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Die Jagd nach dem Leben

Wer vielleicht glaubt, Ernst wäre nun geknickt und beschämt gewesen, kennt die menschliche Natur wenig. Er schritt vielmehr ruhig und gelassen in das Stadtinnere, zündete eine Zigarette an und schnippte die Asche sorgsam mit dem kleinen Finger fort. Geld hatte Ernst nur einige Mark, doch genügte ihm das Bewußtsein, überhaupt Geld zu haben. In der Stehkosthalle trank er zwei Glas Bier und fand, es wäre eigentlich doch viel feiner, durch die Stadt zu spazieren, als im langweiligen Kontor der Auskunftei »Argus« zu sitzen.

Der Gedanke an Herrn Alfons Beißer belustigte ihn beinahe, was hatte der Mann für Augen gemacht? Schade, daß er nicht fester in die Kasse gegriffen hatte. Ob es Herr Alfons Beißer im Tarockieren verlor, oder ob er es auf seine Art ausgab, wo ist der Unterschied? Lene würde er zunächst wohl nicht sehen. Das Mädchen war doch zu blöd. Ein lieber Kerl, aber so altmodisch und ohne Unternehmungsgeist. Das Gefühl, an Lene zu denken, war aber doch nicht behaglich. Sie hatte ihn ja angeguckt, als hätte er ein Kind gefressen. Dumm, zu dumm, diese Anständigkeit ...

Daheim versah sich keine Seele der Geschichte. Ernst verschwieg seine Entlassung, hielt alle Zeiten genau ein, als wäre er noch immer im alten Gleis, und schaute inzwischen nach einer anderen Stelle aus. Denn eine neue Stelle mußte her, bevor der Letzte kam. wenn er nur daheim pünktlich zahlte, war alles andere Nebensache, woher das Geld kam, fragte die Mutter nicht. Sie nahm es unbesehen, nur durfte kein Pfennig am Betrag fehlen.

Ernst hatte unbändiges Glück. Nach vierzehn Tagen saß er schon wieder auf einem Kontorbock und hatte zehn Mark mehr Gehalt als bei Herrn Alfons Beißer. Das Geschäft – Zuckerwarengroßhandlung Bolz & Harrer – schien dringend Leute zu brauchen. Ohne nach Zeugnissen zu fragen, überhaupt ohne jeden Umstand wurde Ernst angenommen und erhielt – die kleine Kasse. War das nicht ein Wink, fortzufahren, wo man vor zwei Wochen aufgehört hatte? Die ersten Tage widerstand Ernst der Anfechtung, weil er das entgeisterte Gesicht Lenes vor Augen hatte. Doch nur zu bald war der erste Schritt gemacht.

Der Teufel mußte in Ernst Löhner gefahren sein. Bei Herrn Alfons Beißer hatte er vorsichtig gehandelt, sich immer den Rücken gedeckt, solang es irgend ging. Jetzt schaltete er kühn und unbesonnen mit fremdem Geld, und was einst anderthalb Jahre Zeit gebrauchte, erzielte Ernst in wenigen Wochen. Zwei Monate waren noch nicht voll im Land, als Ernst es geraten fand, nicht mehr bei Bolz & Harrer zu erscheinen. Sechshundertneunzig Mark hatte die Firma zu beklagen. Sie besaß nicht die philosophische Ruhe des Herrn Alfons Beißer, sondern zeigte den Schaden bei Gericht an.

Ernst lebte in Saus und Braus. Die gewöhnlichen Bierlokale waren ihm nicht mehr fein genug. Obwohl ohne Geschmack für Wein, hielt er sich viel in Kneipen mit Damenbedienung auf, fiel gewitzigten Weibern in die Hände und blutete schwer aus dem Geldbeutel. Nach Hause kam er seit zehn Tagen nicht mehr. Er hatte einen Brief geschrieben, daß er verreisen wolle und nicht wissen könne, ob er je wieder zurückkäme.

