieder in Gedanken, während sie vor sich hinseufzte: »Es ist ja niemand mehr da, mit dem ich spielen kann. Niemand, der mich begleiten kann, meine ich.«

»Sie müßten eben jemand anders als mich haben.« Fräulein Sindal starrte nachdenklich mit ihren runden, treuherzigen Augen vor sich hin. »Eine, mit der Sie musizieren und sich unterhalten könnten – eine durch und durch gebildete Dame.«

Frau Hjarmer trat auf Fräulein Sindal zu und legte ihr die Hand um ihren festen, runden Nacken.

»Ach Sie – Sie denken immer zuletzt an sich selbst! Dann müßte ich Sie ja entbehren!«

Fräulein Sindal zog bedächtig den Kopf zurück, während sich ein klarer Tau über ihre blauen Augen legte.

»Das würde man schon überwinden,« sagte sie. »Wenn meine Schwester sich nun verheiratet, ist mein Vater ja allein, und dann hat er mich zu Hause nötig.«

»Ja, wer für andre leben könnte!«

Frau Hjarmer hob den Kopf, als sei etwas da, das sie niederdrückte. Dann trat sie an den Tisch und starrte in die weißen Syringen.

»Aber ich – oh, mir ist, als trüge ich eine Blume in meinem Herzen und fühlte, wie sie Blatt für Blatt dahinwelkt.«

Während die feine Falte über ihrer Nasenwurzel sichtbar wurde, beugte sie den Kopf vor und bohrte die feinen, bebenden Nasenflügel leidenschaftlich in die duftenden Blüten.

Fräulein Sindal fühlte den unwillkürlichen Schmerz in ihrer Stimme und sah die plötzlich hervorbrechende Leidenschaftlichkeit. Sie verstand beides nicht.

»Ich glaube, die Syringen haben Sie vergiftet, Frau Hjarmer. Wie Sie nur so reden können! Oder Sie können den Mondschein in der hellen Nacht nicht vertragen.«

 

Es klopfte.

Das Mädchen kam aus dem Eßzimmer.

»Was ist denn, Stine?« fragte Frau Hjarmer und richtete den Kopf von den Syringen auf.

»Es ist jemand in der Küche, der Frau Hjarmer sprechen möchte.«

»Zu dieser Zeit – wer ist es?«

»Ach, der, den die Leute hier herum den ›Nomaden‹ nennen.«

Fräulein Sindal wandte sich eifrig an Stine und fragte: »Der im Frühjahr unsern Garten umgegraben hat?«

»Ja.«

Stine band ihre Schürze fester, die im Begriff war, über ihren vorstehenden Leib herunterzurutschen.

»Er heißt übrigens Kasper Soldat.«

Frau Hjarmer ging auf sie zu.

»Ist er betrunken, Stine?«

Das Mädchen dachte einen Augenblick nach.

»Nee, nich sonderlich.«

»Sie wollen ihn doch nicht in die Wohnstube hereinlassen, Frau Hjarmer?« fragte Fräulein Sindal.

Stine richtete sich auf und strich eine Falte aus ihrer Schürze.

»Der tut keiner Katze was zuleide!« sagte sie etwas ärgerlich. »Der arme, blödsinnige Kerl. Und er hat so inständig gebeten.«

»Laß ihn nur hereinkommen – aber er soll die Holzschuhe draußen ausziehen.«

»Ja!«

Indem Stine die Tür zumachte, sah Fräulein Sindal Frau Hjarmer mit ihren großen, treuherzigen Augen an. »Und wir sind ganz allein!« sagte sie, während sie von Bewunderung ergriffen wurde. »Wissen Sie, Frau Hjarmer, ich finde es großartig, daß Sie sich nie fürchten!«

Frau Hjarmer nahm den Halskragen ab und legte ihn zusammen. »Kasper und ich sind gute Freunde! Er hat mir im Frühjahr von seiner unglücklichen Liebe erzählt.«

Fräulein Sindal half ihr den Stehkragen wieder aufrichten und hakte ihn im Nacken zu.

»Dann ist das wohl der Grund, warum er trinkt?«

»Nein, die acht Jahre in Westindien haben ihn zugrunde gerichtet. Er hat so gute, braune Augen, wenn er nüchtern ist.«

»Aber weshalb nennt man ihn denn den Nomaden?« fragte Fräulein Sindal, indem sie Frau Hjarmer ihre Brosche ansteckte.

»Weil er gleich nach seiner Rückkehr aus Westindien mit Hagenbecks Hamburger Nomaden, die hier in der Gegend waren, fortlief.«

Frau Hjarmer warf einen Blick in den Kaminspiegel, ob das Kleid wieder in Ordnung sei. Dann ordnete sie etwas an ihrer Frisur.

»Er gehört zu denen, die niemals seßhaft werden.«

Im selben Augenblick ging die Tür auf, und Stine kam mit Kasper Soldat herein, der salutierend, den Stock militärisch an den Körper gedrückt, als schultere er ein Gewehr, stehen blieb.

Es war eine sonderbare Erscheinung. Graugesprenkeltes Haar, das vor Staub und Schmutz an den Schläfen klebte, wo die rotfleckige Haut von unzähligen Runzeln durchquert war, fiel ihm über die Stirne herein. Und unter den buschigen Brauen leuchteten zwei braune Augen hervor, deren Blick wie zwei unruhige Flammen hin und her flackerten. Die großen, spitzen Ohren waren halb von Haar bedeckt, und die kurze, dicke Nase, die auch rot und faltig war, endigte in starken, weitgeöffneten Nasenflügeln, die sich im Takt mit den Atemzügen bewegten, so daß der struppige, graue Schnurrbart, der ganz bis in die Nasenlöcher hineinwuchs, unablässig über den feuchten, blauroten Lippen zitterte. Auf jeder Seite der Nase zog sich eine tiefe Furche an den schlaffen Mundwinkeln vorbei zu dem fleischigen, von zahlreichen Falten verzogenen Kinn hinunter, an dem die steifen Bartstoppeln hingen, als wären sie zwischen den Falten angeklebt.

Er hatte einen alten, schmutzigen Mantel an, der einem Uniformkragen glich, von dem die Knöpfe und militärischen Abzeichen abgetrennt waren. Auch die große Mütze, die er in der Hand hielt, glich einer alten Soldatenmütze, die Schnur und Kokarde verloren hatte.

»Tritt nur näher, Kasper!« sagte Frau Hjarmer und nickte ihm freundlich zu.

»Schönen Dank auch!«

Er kam mit großen Schritten näher, bis er unter dem Kristallkronleuchter stand.

»Guten Abend!« sagte er und legte die Hand militärisch grüßend ans Haar. Fräulein Sindal wandte den Kopf, um ein Lächeln zu verbergen; Frau Hjarmer aber bewahrte ihren Ernst.

»Nun, wie geht's Ihnen denn?« fragte sie.

»Es geht recht gut!« stieß Kasper unterm Schnurrbart hervor, während alle Fältchen in Bewegung kamen. »Ich dank' auch.«

»Haben Sie Arbeit?«

Kaspers Augen blieben eine Sekunde an Frau Hjarmer hängen, in banger Ahnung, wozu die Frage führen könne.

»Nein, das gerade nicht!« sagte er vorsichtig.

»Dann sind Sie wohl wieder im Armenhaus gewesen?«

»Nee, das fehlte mir gerade!« platzte er heraus.

»Wo wohnen Sie denn?«

»Wohnen?« Kasper blickte sie verständnislos an.

