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Fröschle

Ernst und Luise, durch Ketten des Blutes aneinandergeschmiedet, wollten zusammenstehen, wie Menschen, die sich das Letzte gewesen sind. Ein Kind pochte an die Pforte der Welt. Das junge Leben wollte durch die eigene Türe die Welt betreten.

Trotzdem kämpfte Ernst heftig, denn plötzlich schien die Freiheit so hohes Gut, daß man es selbst auf Kosten des Charakters bewahren müßte. Er wurde von wechselnden Empfindungen gezerrt. Sehnsucht nach einem eigenen Heim stritt mit ausgeprägtem Selbstbewußtsein und mit unbändigem Gefühl, frei zu sein. Die Sehnsucht siegte und die Vorstellung, er würde in den Augen des Mädchens gerichtet sein, wenn er jetzt nicht zu seinem Wort und Wesen stand. Luise drängte nicht; sie war von rührender Geduld und Schmiegsamkeit, trug die quälenden Launen des Mannes schweigend, und ihre braunen Augen sagten nichts von den Zweifeln, die ihr Gemüt erschütterten.

Wovon sollten sie leben? Ernst verdiente, wenns hoch kam, dreißig Mark. Einige Hundert Erspartes besaß Luise, was gerade die bescheidene Einrichtung gab. Rechnen verstand Ernst trotz der guten Schulnote sehr mäßig; er nahm ein, ohne viel zu denken, woher es kam, und gab aus, ohne zu fragen, wohin es ging. Geldausgeben schien ihm recht lustige Tätigkeit und glücklichster Zustand des Lebens, kein Geld zu haben. Grundsätze eines unbekümmerten Vaganten, doch recht bedenklich, wenn sich andere Menschen ihr Leben darauf bauen. Ein Glück, daß Ernst wenigstens bedürfnislos war und außer Rauchen keine Leidenschaft hätschelte, die viel verschlang.

Stück für Stück schleppten die Leutchen den dürftigen Haushalt zusammen und hingen ihr Nest in einer engen Dachgeschoßwohnung, Mitte der Stadt, auf. Luise strengte sich an, das enge Heim nett zu gestalten. Natürlicher Geschmack und herzliche Liebe standen ihr helfend bei. Der brave Hauswirt zog die schwarze Kneiferschnur prüfend durch die fleischigen Singer und runzelte die Augenbrauen sittsam. Als die Leute einmieteten, prangte Luise in allen Gnaden der Mutterschaft, und das stimmte den Menschenfreund bedenklich. Als er jedoch Geld klimpern hörte, gab er seinem sittenstrengen Gewissen einen Nasenstüber und unterschrieb den Vertrag.

Sechs Wochen wohnte Ernst in eigenem Heim. Erinnerte er sich früherer Heimstätten, so kam es ihm reich und behaglich vor. Es war nur wenig und sehr einfach, aber das Einfache wurde von Luise peinlich sauber und ordentlich gehalten. Saßen beide am Abend im Erkerwinkel, das Leben rauschte nur gedämpft in ihren Vogelbauer, dann sprach aus Blicken und Gebärden leise Freude der Geborgenheit. Ernst empfand die Stimmung dieses ruhigen, ganz elterliche Erwartung hegenden Lebens rein und tief. Er war dem Zwinger entrückt und rührte sich wacker, zu erhalten, was junge, frische Kräfte gestalteten. Seine Neigung zu Luise wuchs mit der fortschreitenden Mutterschaft. Er nahm sich stramm in die Zügel, daß kein lautes, herbes Wort in ihre selig wirkende Stille fiel, widmete sich ihr, wo es ging, und streichelte ihre Hände zart und behutsam. Daß Luise Mut aufbrachte, ihrer Neigung zu folgen, und zu opfern, was ihr vorher wertvoll war, dankte ihr Ernst hoch und gelobte, ihr die verlassene Welt zu ersetzen.

Aus dem bauernbunt gemusterten Tischtuch spielten helle Sonnenkringel. Ernst strich leicht über das braune Haar Luisens. Die letzte Hitze des Nachmittags summte durch das Zimmer, und eine Fliege schwirrte einsam taumelnd von einer Scheibe zur anderen. Sonst kein Ton ... Da sang diese Stille in Ernst:

Wir sitzen beisammen im Zimmer
und reden nichts.
Dein Haar umzittert ein Schimmer
verborgnen Lichts.
Wir haben uns endlich gefunden.
Seit dies geschah,
ist alles um uns verschwunden
und nicht mehr da.

Ich schau dein Gesicht von der Seite,
halb abgewandt.
ein Endchen von deinem Kleide
streift meine Hand.
Sonst stört unser trunkenes Sinnen
kein lautes Wort. –
Minuten vergehen, verrinnen ...
wir schweigen fort.