Daß die Polizei auf ihn gehetzt war, dachte sich Ernst beiläufig. Um ihn zu fangen, müßten sie aber früher aufstehen. Alle Listen und Finten, von denen Ernst aus Räubergeschichten, aus gelesenen Gerichtsberichten, aus aufgefangenen Erzählungen wußte, spielte er aus, den Häschern ein Schnippchen zu schlagen. Den ganzen Tag trieb er sich vor der Stadt herum. Gut angezogen, sah er wie ein harmloser Spaziergänger aus. Die Abende und die halben Nächte verkroch er sich in die Kneipen, hielt sich in keiner lange auf und war nie zu bewegen, in einer zu nächtigen. Lieber fror er die paar Stunden bis zum Morgen tüchtig aus, als daß er sich einer Streife der Polizei aussetzte.

Drei Wochen dauerte dieses Haschespiel. Innig freute sich Ernst, wenn er in einer Kneipe vernahm, um die und die Zeit habe ein Herr nach ihm gefragt. Was für ein Herr, stellte sich Ernst ingrimmig vor. Aber der Menschenfänger sollte noch etwas in Bewegung bleiben. Er wolle ihn an der Nase führen, daß ihm die Augen übergingen. Guter Laune schien der Geheimpolizist nicht, wütend hätte er seinen roten Schnurrbart zerbissen, wenn Ernst nicht war, wo er ihn suchte. Die Mädchen beschrieben ihm den roten Herrn eingehend und fragten, ob sie beim nächsten Male etwas bestellen könnten.

Ein schöner Maitag brachte das Verhängnis. Ernst überquerte eben den Georgsplatz, um in dem Gewirr von Gassen und Winkeln zu verschwinden, das hinter der Georgskirche beginnt. Eine feste Hand faßte an seine Schulter, und eine barsche Stimme flüsterte: »Kommen Sie ohne Aufsehen mit, Herr Löhner! Sonst muß ich Sie an die Zange nehmen.«

Das war der Schatten, der fast einen Monat über jeden Weg gefallen war, den Ernst ging. Den Kopf gesenkt, schritt Ernst neben dem Geheimpolizisten her, dem die Befriedigung des Fanges aus den grauen Augen leuchtete.

»Wir suchen Sie seit fast vier Wochen. Wo haben Sie die Zeit über gesteckt? Immer waren Sie gerade fortgegangen, wenn wir gekommen sind. Die Sache wäre vielleicht schon vorbei, wenn Sie sich selbst gestellt hätten. Den Kopf wird es nicht kosten ...«

Lautlos lachte Ernst auf. Am liebsten hätte er dem Mann ins Gesicht gebrüllt, daß sie alle miteinander Schafsköpfe wären, denen ein heller Junge, wann und wo er will, durch die Lappen geht. Er begnügte sich aber, zu erwidern, daß er immer in der Stadt gewesen sei, nur hätten sie sich leider immer verfehlt. Den leisen Hohn seiner Antwort mochte der Polizist überhört haben. Er schwieg jedenfalls und lieferte Ernst dem Untersuchungsrichter ab.

Die Jagd war Ernst doch auf die Nerven gegangen. In vier Wochen keine Nacht richtig zu schlafen, verlangt eine starke Natur. Ernst fühlte sich müd, sehr müd. Deshalb begrüßte er beinahe, daß der Untersuchungsrichter die Haft über ihn verhängte. Nun konnte er doch wenigstens wieder einige Nächte ruhig schlafen, brauchte nicht von Kneipe zu Kneipe rennen und elend frieren mit allem Geld in der Tasche.

Als der Wärter die Tür hinter ihm zuschloß, schaute Ernst sich nur flüchtig in der kahlen Zelle um, klappte den Sitz herab und schlief mit verschränkten Armen tief und friedlich.

Die Sache ging glatt und schnell. Nach kaum drei Wochen stand Ernst vor den Richtern. Er begriff die Zierlichkeit der Handlung nicht, bedauerte den kleinen Herrn Bolz, der gegen ihn zeugen wollte, aber gar nicht zur Vernehmung kam, weil Ernst alles rundweg zugab, und nickte gedankenlos, als der Gerichtsleiter fragte, ob er sich bei der ausgesprochenen Strafe bescheide. Drei Monate Gefängnis bekam Ernst für seine Streiche bei Bolz & Harrer.