»Sie müssen doch ein Dach überm Kopf haben?«

Das verwitterte Gesicht kam in Bewegung. Die unzähligen Furchen verzogen sich, und der Schnurrbart zitterte, als habe er einen recht saftigen Witz gehört und müsse sich nun zusammennehmen, um nicht in kränkender Weise loszubrechen. Trotzdem klang es wie von unterdrückter Munterkeit, als er die Antwort hervorbrachte: »Wir Nomaden brauchen im Sommer kein Dach überm Kopf. Das fehlte gerade.«

Es lag etwas in seiner Stimme, etwas Unmittelbares und Aufrichtiges, das Frau Hjarmers Gemüt in Schwingung versetzte. Sie betrachtete das heftige Spiel der Runzeln in seinem schlaffen, gutmütigen Gesicht und die natürliche Offenheit in seinen matten, braunen Augen. Dann sagte sie, als spräche sie mehr zu sich selbst als zu ihm: »Sie liegen im Gras und starren in die helle Nacht hinein und lassen die Welt ihren schiefen, langweiligen Gang gehen?«

Da flammte es in den braunen Augen auf; die buschigen Brauen hoben sich ein wenig, und es ging wie ein plötzlicher Lichtschein über die runzlige Stirn; seine Stimme bekam einen eigenen, belegten Klang: »Das Gras duftet – der Wald flüstert – die Quelle rieselt leise!«

Im selben Augenblick hob er seinen schweren Stock und schwang ihn in rasendem Tempo über seinem Kopf, wie ein Araber, im Galopp dahinsprengend, die funkelnde Büchse hoch über seinem Haupte schwingt –

»Hu–i–i!« zischte er, so daß alle seine braunen Zahnstummeln in dem weitaufgerissenen Mund sichtbar wurden.

Fräulein Sindal, die ihn noch nie so gesehen hatte, fuhr erschreckt zurück.

Doch schon war er wieder ganz ruhig; er wandte sich zu ihr und erklärte: »Fürchten Sie sich man nich, Fräuleinchen! – So pflegen wir Nomaden die Büchse zu schwingen, wenn wir über die Erde dahinjagen, die unser eigen ist. Aber die Büchse ist nicht geladen.«

Dann wandte er sich zu Frau Hjarmer, und sein Gesicht nahm wieder den gutmütig verschüchterten Ausdruck an, während die braunen Augen sie ängstlich flehend anschauten. »Ich wollte die gnädige Frau um etwas Geld bitten!« sagte er und streckte ihr die Hand mit der Mütze entgegen.

»Nein, Kasper!« Frau Hjarmer schüttelte entschieden den Kopf. »Etwas zu essen können Sie bekommen, aber kein Geld.«

»Ach, nur so'n kleines, blankes, rundes Ding?«

Kasper zog die Brauen zusammen, während seine braunen Augen sich so klein und demütig machten, wie die eines wedelnden Hundes.

»Sie vertrinken es ja doch nur!«

Sein Gesicht kam von neuem in Bewegung, und alle Furchen zitterten.

»Das kann wohl sein.«

»Ihre Hände zittern ja schon.«

»Das kommt, weil ich nun schon so lange nüchtern gewesen bin!« Kurz darauf fügte er hinzu, und dabei wurde seine Stimme feierlich: »Aber jetzt ist Vollmond!«

»Nun, und was dann?« Frau Hjarmer beobachtete interessiert das unablässig zitternde Mienenspiel in seinem runzligen Gesicht.

»Dann pflegt es sich zu melden!«

»Was denn?«

»Das, was sie den Indstik – Ingstinkt nennen.«

Frau Hjarmer sah ihn verständnislos an. Aber dann verstand sie ihn plötzlich und beugte sich unwillkürlich vor.

»Und dann müssen Sie trinken?« flüsterte sie.

Kasper antwortete nicht gleich. Während er still vor sich hinstarrte, begann er am ganzen Körper zu zittern. Das Mienenspiel wurde so stark, daß sein Gesicht sich ganz verzog; die Augen wurden dunkel, tief und wie mit Blut unterlaufen. Der Mund öffnete sich unter dem zitternden Schnurrbart, und die blauroten Lippen zogen sich zusammen, als sauge er mit voller Kraft etwas ein. Er hob die bebenden Hände, als führe er ein volles Gefäß an den Mund, wendete sich plötzlich ganz Frau Hjarmer zu und flüsterte innig, hilflos und heiser, als bäte er um sein Leben: »Ein Geldstück, gnädige Frau – ein Geldstück zu einem Schnaps.«

Stine, die an der Tür stehen geblieben war, von wo sie alles gehört und gesehen hatte, ging jetzt auf ihn zu.

»So, Kasper,« sagte sie und packte ihn derb am Arm, »jetzt ist's Zeit, daß er sich hinausschert!«

Fräulein Sindal konnte ihre Augen nicht von dem hilflos bittenden Gesicht mit den tausend Fältchen losreißen. Sie griff in die Tasche nach ihrer Börse und sagte halblaut zu Frau Hjarmer: »Darf ich dem Ärmsten nicht ein paar Pfennige geben – es ist ja seine einzige Freude!«

Kasper, der ihre Worte gehört hatte, richtete seine braunen, verschüchterten Augen auf sie und sagte mit einer seltsam belegten Stimme: »Es ist keine Freude, Fräuleinchen – es ist der unerbittliche Wille des Schicksals!«

Frau Hjarmer aber schüttelte den Kopf.

»Gehen Sie jetzt mit Stine hinaus, Kasper!« sagte sie, und indem sie sich an das Mädchen wandte, fügte sie hinzu: »Und geben Sie ihm einen Schnaps, aber nur einen.«

Kaspers Augen flammten plötzlich auf.

»Ach, schönen, allerschönsten Dank!« Er stieß den Stock auf die Erde, fuchtelte in unverhohlener Freude mit den Armen durch die Luft und sang mit seiner merkwürdig belegten Stimme: »So sprengt der Nomade durchs grüne Feld, und der Him–mel leuchtet darüber!«

Indem er sich zum Gehen wandte, sagte Frau Hjarmer: »Kommen Sie morgen wieder, Kasper, wenn mein Mann zu Hause ist, dann wollen wir sehen, ob wir Ihnen etwas Arbeit im Garten verschaffen können.«

Kasper zögerte verlegen.

»Das kann ich nich – schönsten Dank!«

»Weshalb nicht?«

Jetzt konnte er die bebende Erwartung dessen, was kommen würde und kommen mußte, nicht länger zurückhalten.

»Denn morgen bin ich besoffen!« Und indem er endlich dem Jubel freien Lauf ließ, schwang er wieder den Stock über seinem Kopf. ›Hu–i–i!‹ zischte er. »Ich wer' nie wieder nüchtern!«

Frau Hjarmer war bleich geworden und sah ihn mit großen Augen an. Dann faßte sie das Mädchen am Arm und sagte streng: » Einen Schnaps, Stine – und kein Geld, hören Sie!«

Kasper aber verzog sein runzliges Gesicht zu einem pfiffigen Grinsen und sang triumphierend mit seiner belegten Stimme: »Er kriegt genug Schnaps, es kann ihm nicht fehlen – im Lande gibt's Geld, man kann es nicht zählen!«

Dann zog er den Mantel mit seiner linken Hand fester um sich und schwang den Stock hoch über seinem Kopf, bis die Tür sich hinter ihm und Stine geschlossen hatte.

 

Fräulein Sindal strich ihre aschblonde Locke aus der Stirn.

»Der arme, unglückliche Mensch!« sagte sie.

»Glauben Sie, daß er mit uns tauschen möchte?« sagte Frau Hjarmer und starrte gedankenvoll vor sich hin.

»Ja, das glaube ich sicher. Wir haben doch, was wir brauchen.«

Frau Hjarmer wanderte, die Handflächen gegen die Rundung der Hüften gepreßt, wie es ihre Gewohnheit war, im Zimmer hin und her.