Das stille Dasein mündete in einen Sonntag, der blaustrahlend aufzog. Ernst und Luise waren mittags fortgegangen, der Wald lockte, retteten sich vor einem Gewitter noch rechtzeitig heim, verträumten den Abend im Erkerwinkel. Die Nacht schwebte ausgehaltenen Flügelschwungs über der Stadt, die weißbläulichen Lichter der Bogenlampen malten wunderliche Formen an die Wände, und aus den nahen Kneipen schallte der Lärm, vielfach verwirrt und gebrochen, zur Dachwohnung herauf. Eine Viertelstunde schritt Luise im Zimmer auf und ab. Zuweilen griff sie nach einer Stuhllehne, hielt im Gehen ein und lächelte Ernst schmerzlich mutvoll an. Die Lippen warm streng gepreßt, und von den Mundwinkeln lief ein scharfer Zug das Kinn abwärts.

Ihre Stunde kam.

Diese Stunde hatte Ernst gefürchtet und doch zugleich ersehnt. Viel hatte er über Luise gesonnen und über das Wunder ihres Leibes. Sein Wesen war aufgegangen, trieb neue Säfte und blühte, seit es in die kraftvoll herbe Erde dieses Leibes verpflanzt war. Wie dürr und fruchtarm sein Jagen und Hasten nach Weisheit und Erkenntnis. Nicht im Denken, im Leben selbst liegt das Leben. Luise hatte ihn zum Leben geführt, in eine Welt, deren Türen er vormals mit allen Prellböcken des Verstandes einrammen wollte und die spottend aller Gewalt widerstanden. Dann kam das große Erlebnis. Wie ein Gärtner, der gepflanzt hat, und alle Liebe seiner Seele an die Blüte wendet, die der Baum verspricht, begleitete Ernst das Wachstum des Kindes. Die herrliche Schönheit der Mutterschaft bewegte ihn. Seine Sinne blieben frisch; sie stießen sich nicht am Anblick des starken Leibes. Neue, hohe Würde krönte den braunen Scheitel Luisens, und willig beugte sich Ernst ihrem adeligen Reiz.

Wohl ist mit deiner Mädchenschaft
der keusche Schmelz von dir gestreift,
doch nur, weil einer höhren Kraft
dein Wesen still entgegenreift.
Und schlägst du gleich die Augen tief
vor jedem, der des Weges kam:
Was dich so glühend überlief,
ist deiner Seele schönste Scham.

Noch bist du dir nicht klar bewußt,
daß du ein Höchstes eingetauscht,
seit tief in deiner eignen Brust
der Quell des Lebens selber rauscht.
Und fühlst dich doch von einer Flut
aus Gottes reinstem Born betaut,
nun deiner mütterlichen Hut
ein neues Leben anvertraut.

Ich aber flügle meinen Schritt
und grüß das neue Leben laut.
Viel tausend Stimmen grüßen mit
und singen dir, du Lebensbraut!
Denn was in deines Schoßes Nacht
noch träumt und Blut von dir erhält,
wird einst, zum hellen Licht erwacht,
vielleicht der Heiland einer Welt.

Diese Verse im Gedächtnis, schritt Ernst die Küche ab. Er war trotz später Nachtstunde tagwach, seine Sinne lauschten geschärft jedem Ton, der aus dem Zimmer klang, und wenn das leise, wie durch die Zähne gezogene Wimmern der Wöchnerin sein Ohr traf, bäumten sich alle Nerven wild auf. Gemeinheit, einem Menschen solches Weh zu schaffen! Nie mehr, nie wieder durfte Luise in diesen Abgrund von Schmerz gestoßen werden ... Wie sollte übrigens der Knabe heißen? Voll innerster Sicherheit sprachen sie seit Wochen davon, daß ein Knabe kommt, ein wunderschöner Bub mit dem Gesicht der Mutter und der Gestalt des Vaters, ein Wunder an Geist und Körper ... wieder der schrille, von allem Weh der Welt getränkte Schrei ... Ernst stürmte durch die winzige Küche. Der Schrei wuchs in seinen Ohren, füllte das Haus, daß es in allen Fugen schütterte, gellte die Straße aus ihrem Schlaf, die ganze Stadt erwachte, der Schrei, der schreckliche Schrei dröhnte wie eine Sturmglocke über die Welt hin ... War das noch menschlich, konnten menschliche Sinne das noch ertragen?

»So, Herr Löhner, der Bub ist eben gekommen. Ich wünsche viel Glück!«

Die alte, weißhaarige Hebamme steckte den Kopf zur Türe herein und lächelte über das gute Runzelgesicht, eine Märchenfrau, die fröhliche Botschaft tut.

Der Schrei ... Das war es also. Die Posaunen des ersten Lebens dröhnen gleich den Posaunen des letzten Gerichts ... »Hörst, Nikodeme, du den Schöpfergeist?« Außer sich vor Freude, Stolz und Erleichterung, tätschelte Ernst das Altfrauengesicht und bettelte um die Erlaubnis, Mutter und Kind zu sehen. Wie ein Ballettkünstler schwebte er auf den Zehenspitzen ins Schlafzimmer, sank am Bett vor Luise hin und küßte andächtig die müde, hängende Hand. Sie lächelte tapfer, deutete strahlenden Blicks auf das Bündel an ihrer Seite und strich gütig durch das verwirrte Haar des Mannes ...