Das Gefängnis hatte sich Ernst viel schlimmer vorgestellt. Das sollte eine Strafe sein? Dreimal täglich zu essen, ein ganz annehmbares Bett und Arbeit, die beim besten Willen nicht in Schweiß bringt! In der gemeinschaftlichen Arbeitszelle machte Ernst die Bekanntschaft manches vorzüglichen Mannes, der ihm das und jenes offenbarte, was nicht ohne Nutzen sein konnte, wenn man wieder unter die Räder kam. Er war nur mit kleinen Übeltätern zusammen, die ehrlich und mühsam ihr bescheidenes Auskommen ergaunerten, am Sonntag Gott den Herrn in der Gefängniskirche lobten und im übrigen verständige und nette Menschen waren. Wenn Ernst von ihnen wissen wollte, welchen Sinn es eigentlich hat, eingesperrt zu sein, empfing er die milde und weise Auskunft, das Gefängnis sei eben nicht für die Gänse gebaut. Die Leute lebten sehr regelmäßig, strengten den Geist weiter nicht an und strichen jeden Tag, der vergangen war, aus ihrem Gedächtnis.

Ernst sah in der ganzen Haft nichts weiter, als einen notwendigen Aufenthalt, um nach den Anforderungen des Lebens einmal ruhiger zu schnaufen. Sich auf anderes zu besinnen, als auf die kommende Zeit der Freiheit, die wieder gelebt sein will, fiel ihm nicht ein. Besserung? Umkehr? ... Blech mit Schlagrahm! Das sind Redensarten, dem Pfarrer ums Maul geschmiert, wenn er in die Zelle kommt.

Einige schöne Sommerwochen genoß Ernst noch in der wiedergewonnenen Freiheit. Es war doch sonderbar gewesen, als das Tor hinter Ernst zufiel. wieder hingehen dürfen, wo es beliebte, keinen Aufpasser hinter sich, der mahnend mit dem Schlüsselbund rasselt, frei sein ... ganz gleichgültig ist es doch nicht, wo man in der Welt sich aufhält.

Soweit war Ernst mit der Lage zufrieden. Nur eins bohrte und nagte in ihm. Wovon leben und nicht stehlen? ... Den Stellenanzeiger suchte er täglich ab, schrieb um kleine Posten und Gelegenheitsdienste und schnappte selten genug auch kurze Handreichungen auf, die schlecht bezahlt und schnell getan waren. Sich dauernd an eine Arbeit binden, wies Ernst weit ab. Freilich, ein gelernter Kaufmann, der den Fabrikhof kehren müßte! ... Das wäre so ein Ding, weil aber der Magen taub gegen alle Einbildungen blieb und eigensinnig auf seiner täglichen Füllung bestand, mußte Ernst wohl oder übel ein Stück nach dem anderen von seiner Standeswürde opfern. Alle Hoffnungen, das Glück würde ihn doch noch einmal in ein warmes Eck schieben, welkten mit den Blättern. Der Herbst kam kühl. Kleidung und Schuhwerk zehrten von den letzten Resten einstiger Herrlichkeit, Kragen und Vorhemd ruhten auf einer Kehrichtmulde, und die Haare wuchsen lang und wild über die knochige Stirn.

Heimgehen ... Den verlorenen Sohn spielen ... Ernst dachte der Augen des Vaters, der spitzigen, pfeilscharfen Worte der Mutter, der ganzen, in Bedauern und Verachtung schwelgenden Welt des Zwingers und kniff die Lippen grimmig ein. Lieber einen Winkel aufsuchen und dort stumm verrecken ... Oder noch besser! Man drehte ein Ding, sah zu, wie lang' die Leute auf den Leim kriechen, und schlüpfte für den Winter in der warmen Zelle unter.