»Jetzt reitet er auf seinem Mondscheinpferd von Tür zu Tür,« sagte sie, »bis einer sich seiner erbarmt und ihm ein blankes Geldstück gibt. Dann kauft er sich in der Winkelschenke eine Flasche Branntwein, und dann – tief in den Wald hinein! – bis er einen Abhang erreicht, wo die Bäume über seinem Kopf flüstern, während er sich sinnlos betrinkt, wobei er sein Elend vergißt und sich die Liebe erzwingt, um die ihn das Leben betrogen hat.«

Frau Hjarmer blieb am Fenster rechts neben dem Erker stehen. Sie lehnte den Kopf gegen die Scheibe, durch die das Mondlicht jetzt hell ins Zimmer hereinflutete. »Unglücklicher Mensch!« fügte sie gedankenvoll hinzu. »Ach, ich weiß nicht! – Hat er sich nicht von all dem losgerissen, was uns andre fesselt? – Gehört ihm nicht die schöne, die grüne Erde – dem Nomaden?«

Sie öffnete das Fenster, beugte den Kopf hinaus und badete ihr seidenweiches, bronzebraunes Haar im vollen Mondlicht, während sie in tiefen Zügen die lichte, stille Nacht einatmete.

»Und wenn der Rausch vorbei ist, was dann?« fragte Fräulein Sindal, die ihr gefolgt war. »Hat er jemand, für den er sorgen kann? – Hat er jemand, der ihn liebhat?«

Frau Hjarmer zog den Kopf zurück, strich sich mit beiden Händen über Haar und Schläfe und sagte: »Nein, natürlich – es war ja nur ein Scherz von mir!«

Dann trat sie zu Fräulein Sindal und legte ihren Arm um deren Schultern.

»So, Pflegemütterchen! Jetzt müssen Sie zu Bett gehen.«

Fräulein Sindal stand noch einen Augenblick zögernd da, als wolle sie etwas sagen; als sie aber nicht die richtigen Worte finden konnte, streckte sie die Hand aus und sagte nur: »Nun, dann also gute Nacht, Frau Hjarmer!«

 

Als Fräulein Sindal gegangen war, blieb Frau Helwig einen Augenblick vor dem Kaminspiegel stehen. Die Hände um den zurückgebogenen Nacken verschlungen, versank sie in die alten Erinnerungen, die die helle Sommernacht in ihr wach gerufen hatte.

Dann seufzte sie tief auf und wandte sich zu den Syringen in dem hohen Glas auf dem Tisch. Während die schlanke Hand liebkosend über die weißen, schwellenden Blütenbüschel strich, keimte ein sehnsuchtsvolles Lächeln um ihre Lippen auf. Es wurde voller und stieg bis zu ihren Augen empor. Und plötzlich bekam das ganze Gesicht einen ganz veränderten Ausdruck, den Ausdruck ruhiger, wehmütiger Freude.

Sie wandte sich dem hellen Mondschein zu, der durch das offenstehende Fenster hereinflutete, und trat wie im Traum zu dem hohen Notenständer neben dem Flügel.

Starr sah sie in das aufgeschlagene Heft; und während sie die Arme bewegte, als führe sie den Violinbogen über die gespannten Saiten, begann sie mit halbgeschlossenen Lidern die Melodie, die sie am meisten liebte, vor sich hinzusummen. Es war die »Legende« von Wieniawski.

In einer plötzlichen Eingebung ging sie schnell um den Flügel herum zum Violinkasten, öffnete ihn und nahm ihre geliebte Violine in die Arme.

Sie sah sie lange zärtlich an, als sei sie ein lebendes Wesen. Dann legte sie sie an ihre Wange und führte den Bogen liebkosend über die Saiten.

Während sie so mit zurückgebogenem Kopf, die Augenlider fast geschlossen und die weiche Lippe halb in Lust, halb in Schmerz hochgezogen, dastand, wuchs die Melodie hervor, zuerst schwach und tastend, gleichsam noch in Erwartung, aber dann mit zunehmender Kraft und Sicherheit, bis der Ton seine ganze Fülle und seinen vollen Wohlklang erreicht hatte.

Dann gab sie sich ganz der Leidenschaft des Spieles hin und vergaß alles um sich herum.

 

Während Frau Helwig spielte, kämpfte das Lampenlicht, das durch den dunkelgrünen Seidenschirm sickerte, gegen das weiße Mondlicht an, das mit zunehmender Fülle ins Zimmer drängte und den Schatten der hohen Fensterrahmen in einem schief viereckigen Muster auf die großen, phantastischen Blumen des Teppichs warf.

Dann wurde das Muster plötzlich zerstört. In das schiefe Lichtviereck auf dem Teppich brach ein dunkler Schatten hinein, und in dem offenen Fenster erschien die Gestalt eines Mannes, der den Arm gegen den Fensterrahmen stützte und ins Zimmer starrte, während er den leidenschaftlichen Tönen mit ganzem Ohr, mit ganzer Seele lauschte.

Er trug eine weiche Reisemütze auf seinem dichten, dunklen, an den Schläfen gerade abgeschnittenen Haar. Die Stirn war nieder und eckig, das Gesicht länglich, mit starken Zügen. Die Nase war kräftig gebaut, die Lippen voll und fest geschlossen. Auf den glattrasierten Wangen und dem Kinn lag der bläuliche Schatten eines dunklen Bartes, der eben wieder hervorwuchs.

Unter den scharfgeschnittenen Brauen ruhten zwei dunkle Augen mit einem festen, langen Blick auf der Frau, die dort am Flügel stand und spielte, abgewandt, während der Mond auf dem Saum ihres Kleides spielte.

Als der letzte Geigenstrich hinstarb, rief eine tiefe und gedämpfte Stimme vom Fenster her: »Helwig!«

Frau Hjarmer zuckte zusammen. Hatte eine wirkliche Stimme durchs Zimmer geklungen – oder war es nur ein Laut gewesen aus ihrem Innern – der Widerhall einer teuren Erinnerung? Die Violine noch am Kinn, sah sie sich hastig um; aber die Lampe brannte wie vorher ruhig hinter dem dunkelgrünen Seidenschirm auf dem Tisch, und im Kaminspiegel sah sie sich selbst unter der Kristallkrone.

»Helwig!«

Ach, diesmal klang der Ton altbekannt an ihr Ohr, und der Laut kam so deutlich von hinten her, daß Frau Hjarmer es wie durch eine plötzliche Eingebung wußte: er, dem so viele ihrer Gedanken seit Jahren gehört hatten, stand an diesem Abend im Mondlicht hinter ihrem Fenster.

Blitzschnell wandte sie sich nach ihm um. Einen Augenblick begegneten sich ihre Blicke wie in einer Umarmung. Dann neigte sie den Kopf, legte Geige und Bogen auf den Flügel, trat zum Erker und öffnete die Glastür.

Während der Mond ihre Gestalt in sein weißes Gespinst einhüllte, trat der Fremde vom Fenster zurück – und jetzt stand er vor ihr in der Türöffnung. Er war groß, mit breiten, geraden Schultern. Der Oberkörper schien zu groß und zu schwer im Verhältnis zum Unterkörper. Oder auch war es die Gemütsbewegung, die ihn niederdrückte. Einen Augenblick sah er sie wortlos an. Dann trat er ins Zimmer und reichte ihr die Hand.

»Guten Abend!« sagte er.

Frau Helwig trat ein paar Schritte zurück, ohne sich seinem festen, langen Blick entziehen zu können. Seine dargebotene Hand nahm sie nicht.

»Wie kommen Sie hierher, Herr Hilsöe?« fragte sie schließlich, als sie Herr ihrer Stimme geworden war.