Christian Friedrich schrieb der Beamte in die Geburtsanzeige. Christian Friedrich nach dem großen, ernsten Denker und Künstler Hebbel, der Ernst Löhner in schwersten Zeiten beigestanden und seinen Kampf mitgestritten hatte ... Zur Taufe trug man das Kind nicht. Das Wickelkind sollte den Mann nicht binden. Mochte der Mann sich einst selbst entscheiden, wie er der höchsten Kraft dienstbar und willig ist. Christian Friedrich lag in einem Waschkorb, der aus zwei Stühlen stand. Dort verdämmerte er seine ersten Wochen, plärrte wie seit Adams Zeit alle Säuglinge und verlor langsam die brennende Röte, die an einen gesottenen Krebs mahnte.

Einmal betrachtete Ernst stirnrunzelnd den Buben, strich zärtlich das schüttere Haar und kraulte sich verlegen den Nacken, weil er nicht wußte, was mit dem kleinen Mann anfangen. Luise erfand stündlich hundert zärtliche Namen, redete in einer Geheimsprache der Liebe mit dem Kind und war überglücklich in ihrem jungen Muttertum. Ernst hielt sich verpflichtet, auch etwas zu sagen. Doch fielen ihm weder Worte noch Gedanken ein, dem Neugeborenen angemessen. Hilflos stand er an der Wiege, schaute in die großen, schwarzen Kinderaugen und stammelte: »Du Fröschle, du!«

Der Name blieb, wie auf Befehl redete niemand von Friedrich, alles sprach nur vom »Fröschle«, und so kam der kleine Mann zu einem Namen, der in keinem Kalender steht, und zu einem Paten, der Fliegen schluckt, an warmen Sommerabenden laut quakt und an würdevollem Benehmen ein Muster sein könnte.

Ernst vertiefte sich in das kindliche Wunder. Wenn die klaren, schattenlosen Augen seines Buben die Tapete abwanderten, erstaunt einer summenden Fliege folgten und hinter jedem huschenden Lichtstrahl jagten, griff das große, offene Schauen wunderbar in sein Denken. Das ist es ... Schauen, groß und offen schauen! ... Wer es kann, findet im Augenblick mehr, als klügster Verstand in einem Tag ausdenkt. Das Kind pflegen, auch das Kind im Mann, ihm ungehemmte Schau schaffen und die Klappen abtun, die Verstand und Wißbegier vor den Blick hängen ... Nur im Schauen ist das Bild, und das Bild ist der Schlüssel zur Welt. Das Kind hat den Schlüssel.

In seinen Traum vom Leben fällt
verworrenen Lichtes noch kein Schein,
denn lauter gehn und unverstellt
die Dinge seinem Schauen ein.

Und was es sieht und was es hört,
genießt es ganz und ungemischt,
weil keines Wortes Fremdheit stört
und ihm das reine Bild verwischt.

Die Sehnsucht zweier Seelen blaut
in seinen Blicken still und groß,
und dennoch ringt sich nicht ein Laut
von den geschlossnen Lippen los.

Die Wunder, die es rings gewahrt,
sie sind ihm wohl im Tiefsten kund,
doch daß es keines offenbart,
versiegelt ihm ein Gott den Mund.

Von vorn beginnen, ganz von vorne ... Fort mit dem Ballast vergrübelter Jahrhunderte, Zeit sein, Gegenwart fühlen und wissen, du lebst, nicht immer nur bohren: wozu lebst du ... Das Leben ist des Lebens Ziel. Es gibt kein anderes Ziel. Jeder ungelebte, nur gedachte Augenblick ist Irrgang.

Beugte sich Ernst über die Wiege und lauschte den tiefen, regelmäßigen Atemzügen, so hörte er den ewigen Katarakt des Lebens rauschen, den unerschöpften Born der Welt, und genoß doppeltes Dasein, im Kind und in sich. Hier war neuer Ursprung, neuer Lauf und neue Mündung, junger, klarer Fluß, von keinem Geröll noch getrübt. Hier war Grund zu sehen, Grund des Daseins, den kein Senkblei der Vernunft erlotet ... Ernst nahm starken Anteil am Wachstum Fröschles, legte viel kleine Begebenheiten zu einer väterlichen Chronik an, im Lebensgefühl erhöht durch die einfachen, so wundersamen Regungen ersten Werdens. Hier war nichts zu grübeln. Verstand blieb weit dahinten. Augen und Herz weiteten sich, dem Leben freie Bahn zu schaffen. Am Kinde genesen, war ihm gesetzt. Ernst begriff den tiefen Sinn, der dem Blut Gewalt über den Gedanken leiht und ihn Vater werden ließ. Luise war Mittlerin dieser hohen Gnade. Ihr dankte er die Erlösung aus dumpfem Bann.


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