Wenn man Einschlagpapier kaufte und Klebadressen, Lumpen und wertloses Zeug packte und die Nachnahme bei den Boten der Umgegend aufgab! ... Sie zahlten sofort aus und konnten dann ja sehen, was sie mit den Wertsendungen anfingen. Den ganzen Nachmittag wälzte Ernst das Plänchen, erwog hin und her und kam schließlich zu einem klaren Vorsatz. Schlau angefangen, mußte die Sache gelingen. Aus seiner Tätigkeit bei Herrn Alfons Beißer wußte Ernst um die Verhältnisse vieler Leute und war um Aufschriften für seine Pakete nicht verlegen. Der erste Streich gelang. In zwei Minuten hatte Ernst zwanzig Mark verdient, die das Herzklopfen und Kniezittern schon entschädigten, das er denn doch ausgestanden hatte, als der ehrliche Botengänger den Packen hin und her drehte, die Aufschrift prüfte und sie in ein Buch schrieb.

Ernst legte sich besseres Schuhwerk zu, die langen Haare fielen unter dem Schermesser, und ein reichliches Abendbrot hob Stimmung und Zuversicht. Die kleine Beute erschien Ernst unerschöpflich. Nun konnte man wieder einige Zeit leben. Im Gasthof übernachtete Ernst und wiegte sich noch den ganzen nächsten Morgen in erinnerndem Behagen an sein wirklich gutes Bett. Mit einigen Reclamheften im Sack verschlug sich Ernst vor die Stadt, wanderte die Waldsteige ab und schlürfte den milden Schein des Oktobertags. Auf einer Lichtung machte er halt, schnitt das Bändchen auf und las sich in tiefes Vergessen.

Der Mensch trägt Adler in dem Haupte
und steckt mit seinen Füßen doch in Kot!
Wer war so toll, daß er ihn schuf?
Wer würfelte aus Eselsohren und
aus Löwenzähnen ihn zusammen? was
ist toller als das Leben? Was
ist toller als die Welt?
Allmächt'ger Wahnsinn ist's,
der sie erschaffen hat

Wahr, zu wahr! ... Laut las Ernst die Stelle aus Grabbes »Herzog von Gothland«, sprang federnd auf und schritt hastig zwischen den Bäumen auf und ab. Wie diese starken Worte hallten! Sie schlugen an seine Seele wie der Klöppel an die Glocke und brachten sein ganzes Wesen ins Tönen. Schreien müßte man jetzt, mit Riesentrompetenstimme schreien, daß der Himmel, so weit er lag, aufgellte ... »Allmächt'ger Wahnsinn ... allmächt'ger Wahnsinn ...« Außer sich rannte Ernst auf die Lichtung hinaus, das Buch zu den Baumwipfeln reckend und einen wilden Raubvogelschrei ausstoßend ...

Nach vier Tagen war Ernst blank und führte den Streich gleich bei zwei verschiedenen Boten aus. Wieder ohne sonderlichen Zwischenfall und mit erklecklichem Nutzen. Sein Anzug wanderte in den Fluß, und ein beim Trödler erstandener Anzug trat an die Stelle. Das Wetter stand Ausflügen im Weg. Es regnete, war kalt und trüb, und Ernst brachte seine Zeit mit Sitzen im Bahnhof, in Museen und in der Lesehalle hin. Manchen Nachmittag suchte er eine versteckte Winkelkneipe auf, hockte finster brütend hinter dem Bierglas und las wirr durcheinander, was ihm eben in die Hand geriet.

Was früher gewesen, lag weit, weit dahinten. Dicke, graue Nebel schieden Ernst von den Gegenden der Vergangenheit. Nur eine halbe Stunde räumlich getrennt, schienen doch Welten und Meere dazwischen geschoben. Ernst stützte den Kopf in die Hände, atmete tief aus und verlor den Blick im träge ziehenden Zigarettenrauch. Gertruds Gesicht tauchte auf, der erschreckte Blick Lenes, Vater, Mutter, eine ganze Welt ... Dumpf schlug Ernst Löhners Kopf auf die Tischplatte, seine Schultern zuckten, doch keine Träne linderte die Glut der brennenden Augen. Den Hut hart über die Augen gezogen, eilte Ernst rastlos durch den nebelnden Abend, unwissend, wohin und wozu ...


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