Werner Hilsöe ging auf sie zu und sagte, ohne den festen Blick seiner Augen, die die ihren festhielten, abzuwenden: »Ja, sehen Sie, Frau Hjarmer, ich ging draußen vorbei. Da hörte ich die Violine – es war die alte Melodie – und da wußte ich, daß Sie es waren, die spielte. Da sprang ich übers Gitter, wie ich es so oft getan hatte, wenn wir als Knaben zur Zeit des alten Amtsvorstehers Äpfel stahlen.«

Frau Helwig stützte sich mit der Hand auf den Schreibtisch und zwang ihre Augen von den seinen weg.

»Seit wann sind Sie aus Amerika zurück?« fragte sie.

»So weit bin ich gar nicht gekommen, Frau Hjarmer. Ich war nur in Deutschland und England und eine kurze Zeit in Rußland.«

Wie die bekannte tiefe Stimme, die sie so lange nicht gehört hatte, ihrem Ohr und ihrem Herzen wohl tat!

»Weshalb haben Sie während vier langer Jahre gar nichts von sich hören lassen?« fragte sie und sah auf ihre Hände nieder.

»Haben Sie das erwartet?« fragte er leise.

Frau Helwig hob den Kopf, richtete sich auf und trat an den Tisch.

»Sie hätten mir doch durch diesen oder jenen ein Lebenszeichen schicken können!« antwortete sie und fügte dann in einem Gesellschaftston hinzu: »Ich wußte ja nicht, ob Sie noch am Leben seien.«

Ihr ruhiger, beherrschter Ton tat seinem Ohr und der starken Spannung in seinem Herzen weh.

Nach einem kurzen Zögern trat er näher zu ihr.

»Ich hörte in der Fremde,« sagte er, und seine Stimme wurde flüsternd, indem er versuchte, die Bitterkeit zu bezwingen, die sich während der vierjährigen Trennung in seinem Gemüt angesammelt hatte und sich jetzt durch seine Worte Bahn zu brechen drohte, »daß Sie geheiratet hätten. Nur ein halbes Jahr später!«

Frau Helwig fragte mit einer hastigen Kopfbewegung zu ihm hin: »Nun, und was weiter?«

»Da mußte ich annehmen, daß Sie mich vergessen hätten!« sagte er ruhig und offen.

Frau Helwig lachte nervös: »So schnell vergessen Sie also Ihre alten Freunde!«

Jetzt gab er den Kampf auf, und mit bitterem Tone sagte er: »Helwig Lönfeldt war meine Freundin – nicht Frau Hjarmer.«

Helwig legte den Arm auf den Rücken des breiten Lehnstuhls, der vor dem Tische stand. Sie beugte sich vor und fragte, ohne ihn anzusehen: »Sind Sie mir während der ganzen vier Jahre böse gewesen?«

Er stand so dicht hinter ihr, daß sie mit klopfendem Herzen den Hauch seines Atems auf ihrem Nacken spürte, als er antwortete: »Nein, nicht Ihnen!«

»Nun, mich dünkt, mein Mann sei doch unschuldig,« sagte sie, indem sie von dem Stuhle wegtrat. »Er kannte Sie ja nicht einmal dem Namen nach.«

»Ich war böse auf mich selbst.«

»Weshalb?« fragte Frau Helwig leise, bereute aber die Frage im selben Augenblick.

»Darf ich es sagen?«

Er neigte sich zu ihr hin und versuchte ihre Hand zu fassen.

Sie aber zog ihre Hand zurück und schwieg.

»Ich hätte Sie an jenem Abend nicht fragen sollen,« sagte er, und seine Stimme bekam wieder den harten, fast brutalen Klang, den sie früher nicht an ihm gekannt hatte. »Ich hätte Sie ohne Worte nehmen sollen.«

Frau Helwig warf den Kopf zurück und versuchte sich mit einem kurzen, nervösen Lachen zu wehren: »Mich nehmen? – Und mit welchem Recht?«

»Recht?« sagte er höhnisch. »Das ist nicht das Wort zwischen Mann und Weib!«

Es lag etwas in seinen Worten, das sie gegen ihren Willen gefangennahm. Sie beugte sich über die Syringen, um ihre Bewegung zu verbergen. Dann sagte sie, als sie ihre Stimme wieder in der Gewalt hatte: »Übrigens – ich weiß gar nicht, daß Sie mich damals etwas gefragt hätten.«

»O doch – aber Sie antworteten mir, bevor meine Frage zu Worten wurde. Sie zogen sich schon kalt und hochmütig zurück, während ich erzählte, was geschehen war. Die Landratstochter war es, im Wohlleben geboren und aufgewachsen, immer mit dem Sicheren und Gewissen vor Augen – deren Augen waren es, die meine Frage beantworteten, noch ehe sie ausgesprochen war.«

Er hatte sich warm geredet, und die Kraft seiner Worte überwand alle kühlen Vorbehalte in ihrem Herzen. Rasch wendete sie sich ganz nach ihm um und sah ihn mit ihren dunkelgrauen Augen aufs neue fest an, wobei die feine Falte über der Nasenwurzel wieder sichtbar wurde. »Mein Vater war gerade gestorben!« rief sie in plötzlich ausbrechender Erregung. »Ich stand allein – ich war arm. Hätte ich mich da wegwerfen und mit Ihnen fliehen sollen, als –«

Sie hielt inne. Sie wollte die bittere Erinnerung nicht in seinem Herzen wecken.

»Haben Sie unsre fröhlichen Tage im Pensionat vergessen, Frau Hjarmer?« fragte er.

»Nun, und wenn auch?« Sie warf den Kopf trotzig zurück, während sie ihn unter den halbgeschlossenen Lidern hervor anblickte. – »Leichtsinn und Übermut, was war es sonst?«

Er antwortete nicht auf ihre Frage; aber indem er versuchte, ihre Augen mit seinem festen Blick festzuhalten, fuhr er fort, wie er begonnen hatte: »Und die eine helle Nacht – haben Sie Ihrem Mann davon erzählt?«

Frau Helwig wurde verwirrt. Sie hatte eine so unumwundene und dreiste Frage nicht erwartet. Seine Sicherheit trieb ihr eine leise Röte in die Wangen; und sie antwortete unsicher und zögernd: »Ich – oh, ich wollte nicht –«

Er war unbarmherzig. Sein Blick ließ sie nicht los, und er neigte seinen Kopf zu ihr hin: »Haben Sie ihm von der Laube mit den weißen Syringen erzählt?«

»Er hätte es doch nicht verstanden,« sagte sie und sah zur Seite, »es würde ihm nur unnütz Schmerz bereitet haben.«

»Und vielleicht wäre ihn eine gewisse Angst angekommen!«

Der bittere Hohn in seinen Worten gab ihr ihre Überlegenheit und Selbstbeherrschung zurück.

»Ja – vielleicht!« antwortete sie und sah mit einem trotzigen Lächeln auf der gekräuselten Oberlippe zu ihm auf.

»Ihnen kam die standesgemäße Verlobung sehr gelegen,« fuhr er, durch ihre Ruhe gereizt, fort; »es war nötig, gewissen verleumderischen Stimmen den Mund zu stopfen, jenen Verschmähten im Pensionat, die nie dabeisein durften, wenn Helwig Lönfeldt und Ingenieur Hilsöe sich zusammen vergnügten.«

»Ja!« antwortete sie gepreßt.

»Und Kammerherr Lönfeldts Tochter wollte nicht arm sein – wollte nicht fürs Leben und für die Liebe kämpfen; sie wollte eine sichere Zukunft und die Achtung aller Menschen haben.«

»Ja!« antwortete sie noch einmal.

Jetzt endlich brachte der Trotz in ihren Augen die Bitterkeit und den Hohn in seinem Gemüt zum Ausbruch.

Seine Brust wogte schwer, und seine Stimme wurde durch die Erregung, die er niederzwingen wollte, ganz heiser.

»Ich aber liebte sie!« sagte er, und dabei ballte er unwillkürlich die Hände.

Sie sah ihn gerade an, und nun wich der Trotz in ihren Augen der tiefen Glut, die manchmal plötzlich darin aufflammen konnte.

»Das tat Hjarmer auch,« sagte sie.

Er sah diese dunkle Glut, die sein Herz so oft erzittern gemacht hatte; und in diesem Augenblick durchlebte er aufs neue die bitterste Enttäuschung seines Lebens.

»Hätte ich sein Geld gehabt und sein Ansehen, dann hätten Sie mich genommen,« flüsterte er.

Frau Helwig schlug hastig die Augen nieder und schwieg.

»Aber der junge, reiche Erbe,« fuhr er in steigender Erregung fort, die er nicht länger zu bekämpfen versuchte, »war plötzlich verarmt und verstoßen; und darum nahmen Sie den angesehenen Mann mit dem angesehenen Namen und der angesehenen Stellung.«

Frau Helwig trat vom Stuhl zurück bis in die Mitte des Zimmers. Ihr Gemüt war in heftiger Erregung. Sie warf den Kopf zurück, und ihre Hände umfaßten ihre Mitte, wie es ihre Gewohnheit war, wenn etwas sie aufregte.

»Etwas hatte er Ihnen voraus,« begann sie wie zur Selbstverteidigung, »etwas, was nichts mit dem Namen und mit Geld zu tun hat.«

»Und das wäre?«

»Daß man Vertrauen zu ihm haben konnte – jenes Vertrauen, das eine Frau an dem Mann, der der Vater ihrer Kinder werden soll, am höchsten schätzt.«

»Was für ein Vertrauen?«

»Das Vertrauen, daß er fähig wäre, seiner Liebe jedes Opfer zu bringen.«

»Und dieses Vertrauen konnten Sie nicht zu mir haben?«

»Wäre ich Ihnen das gewesen, was ich ihm war, dann hätten Sie nicht – nicht den Namen Ihres Onkels auf dem Wechsel gefälscht.«

So, jetzt war es endlich – doch gesagt.

»Ha! – Der alte Geizhals, den ich beerben sollte, und der mich so knapp hielt, daß meine Studiengenossen mir helfen mußten! Und das war also in Ihren Augen ein so großes Verbrechen, daß Sie danach kein Vertrauen mehr zu mir haben konnten?«

»Es war genug, um Ihre Zukunft zu zerstören – und auch die Zukunft derjenigen, die Sie an sich knüpfen wollten.«

Sie hielt inne und wandte sich ihm plötzlich voll zu.

»Sehen Sie, Werner Hilsöe, der angesehene Mann, wie Sie ihn nennen – er hätte so etwas schon allein seiner Liebe wegen nicht getan. Bei ihm ist es gerade umgekehrt. Nur eines könnte ihn dazu bringen, Recht und Gesetz zu verletzen – die Liebe zu mir. Wenn mein Glück auf dem Spiele stünde – ja, dann könnte er ins Zuchthaus gehen, wenn es sein müßte – sehen Sie, dieses Vertrauen meine ich!«

Werner stützte sich auf den Rücken des Lehnstuhls, wo Helwig vorhin gestanden hatte. Seine Augen waren ihr während ihrer langen Rede und während ihrer heftigen Wanderung durchs Zimmer unverwandt gefolgt. Jetzt war es mit seiner Kraft zu Ende. Er sah sie mit dem treuen Blick eines Hundes, der ungerecht bestraft wird und sich nicht zu verteidigen vermag, schwermütig an. Schließlich sagte er leise und ruhig: »Sie sind also jetzt glücklich?«

Das hatte sie nicht erwartet; ein so entschlossenes und folgerichtiges Wort hatte sie als Frau nicht erwartet. Der tiefe Kummer, der durch die leise gesprochenen Worte klang, ängstigte und betrübte sie. Aber der Schritt war jetzt getan. Der Pflicht war Genüge geschehen. Es schwebte ihr ein Satz vor, den sie kürzlich irgendwo gelesen hatte: ›Glücklich ist, wer vergißt, was nicht mehr zu ändern ist.‹

Sie raffte sich wie zu einem letzten Schlage zusammen. »Ja, ich bin glücklich!« sagte sie und hob den Kopf, ohne ihn anzusehen, indem sie sich dazu zwang, an die Wahrheit ihrer eigenen Worte zu glauben, und damit kein Zweifel in seinem Herzen zurückbleibe, fügte sie hinzu: »Und ich will ihm eine gute und treue Frau bis zu meinem Tode bleiben!«

Werner stand noch zögernd da und stützte sich auf den Stuhl. Dann richtete er sich langsam auf, ging auf sie zu und streckte ihr die Hand entgegen.

»Dann leben Sie wohl, Frau Hjarmer!« sagte er.

Wieder verwunderte sie sich, ohne zu wissen, worüber. Ein eigenes Angstgefühl griff ihr ans Herz, indem sie seine Hand nahm und fragte: »Reisen Sie gleich wieder fort?«

»Ja!« antwortete er.

»Wann sind Sie denn angekommen?« fragte sie, ihre Hand zurückziehend.

»Heut abend!«

Nein! Er durfte nicht gehen – noch nicht.

»Weshalb sind Sie gekommen?« fragte sie, ohne ihn anzusehen.

»Ich hatte zweierlei Anliegen hier in der Gegend; und jetzt sind beide erledigt.«

»Sagen Sie mir, welche es waren!« bat sie.

»Das erste wird Sie kaum interessieren,« sagte er und wandte sich zum Gehen.

»Doch, doch – erzählen Sie mir etwas von Ihnen selber!« bat sie wieder.

Er sah hastig auf, doch ihr Blick wich ihm aus. Dann begann er zu erzählen: »Ich traf in Köln einen deutschen Zementfabrikanten. Wir reisten eine Zeitlang zusammen; und als er hörte, daß ich mit der Lehm- und Steinindustrie vertraut sei – es war ja beabsichtigt, daß ich einst die Werke hier auf dem Ziegelhof übernehmen sollte –, sagte er: ›Sie gehören zu denen, die nirgends Wurzel schlagen. Reisen Sie also in der Welt umher und arbeiten Sie dabei für mich.‹ Er bot mir eine Stellung als Reisender an. Er verlangte nur, daß ich eine Kaution von fünftausend Mark für die großen Reisespesen stelle und mir eine recht gute Ausstattung anschaffe.«

»Konnten Sie das nicht?« fragte Frau Helwig eifrig.

»Ich dachte, der Alte werde mir helfen.«

»Und nun sind Sie bei ihm gewesen?«

»Ja, das war mein erstes Anliegen.«

»Was sagte der alte Herr Hilsöe?«

»Das wird Sie kaum interessieren, Frau Hjarmer.«

Jetzt war sie es, die sich mit Bitterkeit an die alten Tage erinnerte.

»Wir waren doch einst Freunde!« sagte sie mit abgewandtem Blick, während die feine Stirnfalte wieder über der Nasenwurzel sichtbar wurde.

Werner versuchte es vergeblich, ihren Blick zu fangen, dann erzählte er weiter: »Ich sorgte dafür, daß mich niemand sah. Er hatte mir ja verboten, jemals wieder auf den Hof und in diese Gegend zurückzukehren – ich, der dem Namen Schande gemacht hatte!«

»Und was antwortete er?«

»Als ich die Kaution nannte, wurde er bei dem Gedanken, daß er mir nach seiner Wechselgeschichte wieder Vertrauen beweisen sollte, höchst aufgebracht. Oh, der alte Hilsöe vergißt nicht! Was sich einmal in ihm festgebissen hat, läßt ihn nicht wieder los. Aber da lief mir die Galle über. Ich sagte ihm die Wahrheit ebenso wie damals, als er mir die Tür wies.«

»O Werner! Sie verderben immer alles mit Ihrer Heftigkeit!«

»Ich sagte ihm, wenn er seinerzeit seine Nichte dem armen Steuermann, den sie liebte, nicht versagt hätte, so hätte er sie nicht ins Grab gebracht – und dann hätte er ihrem unehelichen Sohn nicht den Namen zu geben brauchen, den er später mit Schande bedeckt habe. Oh, ich hätte ihn niederschlagen können wegen all der Schlechtigkeiten, die er an meiner armen Mutter und an mir begangen hat!«

Frau Helwig ballte in hellem Zorn unwillkürlich die Hand.

»Der alte Halsabschneider! Dann war also alles vergeblich?« sagte sie und sah ihn mit plötzlich aufflammendem düsterem Feuer in ihren grauen Augen voll an.

Aber Werner bemerkte ihren Blick nicht. Seine Gedanken waren bei dem Alten, der ihm von Kindheit an das Leben verbittert hatte.

»Vielleicht rührte sich sein Gewissen, oder er fürchtete, ich würde mir ein Leid antun,« fuhr er nachdenklich fort, »denn als ich die Gitterpforte öffnete, um zu gehen, rief er mich in den Garten zurück, zog seine Brieftasche heraus und gab mir fünf Hundertkronenscheine. Dafür sollte ich mich ausstatten – und was die Kaution betreffe, so könne ich dem Fabrikanten ja sagen, daß mein Onkel tot sei. Aber ich solle so heimlich fortreisen, wie ich gekommen sei. Er wolle kein Gerede in der Gegend wegen meines Besuchs.«

Frau Helwig hatte sich ihm in tiefem Mitgefühl genähert. Jetzt sagte sie, wie das Herz es ihr eingab, ohne sich Zeit zu lassen, die Worte zu wägen: »Und dann kamen Sie zu mir?«

Wieder sah er hastig zu ihr auf; und diesmal trafen sich ihre Blicke.

»Ja, Frau Hjarmer!« sagte er. »Denn Ihnen galt mein zweites Anliegen.«

»Wenn ich nun nicht allein gewesen wäre?«

»Ich wäre nicht fortgereist, bevor ich Sie gesprochen hätte.«

Es war etwas in seiner Stimme, das sie von neuem zur Abwehr zwang.

»Sie müssen wissen, Frau Hjarmer,« fügte er hinzu, und seine Stimme bebte so stark, daß auch Frau Helwig zu zittern begann, »daß nichts in all diesen Jahren mich so gequält hat, wie die Ungewißheit über Sie.«

»Welche Ungewißheit?« fragte sie leise.

»Ich meinte ja, Sie gehörten mir – seit jener einen hellen Nacht!« erklang es fast flüsternd. »Und als ich hörte, daß Sie verheiratet seien, da dachte ich: das ist deine Schuld; du hättest deiner ersten Eingebung folgen sollen; jetzt büßen wir also alle beide dafür, daß du deinem Instinkt nicht gehorcht hast; du hättest sie an jenem letzten Abend nehmen sollen, anstatt sie zu fragen – wie ein Mann die Frau in seine Arme nimmt, die sein eigen ist.«

Frau Helwig kämpfte nicht mehr, ihre Bewegung zu verbergen. Seine Worte hatten sie überrumpelt, sie beugte sich vor und fragte fast atemlos: »Und jetzt – was wollten Sie jetzt?«

Werner richtete sich auf, trat ganz dicht an sie heran und nahm ihre Augen mit seinem langen, festen Blick gefangen.

»Ich wollte wissen, ob Frau Hjarmer glücklich sei – oder ob Helwig Lönfeldt wie in alten Tagen mir gehöre.«

Frau Helwig verbarg das dunkle Feuer in ihren Augen unter den halbgeschlossenen Lidern, indem sie ihren Kopf zurückbog und vergeblich versuchte, ihre Stimme zu Kälte und Ruhe zu zwingen.

»Und wenn ich nun – wenn Frau Hjarmer nun nicht glücklich gewesen wäre?«

Da neigte Werner sein Gesicht zu ihr hin – so dicht, daß sie seinen warmen Atem auf ihrer Stirne fühlte, als er antwortete: »Dann hätte ich Helwig Lönfeldt mit mir in die große, freie Welt hinausgenommen!«

 

Fräulein Sindal kam schnell aus dem Eßzimmer herein. O Als sie den Fremden sah, blieb sie mit einem überraschten Ausruf stehen und sah ihn starr an.

Frau Helwig und Werner fuhren auseinander, und ihre Hände suchten sich eine hastige Beschäftigung an der Stickerei auf der Tischecke.

»Ich bitte um Entschuldigung!«

Fräulein Sindal machte Miene, sich zurückzuziehen; ihre großen blauen Augen aber konnten sich nicht losreißen.

Frau Helwig wurde rasch Herr ihrer Bewegung.

»Bitte, Fräulein Sindal,« sagte sie, »bleiben Sie nur!«

Während das junge Mädchen sich dem Tisch näherte, stellte Frau Helwig vor: »Ingenieur Hilsöe – Fräulein Sindal!«

Werner machte eine kurze Verbeugung, ohne das junge Mädchen anzusehen, das sich noch nicht von seinem Erstaunen erholt hatte.

Frau Hjarmer ergriff ihre Stickerei und begann sie sorgfältig zusammenzufalten. »Herr Hilsöe ist ein alter Freund von mir,« sagte sie ruhig. »Er ist hier auf der Durchreise. Wir haben seinerzeit im Pensionat viel zusammen musiziert. Wollten Sie etwas von mir, Fräulein Sindal?«

Das junge Mädchen strich die blonde Locke aus der Stirn.

»Ellen wirft sich so unruhig im Schlaf hin und her und hat eine sehr heiße Stirn. Ich fürchte, sie hat Fieber, Frau Hjarmer!«

Frau Helwig sah hastig auf.

»Ich gehe gleich mit Ihnen!« sagte sie und legte die Stickerei in den Nähtisch.

Dann wandte sie sich zu Werner, der aus ihrem Blick und ihrer Haltung verstand, daß er jetzt gehen müsse. Er richtete sich auf, trat einen Schritt auf sie zu und streckte ihr die Hand entgegen.

»Leben Sie wohl, Frau Hjarmer!« sagte er gezwungen und leise, während sein Blick den ihren zum letztenmal suchte.

Frau Helwig wurde durch seinen Blick, der keine Rücksicht auf Fräulein Sindals Anwesenheit nahm, beunruhigt.

»Leben Sie wohl, Herr Hilsöe!« sagte sie laut und ruhig und reichte ihm die Hand.

Er behielt sie einen Augenblick in der seinen, und als sie sie vorsichtig zurückzog, flüsterte er: »Also bleibt es für uns beide, wie es war!«

Frau Helwig zog sich von ihm zurück und trat zu Fräulein Sindal.

»Glückliche Reise!« sagte sie.

Es klang ein ganz schwaches Beben durch ihre Stimme; und die kleine Falte an der Nasenwurzel kam zum Vorschein, während sie ihn von der Seite unter den halbgeschlossenen Lidern hervor ansah.

Werner wollte noch etwas sagen; als er aber merkte, daß er nicht Herr seiner Stimme war, blieb es bei einem letzten schmerzlichen Blick.

Ohne Fräulein Sindal zu beachten, wandte er sich und ging zur Verandatür, durch die er hereingekommen war.

Auch Frau Helwig vergaß in diesem Augenblick, daß eine dritte Person anwesend war. Sie ging ihm nach; und als er sich, vom Mondschein überflossen, in der offenstehenden Tür umwandte, erwiderte sie seinen Blick und nickte ihm langsam zu. Dann schloß sie die Tür hinter ihm und blieb, den Rücken zum Zimmer gekehrt, noch einen Augenblick neben dem Schreibtisch stehen, um den letzten starken Eindruck zu verwinden.

 

»Nun haben Sie den Ingenieur also doch zu sehen bekommen!« sagte Frau Hjarmer laut und munter, indem sie an den Tisch zurücktrat.

Fräulein Sindal suchte vergeblich nach einer Spur von Bewegung in ihren weißen, beherrschten Zügen. Dann sagte sie ernst: »Der arme Mann, er liebt Sie ja!«

»Lieben und lieben – das ist ja so leicht gesagt.«

»Einige sagen es, und andre tun es.« Fräulein Sindal ließ sich nicht so ohne weiteres abspeisen, wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte. »Und bei ihm konnte man sich nicht irren.«

Frau Helwig blieb neben dem Flügel stehen, auf dem die Geige lag. Dann durchdachte sie noch einmal das Wunderbare, das geschehen war, und sagte erklärend: »Ich hatte die Violine hervorgeholt und spielte. Da nannte jemand meinen Namen, und plötzlich stand er dort – am offenen Fenster.«

»Wenn nun der Herr Amtsvorsteher zu Hause gewesen wäre?« fragte Fräulein Sindal und dachte bekümmert daran, wie schief es dann hätte gehen können.

»Er sah ja, daß ich allein im Zimmer war.«

Wie leicht und gleichgültig sie es nimmt! dachte das junge Mädchen. Und im selben Augenblick durchfuhr sie ein Gedanke, der ihr keine Ruhe ließ.

»Vielleicht kennt Ihr Mann ihn gar nicht?« Die Frage war ein Fühlhorn, das sie ausstreckte.

»Nein – Hjarmer kennt ihn nicht, hat nie seinen Namen gehört.«

Jetzt verstand Frau Helwig, was Fräulein Sindal dachte, und sie sah ein, daß sie lieber Fräulein Sindal, deren gutes Herz und vollkommene Zuverlässigkeit sie kannte, in diese Sache einweihen müsse.

Sie ergriff Fräulein Sindal bei der Hand, zog sie mit sich zum Tisch hin, setzte sich selbst in den weichen Lehnstuhl und ließ die andre auf dem niedrigen Puff davor Platz nehmen.

»Sie dürfen nicht richten!« sagte sie und senkte ihren warmen Blick in die großen, treuherzigen Augen des jungen Mädchens. »Es gibt Dinge, die man selbst kaum versteht; – wie soll man sie dann andern begreiflich machen? – Aber nun, da Sie so viel gesehen haben, ist es wohl das beste, ich schenke Ihnen klaren Wein ein.«

Sie nahm Fräulein Selmas rundliche Hand fest zwischen ihre beiden und fuhr fort: »Sehen Sie, Selma, Werner Hilsöe und ich waren einst gute Kameraden. Als ich in der Stadt in demselben Pensionat mit ihm wohnte, musizierten und vergnügten wir uns zusammen. Wir waren beide jung und stark, und schön waren wir alle beide.«

»Und dann machten Sie ihm Hoffnung?« unterbrach Selma mit großen, lebhaften Augen.

Frau Helwig wurde unsicher. Jetzt, da sie sich die alten, munteren Zeiten zurückrief und einem jungen Mädchen davon erzählte, dessen Verstand und Gefühl so gesund und geradezu war, begann sie unwillkürlich sich zu rechtfertigen. »Ich war ausgelassen und übermütig!« sagte sie. »Als einziges Kind war ich sehr verzogen worden. Mein Vater hatte mir nie etwas versagt. Und sehen Sie, als Hjarmer – als ich mich dann verlobte –«

»Da sagten Sie ihm nichts von – von dem andern?«

Fräulein Selma wollte ihr helfen, indem sie dem Geständnis zuvorkam.

»Ich wollte es tun – meine erste Eingebung war, ihm alles zu erzählen; aber ich schob es von Tag zu Tag auf, und dann – Ja, Sie kennen ja meinen Mann, wie altmodisch er ist! Da dachte ich: Weshalb soll ich ihn betrüben? – Man greift so leicht fehl, wenn man seinem Instinkt folgt, dachte ich.«

Fräulein Selma hatte eine Frage auf den Lippen. Sie wartete, ob Frau Helwig es von selbst sagen würde; da sie aber nur stumm vor sich hinstarrte, konnte Fräulein Selma sich nicht enthalten, zu fragen: »Waren Sie richtig mit ihm verlobt?«

»Verlobt?«

Frau Hjarmer hob den Kopf, während ihre Oberlippe sich bitter zusammenzog.

»Immer soll alles in eine bestimmte Form gezwängt werden. Kann man, wenn man jung ist, nicht zusammen vergnügt sein, ohne sich miteinander zu verloben?«

»Bei uns auf dem Lande, ja! – Aber in der Stadt – und in Ihrer Gesellschaftsklasse, Frau Hjarmer?«

Frau Helwig stand auf und ging im Zimmer hin und her, während sie sich nach ihrer Gewohnheit mit den Händen über die Hüften strich.

»Das ist es ja eben!« faßte sie. »Knud hätte es nie verstanden. Deshalb schwieg ich. Ich glaubte ja, ich würde Hilsöe nie wiedersehen. Ich glaubte ihn in Amerika. Und dann steht er plötzlich hier – in diesem eingeschlossenen Zimmer! In der hellen Nacht taucht er auf, als hätte die Violine ihn herbeigezogen!«

Frau Helwig wandte sich hastig zu Fräulein Selma um und legte ihre Hand um deren Nacken.

»Ach, Selma!« sagte sie in plötzlicher Angst. »Knud darf hiervon nichts erfahren! Hören Sie, dies eine darf er nicht wissen. Hilsöe reift wieder dorthin, woher er kam. Dann ist alles vergessen und ausgelöscht – wie ein Johannisfeuer, das ein letztes Mal in der hellen Nacht aufflammt, bevor es für immer verlöscht.«

Fräulein Selma ergriff Frau Helwigs Hand und schaute ihr ernst in die grauen Augen, die groß und tief geworden waren.

»Ich werde nie ein Wort davon verlauten lassen, Frau Hjarmer – darauf können Sie sich verlassen! Es wäre geradezu ein Unrecht; denn es würde ihn doch sehr schmerzen.«

Ihre blauen Augen wurden feucht, während sie dies sagte, und ein plötzliches Zittern wie von Kälte überlief sie.

Im selben Augenblick läutete es an der Haustür. Zwei kurze Glockenschläge und dann ein langer.

»Das ist Doktor Sylt!« sagte Frau Helwig, indem sie sich aufrichtete.

Fräulein Selma atmete erleichtert auf.

»Gott sei Dank!« sagte sie und schüttelte das Gefühl des Unbehagens, das sie eben ergriffen hatte, von sich ab. »Es ist, als drängen Spukgestalten mit dem Mondlicht herein.«

»Sind Sie behext, Fräulein Sindal?« fragte Frau Helwig mit einem hellen Lächeln.

»Ach, ich glaube, es sind die Syringen,« sagte sie an der Tür zum Kontor, »sie duften gar so stark!«

Frau Helwig sah zu dem großen Kristallglas hinüber.

»Die Syringen?« wiederholte sie in Gedanken, während Fräulein Sindal durchs Kontor hinausging und die Tür hinter sich offen ließ.

 

Die tiefe, gutmütige und etwas heisere Stimme des Doktors ließ sich aus Hjarmers Kontorzimmer vernehmen: »Na, na, Kleine, ist es wirklich so schlimm?«

Frau Helwig stand auf und ging ihm entgegen.

»Guten Abend, Herr Doktor!« – Sie gab ihm die Hand, die er mit seiner kurzen, behaarten Bärentatze schüttelte.

»Guten Abend, Frau Hjarmer!«

Dann nahm er seinen großen, weichen Hut ab, dessen breiter Rand gegen Sonne und Regen nach allen Seiten gebogen werden konnte, und trocknete sich mit dem Rücken seiner Hand den Schweiß von der Stirn.

Er blieb mitten im Zimmer stehen und blies seine dicken, sonnverbrannten Backen auf, die von dem wildwachsenden Vollbart halb verborgen waren, während seine kleinen, scharfen, hellblauen Augen mit ihrer halb verborgenen Munterkeit lustig von der einen zur andern blinzelten.

»Fangen Sie auch Grillen im Mondschein?« fragte er mit einem raschen Seitenblick auf Frau Helwig.

»Nein, aber Fräulein Sindal meint, Ellen habe Fieber.«

»Das haben wir alle, wenn wir Backenzähne bekommen!«

Plötzlich griff er vor sich durch die Luft, als bekäme er einen Erstickungsanfall.

»Puh ha!«

Der klare Schweiß perlte ihm von der breiten, runden Stirn hinunter, die weiß war, soweit der Hutrand reichte.

»Was haben Sie denn, Herr Doktor?« fragte Frau Helwig, während ihm Fräulein Selma den Hut abnahm und ihn auf den Notenständer hängte.

»Nicht ein Atom Luft in dieser herrlichen, hellen Nacht!« sagte er und schüttelte mißbilligend seinen runden Kopf mit dem dichten braunen Haar.

»Ja, was sollen wir denn tun? Das Fenster steht ja offen!« versetzte Frau Helwig.

Doktor Sylt maß die Fensterscheiben mit einem hastigen Blick, während er eilig durchs Zimmer auf das dreiteilige Fenster links neben dem Erker mit der Glastür zuging. Er reckte seinen schweren, vorgebeugten Körper über den langen Blumentisch, der das Fenster unten verdeckte. Es glückte ihm, den Haken zu öffnen, aber das Fenster war und blieb geschlossen. »Natürlich,« sagte er mit komischer Verzweiflung, »zugenagelt.«

»Das ist der Blumen wegen,« erklärte Fräulein Selma lachend.

»Glauben Sie vielleicht, daß die keine Luft gebrauchen!«

Die beiden andern Fenster gingen dagegen schnell auf. Als er zum Fenster links im Erker kam, stieß er wieder auf Hindernisse.

»Und das ist noch dazu aus farbigem Glas – wie in einer Königsgruft!«

Das rechte aber stieß er auf. Er stand einen Augenblick im Mondenschein und sog die Luft ein, so daß sich sein ganzer Körper dehnte. Dann trat er sichtlich erleichtert ins Zimmer zurück.

»Diese schlechte Angewohnheit, immer im Zimmer zu hocken!« sagte er und schlug seinen Rock weit zurück, damit die Körperwärme abziehen konnte.

»Sollen wir beiden einsamen Frauenzimmer vielleicht nachts auf der Landstraße spazieren rennen?« fragte Fräulein Selma und sah ihm lachend in die Augen.

Doktor Sylt zog seine weite Leinenhose hoch, die ihm so lose um den Magen hing, als könne er sie jeden Augenblick verlieren.

»Ja, freilich sollten Sie das, wenn ich hier was zu sagen hätte!« erwiderte er und setzte sich in den Sessel.

»Das wäre ja reizend!« Frau Helwig lachte. Dann beugte sie sich zu ihm, sah ihn fest an und sagte: »Wissen Sie, was ich glaube?«

Doktor Sylt warf ihr aus seinen kleinen, scharfen Augen, in denen die heimliche Munterkeit noch stärker als sonst blitzte, einen Seitenblick zu. Er verstand gleich, was sie meinte.

»Ja, ich weiß es!« sagte er. »Aber es stimmt nicht.«

»Sie haben in der Stadt gebummelt!« fuhr Frau Helwig in demselben forschenden Tone fort.

»Aber durchaus nicht. Denn ich bin schon mit dem Achtuhrzuge zurückgekommen. Aber ich war noch beim Landinspektor und habe zum Geburtstag gratuliert. Denken Sie nur, das hatte ich ganz vergessen. Es fiel mir erst ein, als ich im Hotel ›La France‹ zu Mittag aß. Deshalb fuhr ich gleich nach Hause.«

»Beim Landinspektor ging es wohl hoch her?« neckte Frau Helwig.

»Nicht höher, als sich geziemt! Die Leute waren gerade bei dem Punkt angelangt, wo man entdeckt, daß man mit Instinkten geboren ist.«

Der Doktor legte sich mit einem selbstzufriedenen Brummen in den Lehnstuhl zurück, um es sich recht bequem zu machen.

»So, nun ist Doktor Sylt bei seinem Lieblingsthema angelangt!« sagte Fräulein Selma, die sich vor ihm auf den Puff gesetzt hatte.

»Ja, die Instinkte, meine Damen!«

Der Doktor ließ seine Finger gegeneinanderspielen, wie es seine Gewohnheit war, wenn er eine seiner vielen Theorien verfocht.

»Sehen Sie nun zum Beispiel mich an! Wenn ich nicht Zeit meines Lebens meinen Instinkten gefolgt wäre, dann hätte ich heute einen vollständig verdorbenen Magen oder den Krebs in der Leber. Nichts richtet den Menschen körperlich und geistig so sehr zugrunde, als wenn er gegen seine Gelüste ankämpft. Selbst die kräftigste Konstitution kann das auf die Dauer nicht vertragen.«

»Aber wenn Sie nun lauter böse Instinkte gehabt hätten, Herr Doktor?« fragte Fräulein Selma.

»Böse Instinkte?« Doktor Sylt lächelte nachsichtig, mit etwas auf die Seite geneigtem Kopf. »Böse Instinkte sind nichts andres als gesunde, natürliche Instinkte, die vernachlässigt worden sind. Sehen Sie nur mich an. Ich habe keinen einzigen bösen Instinkt mehr. Und weshalb? Weil ich immer gleich nachgegeben und das getan habe, wozu ich Lust hatte. Meine bösen Instinkte sind ausgehungert worden, bevor sie so weit gediehen waren, daß sie Schaden anrichten konnten. Denn Sie müssen wissen, meine Damen, daß die sogenannten bösen Instinkte nur in dem Sumpf des Verbotenen gedeihen. In diesem Mistbeet aber schießen sie auch in die Höhe wie Kürbis im Hühnerdünger.«

»Schämen Sie sich, Herr Doktor!« sagte Frau Helwig und versuchte streng auszusehen. »Wie können Sie nur so reden! Kommen Sie jetzt mit nach oben und sehen Sie sich Ellen an!«

Doktor Sylt hob seinen starken Oberkörper mit Beschwer aus dem weichen Stuhl.

»Ja – nun gehen wir nach oben und begrüßen den Backenzahn. Und hinterher leiste ich den Damen Gesellschaft, bis der Hausherr zurückkommt. Was sagen Sie dazu?«

»Ach ja, Herr Doktor!« rief Fräulein Selma, die sein besonderer Liebling war, und sie hüpfte vor lauter Vergnügen auf dem Puff in die Höhe. »Nicht. Frau Hjarmer – wir können ja doch noch nicht schlafen?«

»Nein, und der gute Doktor weiß ja, daß wir Whisky und Selterwasser im Hause haben.«

»Whisky?« Die kleinen, scharfen Augen des Doktors rollten vor Wohlbehagen. »O ja, das ist der einzige böse Instinkt, den ich noch nicht ganz ausgehungert habe – noch nicht.«


 << zurück weiter >>